Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

Bild:
<< vorherige Seite
V. Mehrfache Organminderwertigkeiten.
VI. Die Rolle des Zentralnervensystems in der Minderwertigkeitslehre. Psychogenese und Grundlagen der Neurosen und Neuropsychosen.
I. Heredität.

Hier befinden wir uns auf bekanntem Boden.

Allerdings wird die Bedeutung der Heredität von verschiedenen
Forschern verschieden gewertet. Die einen erheben wohl die Familien-
anamnese, weisen aber jeden exakten Schluß daraus zurück und wollen
besten Falles eine größere oder geringere Erkrankungsneigung aus ihr
entnehmen. Andere, besonders neuere Autoren finden nahezu gleiche
hereditäre Verhältnisse bei Gesunden wie Kranken und lehnen jede
tiefere Bedeutung des Hereditätsproblems ab. Zumeist herrscht die Auf-
fassung von der Vererbbarkeit einer Körperanlage, die unter geeigneten
Verhältnissen zur hereditären Erkrankung fuhrt. Soviel wir sehen,
neigen die französischen Ärzte seit jeher zu einer schärferen Betonung
der Heredität als die deutschen.

Widersprüche also, von denen wir meinen, daß sie nicht allzu
schwer beseitigt werden können.
In den Vordergrund unserer Behaup-
tungen über Heredität gehört der Satz: Die Heredität besteht in
der Vererbung eines oder mehrerer minderwertiger Organe.

Eine Übersicht über die als hereditär angesehenen Erkrankungen
stützt diese Behauptung, die im Gegensatz steht zu der Auffassung
einer hereditären Degeneration des gesamten Organismus. Selbst was
gemischte Heredität genannt wird, bei Epilepsie, Seelenstörungen, Hy-
sterie, Trunksucht etc., läßt sich nach einzelnen minderwertigen Organen
gruppieren, wobei die Beeinflussung und Entwicklung des Zentralnerven-
systems vorwiegend in die Augen fällt. Nun werden wir schon an
diesem Punkte eine Tatsache feststellen müssen, die für die ganze Auf-
fassung unserer Studie von größtem Belange ist. Die Minderwertig-
keit eines Organes kann sich nämlich in der Deszendenz an
den verschiedensten Stellen des Organes manifestieren.
Mit
dieser Konstatierung läßt sich eine ganze Anzahl von Widersprüchen
in der Hereditätslehre beseitigen. Vor allem reduziert sich die "ge-
mischte Heredität" auf einfache hereditäre Minderwertigkeit des Nerven-
systems. Aber auch jene Forscher kommen zu Recht, die dem Heredi-
tätsproblem die größte Bedeutung zuerkennen, ungeachtet des schein-
baren Widerspruchs, der darin gesucht wird, daß von gesunden Eltern
kranke Kinder oder von kranken Eltern vereinzelt gesunde Kinder ab-

V. Mehrfache Organminderwertigkeiten.
VI. Die Rolle des Zentralnervensystems in der Minderwertigkeitslehre. Psychogenese und Grundlagen der Neurosen und Neuropsychosen.
I. Heredität.

Hier befinden wir uns auf bekanntem Boden.

Allerdings wird die Bedeutung der Heredität von verschiedenen
Forschern verschieden gewertet. Die einen erheben wohl die Familien-
anamnese, weisen aber jeden exakten Schluß daraus zurück und wollen
besten Falles eine größere oder geringere Erkrankungsneigung aus ihr
entnehmen. Andere, besonders neuere Autoren finden nahezu gleiche
hereditäre Verhältnisse bei Gesunden wie Kranken und lehnen jede
tiefere Bedeutung des Hereditätsproblems ab. Zumeist herrscht die Auf-
fassung von der Vererbbarkeit einer Körperanlage, die unter geeigneten
Verhältnissen zur hereditären Erkrankung fuhrt. Soviel wir sehen,
neigen die französischen Ärzte seit jeher zu einer schärferen Betonung
der Heredität als die deutschen.

