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Allgemeine Zeitung. Nr. 14. Augsburg, 14. Januar 1840.

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Beilage zur Allgemeinen Zeitung
14 Januar 1840

Graf Speransky.

Im Anfange des Jahres 1839 starb in St. Petersburg ein Mann, dessen Leben zu den außergewöhnlichen Erscheinungen menschlicher Geschichte gehört. Wer, auch ohne ihn gekannt zu haben, die allgemeine Theilnahme und Bewegung, die sein Tod hervorrief, bemerkte, dem mußte es klar werden, daß dieß ein Schlag sey, den ein ganzes Land mitempfand. Dieser Mann war Graf Speransky.

Dem Schicksal verdankte Speransky nichts als seine hohen Anlagen, eine fein organisirte Seele, und - manche harte Prüfung; sich selbst aber Alles, was er erreicht hat. Ohne Vermögen, ohne Verbindungen, ohne Begünstigung, ohne Beschützer, ja beinahe ohne Namen trat er in das Leben ein, unterstützt allein von unermüdlichem Fleiß, unbeugsamem moralischen Muth, mit entschiedener Festigkeit des Willens, die sanfte Form und Milde des Urtheils nicht ausschloß. Das regere geistige Leben, welches in neuester Zeit in Rußland sich erhebt und vom Auslande noch immer zu wenig beachtet wird, blickt mit Dankbarkeit auf den schöpferischen Einfluß Speransky's zurück, der, selbst tief gelehrt, die Wissenschaften beschützte und förderte, dessen Beispiel manches Talent anregte, manchen sinkenden Muth wieder erhob.

Michael Speransky, der Sohn eines russischen Landgeistlichen im Gouvernement Wladimir, wurde im Jahr 1771 geboren; sein angeerbter Name war Gramotin; nach der Sitte russischer Geistlichkeit aber ertheilte man ihm auf dem dortigen Seminarium, wo er seine erste Bildung erhielt, wegen der Hoffnungen, die seine ausgezeichneten Anlagen erweckten, den Namen Speransky. Seine frühen Leistungen empfahlen ihn für die geistliche Akademie in St. Petersburg, wo er seine Studien mit solchem Eifer fortsetzte, daß er schon in seinem 21sten Jahre als Professor der Physik und Mathematik an derselben auftreten konnte. Der Ruf seiner akademischen Bedeutsamkeit verbreitete sich schnell und erweckte in dem Fürsten Alexander Kurakin, der bei dem Generalprocurator Fürsten Wiasemsky ein bedeutendes Amt bekleidete, den Wunsch, ihn als Privatsecretär bei sich zu haben - eine Stelle, die Speransky aus Rücksichten annehmen mußte und die er bei der Thronbesteigung des Kaisers Paul behielt. Bei diesem Regierungswechsel wurde Kurakin selbst Generalprocurator, und Speransky trat nun für immer aus der akademischen, oder eigentlich geistlichen in die Civilcarriere über, ein in Rußland, wo die Söhne der Geistlichkeit nur bestimmt sind, dieselbe wieder zu ergänzen, beinahe unerhörter Schritt. Schnell erreichte er nun den Rang eines Staatsraths, und bewahrte bei der Ersetzung des Fürsten Kurakin durch den Fürsten Lapuchin, so wie bei den Generalen Beklescheff und Obolianinoff stets seinen bedeutenden Einfluß.

