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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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Minderwertigkeit finden. die den Boden für irgend eine Erkrankung
parasitärer oder nichtparasitärer Natur abgibt, ebenso haben wir da-
mit zu rechnen, daß wir im späteren Leben unter dem Einfluß der
Lebensweise die Minderwertigkeit nicht immer unverhüllt oder durch die
Krankheit denunziert finden. Es ist vielleicht ebenso oft der Fall, daß
wir an Stelle der erwarteten Minderwertigkeit nichts abnormales oder
geradezu eine Überwertigkeit, eine hervorragende Eigenschaft vorfinden.

II. Anamnestische Hinweise.

Wir haben im vorhergehenden des Öfteren der Schwierigkeit ge-
dacht, die sich zuweilen der Klassifizierung eines Organes als minder-
wertig in den Weg stellt. Der Begriff der Vollwertigkeit deckt sich
durchaus nicht mit dem uns geläufigeren der Gesundheit. Aus folgenden
Gründen: Es kann einmal durch Inanspruchnahme von Wachstums-
reservekräften am Orte der Minderwertigkeit selbst oder entfernter da-
von, in einem zweiten Organ oder in der Nervenbahn eine Kompen-
sation zustande gekommen sein, die das Defizit nicht aufkommen läßt,
es auch für den ärztlichen Untersucher deckt. Oder die Minderwertig-
keit äußert sich bei einem Gliede des Stammbaumes an einer Stelle, die
einem gesundheitlichen Funktionieren des Organes wenig oder gar nicht
hinderlich ist. Bei einem anderen Glied kann die Minderwertigkeit als
Gesundheitsstörung in Erscheinung treten. Oder die Gunst der äußeren
Verhältnisse, öffentliche und private Hygiene, gestatten dem mit einer
Minderwertigkeit behafteten Individuum den gesundheitlichen Gefahren
zu entgehen, die sich sofort einstellen, wenn die soziale Lage, Arbeits-
zeit, Wohnung, Nahrung eine schlechtere wird. Selbstverständlich ist
hier von geringeren Graden der Minderwertigkeit die Rede. Die höheren
Grade bedingen entweder Lebensunfähigkeit oder decken sich wohl
faktisch immer mit dem als "erkrankt" zu benennenden Organ.

Ob es Kriterien gibt, unter "gesunden" Organen die minder-
wertigen herauszufinden? Wir haben bereits gezeigt, wie uns die Here-
ditätslehre als Leitfaden dazu dienen kann. Nach unserer Auffassung
kann ein Organ sehr wohl als gesund, seiner Heredität nach aber als
minderwertig befunden werden. In solchen Fällen nun ist es unbedingt
nötig, die Jugendgeschichte, besser vielleicht die Kindheitsgeschichte des
Organes heranzuziehen, weil es zuweilen gelingt, die Minderwertigkeit
festzustellen, die sich in dem Momente der Erkenntnis entzieht, wo die
Kompensation einsetzt. Sobald sich nun die Minderwertigkeit eines Or-
ganes vor der Kompensation im frühen Kindesalter geltend macht, er-

Minderwertigkeit finden. die den Boden für irgend eine Erkrankung
parasitärer oder nichtparasitärer Natur abgibt, ebenso haben wir da-
mit zu rechnen, daß wir im späteren Leben unter dem Einfluß der
Lebensweise die Minderwertigkeit nicht immer unverhüllt oder durch die
Krankheit denunziert finden. Es ist vielleicht ebenso oft der Fall, daß
wir an Stelle der erwarteten Minderwertigkeit nichts abnormales oder
geradezu eine Überwertigkeit, eine hervorragende Eigenschaft vorfinden.

II. Anamnestische Hinweise.

Wir haben im vorhergehenden des Öfteren der Schwierigkeit ge-
dacht, die sich zuweilen der Klassifizierung eines Organes als minder-
wertig in den Weg stellt. Der Begriff der Vollwertigkeit deckt sich
durchaus nicht mit dem uns geläufigeren der Gesundheit. Aus folgenden
Gründen: Es kann einmal durch Inanspruchnahme von Wachstums-
reservekräften am Orte der Minderwertigkeit selbst oder entfernter da-
von, in einem zweiten Organ oder in der Nervenbahn eine Kompen-
sation zustande gekommen sein, die das Defizit nicht aufkommen läßt,
es auch für den ärztlichen Untersucher deckt. Oder die Minderwertig-
keit äußert sich bei einem Gliede des Stammbaumes an einer Stelle, die
einem gesundheitlichen Funktionieren des Organes wenig oder gar nicht
hinderlich ist. Bei einem anderen Glied kann die Minderwertigkeit als
Gesundheitsstörung in Erscheinung treten. Oder die Gunst der äußeren
Verhältnisse, öffentliche und private Hygiene, gestatten dem mit einer
Minderwertigkeit behafteten Individuum den gesundheitlichen Gefahren
zu entgehen, die sich sofort einstellen, wenn die soziale Lage, Arbeits-
zeit, Wohnung, Nahrung eine schlechtere wird. Selbstverständlich ist
hier von geringeren Graden der Minderwertigkeit die Rede. Die höheren
Grade bedingen entweder Lebensunfähigkeit oder decken sich wohl
faktisch immer mit dem als „erkrankt“ zu benennenden Organ.

