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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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Kinderspiele. XVII.
Jongleure und Taschenspieler, deren tolle Geschicklichkeit oft
Grauen und Ekel erregen, zeigen sich auf den Strassen: das Ver-
schlucken von Nähnadeln, die nachher auf einen Faden gereiht
durch die Nase wieder zum Vorschein kommen, soll ein gefähr-
liches Kunststück sein, an welchem Mancher zu Grunde geht; ganz
harmlos ist dagegen das beliebte Köpfen, bei welchem das breite
Schwert im Nacken des Schlachtopfers stecken bleibt und ein
Blutstrom aus der scheinbaren Wunde quillt. -- In der Seitengasse
vergnügt sich ein Kreis erwachsener Männer mit dem Federball,
den sie mit den Füssen durch die Luft jagen und mit unfehlbarer
Geschicklichkeit oft Viertelstunden lang fliegend erhalten. Wo es
still ist in Pe-kin hört man vom Himmel herab ein sonderbar har-
monisches sanftes Pfeifen: das sind Schwärme von Tauben, denen
die Pekinger, -- vielleicht um Raubvögel abzuschrecken, -- kleine
Pfeifen unter den Schwanz binden, welche beim Fluge beständig
tönen.

Zerlumpte blinde Bettler ziehen, einen sehenden an der
Spitze, truppweise im Gänsemarsch durch die Strassen, die eine
Hand auf die Schulter des Vordermannes gelegt, in der anderen
den Stab haltend. Dort kauert ein Schuhflicker mit ambulanter
Werkstatt, hier ein Wahrsager mit kabalistischem Apparat; daneben
räumen schmutzige Kerle den geheimen Inhalt einer besonderen
Art Strohhütte aus, deren Dasein die Nase in allen Strassen ahnt.
In schattigem Winkel lagert ein Haufen Bettler, leidenschaftlich in
die Karten vertieft; ein Trödler hat seinen ganzen Kram von Thee-
kannen, Pfeifen und buntem Allerlei auf der Erde ausgebreitet.
Höker mit Leckereien sitzen an jeder Ecke, ein Glücksspiel vor
sich, auf welches selbst das naschende Kind seinen Heller setzt;
denn der kleine Chinese äfft alle Leidenschaften des grossen nach.
Auch Pfandleihe ist ein Lieblingsspiel: mit mächtiger Brille auf der
Nase entwickelt der kleine Verleiher unglaublichen Aplomb in ge-
ringschätziger Behandlung der von den Spielgefährten gereichten
Pfänder. Im bürgerlichen Leben des Chinesen hat nämlich die
Pfandleihe als einzige Art von Creditanstalt hohe Wichtigkeit: 1860
fanden die englischen Truppen in den Leihämtern grosse Schätze
aufgehäuft; aller Orten sind sie kenntlich an dem vor dem Hause
aufgestellten Pfosten mit einem Drachenkopf auf halber Höhe. --
Ein anderes Lieblingsspiel ist das Köpfen, das viele Kinder aus
eigener Anschauung kennen und sehr geschickt nachzuahmen wissen.

Kinderspiele. XVII.
Jongleure und Taschenspieler, deren tolle Geschicklichkeit oft
Grauen und Ekel erregen, zeigen sich auf den Strassen: das Ver-
schlucken von Nähnadeln, die nachher auf einen Faden gereiht
durch die Nase wieder zum Vorschein kommen, soll ein gefähr-
liches Kunststück sein, an welchem Mancher zu Grunde geht; ganz
harmlos ist dagegen das beliebte Köpfen, bei welchem das breite
Schwert im Nacken des Schlachtopfers stecken bleibt und ein
Blutstrom aus der scheinbaren Wunde quillt. — In der Seitengasse
vergnügt sich ein Kreis erwachsener Männer mit dem Federball,
den sie mit den Füssen durch die Luft jagen und mit unfehlbarer
Geschicklichkeit oft Viertelstunden lang fliegend erhalten. Wo es
still ist in Pe-kiṅ hört man vom Himmel herab ein sonderbar har-
monisches sanftes Pfeifen: das sind Schwärme von Tauben, denen
die Pekinger, — vielleicht um Raubvögel abzuschrecken, — kleine
Pfeifen unter den Schwanz binden, welche beim Fluge beständig
tönen.