Bei der Thronbesteigung des Kaisers Alexander ward er Mitglied der Commission, welcher die Versehung St. Petersburgs mit Getreide obliegt. Dieser auffallende Schritt in seiner Carriere scheint zwar nur aus dem Wunsche hervorgegangen zu seyn, auf einem Standpunkt außerhalb des damaligen allgemeinen Wechsels die Gestaltung der neuen Verhältnisse abzuwarten; indeß gibt er Gelegenheit, auf einen hervorstechenden Zug in der Persönlichkeit Speransky's hinzudeuten, auf seine Vielseitigkeit. Es ist kaum ein Zweig des öffentlichen Geschäftslebens, in welchem Speransky nicht gearbeitet, in welchem er sich nicht ausgezeichnet hätte. Diese vielseitige Brauchbarkeit war zum Theil die Frucht der genauen Eintheilung, der gewissenhaftesten Benutzung seiner Zeit. Auch in späteren Jahren, wo er schon die Seele der wichtigsten Staatsgeschäfte geworden war, benutzte er regelmäßig die Zeit von dem frühesten Morgen bis zur Mittagstunde zu Erledigung seiner Berufsarbeiten und widmete den ganzen übrigen Tag theoretischen Studien, besonders in mathematischen, philosophischen und Staats-Wissenschaften, so daß er sich hierin stets auf gleicher Linie mit den Fortschritten europäischer Bestrebungen erhielt.

Unverweilt ward er zum Director bei dem Minister Fürsten Troschtschinsky ernannt, und schon im Jahr 1801 unter die wirklichen Staatsräthe und Staatssecretäre aufgenommen, und als solcher beim Reichsrathe angestellt. Der Graf Kotschubey, der berühmte Minister des Innern, ließ sich ihn hierauf als Ministerialdirector beigeben, und nun betrat Speransky ein beinahe unabsehbares Feld praktischer öffentlichen Thätigkeit. Sein Organisationstalent wirkte segensreich, nach allen Richtungen hin bemüht, an die Stelle von Mißbräuchen gemeinnützige Ordnung, an die Stelle der Willkür die Regel des Gesetzes einzuführen. Es ist wahrhaft erstaunlich, was Speransky hier geleistet hat; die wichtigsten Actenstücke des russischen Reiches aus dieser Zeit sind aus seiner Feder geflossen. Dabei erwarb er sich nebenher das Verdienst, den russischen Geschäftsstyl, der bis zu einer beinahe unverständlichen Verwilderung herabgesunken war, zu reformiren; denn Alles, was er in selbst gewöhnlichen Geschäften schrieb, war ein Muster der Diction. Bald lieferte er unter Leitung des Grafen Kotschubey die Organisation des Ministeriums des Innern, die nachher den übrigen Ministerien zum Vorbilde diente. Im Jahr 1808 ward er Präsident der Gesetzgebungscommission, die von ihm neues Leben und eine dauernde Organisation empfing, wodurch es später möglich wurde, ihre lang verzögerte Aufgabe schnell zu Ende zu führen. Auch ward ihm neben seiner Ernennung zum Collegen des Justizministers die Gesammtverwaltung des neu erworbenen Finnlands und die Oberdirection der Universität Abo übertragen; er setzte die Aufrechthaltung der nationalen Einrichtungen und Vorrechte dieses Großfürstenthums durch und sollte dafür in den finnländischen Adelsstand erhoben werden, was er jedoch ablehnte. Seine Vorschläge für Verbesserung der Unterrichtsmethode in Rußland, Vermehrung der Schulfonds, Einführung eines neuen Finanzsystems, einer neuen Organisation des Reichsrathes, wodurch derselbe einem eigentlichen Gesammtministerium ähnlicher wurde, und zu einem neuen Reglement für sämmtliche Ministerien wurden nach vielseitiger Erörterung genehmigt. Speransky war damals als Staatssecretär die Seele des Reichsrathes, und nur dadurch ist es erklärlich, wie er so Vieles und so Mannichfaltiges hat zu Stande bringen können. In weniger als zwei Jahren war das Steuersystem geordnet, das Budget untersucht und festgestellt, ein Tilgungsfonds gebildet, ein Theil der Masse des Papiergeldes außer Curs gesetzt, ein neues Münzsystem eingeführt, ein allgemeiner Tarif erlassen und ein Plan zur Reorganisation des Senates dargelegt und geprüft worden. Die in jener Zeit bewirkte Feststellung der bürgerlichen und bäuerlichen Lasten, die Organisation der Polizei in der Residenz und den übrigen Städten, das Statut über die Juden, die Sammlung statistischer Materialien über Rußland, die Bildung der Recrutirungsbezirke, Grundsätze und


Beilage zur Allgemeinen Zeitung
14 Januar 1840

Graf Speransky.