Widersprüche also, von denen wir meinen, daß sie nicht allzu
schwer beseitigt werden können.
In den Vordergrund unserer Behaup-
tungen über Heredität gehört der Satz: Die Heredität besteht in
der Vererbung eines oder mehrerer minderwertiger Organe.

Eine Übersicht über die als hereditär angesehenen Erkrankungen
stützt diese Behauptung, die im Gegensatz steht zu der Auffassung
einer hereditären Degeneration des gesamten Organismus. Selbst was
gemischte Heredität genannt wird, bei Epilepsie, Seelenstörungen, Hy-
sterie, Trunksucht etc., läßt sich nach einzelnen minderwertigen Organen
gruppieren, wobei die Beeinflussung und Entwicklung des Zentralnerven-
systems vorwiegend in die Augen fällt. Nun werden wir schon an
diesem Punkte eine Tatsache feststellen müssen, die für die ganze Auf-
fassung unserer Studie von größtem Belange ist. Die Minderwertig-
keit eines Organes kann sich nämlich in der Deszendenz an
den verschiedensten Stellen des Organes manifestieren.
Mit
dieser Konstatierung läßt sich eine ganze Anzahl von Widersprüchen
in der Hereditätslehre beseitigen. Vor allem reduziert sich die „ge-
mischte Heredität“ auf einfache hereditäre Minderwertigkeit des Nerven-
systems. Aber auch jene Forscher kommen zu Recht, die dem Heredi-
tätsproblem die größte Bedeutung zuerkennen, ungeachtet des schein-
baren Widerspruchs, der darin gesucht wird, daß von gesunden Eltern
kranke Kinder oder von kranken Eltern vereinzelt gesunde Kinder ab-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <list>
          <pb facs="#f0029" n="17"/>
          <item>V. Mehrfache Organminderwertigkeiten.</item><lb/>
          <item>VI. Die Rolle des Zentralnervensystems in der Minderwertigkeitslehre. Psychogenese und Grundlagen der Neurosen und Neuropsychosen.</item><lb/>
        </list>
        <div n="2">
          <head>I. Heredität.</head><lb/>
          <p>Hier befinden wir uns auf bekanntem Boden.</p><lb/>
          <p>Allerdings wird die Bedeutung der Heredität von verschiedenen<lb/>
Forschern verschieden gewertet. Die einen erheben wohl die Familien-<lb/>
anamnese, weisen aber jeden exakten Schluß daraus zurück und wollen<lb/>
besten Falles eine größere oder geringere Erkrankungsneigung aus ihr<lb/>
entnehmen. Andere, besonders neuere Autoren finden nahezu gleiche<lb/>
hereditäre Verhältnisse bei Gesunden wie Kranken und lehnen jede<lb/>
tiefere Bedeutung des Hereditätsproblems ab. Zumeist herrscht die Auf-<lb/>
fassung von der Vererbbarkeit einer Körperanlage, die unter geeigneten<lb/>
Verhältnissen zur hereditären Erkrankung fuhrt. Soviel wir sehen,<lb/>
neigen die französischen Ärzte seit jeher zu einer schärferen Betonung<lb/>
der Heredität als die deutschen.</p><lb/>
          <p>Widersprüche also, von denen wir meinen, daß sie nicht allzu<lb/>
schwer beseitigt werden können.<lb/>
In den Vordergrund unserer Behaup-<lb/>
tungen über Heredität gehört der Satz: <hi rendition="#g">Die Heredität besteht in<lb/>
der Vererbung eines oder mehrerer minderwertiger Organe.</hi></p><lb/>
          <p>Eine Übersicht über die als hereditär angesehenen Erkrankungen<lb/>
stützt diese Behauptung, die im Gegensatz steht zu der Auffassung<lb/>
einer hereditären Degeneration des gesamten Organismus. Selbst was<lb/>
gemischte Heredität genannt wird, bei Epilepsie, Seelenstörungen, Hy-<lb/>
sterie, Trunksucht etc., läßt sich nach einzelnen minderwertigen Organen<lb/>
gruppieren, wobei die Beeinflussung und Entwicklung des Zentralnerven-<lb/>
systems vorwiegend in die Augen fällt. Nun werden wir schon an<lb/>