Ob es Kriterien gibt, unter „gesunden“ Organen die minder-
wertigen herauszufinden? Wir haben bereits gezeigt, wie uns die Here-
ditätslehre als Leitfaden dazu dienen kann. Nach unserer Auffassung
kann ein Organ sehr wohl als gesund, seiner Heredität nach aber als
minderwertig befunden werden. In solchen Fällen nun ist es unbedingt
nötig, die Jugendgeschichte, besser vielleicht die Kindheitsgeschichte des
Organes heranzuziehen, weil es zuweilen gelingt, die Minderwertigkeit
festzustellen, die sich in dem Momente der Erkenntnis entzieht, wo die
Kompensation einsetzt. Sobald sich nun die Minderwertigkeit eines Or-
ganes vor der Kompensation im frühen Kindesalter geltend macht, er-

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[26/0038] Minderwertigkeit finden. die den Boden für irgend eine Erkrankung parasitärer oder nichtparasitärer Natur abgibt, ebenso haben wir da- mit zu rechnen, daß wir im späteren Leben unter dem Einfluß der Lebensweise die Minderwertigkeit nicht immer unverhüllt oder durch die Krankheit denunziert finden. Es ist vielleicht ebenso oft der Fall, daß wir an Stelle der erwarteten Minderwertigkeit nichts abnormales oder geradezu eine Überwertigkeit, eine hervorragende Eigenschaft vorfinden. II. Anamnestische Hinweise. Wir haben im vorhergehenden des Öfteren der Schwierigkeit ge- dacht, die sich zuweilen der Klassifizierung eines Organes als minder- wertig in den Weg stellt. Der Begriff der Vollwertigkeit deckt sich durchaus nicht mit dem uns geläufigeren der Gesundheit. Aus folgenden Gründen: Es kann einmal durch Inanspruchnahme von Wachstums- reservekräften am Orte der Minderwertigkeit selbst oder entfernter da- von, in einem zweiten Organ oder in der Nervenbahn eine Kompen- sation zustande gekommen sein, die das Defizit nicht aufkommen läßt, es auch für den ärztlichen Untersucher deckt. Oder die Minderwertig- keit äußert sich bei einem Gliede des Stammbaumes an einer Stelle, die einem gesundheitlichen Funktionieren des Organes wenig oder gar nicht hinderlich ist. Bei einem anderen Glied kann die Minderwertigkeit als Gesundheitsstörung in Erscheinung treten. Oder die Gunst der äußeren Verhältnisse, öffentliche und private Hygiene, gestatten dem mit einer Minderwertigkeit behafteten Individuum den gesundheitlichen Gefahren zu entgehen, die sich sofort einstellen, wenn die soziale Lage, Arbeits- zeit, Wohnung, Nahrung eine schlechtere wird. Selbstverständlich ist hier von geringeren Graden der Minderwertigkeit die Rede. Die höheren Grade bedingen entweder Lebensunfähigkeit oder decken sich wohl faktisch immer mit dem als „erkrankt“ zu benennenden Organ. Ob es Kriterien gibt, unter „gesunden“ Organen die minder- wertigen herauszufinden? Wir haben bereits gezeigt, wie uns die Here- ditätslehre als Leitfaden dazu dienen kann. Nach unserer Auffassung kann ein Organ sehr wohl als gesund, seiner Heredität nach aber als minderwertig befunden werden. In solchen Fällen nun ist es unbedingt nötig, die Jugendgeschichte, besser vielleicht die Kindheitsgeschichte des Organes heranzuziehen, weil es zuweilen gelingt, die Minderwertigkeit festzustellen, die sich in dem Momente der Erkenntnis entzieht, wo die Kompensation einsetzt. Sobald sich nun die Minderwertigkeit eines Or- ganes vor der Kompensation im frühen Kindesalter geltend macht, er-

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/38>, abgerufen am 19.04.2024.