Im Anfange des Jahres 1839 starb in St. Petersburg ein Mann, dessen Leben zu den außergewöhnlichen Erscheinungen menschlicher Geschichte gehört. Wer, auch ohne ihn gekannt zu haben, die allgemeine Theilnahme und Bewegung, die sein Tod hervorrief, bemerkte, dem mußte es klar werden, daß dieß ein Schlag sey, den ein ganzes Land mitempfand. Dieser Mann war Graf Speransky.

Dem Schicksal verdankte Speransky nichts als seine hohen Anlagen, eine fein organisirte Seele, und – manche harte Prüfung; sich selbst aber Alles, was er erreicht hat. Ohne Vermögen, ohne Verbindungen, ohne Begünstigung, ohne Beschützer, ja beinahe ohne Namen trat er in das Leben ein, unterstützt allein von unermüdlichem Fleiß, unbeugsamem moralischen Muth, mit entschiedener Festigkeit des Willens, die sanfte Form und Milde des Urtheils nicht ausschloß. Das regere geistige Leben, welches in neuester Zeit in Rußland sich erhebt und vom Auslande noch immer zu wenig beachtet wird, blickt mit Dankbarkeit auf den schöpferischen Einfluß Speransky's zurück, der, selbst tief gelehrt, die Wissenschaften beschützte und förderte, dessen Beispiel manches Talent anregte, manchen sinkenden Muth wieder erhob.

Michael Speransky, der Sohn eines russischen Landgeistlichen im Gouvernement Wladimir, wurde im Jahr 1771 geboren; sein angeerbter Name war Gramotin; nach der Sitte russischer Geistlichkeit aber ertheilte man ihm auf dem dortigen Seminarium, wo er seine erste Bildung erhielt, wegen der Hoffnungen, die seine ausgezeichneten Anlagen erweckten, den Namen Speransky. Seine frühen Leistungen empfahlen ihn für die geistliche Akademie in St. Petersburg, wo er seine Studien mit solchem Eifer fortsetzte, daß er schon in seinem 21sten Jahre als Professor der Physik und Mathematik an derselben auftreten konnte. Der Ruf seiner akademischen Bedeutsamkeit verbreitete sich schnell und erweckte in dem Fürsten Alexander Kurakin, der bei dem Generalprocurator Fürsten Wiasemsky ein bedeutendes Amt bekleidete, den Wunsch, ihn als Privatsecretär bei sich zu haben – eine Stelle, die Speransky aus Rücksichten annehmen mußte und die er bei der Thronbesteigung des Kaisers Paul behielt. Bei diesem Regierungswechsel wurde Kurakin selbst Generalprocurator, und Speransky trat nun für immer aus der akademischen, oder eigentlich geistlichen in die Civilcarrière über, ein in Rußland, wo die Söhne der Geistlichkeit nur bestimmt sind, dieselbe wieder zu ergänzen, beinahe unerhörter Schritt. Schnell erreichte er nun den Rang eines Staatsraths, und bewahrte bei der Ersetzung des Fürsten Kurakin durch den Fürsten Lapuchin, so wie bei den Generalen Beklescheff und Obolianinoff stets seinen bedeutenden Einfluß.

Bei der Thronbesteigung des Kaisers Alexander ward er Mitglied der Commission, welcher die Versehung St. Petersburgs mit Getreide obliegt. Dieser auffallende Schritt in seiner Carrière scheint zwar nur aus dem Wunsche hervorgegangen zu seyn, auf einem Standpunkt außerhalb des damaligen allgemeinen Wechsels die Gestaltung der neuen Verhältnisse abzuwarten; indeß gibt er Gelegenheit, auf einen hervorstechenden Zug in der Persönlichkeit Speransky's hinzudeuten, auf seine Vielseitigkeit. Es ist kaum ein Zweig des öffentlichen Geschäftslebens, in welchem Speransky nicht gearbeitet, in welchem er sich nicht ausgezeichnet hätte. Diese vielseitige Brauchbarkeit war zum Theil die Frucht der genauen Eintheilung, der gewissenhaftesten Benutzung seiner Zeit. Auch in späteren Jahren, wo er schon die Seele der wichtigsten Staatsgeschäfte geworden war, benutzte er regelmäßig die Zeit von dem frühesten Morgen bis zur Mittagstunde zu Erledigung seiner Berufsarbeiten und widmete den ganzen übrigen Tag theoretischen Studien, besonders in mathematischen, philosophischen und Staats-Wissenschaften, so daß er sich hierin stets auf gleicher Linie mit den Fortschritten europäischer Bestrebungen erhielt.

