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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.

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Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.
maaßgebend gewesen ist. In ersterer Beziehung ist namentlich auf die
Stellung der Geschworenen hinzuweisen, welche ihren Wahrspruch nur
nach bestem Wissen und Gewissen, ohne die Hinzufügung von Ent-
scheidungsgründen abzugeben haben. Auch die Aufgabe der Staats-
anwaltschaft
ist eine solche, daß ihre richtige Lösung nicht durch die
absoluten Vorschriften des Gesetzes allein gesichert erscheinen kann, son-
dern der freien Erwägung des verständigen und gewissenhaften Beamten
Vieles überlassen werden muß. Das Gesetzbuch selbst schreibt die Ver-
folgung der im Auslande begangenen Verbrechen (§. 4.), so wie die
Wiederaufnahme des Strafverfahrens in Beziehung auf die im Auslande
nicht aberkannten Ehrenrechte (§. 24.) nicht unbedingt vor, sondern ge-
währt nur die Befugniß dazu, und überläßt die Entscheidung dem
pflichtmäßigen Ermessen der zuständigen Behörden. Auch wird sich spä-
ter zeigen lassen, daß in einem praktisch viel wichtigeren Fall, bei der
Verfolgung der Ehrverletzungen gegen Behörden u. s. w. (§. 102 u. 103.)
die Absicht des Gesetzes nicht dahin geht, eine solche unter allen Um-
ständen von Amtswegen einleiten zu lassen, sondern die Beschaffenheit
des besonderen Falls und namentlich die Rücksicht auf das öffentliche
Interesse hier entscheidend sein muß. Ueberhaupt wird es gut sein,
wenn man sich bei uns häufiger, als es oft noch geschieht, den Grund-
satz römischer Staatsweisheit in seinem tieferen Sinne mehr vergegen-
wärtigt: Minima non curat Praetor.

Was von der Aufgabe der Staatsanwaltschaft gesagt worden, ließe
sich auch in besonderer Beziehung auf die Thätigkeit der Anklagekammer
weiter ausführen. Wenn hier aber von dem richterlichen Ermessen ge-
handelt wird, so ist doch zunächst nur an das Ermessen des erken-
nenden Richters
gedacht worden, und wie dieses nach dem Straf-
gesetzbuch zu stehen kommt, soll nun näher untersucht werden. Wenn
dabei im Allgemeinen von dem Satze ausgegangen werden kann, daß
das Gesetzbuch im Vergleich mit dem Allgemeinen Landrecht und den
früheren Entwürfen dem Richter eine freiere und würdigere Stellung
einräumt, so bedarf diese Behauptung doch in Einer Beziehung einer
Beschränkung. Was nämlich die Wahl des Richters zwischen verschie-
denen Strafarten betrifft, so ist seine Befugniß jetzt eine wesentlich be-
schränkte. Es steht ihm namentlich nicht zu, unter verschiedenen Frei-
heitsstrafen eine Auswahl zu treffen oder in andern Fällen, als da, wo
das Gesetz es zuläßt, anstatt einer Freiheitsstrafe auf Geldstrafen zu er-
kennen. Auch in der Aberkennung der Ehrenrechte ist eine wichtige Be-
schränkung eingetreten, und während früher in den Fällen, wo ein Man-
gel ehrliebender Gesinnung sich kund gegeben hatte, der Richter den
Verlust der Nationalkokarde auszusprechen hatte, ist es ihm jetzt nur

Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen.
maaßgebend geweſen iſt. In erſterer Beziehung iſt namentlich auf die
Stellung der Geſchworenen hinzuweiſen, welche ihren Wahrſpruch nur
nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen, ohne die Hinzufügung von Ent-
ſcheidungsgründen abzugeben haben. Auch die Aufgabe der Staats-
anwaltſchaft
iſt eine ſolche, daß ihre richtige Löſung nicht durch die
abſoluten Vorſchriften des Geſetzes allein geſichert erſcheinen kann, ſon-
dern der freien Erwägung des verſtändigen und gewiſſenhaften Beamten
Vieles überlaſſen werden muß. Das Geſetzbuch ſelbſt ſchreibt die Ver-
folgung der im Auslande begangenen Verbrechen (§. 4.), ſo wie die
Wiederaufnahme des Strafverfahrens in Beziehung auf die im Auslande
nicht aberkannten Ehrenrechte (§. 24.) nicht unbedingt vor, ſondern ge-
währt nur die Befugniß dazu, und überläßt die Entſcheidung dem
pflichtmäßigen Ermeſſen der zuſtändigen Behörden. Auch wird ſich ſpä-
ter zeigen laſſen, daß in einem praktiſch viel wichtigeren Fall, bei der
Verfolgung der Ehrverletzungen gegen Behörden u. ſ. w. (§. 102 u. 103.)
die Abſicht des Geſetzes nicht dahin geht, eine ſolche unter allen Um-
ſtänden von Amtswegen einleiten zu laſſen, ſondern die Beſchaffenheit
des beſonderen Falls und namentlich die Rückſicht auf das öffentliche
Intereſſe hier entſcheidend ſein muß. Ueberhaupt wird es gut ſein,
wenn man ſich bei uns häufiger, als es oft noch geſchieht, den Grund-
ſatz römiſcher Staatsweisheit in ſeinem tieferen Sinne mehr vergegen-
wärtigt: Minima non curat Praetor.

