Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

Bild:
<< vorherige Seite

Ausbildung des Organes verkehrt. Der stotternde Knabe Demo-
sthenes wird zum größten Redner Griechenlands. Und bis auf den heu-
tigen Tag findet man selten eine solche Häufung von Sprachfehlern
und Degenerationszeichen des Mundes wie bei Rednern, Schauspielern
und Sängern.

Die anamnestische Bedeutung der Kinderfehler für die Neurosen
ist gelegentlich bereits hervorgehoben, in ihrer ganzen vollen Bedeutung
von Freud betont worden. Uns erübrigt hier noch der Hinweis auf die
Verlockung zu größerer sinnlicher Entfaltung, der minderwertige Organe
besonders in ihren peripheren, der Hautoberfläche zugewendeten An-
teilen ausgesetzt sind. Zum Teil rührt diese erhöhte Sinnlichkeit, der
Ausgangspunkt zahlreicher Kinderfehler, sicherlich von dem Unver-
mögen des minderwertigen Organs her, das nicht ohne weiteres in den
sicheren Port kulturellen Funktionierens gelangen kann; liegt sie doch
jeder Organbetätigung zugrunde, während die kulturmäßige Organ-
funktion aus gebändigter Sinnlichkeit ihre Kraft bezieht. Wie weit diese
Erhöhung der sinnlichen Komponente mit dem embryonalen Charakter
des minderwertigen Organs in Beziehung steht, vermag ich derzeit
nicht sicher zu entscheiden. Sicher ist aber, daß das Ensemble
der Erscheinungen der Organminderwertigkeit auf die Psyche
derart abfärbt, daß deren ganze Struktur ein eigenartiges
Gepräge erhält. Die so erworbene psychische Struktur wird
in der Folge zur Grundlage der Neurosen und Psychosen.

Während kaum ein einziger Fall von Neurose einer derartigen
Kindheitsanamnese entbehrt, worauf schon Freud eingehend hingewiesen
hat, kann ich, abgesehen von der zum Schlusse folgenden Kasuistik,
derzeit nur spärliches Material der Öffentlichkeit übergeben. Doch konnte
ich mich z. B. bei Diabetikern mehrfach überzeugen, daß sich in der
frühesten Kindheit die Darmfunktionen nicht glatt eingestellt hatten.
Häufig dürfte sich Obstipation vorfinden, seltener konnte ich unfrei-
willige Stuhlabgänge konstatieren. Die Häufigkeit von Magendarm-
störungen bei entwickeltem Diabetes läßt den Gedanken als gerecht-
fertigt erscheinen, daß diese Krankheit auf einer hereditären Minder-
wertigkeit des Magendarmapparates beruht, die sich vorwiegend in der
Funktion der zugehörigen Drüse, des Pankreas, zuweilen auch in der
Leber geltend macht. Einige Fälle sollen diese Behauptung recht-
fertigen[.]

Margit B., 25 Jahre alt, klagt über Kopfweh und chronische
Stuhlverstopfung. Vor 8 Tagen bekam sie wie früher schon öfters im
Gefolge einer Aufregung Diarrhöen, die nach 2 Tagen in eine Stuhl-

Ausbildung des Organes verkehrt. Der stotternde Knabe Demo-
sthenes wird zum größten Redner Griechenlands. Und bis auf den heu-
tigen Tag findet man selten eine solche Häufung von Sprachfehlern
und Degenerationszeichen des Mundes wie bei Rednern, Schauspielern
und Sängern.

Die anamnestische Bedeutung der Kinderfehler für die Neurosen
ist gelegentlich bereits hervorgehoben, in ihrer ganzen vollen Bedeutung
von Freud betont worden. Uns erübrigt hier noch der Hinweis auf die
Verlockung zu größerer sinnlicher Entfaltung, der minderwertige Organe
besonders in ihren peripheren, der Hautoberfläche zugewendeten An-
teilen ausgesetzt sind. Zum Teil rührt diese erhöhte Sinnlichkeit, der
Ausgangspunkt zahlreicher Kinderfehler, sicherlich von dem Unver-
mögen des minderwertigen Organs her, das nicht ohne weiteres in den
sicheren Port kulturellen Funktionierens gelangen kann; liegt sie doch
jeder Organbetätigung zugrunde, während die kulturmäßige Organ-
funktion aus gebändigter Sinnlichkeit ihre Kraft bezieht. Wie weit diese
Erhöhung der sinnlichen Komponente mit dem embryonalen Charakter
des minderwertigen Organs in Beziehung steht, vermag ich derzeit
nicht sicher zu entscheiden. Sicher ist aber, daß das Ensemble
der Erscheinungen der Organminderwertigkeit auf die Psyche
derart abfärbt, daß deren ganze Struktur ein eigenartiges
Gepräge erhält. Die so erworbene psychische Struktur wird
in der Folge zur Grundlage der Neurosen und Psychosen.