Unverweilt ward er zum Director bei dem Minister Fürsten Troschtschinsky ernannt, und schon im Jahr 1801 unter die wirklichen Staatsräthe und Staatssecretäre aufgenommen, und als solcher beim Reichsrathe angestellt. Der Graf Kotschubey, der berühmte Minister des Innern, ließ sich ihn hierauf als Ministerialdirector beigeben, und nun betrat Speransky ein beinahe unabsehbares Feld praktischer öffentlichen Thätigkeit. Sein Organisationstalent wirkte segensreich, nach allen Richtungen hin bemüht, an die Stelle von Mißbräuchen gemeinnützige Ordnung, an die Stelle der Willkür die Regel des Gesetzes einzuführen. Es ist wahrhaft erstaunlich, was Speransky hier geleistet hat; die wichtigsten Actenstücke des russischen Reiches aus dieser Zeit sind aus seiner Feder geflossen. Dabei erwarb er sich nebenher das Verdienst, den russischen Geschäftsstyl, der bis zu einer beinahe unverständlichen Verwilderung herabgesunken war, zu reformiren; denn Alles, was er in selbst gewöhnlichen Geschäften schrieb, war ein Muster der Diction. Bald lieferte er unter Leitung des Grafen Kotschubey die Organisation des Ministeriums des Innern, die nachher den übrigen Ministerien zum Vorbilde diente. Im Jahr 1808 ward er Präsident der Gesetzgebungscommission, die von ihm neues Leben und eine dauernde Organisation empfing, wodurch es später möglich wurde, ihre lang verzögerte Aufgabe schnell zu Ende zu führen. Auch ward ihm neben seiner Ernennung zum Collegen des Justizministers die Gesammtverwaltung des neu erworbenen Finnlands und die Oberdirection der Universität Abo übertragen; er setzte die Aufrechthaltung der nationalen Einrichtungen und Vorrechte dieses Großfürstenthums durch und sollte dafür in den finnländischen Adelsstand erhoben werden, was er jedoch ablehnte. Seine Vorschläge für Verbesserung der Unterrichtsmethode in Rußland, Vermehrung der Schulfonds, Einführung eines neuen Finanzsystems, einer neuen Organisation des Reichsrathes, wodurch derselbe einem eigentlichen Gesammtministerium ähnlicher wurde, und zu einem neuen Reglement für sämmtliche Ministerien wurden nach vielseitiger Erörterung genehmigt. Speransky war damals als Staatssecretär die Seele des Reichsrathes, und nur dadurch ist es erklärlich, wie er so Vieles und so Mannichfaltiges hat zu Stande bringen können. In weniger als zwei Jahren war das Steuersystem geordnet, das Budget untersucht und festgestellt, ein Tilgungsfonds gebildet, ein Theil der Masse des Papiergeldes außer Curs gesetzt, ein neues Münzsystem eingeführt, ein allgemeiner Tarif erlassen und ein Plan zur Reorganisation des Senates dargelegt und geprüft worden. Die in jener Zeit bewirkte Feststellung der bürgerlichen und bäuerlichen Lasten, die Organisation der Polizei in der Residenz und den übrigen Städten, das Statut über die Juden, die Sammlung statistischer Materialien über Rußland, die Bildung der Recrutirungsbezirke, Grundsätze und