Was von der Aufgabe der Staatsanwaltſchaft geſagt worden, ließe
ſich auch in beſonderer Beziehung auf die Thätigkeit der Anklagekammer
weiter ausführen. Wenn hier aber von dem richterlichen Ermeſſen ge-
handelt wird, ſo iſt doch zunächſt nur an das Ermeſſen des erken-
nenden Richters
gedacht worden, und wie dieſes nach dem Straf-
geſetzbuch zu ſtehen kommt, ſoll nun näher unterſucht werden. Wenn
dabei im Allgemeinen von dem Satze ausgegangen werden kann, daß
das Geſetzbuch im Vergleich mit dem Allgemeinen Landrecht und den
früheren Entwürfen dem Richter eine freiere und würdigere Stellung
einräumt, ſo bedarf dieſe Behauptung doch in Einer Beziehung einer
Beſchränkung. Was nämlich die Wahl des Richters zwiſchen verſchie-
denen Strafarten betrifft, ſo iſt ſeine Befugniß jetzt eine weſentlich be-
ſchränkte. Es ſteht ihm namentlich nicht zu, unter verſchiedenen Frei-
heitsſtrafen eine Auswahl zu treffen oder in andern Fällen, als da, wo
das Geſetz es zuläßt, anſtatt einer Freiheitsſtrafe auf Geldſtrafen zu er-
kennen. Auch in der Aberkennung der Ehrenrechte iſt eine wichtige Be-
ſchränkung eingetreten, und während früher in den Fällen, wo ein Man-
gel ehrliebender Geſinnung ſich kund gegeben hatte, der Richter den
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[24/0034] Zweites Kapitel. Allgemeine Erörterungen. maaßgebend geweſen iſt. In erſterer Beziehung iſt namentlich auf die Stellung der Geſchworenen hinzuweiſen, welche ihren Wahrſpruch nur nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen, ohne die Hinzufügung von Ent- ſcheidungsgründen abzugeben haben. Auch die Aufgabe der Staats- anwaltſchaft iſt eine ſolche, daß ihre richtige Löſung nicht durch die abſoluten Vorſchriften des Geſetzes allein geſichert erſcheinen kann, ſon- dern der freien Erwägung des verſtändigen und gewiſſenhaften Beamten Vieles überlaſſen werden muß. Das Geſetzbuch ſelbſt ſchreibt die Ver- folgung der im Auslande begangenen Verbrechen (§. 4.), ſo wie die Wiederaufnahme des Strafverfahrens in Beziehung auf die im Auslande nicht aberkannten Ehrenrechte (§. 24.) nicht unbedingt vor, ſondern ge- währt nur die Befugniß dazu, und überläßt die Entſcheidung dem pflichtmäßigen Ermeſſen der zuſtändigen Behörden. Auch wird ſich ſpä- ter zeigen laſſen, daß in einem praktiſch viel wichtigeren Fall, bei der Verfolgung der Ehrverletzungen gegen Behörden u. ſ. w. (§. 102 u. 103.) die Abſicht des Geſetzes nicht dahin geht, eine ſolche unter allen Um- ſtänden von Amtswegen einleiten zu laſſen, ſondern die Beſchaffenheit des beſonderen Falls und namentlich die Rückſicht auf das öffentliche Intereſſe hier entſcheidend ſein muß. Ueberhaupt wird es gut ſein, wenn man ſich bei uns häufiger, als es oft noch geſchieht, den Grund- ſatz römiſcher Staatsweisheit in ſeinem tieferen Sinne mehr vergegen- wärtigt: Minima non curat Praetor. Was von der Aufgabe der Staatsanwaltſchaft geſagt worden, ließe ſich auch in beſonderer Beziehung auf die Thätigkeit der Anklagekammer weiter ausführen. Wenn hier aber von dem richterlichen Ermeſſen ge- handelt wird, ſo iſt doch zunächſt nur an das Ermeſſen des erken- nenden Richters gedacht worden, und wie dieſes nach dem Straf- geſetzbuch zu ſtehen kommt, ſoll nun näher unterſucht werden. Wenn dabei im Allgemeinen von dem Satze ausgegangen werden kann, daß das Geſetzbuch im Vergleich mit dem Allgemeinen Landrecht und den früheren Entwürfen dem Richter eine freiere und würdigere Stellung einräumt, ſo bedarf dieſe Behauptung doch in Einer Beziehung einer Beſchränkung. Was nämlich die Wahl des Richters zwiſchen verſchie- denen Strafarten betrifft, ſo iſt ſeine Befugniß jetzt eine weſentlich be- ſchränkte. Es ſteht ihm namentlich nicht zu, unter verſchiedenen Frei- heitsſtrafen eine Auswahl zu treffen oder in andern Fällen, als da, wo das Geſetz es zuläßt, anſtatt einer Freiheitsſtrafe auf Geldſtrafen zu er- kennen. Auch in der Aberkennung der Ehrenrechte iſt eine wichtige Be- ſchränkung eingetreten, und während früher in den Fällen, wo ein Man- gel ehrliebender Geſinnung ſich kund gegeben hatte, der Richter den Verluſt der Nationalkokarde auszuſprechen hatte, iſt es ihm jetzt nur

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/34>, abgerufen am 28.03.2024.