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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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Ein Heer von Wolken macht mir heute meine frühe
Wanderung zu Wasser, dort drüben die Ufer sind heute
wie Schatten der Unterwelt schwankend und schwin-
dend; die Thurmspitzen der Nebelbegrabenen Städte und
Ortschaften dringen kaum durch, die schöne grüne Au'
ist verschwunden. -- Es ist noch ganz früh -- ich merk's!
kaum kann es vier Uhr sein, da schlagen die Hähne an,
von Ort zu Ort in die Runde bis Mittelheim, von
Nachbar zu Nachbar; keiner verkümmert dem andern
die Ehre des langen Nachhalls, und so geht's in die
Ferne wie weit! die Morgenstille dazwischen, wie die
Wächter der Moscheen, die das Morgengebet ausrufen.

Morgenstund' hat Gold im Mund', schon seh' ich's
glänzen und flimmern auf dem Wasser, die Strahlen
brechen durch, und säen Sterne in den eilenden Strom,
der seit zwei Tagen, wo es unaufhörlich gießt, ange-
schwollen ist.

Da hat der Himmel seine Schleier zerrissen! -- nun
ist's gewiß, daß wir heute schön Wetter haben, ich bleibe
zu Hause und will alle Segel zählen, die vorüber zie-
hen, und allen Betrachtungen Raum geben, die mir die
ferne allmählig erhellende Aussicht zuführt. Du kennst
den Fluß des Lebens wohl genau; und weißt, wo die Sand-

11*

Ein Heer von Wolken macht mir heute meine frühe
Wanderung zu Waſſer, dort drüben die Ufer ſind heute
wie Schatten der Unterwelt ſchwankend und ſchwin-
dend; die Thurmſpitzen der Nebelbegrabenen Städte und
Ortſchaften dringen kaum durch, die ſchöne grüne Au'
iſt verſchwunden. — Es iſt noch ganz früh — ich merk's!
kaum kann es vier Uhr ſein, da ſchlagen die Hähne an,
von Ort zu Ort in die Runde bis Mittelheim, von
Nachbar zu Nachbar; keiner verkümmert dem andern
die Ehre des langen Nachhalls, und ſo geht's in die
Ferne wie weit! die Morgenſtille dazwiſchen, wie die
Wächter der Moſcheen, die das Morgengebet ausrufen.

Morgenſtund' hat Gold im Mund', ſchon ſeh' ich's
glänzen und flimmern auf dem Waſſer, die Strahlen
brechen durch, und ſäen Sterne in den eilenden Strom,
der ſeit zwei Tagen, wo es unaufhörlich gießt, ange-
ſchwollen iſt.

Da hat der Himmel ſeine Schleier zerriſſen! — nun
iſt's gewiß, daß wir heute ſchön Wetter haben, ich bleibe
zu Hauſe und will alle Segel zählen, die vorüber zie-
hen, und allen Betrachtungen Raum geben, die mir die
ferne allmählig erhellende Ausſicht zuführt. Du kennſt
den Fluß des Lebens wohl genau; und weißt, wo die Sand-

11*
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[243/0275] Am frühen Morgen. Ein Heer von Wolken macht mir heute meine frühe Wanderung zu Waſſer, dort drüben die Ufer ſind heute wie Schatten der Unterwelt ſchwankend und ſchwin- dend; die Thurmſpitzen der Nebelbegrabenen Städte und Ortſchaften dringen kaum durch, die ſchöne grüne Au' iſt verſchwunden. — Es iſt noch ganz früh — ich merk's! kaum kann es vier Uhr ſein, da ſchlagen die Hähne an, von Ort zu Ort in die Runde bis Mittelheim, von Nachbar zu Nachbar; keiner verkümmert dem andern die Ehre des langen Nachhalls, und ſo geht's in die Ferne wie weit! die Morgenſtille dazwiſchen, wie die Wächter der Moſcheen, die das Morgengebet ausrufen. Morgenſtund' hat Gold im Mund', ſchon ſeh' ich's glänzen und flimmern auf dem Waſſer, die Strahlen brechen durch, und ſäen Sterne in den eilenden Strom, der ſeit zwei Tagen, wo es unaufhörlich gießt, ange- ſchwollen iſt. Da hat der Himmel ſeine Schleier zerriſſen! — nun iſt's gewiß, daß wir heute ſchön Wetter haben, ich bleibe zu Hauſe und will alle Segel zählen, die vorüber zie- hen, und allen Betrachtungen Raum geben, die mir die ferne allmählig erhellende Ausſicht zuführt. Du kennſt den Fluß des Lebens wohl genau; und weißt, wo die Sand- 11*

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/275>, abgerufen am 18.04.2024.