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[0105/0008] Beilage zur Allgemeinen Zeitung 14 Januar 1840 Graf Speransky.✝ Im Anfange des Jahres 1839 starb in St. Petersburg ein Mann, dessen Leben zu den außergewöhnlichen Erscheinungen menschlicher Geschichte gehört. Wer, auch ohne ihn gekannt zu haben, die allgemeine Theilnahme und Bewegung, die sein Tod hervorrief, bemerkte, dem mußte es klar werden, daß dieß ein Schlag sey, den ein ganzes Land mitempfand. Dieser Mann war Graf Speransky. Dem Schicksal verdankte Speransky nichts als seine hohen Anlagen, eine fein organisirte Seele, und – manche harte Prüfung; sich selbst aber Alles, was er erreicht hat. Ohne Vermögen, ohne Verbindungen, ohne Begünstigung, ohne Beschützer, ja beinahe ohne Namen trat er in das Leben ein, unterstützt allein von unermüdlichem Fleiß, unbeugsamem moralischen Muth, mit entschiedener Festigkeit des Willens, die sanfte Form und Milde des Urtheils nicht ausschloß. Das regere geistige Leben, welches in neuester Zeit in Rußland sich erhebt und vom Auslande noch immer zu wenig beachtet wird, blickt mit Dankbarkeit auf den schöpferischen Einfluß Speransky's zurück, der, selbst tief gelehrt, die Wissenschaften beschützte und förderte, dessen Beispiel manches Talent anregte, manchen sinkenden Muth wieder erhob. Michael Speransky, der Sohn eines russischen Landgeistlichen im Gouvernement Wladimir, wurde im Jahr 1771 geboren; sein angeerbter Name war Gramotin; nach der Sitte russischer Geistlichkeit aber ertheilte man ihm auf dem dortigen Seminarium, wo er seine erste Bildung erhielt, wegen der Hoffnungen, die seine ausgezeichneten Anlagen erweckten, den Namen Speransky. Seine frühen Leistungen empfahlen ihn für die geistliche Akademie in St. Petersburg, wo er seine Studien mit solchem Eifer fortsetzte, daß er schon in seinem 21sten Jahre als Professor der Physik und Mathematik an derselben auftreten konnte. Der Ruf seiner akademischen Bedeutsamkeit verbreitete sich schnell und erweckte in dem Fürsten Alexander Kurakin, der bei dem Generalprocurator Fürsten Wiasemsky ein bedeutendes Amt bekleidete, den Wunsch, ihn als Privatsecretär bei sich zu haben – eine Stelle, die Speransky aus Rücksichten annehmen mußte und die er bei der Thronbesteigung des Kaisers Paul behielt. Bei diesem Regierungswechsel wurde Kurakin selbst Generalprocurator, und Speransky trat nun für immer aus der akademischen, oder eigentlich geistlichen in die Civilcarrière über, ein in Rußland, wo die Söhne der Geistlichkeit nur bestimmt sind, dieselbe wieder zu ergänzen, beinahe unerhörter Schritt. Schnell erreichte er nun den Rang eines Staatsraths, und bewahrte bei der Ersetzung des Fürsten Kurakin durch den Fürsten Lapuchin, so wie bei den Generalen Beklescheff und Obolianinoff stets seinen bedeutenden Einfluß. Bei der Thronbesteigung des Kaisers Alexander ward er Mitglied der Commission, welcher die Versehung St. Petersburgs mit Getreide obliegt. Dieser auffallende Schritt in seiner Carrière scheint zwar nur aus dem Wunsche hervorgegangen zu seyn, auf einem Standpunkt außerhalb des damaligen allgemeinen Wechsels die Gestaltung der neuen Verhältnisse abzuwarten; indeß gibt er Gelegenheit, auf einen hervorstechenden Zug in der Persönlichkeit Speransky's hinzudeuten, auf seine Vielseitigkeit. Es ist kaum ein Zweig des öffentlichen Geschäftslebens, in welchem Speransky nicht gearbeitet, in welchem er sich nicht ausgezeichnet hätte. Diese vielseitige Brauchbarkeit war zum Theil die Frucht der genauen Eintheilung, der gewissenhaftesten Benutzung seiner Zeit. Auch in