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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Die Beantwortung dieser Fragen kann nur gefunden werden auf pba_032.002
dem Boden der im Obigen gewonnenen Resultate, daß weder "Handlungen" pba_032.003
noch "Körper" die Gegenstände der Künste sind, sondern pba_032.004
beides nur Mittel, die eigentlichen Gegenstände nachahmend zu verkörpern; pba_032.005
daß diese Gegenstände, die der Poesie und Malerei gemeinsam pba_032.006
sein können, dem innern Seelenleben angehörig, psychologisch-ethischer pba_032.007
Natur sind und darum an sich selbst weder nach dem Princip der pba_032.008
Koexistenz noch nach dem der Succession zu unterscheiden, sondern daß pba_032.009
diesen Principien nur die Mittel ihrer Nachahmung durch diese oder jene pba_032.010
Kunst unterworfen sind.

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Umgekehrt wird die Untersuchung nach der innern Begründung pba_032.012
jenes technischen Haupterfahrungssatzes für das verschiedene Verfahren pba_032.013
der Poesie und der bildenden Kunst geeignet sein, die Erkenntnis der pba_032.014
eigentlichen Gegenstände der künstlerischen Nachahmung von einer neuen pba_032.015
Seite noch klarer ins Licht zu setzen.



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IV.

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"Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in pba_032.018
den bildenden Künsten gemacht habe: soviel ist gewiß, daß sie den pba_032.019
großen alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden." Aus pba_032.020
diesem Lessingschen Satze läßt sich ein weiter gehender Schluß ziehen als pba_032.021
der, welchen er selbst daraus folgerte: "der weise Grieche hatte die bildende pba_032.022
Kunst bloß auf die Nachahmung schöner Körper eingeschränkt." Die pba_032.023
unbekannte Größe des Begriffs der Schönheit, der doch erst als das pba_032.024
Resultat einer Rechnung sich uns ergibt, deren Faktoren zunächst festzustellen pba_032.025
sind, hemmt auch hier den Fortgang der Untersuchung.

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Wenn wir mit Aristoteles annehmen, daß die ersten Anfänge des pba_032.027
Kunsttriebes aus der Freude an der Nachahmung entstanden sind, wie pba_032.028
wir dieselbe an den Kindern noch täglich beobachten können, so ergibt pba_032.029
sich sogleich, daß, da naturgemäß diese ersten, rohesten Nachahmungsversuche pba_032.030
sich solchen Gegenständen und Vorgängen zuwandten, die durch pba_032.031
ein irgendwie beschaffenes Jnteresse die Seele zur Thätigkeit erregten, pba_032.032
in den fortgesetzten, ausgeführteren Versuchen mit der zum frei pba_032.033
wählenden Können gesteigerten Technik sich der Kreis der die Nachahmung pba_032.034
auf sich ziehenden Gegenstände mehr und mehr auf dasjenige einschränken pba_032.035
mußte, was die Seele stark und in erwünschter Weise bewegte, pba_032.036
was sie zu lebhafter, von Lust gefühl begleiteter, Thätigkeit pba_032.037
erhöhte.
Daraus folgt aber weiter, und gleichfalls schon auf

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„Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in pba_032.018
den bildenden Künsten gemacht habe: soviel ist gewiß, daß sie den pba_032.019
großen alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden.“ Aus pba_032.020
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ein irgendwie beschaffenes Jnteresse die Seele zur Thätigkeit erregten, pba_032.032
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/50>, abgerufen am 29.03.2024.