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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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den sich auch die Geister finden, die ihr den Weg zeigen
zu jenen Grosstaten der Menschheit, mit denen man heute
in Deutschland prahlt, ohne zu wissen, worin sie bestehen.
Dann wird sich das Mass ergeben des Wissens, worin
man stolz sein darf und wo man sich schämen muss.

5.

Man sieht: hier wird verneint, dass es eine deutsche
Intelligenz schon gab, ja geben konnte. Es gab Fragmente,
Ansätze, Versuche, aber keine Durchdringung und Auf-
hellung der Nation. Auch Deutschland hatte seine grossen
Männer. Aber der Widerspruch, in dem sie zur Gesamt-
heit standen und jene mit sich selbst unzufriedene Selbst-
zufriedenheit, die das Volk charakterisiert, verwandelte in
diesen Männern die Liebe zu Hass, die Freude in Ver-
zweiflung. Von Banausentum, Intrigen und Pedanterie ein-
gekreist, sahen sie ihre besten Entwürfe verkümmern. Von
keiner begeisternden Welle getragen, wurde ihr Schaffen
ihnen zur Qual, ihr Leben zum Leidensweg, und wenn sie
die Aussichtslosigkeit erkannten, war es zu spät.

Thomas Münzer Archifanatikus: eine ganze Hierarchie
des Leidens trug er in sich. Er ist verschollen in diesem Volk,
sein Name ist kaum bekannt. Hölderlin klagt: "Barbaren von
alters her, durch Fleiss und Wissenschaft und selbst durch
Religion barbarischer geworden, tief unfähig jeden gött-
lichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der
heiligen Grazien, in jedem Grad der Uebertreibung und
der Aermlichkeit beleidigend für jede gut geartete Seele,
dumpf und harmonienlos wie die Scherben eines wegge-
worfenen Gefässes: -- das, mein Bellarmin, waren meine
Tröster" 6). Von Goethe kam jenes resignierte Wort:
"Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit
einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert; allein es können
noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren

den sich auch die Geister finden, die ihr den Weg zeigen
zu jenen Grosstaten der Menschheit, mit denen man heute
in Deutschland prahlt, ohne zu wissen, worin sie bestehen.
Dann wird sich das Mass ergeben des Wissens, worin
man stolz sein darf und wo man sich schämen muss.

5.

Man sieht: hier wird verneint, dass es eine deutsche
Intelligenz schon gab, ja geben konnte. Es gab Fragmente,
Ansätze, Versuche, aber keine Durchdringung und Auf-
hellung der Nation. Auch Deutschland hatte seine grossen
Männer. Aber der Widerspruch, in dem sie zur Gesamt-
heit standen und jene mit sich selbst unzufriedene Selbst-
zufriedenheit, die das Volk charakterisiert, verwandelte in
diesen Männern die Liebe zu Hass, die Freude in Ver-
zweiflung. Von Banausentum, Intrigen und Pedanterie ein-
gekreist, sahen sie ihre besten Entwürfe verkümmern. Von
keiner begeisternden Welle getragen, wurde ihr Schaffen
ihnen zur Qual, ihr Leben zum Leidensweg, und wenn sie
die Aussichtslosigkeit erkannten, war es zu spät.

Thomas Münzer Archifanatikus: eine ganze Hierarchie
des Leidens trug er in sich. Er ist verschollen in diesem Volk,
sein Name ist kaum bekannt. Hölderlin klagt: „Barbaren von
alters her, durch Fleiss und Wissenschaft und selbst durch
Religion barbarischer geworden, tief unfähig jeden gött-
lichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der
heiligen Grazien, in jedem Grad der Uebertreibung und
der Aermlichkeit beleidigend für jede gut geartete Seele,
dumpf und harmonienlos wie die Scherben eines wegge-
worfenen Gefässes: — das, mein Bellarmin, waren meine
Tröster“ 6). Von Goethe kam jenes resignierte Wort:
„Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit
einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert; allein es können
noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren

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[8/0016] den sich auch die Geister finden, die ihr den Weg zeigen zu jenen Grosstaten der Menschheit, mit denen man heute in Deutschland prahlt, ohne zu wissen, worin sie bestehen. Dann wird sich das Mass ergeben des Wissens, worin man stolz sein darf und wo man sich schämen muss. 5. Man sieht: hier wird verneint, dass es eine deutsche Intelligenz schon gab, ja geben konnte. Es gab Fragmente, Ansätze, Versuche, aber keine Durchdringung und Auf- hellung der Nation. Auch Deutschland hatte seine grossen Männer. Aber der Widerspruch, in dem sie zur Gesamt- heit standen und jene mit sich selbst unzufriedene Selbst- zufriedenheit, die das Volk charakterisiert, verwandelte in diesen Männern die Liebe zu Hass, die Freude in Ver- zweiflung. Von Banausentum, Intrigen und Pedanterie ein- gekreist, sahen sie ihre besten Entwürfe verkümmern. Von keiner begeisternden Welle getragen, wurde ihr Schaffen ihnen zur Qual, ihr Leben zum Leidensweg, und wenn sie die Aussichtslosigkeit erkannten, war es zu spät. Thomas Münzer Archifanatikus: eine ganze Hierarchie des Leidens trug er in sich. Er ist verschollen in diesem Volk, sein Name ist kaum bekannt. Hölderlin klagt: „Barbaren von alters her, durch Fleiss und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tief unfähig jeden gött- lichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Uebertreibung und der Aermlichkeit beleidigend für jede gut geartete Seele, dumpf und harmonienlos wie die Scherben eines wegge- worfenen Gefässes: — das, mein Bellarmin, waren meine Tröster“ ⁶⁾ . Von Goethe kam jenes resignierte Wort: „Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert; allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/16>, abgerufen am 28.03.2024.