späteren Jahren, wo er schon die Seele der wichtigsten Staatsgeschäfte geworden war, benutzte er regelmäßig die Zeit von dem frühesten Morgen bis zur Mittagstunde zu Erledigung seiner Berufsarbeiten und widmete den ganzen übrigen Tag theoretischen Studien, besonders in mathematischen, philosophischen und Staats-Wissenschaften, so daß er sich hierin stets auf gleicher Linie mit den Fortschritten europäischer Bestrebungen erhielt. Unverweilt ward er zum Director bei dem Minister Fürsten Troschtschinsky ernannt, und schon im Jahr 1801 unter die wirklichen Staatsräthe und Staatssecretäre aufgenommen, und als solcher beim Reichsrathe angestellt. Der Graf Kotschubey, der berühmte Minister des Innern, ließ sich ihn hierauf als Ministerialdirector beigeben, und nun betrat Speransky ein beinahe unabsehbares Feld praktischer öffentlichen Thätigkeit. Sein Organisationstalent wirkte segensreich, nach allen Richtungen hin bemüht, an die Stelle von Mißbräuchen gemeinnützige Ordnung, an die Stelle der Willkür die Regel des Gesetzes einzuführen. Es ist wahrhaft erstaunlich, was Speransky hier geleistet hat; die wichtigsten Actenstücke des russischen Reiches aus dieser Zeit sind aus seiner Feder geflossen. Dabei erwarb er sich nebenher das Verdienst, den russischen Geschäftsstyl, der bis zu einer beinahe unverständlichen Verwilderung herabgesunken war, zu reformiren; denn Alles, was er in selbst gewöhnlichen Geschäften schrieb, war ein Muster der Diction. Bald lieferte er unter Leitung des Grafen Kotschubey die Organisation des Ministeriums des Innern, die nachher den übrigen Ministerien zum Vorbilde diente. Im Jahr 1808 ward er Präsident der Gesetzgebungscommission, die von ihm neues Leben und eine dauernde Organisation empfing, wodurch es später möglich wurde, ihre lang verzögerte Aufgabe schnell zu Ende zu führen. Auch ward ihm neben seiner Ernennung zum Collegen des Justizministers die Gesammtverwaltung des neu erworbenen Finnlands und die Oberdirection der Universität Abo übertragen; er setzte die Aufrechthaltung der nationalen Einrichtungen und Vorrechte dieses Großfürstenthums durch und sollte dafür in den finnländischen Adelsstand erhoben werden, was er jedoch ablehnte. Seine Vorschläge für Verbesserung der Unterrichtsmethode in Rußland, Vermehrung der Schulfonds, Einführung eines neuen Finanzsystems, einer neuen Organisation des Reichsrathes, wodurch derselbe einem eigentlichen Gesammtministerium ähnlicher wurde, und zu einem neuen Reglement für sämmtliche Ministerien wurden nach vielseitiger Erörterung genehmigt. Speransky war damals als Staatssecretär die Seele des Reichsrathes, und nur dadurch ist es erklärlich, wie er so Vieles und so Mannichfaltiges hat zu Stande bringen können. In weniger als zwei Jahren war das Steuersystem geordnet, das Budget untersucht und festgestellt, ein Tilgungsfonds gebildet, ein Theil der Masse des Papiergeldes außer Curs gesetzt, ein neues Münzsystem eingeführt, ein allgemeiner Tarif erlassen und ein Plan zur Reorganisation des Senates dargelegt und geprüft worden. Die in jener Zeit bewirkte Feststellung der bürgerlichen und bäuerlichen Lasten, die Organisation der Polizei in der Residenz und den übrigen Städten, das Statut über die Juden, die Sammlung statistischer Materialien über Rußland, die Bildung der Recrutirungsbezirke, Grundsätze und

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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 14. Augsburg, 14. Januar 1840, S. 0105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_014_18400114/8>, abgerufen am 20.04.2024.