diesem Punkte eine Tatsache feststellen müssen, die für die ganze Auf-<lb/>
fassung unserer Studie von größtem Belange ist. <hi rendition="#g">Die Minderwertig-<lb/>
keit eines Organes kann sich nämlich in der Deszendenz an<lb/>
den verschiedensten Stellen des Organes manifestieren.</hi> Mit<lb/>
dieser Konstatierung läßt sich eine ganze Anzahl von Widersprüchen<lb/>
in der Hereditätslehre beseitigen. Vor allem reduziert sich die &#x201E;ge-<lb/>
mischte Heredität&#x201C; auf einfache hereditäre Minderwertigkeit des Nerven-<lb/>
systems. Aber auch jene Forscher kommen zu Recht, die dem Heredi-<lb/>
tätsproblem die größte Bedeutung zuerkennen, ungeachtet des schein-<lb/>
baren Widerspruchs, der darin gesucht wird, daß von gesunden Eltern<lb/>
kranke Kinder oder von kranken Eltern vereinzelt gesunde Kinder ab-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0029] V. Mehrfache Organminderwertigkeiten. VI. Die Rolle des Zentralnervensystems in der Minderwertigkeitslehre. Psychogenese und Grundlagen der Neurosen und Neuropsychosen. I. Heredität. Hier befinden wir uns auf bekanntem Boden. Allerdings wird die Bedeutung der Heredität von verschiedenen Forschern verschieden gewertet. Die einen erheben wohl die Familien- anamnese, weisen aber jeden exakten Schluß daraus zurück und wollen besten Falles eine größere oder geringere Erkrankungsneigung aus ihr entnehmen. Andere, besonders neuere Autoren finden nahezu gleiche hereditäre Verhältnisse bei Gesunden wie Kranken und lehnen jede tiefere Bedeutung des Hereditätsproblems ab. Zumeist herrscht die Auf- fassung von der Vererbbarkeit einer Körperanlage, die unter geeigneten Verhältnissen zur hereditären Erkrankung fuhrt. Soviel wir sehen, neigen die französischen Ärzte seit jeher zu einer schärferen Betonung der Heredität als die deutschen. Widersprüche also, von denen wir meinen, daß sie nicht allzu schwer beseitigt werden können. In den Vordergrund unserer Behaup- tungen über Heredität gehört der Satz: Die Heredität besteht in der Vererbung eines oder mehrerer minderwertiger Organe. Eine Übersicht über die als hereditär angesehenen Erkrankungen stützt diese Behauptung, die im Gegensatz steht zu der Auffassung einer hereditären Degeneration des gesamten Organismus. Selbst was gemischte Heredität genannt wird, bei Epilepsie, Seelenstörungen, Hy- sterie, Trunksucht etc., läßt sich nach einzelnen minderwertigen Organen gruppieren, wobei die Beeinflussung und Entwicklung des Zentralnerven- systems vorwiegend in die Augen fällt. Nun werden wir schon an diesem Punkte eine Tatsache feststellen müssen, die für die ganze Auf- fassung unserer Studie von größtem Belange ist. Die Minderwertig- keit eines Organes kann sich nämlich in der Deszendenz an den verschiedensten Stellen des Organes manifestieren. Mit dieser Konstatierung läßt sich eine ganze Anzahl von Widersprüchen in der Hereditätslehre beseitigen. Vor allem reduziert sich die „ge- mischte Heredität“ auf einfache hereditäre Minderwertigkeit des Nerven- systems. Aber auch jene Forscher kommen zu Recht, die dem Heredi- tätsproblem die größte Bedeutung zuerkennen, ungeachtet des schein- baren Widerspruchs, der darin gesucht wird, daß von gesunden Eltern kranke Kinder oder von kranken Eltern vereinzelt gesunde Kinder ab-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-01-07T09:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-07T09:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-01-07T09:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/29
Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/29>, abgerufen am 28.03.2024.