Zerlumpte blinde Bettler ziehen, einen sehenden an der
Spitze, truppweise im Gänsemarsch durch die Strassen, die eine
Hand auf die Schulter des Vordermannes gelegt, in der anderen
den Stab haltend. Dort kauert ein Schuhflicker mit ambulanter
Werkstatt, hier ein Wahrsager mit kabalistischem Apparat; daneben
räumen schmutzige Kerle den geheimen Inhalt einer besonderen
Art Strohhütte aus, deren Dasein die Nase in allen Strassen ahnt.
In schattigem Winkel lagert ein Haufen Bettler, leidenschaftlich in
die Karten vertieft; ein Trödler hat seinen ganzen Kram von Thee-
kannen, Pfeifen und buntem Allerlei auf der Erde ausgebreitet.
Höker mit Leckereien sitzen an jeder Ecke, ein Glücksspiel vor
sich, auf welches selbst das naschende Kind seinen Heller setzt;
denn der kleine Chinese äfft alle Leidenschaften des grossen nach.
Auch Pfandleihe ist ein Lieblingsspiel: mit mächtiger Brille auf der
Nase entwickelt der kleine Verleiher unglaublichen Aplomb in ge-
ringschätziger Behandlung der von den Spielgefährten gereichten
Pfänder. Im bürgerlichen Leben des Chinesen hat nämlich die
Pfandleihe als einzige Art von Creditanstalt hohe Wichtigkeit: 1860
fanden die englischen Truppen in den Leihämtern grosse Schätze
aufgehäuft; aller Orten sind sie kenntlich an dem vor dem Hause
aufgestellten Pfosten mit einem Drachenkopf auf halber Höhe. —
Ein anderes Lieblingsspiel ist das Köpfen, das viele Kinder aus
eigener Anschauung kennen und sehr geschickt nachzuahmen wissen.

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[112/0126] Kinderspiele. XVII. Jongleure und Taschenspieler, deren tolle Geschicklichkeit oft Grauen und Ekel erregen, zeigen sich auf den Strassen: das Ver- schlucken von Nähnadeln, die nachher auf einen Faden gereiht durch die Nase wieder zum Vorschein kommen, soll ein gefähr- liches Kunststück sein, an welchem Mancher zu Grunde geht; ganz harmlos ist dagegen das beliebte Köpfen, bei welchem das breite Schwert im Nacken des Schlachtopfers stecken bleibt und ein Blutstrom aus der scheinbaren Wunde quillt. — In der Seitengasse vergnügt sich ein Kreis erwachsener Männer mit dem Federball, den sie mit den Füssen durch die Luft jagen und mit unfehlbarer Geschicklichkeit oft Viertelstunden lang fliegend erhalten. Wo es still ist in Pe-kiṅ hört man vom Himmel herab ein sonderbar har- monisches sanftes Pfeifen: das sind Schwärme von Tauben, denen die Pekinger, — vielleicht um Raubvögel abzuschrecken, — kleine Pfeifen unter den Schwanz binden, welche beim Fluge beständig tönen. Zerlumpte blinde Bettler ziehen, einen sehenden an der Spitze, truppweise im Gänsemarsch durch die Strassen, die eine Hand auf die Schulter des Vordermannes gelegt, in der anderen den Stab haltend. Dort kauert ein Schuhflicker mit ambulanter Werkstatt, hier ein Wahrsager mit kabalistischem Apparat; daneben räumen schmutzige Kerle den geheimen Inhalt einer besonderen Art Strohhütte aus, deren Dasein die Nase in allen Strassen ahnt. In schattigem Winkel lagert ein Haufen Bettler, leidenschaftlich in die Karten vertieft; ein Trödler hat seinen ganzen Kram von Thee- kannen, Pfeifen und buntem Allerlei auf der Erde ausgebreitet. Höker mit Leckereien sitzen an jeder Ecke, ein Glücksspiel vor sich, auf welches selbst das naschende Kind seinen Heller setzt; denn der kleine Chinese äfft alle Leidenschaften des grossen nach. Auch Pfandleihe ist ein Lieblingsspiel: mit mächtiger Brille auf der Nase entwickelt der kleine Verleiher unglaublichen Aplomb in ge- ringschätziger Behandlung der von den Spielgefährten gereichten Pfänder. Im bürgerlichen Leben des Chinesen hat nämlich die Pfandleihe als einzige Art von Creditanstalt hohe Wichtigkeit: 1860 fanden die englischen Truppen in den Leihämtern grosse Schätze aufgehäuft; aller Orten sind sie kenntlich an dem vor dem Hause aufgestellten Pfosten mit einem Drachenkopf auf halber Höhe. — Ein anderes Lieblingsspiel ist das Köpfen, das viele Kinder aus eigener Anschauung kennen und sehr geschickt nachzuahmen wissen.

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/126>, abgerufen am 29.03.2024.