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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873.

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Politische Anschauungen der Chinesen.
wohnend, gehörte er gleichsam einem anderen Elemente an 8). --
Der Kaiser ist nach der uralten Weltanschauung der Chinesen der
Sohn des Himmels "Tien". Dieses Wort bedeutet übertragen Vor-
sehung, Weltordnung, ewige Gerechtigkeit, und bezeichnet so ganz
das höchste geistige weltregierende Princip, dass die Jesuiten ge-
wiss mit Recht den Ausdruck "Gott" durch "Tien" übersetzten.
Zur vollen Gleichbedeutung mit dem monotheistischen Begriff fehlt
ihm allerdings, aber auch nur eine einzige Eigenschaft: es drückt
nicht den persönlichen Gott, den bewussten Willen aus.
Diesen Begriff kennen die Chinesen nicht; sie haben ihn, wie es
scheint, verloren 9). Tien bezeichnet die Ewigkeit, Vollkommenheit,
Unendlichkeit, sittlich das höchste Gute, Wahre, Rechte, die un-
umstössliche Weltordnung, und in diesem Sinne ist der chine-
sische Kaiser der erwählte Sohn, der Vertreter des Himmels, be-
rufen, die Welt zu regieren, die göttliche Ordnung auf Erden auf-
recht zu halten; er ist nicht nur der rechtmässige Beherrscher von
China, sondern der vom Himmel eingesetzte Herr der Welt, sein
Willen unumschränkt und unantastbar.

Als erwählter Sohn des Himmels ist nun der Kaiser nicht
nur absoluter Herr, sondern er ist auch für das Wohl und Wehe
des Reiches, -- der Welt, -- und das Glück seiner Unterthanen --
aller Menschen -- verantwortlich. Alles Unheil, das dieselben von
aussen betrifft, verschuldet der Kaiser. Lebt er nicht mehr im Ein-
klange mit der himmlischen Weltordnung, so werden die Menschen
heimgesucht; dann thut der Herrscher Busse, legt ein öffentliches
Schuldbekenntniss ab und strebt, sich durch Opfer und Gebet wie-
der in Harmonie mit der höchsten Wesenheit zu setzen. Grosse
Calamitäten, welche das Reich betreffen, sind ein Zeichen, dass der
Kaiser nicht mehr der Erwählte des Himmels, in monotheistischem
Sinne ausgedrückt, "dass die göttliche Gnade von ihm gewichen
ist". Nicht nur Bedrückungen und Invasionen, sondern auch Miss-
wachs, Erdbeben, Ueberschwemmungen und andere Paroxysmen
der Natur haben, als Zeichen, dass nicht der rechte Himmelssohn

8) Der holländische Gesandte, welcher 1654 nach Pe-kin kam, soll in der
Audienz allen Ernstes gefragt worden sein, wie lange seine Landsleute unter Wasser
leben könnten. Bis 1860 glaubte man dort an die Seehundsnatur der Engländer.
9) San-ti, welchen chinesische Kaiser der grauen Vorzeit anbeteten, muss ur-
sprünglich als einiger allmächtiger Gott gedacht worden sein. Die Philosophenschulen
deuteten später den Namen theils atheistisch, theils deistisch.

Politische Anschauungen der Chinesen.
wohnend, gehörte er gleichsam einem anderen Elemente an 8). —
Der Kaiser ist nach der uralten Weltanschauung der Chinesen der
Sohn des Himmels »Tien«. Dieses Wort bedeutet übertragen Vor-
sehung, Weltordnung, ewige Gerechtigkeit, und bezeichnet so ganz
das höchste geistige weltregierende Princip, dass die Jesuiten ge-
wiss mit Recht den Ausdruck »Gott« durch »Tien« übersetzten.
Zur vollen Gleichbedeutung mit dem monotheistischen Begriff fehlt
ihm allerdings, aber auch nur eine einzige Eigenschaft: es drückt
nicht den persönlichen Gott, den bewussten Willen aus.
Diesen Begriff kennen die Chinesen nicht; sie haben ihn, wie es
scheint, verloren 9). Tien bezeichnet die Ewigkeit, Vollkommenheit,
Unendlichkeit, sittlich das höchste Gute, Wahre, Rechte, die un-
umstössliche Weltordnung, und in diesem Sinne ist der chine-
sische Kaiser der erwählte Sohn, der Vertreter des Himmels, be-
rufen, die Welt zu regieren, die göttliche Ordnung auf Erden auf-
recht zu halten; er ist nicht nur der rechtmässige Beherrscher von
China, sondern der vom Himmel eingesetzte Herr der Welt, sein
Willen unumschränkt und unantastbar.

