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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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Tompel. XV.
sischen Soldaten, theils aus der nach der Plünderung im Lager bei
den Lama-Tempeln gehaltenen Auction erstanden, Vieles auch von
Chinesen kauften. Wir sahen bei ihnen auch herrliche Stücke, die
sie in den Tempeln und Pfandleihen verlassener Ortschaften und
selbst in Yuan-min-yuan erbeuteten; denn als Lord Elgin die Zer-
störung des Sommerpalastes beschlossen hatte, durften englische
Officiere dort vorher eine Nachlese halten, deren Ertrag nicht zur
Versteigerung abgeliefert wurde.

Oeffentliche Gebäude von Bedeutung giebt es kaum in Tien-
tsin
. Die reichste Architectur zeigen die Tempel und ihre Portale,
die meist im Häusergewirr eingeengt liegen; einige haben lange
Avenuen, mit mehreren Pforten aus lackirtem Holz mit Ziegel-
dächern. Oft bilden die Portale ansehnliche Gebäude mit Ober-
geschoss und Altan, mit geschnitzten, gemalten, vergoldeten,
Balustraden, Friesen und Zierrathen; hölzerne Säulen tragen die
schwere geschweifte Ziegel-Bedachung, deren hohe First und herab-
laufende Kanten aus feinem Mörtel gezogen, mit aufgerollten Drachen-
schwänzen und grotesken Thieren geschmückt sind. Andere Pforten
bilden vier in einer Linie stehende durch Querbalken verbundene
Holzsäulen, zwischen welchen unter dem künstlichen Dachstuhl
Rahmen mit durchbrochenem Schnitzwerk und Inschriften eingefügt
sind.6) Solche Portale stehn oft seitlich in der Strasse, von welcher
ein reichverziertes Mäuerchen den Tempelzugang scheidet. Hohe
rothe Masten, an denen bei Festlichkeiten bunte Banner und La-
ternen hängen, sieht man bei jedem grösseren Tempel.

Das Innere der Tempel in Tien-tsin gleicht den früher be-
schriebenen; der merkwürdigste ist der in der Nordwest-Ecke der
Stadt gelegene, von den Engländern "Tempel der Gräuel" benannte.
In mehreren Seitengebäuden des Vorhofes sind dort die Strafen
des Jenseits durch geschnitzte roh angestrichene Holzfiguren
grauenhaft versinnlicht. Da wird ein Mann mitten durchgesägt,
einer Frau die Zunge, einer anderen die Brust ausgerissen u. s. w.
Das Haupt-Idol, eine roh angestrichene Holzpuppe, soll einen be-
rühmten Kaiser darstellen. -- An Festtagen kamen viele Büsser,
gelbe oder rothe Papierblätter vor der Stirn, auf denen wahrschein-
lich ihr Sündenregister stand, und Bündel glimmender Rauchkerzen
in den Händen; mit scheinbarer Zerknirschung warfen sie sich, die

6) Mehrere Blätter des VI. Heftes der "Ansichten aus Japan, China und Siam"
bringen Darstellungen dieser Architectur.

Tompel. XV.
sischen Soldaten, theils aus der nach der Plünderung im Lager bei
den Lama-Tempeln gehaltenen Auction erstanden, Vieles auch von
Chinesen kauften. Wir sahen bei ihnen auch herrliche Stücke, die
sie in den Tempeln und Pfandleihen verlassener Ortschaften und
selbst in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ erbeuteten; denn als Lord Elgin die Zer-
störung des Sommerpalastes beschlossen hatte, durften englische
Officiere dort vorher eine Nachlese halten, deren Ertrag nicht zur
Versteigerung abgeliefert wurde.

Oeffentliche Gebäude von Bedeutung giebt es kaum in Tien-
tsin
. Die reichste Architectur zeigen die Tempel und ihre Portale,
die meist im Häusergewirr eingeengt liegen; einige haben lange
Avenuen, mit mehreren Pforten aus lackirtem Holz mit Ziegel-
dächern. Oft bilden die Portale ansehnliche Gebäude mit Ober-
geschoss und Altan, mit geschnitzten, gemalten, vergoldeten,
Balustraden, Friesen und Zierrathen; hölzerne Säulen tragen die
schwere geschweifte Ziegel-Bedachung, deren hohe First und herab-
laufende Kanten aus feinem Mörtel gezogen, mit aufgerollten Drachen-
schwänzen und grotesken Thieren geschmückt sind. Andere Pforten
bilden vier in einer Linie stehende durch Querbalken verbundene
Holzsäulen, zwischen welchen unter dem künstlichen Dachstuhl
Rahmen mit durchbrochenem Schnitzwerk und Inschriften eingefügt
sind.6) Solche Portale stehn oft seitlich in der Strasse, von welcher
ein reichverziertes Mäuerchen den Tempelzugang scheidet. Hohe
rothe Masten, an denen bei Festlichkeiten bunte Banner und La-
ternen hängen, sieht man bei jedem grösseren Tempel.