Während kaum ein einziger Fall von Neurose einer derartigen
Kindheitsanamnese entbehrt, worauf schon Freud eingehend hingewiesen
hat, kann ich, abgesehen von der zum Schlusse folgenden Kasuistik,
derzeit nur spärliches Material der Öffentlichkeit übergeben. Doch konnte
ich mich z. B. bei Diabetikern mehrfach überzeugen, daß sich in der
frühesten Kindheit die Darmfunktionen nicht glatt eingestellt hatten.
Häufig dürfte sich Obstipation vorfinden, seltener konnte ich unfrei-
willige Stuhlabgänge konstatieren. Die Häufigkeit von Magendarm-
störungen bei entwickeltem Diabetes läßt den Gedanken als gerecht-
fertigt erscheinen, daß diese Krankheit auf einer hereditären Minder-
wertigkeit des Magendarmapparates beruht, die sich vorwiegend in der
Funktion der zugehörigen Drüse, des Pankreas, zuweilen auch in der
Leber geltend macht. Einige Fälle sollen diese Behauptung recht-
fertigen[.]

Margit B., 25 Jahre alt, klagt über Kopfweh und chronische
Stuhlverstopfung. Vor 8 Tagen bekam sie wie früher schon öfters im
Gefolge einer Aufregung Diarrhöen, die nach 2 Tagen in eine Stuhl-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0040" n="28"/>
Ausbildung des Organes verkehrt</hi>. Der stotternde Knabe Demo-<lb/>
sthenes wird zum größten Redner Griechenlands. Und bis auf den heu-<lb/>
tigen Tag findet man selten eine solche Häufung von Sprachfehlern<lb/>
und Degenerationszeichen des Mundes wie bei Rednern, Schauspielern<lb/>
und Sängern.</p><lb/>
          <p>Die anamnestische Bedeutung der Kinderfehler für die Neurosen<lb/>
ist gelegentlich bereits hervorgehoben, in ihrer ganzen vollen Bedeutung<lb/>
von <hi rendition="#i">Freud</hi> betont worden. Uns erübrigt hier noch der Hinweis auf die<lb/>
Verlockung zu größerer sinnlicher Entfaltung, der minderwertige Organe<lb/>
besonders in ihren peripheren, der Hautoberfläche zugewendeten An-<lb/>
teilen ausgesetzt sind. Zum Teil rührt diese erhöhte Sinnlichkeit, der<lb/>
Ausgangspunkt zahlreicher Kinderfehler, sicherlich von dem Unver-<lb/>
mögen des minderwertigen Organs her, das nicht ohne weiteres in den<lb/>
sicheren Port kulturellen Funktionierens gelangen kann; liegt sie doch<lb/>
jeder Organbetätigung zugrunde, während die kulturmäßige Organ-<lb/>
funktion aus gebändigter Sinnlichkeit ihre Kraft bezieht. Wie weit diese<lb/>
Erhöhung der sinnlichen Komponente mit dem embryonalen Charakter<lb/>
des minderwertigen Organs in Beziehung steht, vermag ich derzeit<lb/>
nicht sicher zu entscheiden. <hi rendition="#g">Sicher ist aber, daß das Ensemble<lb/>
der Erscheinungen der Organminderwertigkeit auf die Psyche<lb/>
derart abfärbt, daß deren ganze Struktur ein eigenartiges<lb/>
Gepräge erhält. Die so erworbene psychische Struktur wird<lb/>
in der Folge zur Grundlage der Neurosen und Psychosen.</hi></p><lb/>
          <p>Während kaum ein einziger Fall von Neurose einer derartigen<lb/>
Kindheitsanamnese entbehrt, worauf schon <hi rendition="#i">Freud</hi> eingehend hingewiesen<lb/>
hat, kann ich, abgesehen von der zum Schlusse folgenden Kasuistik,<lb/>
derzeit nur spärliches Material der Öffentlichkeit übergeben. Doch konnte<lb/>
ich mich z. B. bei Diabetikern mehrfach überzeugen, daß sich in der<lb/>
frühesten Kindheit die Darmfunktionen nicht glatt eingestellt hatten.<lb/>
Häufig dürfte sich Obstipation vorfinden, seltener konnte ich unfrei-<lb/>
willige Stuhlabgänge konstatieren. Die Häufigkeit von Magendarm-<lb/>
störungen bei entwickeltem Diabetes läßt den Gedanken als gerecht-<lb/>