Als erwählter Sohn des Himmels ist nun der Kaiser nicht
nur absoluter Herr, sondern er ist auch für das Wohl und Wehe
des Reiches, — der Welt, — und das Glück seiner Unterthanen —
aller Menschen — verantwortlich. Alles Unheil, das dieselben von
aussen betrifft, verschuldet der Kaiser. Lebt er nicht mehr im Ein-
klange mit der himmlischen Weltordnung, so werden die Menschen
heimgesucht; dann thut der Herrscher Busse, legt ein öffentliches
Schuldbekenntniss ab und strebt, sich durch Opfer und Gebet wie-
der in Harmonie mit der höchsten Wesenheit zu setzen. Grosse
Calamitäten, welche das Reich betreffen, sind ein Zeichen, dass der
Kaiser nicht mehr der Erwählte des Himmels, in monotheistischem
Sinne ausgedrückt, »dass die göttliche Gnade von ihm gewichen
ist«. Nicht nur Bedrückungen und Invasionen, sondern auch Miss-
wachs, Erdbeben, Ueberschwemmungen und andere Paroxysmen
der Natur haben, als Zeichen, dass nicht der rechte Himmelssohn

8) Der holländische Gesandte, welcher 1654 nach Pe-kiṅ kam, soll in der
Audienz allen Ernstes gefragt worden sein, wie lange seine Landsleute unter Wasser
leben könnten. Bis 1860 glaubte man dort an die Seehundsnatur der Engländer.
9) Šan-ti, welchen chinesische Kaiser der grauen Vorzeit anbeteten, muss ur-
sprünglich als einiger allmächtiger Gott gedacht worden sein. Die Philosophenschulen
deuteten später den Namen theils atheistisch, theils deistisch.
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[20/0042] Politische Anschauungen der Chinesen. wohnend, gehörte er gleichsam einem anderen Elemente an 8). — Der Kaiser ist nach der uralten Weltanschauung der Chinesen der Sohn des Himmels »Tien«. Dieses Wort bedeutet übertragen Vor- sehung, Weltordnung, ewige Gerechtigkeit, und bezeichnet so ganz das höchste geistige weltregierende Princip, dass die Jesuiten ge- wiss mit Recht den Ausdruck »Gott« durch »Tien« übersetzten. Zur vollen Gleichbedeutung mit dem monotheistischen Begriff fehlt ihm allerdings, aber auch nur eine einzige Eigenschaft: es drückt nicht den persönlichen Gott, den bewussten Willen aus. Diesen Begriff kennen die Chinesen nicht; sie haben ihn, wie es scheint, verloren 9). Tien bezeichnet die Ewigkeit, Vollkommenheit, Unendlichkeit, sittlich das höchste Gute, Wahre, Rechte, die un- umstössliche Weltordnung, und in diesem Sinne ist der chine- sische Kaiser der erwählte Sohn, der Vertreter des Himmels, be- rufen, die Welt zu regieren, die göttliche Ordnung auf Erden auf- recht zu halten; er ist nicht nur der rechtmässige Beherrscher von China, sondern der vom Himmel eingesetzte Herr der Welt, sein Willen unumschränkt und unantastbar. Als erwählter Sohn des Himmels ist nun der Kaiser nicht nur absoluter Herr, sondern er ist auch für das Wohl und Wehe des Reiches, — der Welt, — und das Glück seiner Unterthanen — aller Menschen — verantwortlich. Alles Unheil, das dieselben von aussen betrifft, verschuldet der Kaiser. Lebt er nicht mehr im Ein- klange mit der himmlischen Weltordnung, so werden die Menschen heimgesucht; dann thut der Herrscher Busse, legt ein öffentliches Schuldbekenntniss ab und strebt, sich durch Opfer und Gebet wie- der in Harmonie mit der höchsten Wesenheit zu setzen. Grosse Calamitäten, welche das Reich betreffen, sind ein Zeichen, dass der Kaiser nicht mehr der Erwählte des Himmels, in monotheistischem Sinne ausgedrückt, »dass die göttliche Gnade von ihm gewichen ist«. Nicht nur Bedrückungen und Invasionen, sondern auch Miss- wachs, Erdbeben, Ueberschwemmungen und andere Paroxysmen der Natur haben, als Zeichen, dass nicht der rechte Himmelssohn 8) Der holländische Gesandte, welcher 1654 nach Pe-kiṅ kam, soll in der Audienz allen Ernstes gefragt worden sein, wie lange seine Landsleute unter Wasser leben könnten. Bis 1860 glaubte man dort an die Seehundsnatur der Engländer. 9) Šan-ti, welchen chinesische Kaiser der grauen Vorzeit anbeteten, muss ur- sprünglich als einiger allmächtiger Gott gedacht worden sein. Die Philosophenschulen deuteten später den Namen theils atheistisch, theils deistisch.

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 3. Berlin, 1873, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien03_1873/42>, abgerufen am 29.03.2024.