Das Innere der Tempel in Tien-tsin gleicht den früher be-
schriebenen; der merkwürdigste ist der in der Nordwest-Ecke der
Stadt gelegene, von den Engländern »Tempel der Gräuel« benannte.
In mehreren Seitengebäuden des Vorhofes sind dort die Strafen
des Jenseits durch geschnitzte roh angestrichene Holzfiguren
grauenhaft versinnlicht. Da wird ein Mann mitten durchgesägt,
einer Frau die Zunge, einer anderen die Brust ausgerissen u. s. w.
Das Haupt-Idol, eine roh angestrichene Holzpuppe, soll einen be-
rühmten Kaiser darstellen. — An Festtagen kamen viele Büsser,
gelbe oder rothe Papierblätter vor der Stirn, auf denen wahrschein-
lich ihr Sündenregister stand, und Bündel glimmender Rauchkerzen
in den Händen; mit scheinbarer Zerknirschung warfen sie sich, die

6) Mehrere Blätter des VI. Heftes der »Ansichten aus Japan, China und Siam«
bringen Darstellungen dieser Architectur.
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[28/0042] Tompel. XV. sischen Soldaten, theils aus der nach der Plünderung im Lager bei den Lama-Tempeln gehaltenen Auction erstanden, Vieles auch von Chinesen kauften. Wir sahen bei ihnen auch herrliche Stücke, die sie in den Tempeln und Pfandleihen verlassener Ortschaften und selbst in Yuaṅ-miṅ-yuaṅ erbeuteten; denn als Lord Elgin die Zer- störung des Sommerpalastes beschlossen hatte, durften englische Officiere dort vorher eine Nachlese halten, deren Ertrag nicht zur Versteigerung abgeliefert wurde. Oeffentliche Gebäude von Bedeutung giebt es kaum in Tien- tsin. Die reichste Architectur zeigen die Tempel und ihre Portale, die meist im Häusergewirr eingeengt liegen; einige haben lange Avenuen, mit mehreren Pforten aus lackirtem Holz mit Ziegel- dächern. Oft bilden die Portale ansehnliche Gebäude mit Ober- geschoss und Altan, mit geschnitzten, gemalten, vergoldeten, Balustraden, Friesen und Zierrathen; hölzerne Säulen tragen die schwere geschweifte Ziegel-Bedachung, deren hohe First und herab- laufende Kanten aus feinem Mörtel gezogen, mit aufgerollten Drachen- schwänzen und grotesken Thieren geschmückt sind. Andere Pforten bilden vier in einer Linie stehende durch Querbalken verbundene Holzsäulen, zwischen welchen unter dem künstlichen Dachstuhl Rahmen mit durchbrochenem Schnitzwerk und Inschriften eingefügt sind. 6) Solche Portale stehn oft seitlich in der Strasse, von welcher ein reichverziertes Mäuerchen den Tempelzugang scheidet. Hohe rothe Masten, an denen bei Festlichkeiten bunte Banner und La- ternen hängen, sieht man bei jedem grösseren Tempel. Das Innere der Tempel in Tien-tsin gleicht den früher be- schriebenen; der merkwürdigste ist der in der Nordwest-Ecke der Stadt gelegene, von den Engländern »Tempel der Gräuel« benannte. In mehreren Seitengebäuden des Vorhofes sind dort die Strafen des Jenseits durch geschnitzte roh angestrichene Holzfiguren grauenhaft versinnlicht. Da wird ein Mann mitten durchgesägt, einer Frau die Zunge, einer anderen die Brust ausgerissen u. s. w. Das Haupt-Idol, eine roh angestrichene Holzpuppe, soll einen be- rühmten Kaiser darstellen. — An Festtagen kamen viele Büsser, gelbe oder rothe Papierblätter vor der Stirn, auf denen wahrschein- lich ihr Sündenregister stand, und Bündel glimmender Rauchkerzen in den Händen; mit scheinbarer Zerknirschung warfen sie sich, die 6) Mehrere Blätter des VI. Heftes der »Ansichten aus Japan, China und Siam« bringen Darstellungen dieser Architectur.

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/42>, abgerufen am 19.04.2024.