fertigt erscheinen, daß diese Krankheit auf einer hereditären Minder-<lb/>
wertigkeit des Magendarmapparates beruht, die sich vorwiegend in der<lb/>
Funktion der zugehörigen Drüse, des Pankreas, zuweilen auch in der<lb/>
Leber geltend macht. Einige Fälle sollen diese Behauptung recht-<lb/>
fertigen<supplied>.</supplied></p><lb/>
          <p>Margit B., 25 Jahre alt, klagt über Kopfweh und chronische<lb/>
Stuhlverstopfung. Vor 8 Tagen bekam sie wie früher schon öfters im<lb/>
Gefolge einer Aufregung Diarrhöen, die nach 2 Tagen in eine Stuhl-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0040] Ausbildung des Organes verkehrt. Der stotternde Knabe Demo- sthenes wird zum größten Redner Griechenlands. Und bis auf den heu- tigen Tag findet man selten eine solche Häufung von Sprachfehlern und Degenerationszeichen des Mundes wie bei Rednern, Schauspielern und Sängern. Die anamnestische Bedeutung der Kinderfehler für die Neurosen ist gelegentlich bereits hervorgehoben, in ihrer ganzen vollen Bedeutung von Freud betont worden. Uns erübrigt hier noch der Hinweis auf die Verlockung zu größerer sinnlicher Entfaltung, der minderwertige Organe besonders in ihren peripheren, der Hautoberfläche zugewendeten An- teilen ausgesetzt sind. Zum Teil rührt diese erhöhte Sinnlichkeit, der Ausgangspunkt zahlreicher Kinderfehler, sicherlich von dem Unver- mögen des minderwertigen Organs her, das nicht ohne weiteres in den sicheren Port kulturellen Funktionierens gelangen kann; liegt sie doch jeder Organbetätigung zugrunde, während die kulturmäßige Organ- funktion aus gebändigter Sinnlichkeit ihre Kraft bezieht. Wie weit diese Erhöhung der sinnlichen Komponente mit dem embryonalen Charakter des minderwertigen Organs in Beziehung steht, vermag ich derzeit nicht sicher zu entscheiden. Sicher ist aber, daß das Ensemble der Erscheinungen der Organminderwertigkeit auf die Psyche derart abfärbt, daß deren ganze Struktur ein eigenartiges Gepräge erhält. Die so erworbene psychische Struktur wird in der Folge zur Grundlage der Neurosen und Psychosen. Während kaum ein einziger Fall von Neurose einer derartigen Kindheitsanamnese entbehrt, worauf schon Freud eingehend hingewiesen hat, kann ich, abgesehen von der zum Schlusse folgenden Kasuistik, derzeit nur spärliches Material der Öffentlichkeit übergeben. Doch konnte ich mich z. B. bei Diabetikern mehrfach überzeugen, daß sich in der frühesten Kindheit die Darmfunktionen nicht glatt eingestellt hatten. Häufig dürfte sich Obstipation vorfinden, seltener konnte ich unfrei- willige Stuhlabgänge konstatieren. Die Häufigkeit von Magendarm- störungen bei entwickeltem Diabetes läßt den Gedanken als gerecht- fertigt erscheinen, daß diese Krankheit auf einer hereditären Minder- wertigkeit des Magendarmapparates beruht, die sich vorwiegend in der Funktion der zugehörigen Drüse, des Pankreas, zuweilen auch in der Leber geltend macht. Einige Fälle sollen diese Behauptung recht- fertigen. Margit B., 25 Jahre alt, klagt über Kopfweh und chronische Stuhlverstopfung. Vor 8 Tagen bekam sie wie früher schon öfters im Gefolge einer Aufregung Diarrhöen, die nach 2 Tagen in eine Stuhl-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-01-07T09:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-07T09:54:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-01-07T09:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/40
Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/40>, abgerufen am 19.04.2024.