Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.

c) ebenso wenig die Nationalökonomie, insofern sie
die wirthschaftlichen Gesetze erforscht, welche für Jedermann
-- nicht bloss für den Stat -- gelten;

d) noch die Lehre von der Gesellschaft, insofern das
Leben der Gesellschaft sich selbständig bewegt, nicht als
Statsleben erscheint.

Die alten Griechen nannten die gesammte Statswissen-
schaft Politik. Wir unterscheiden Statsrecht und Politik
sorgfältiger als zwei besondere Wissenschaften, und fügen
denselben überdem noch manche besondere Lehren unter
eigenem Namen bei, wie z. B. die statliche Statistik, das
Verwaltungsrecht, das Völkerrecht, die Polizeiwissenschaft
u. s. f.

Statsrecht und Politik betrachten beide den Stat im
Grossen und Ganzen, aber jede der beiden Wissenschaften
betrachtet ihn von einem andern Standpunkte aus und nach
anderer Richtung. Um den Stat gründlicher zu erkennen,
zerlegt die Wissenschaft den Stat in die beiden Hauptseiten
seines Daseins und Lebens. Sie untersucht die Theile, da-
mit sie das Ganze vollständiger begreife. Dem wissenschaft-
lichen Interesse entspricht das practische. Die Klarheit, das
Masz und die Stärke des Rechts haben gewonnen, seitdem
man dieses schärfer abgesondert hat von der Politik; und der
Reichthum der Politik entwickelt sich erst in voller Freiheit,
wenn sie in ihrer Eigenthümlichkeit geschaut und erwogen
wird.

Die Wissenschaft des Statsrechts betrachtet den Stat in
seinem geregelten Bestand, in seiner richtigen Ordnung. Sie
stellt die Organisation des States dar und die dauerhaften
Grundbedingungen seines Lebens, die Regeln seiner Existenz,
die Nothwendigkeit seiner Verhältnisse. Der Stat, wie er
ist
, in seinen geordneten Verhältnissen, das ist das Stats-
recht
.

Die Wissenschaft der Politik aber betrachtet den Stat in

Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.

c) ebenso wenig die Nationalökonomie, insofern sie
die wirthschaftlichen Gesetze erforscht, welche für Jedermann
— nicht bloss für den Stat — gelten;

d) noch die Lehre von der Gesellschaft, insofern das
Leben der Gesellschaft sich selbständig bewegt, nicht als
Statsleben erscheint.

Die alten Griechen nannten die gesammte Statswissen-
schaft Politik. Wir unterscheiden Statsrecht und Politik
sorgfältiger als zwei besondere Wissenschaften, und fügen
denselben überdem noch manche besondere Lehren unter
eigenem Namen bei, wie z. B. die statliche Statistik, das
Verwaltungsrecht, das Völkerrecht, die Polizeiwissenschaft
u. s. f.

Statsrecht und Politik betrachten beide den Stat im
Grossen und Ganzen, aber jede der beiden Wissenschaften
betrachtet ihn von einem andern Standpunkte aus und nach
anderer Richtung. Um den Stat gründlicher zu erkennen,
zerlegt die Wissenschaft den Stat in die beiden Hauptseiten
seines Daseins und Lebens. Sie untersucht die Theile, da-
mit sie das Ganze vollständiger begreife. Dem wissenschaft-
lichen Interesse entspricht das practische. Die Klarheit, das
Masz und die Stärke des Rechts haben gewonnen, seitdem
man dieses schärfer abgesondert hat von der Politik; und der
Reichthum der Politik entwickelt sich erst in voller Freiheit,
wenn sie in ihrer Eigenthümlichkeit geschaut und erwogen
wird.

Die Wissenschaft des Statsrechts betrachtet den Stat in
seinem geregelten Bestand, in seiner richtigen Ordnung. Sie
stellt die Organisation des States dar und die dauerhaften
Grundbedingungen seines Lebens, die Regeln seiner Existenz,
die Nothwendigkeit seiner Verhältnisse. Der Stat, wie er
ist
, in seinen geordneten Verhältnissen, das ist das Stats-
recht
.

Die Wissenschaft der Politik aber betrachtet den Stat in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0020" n="2"/>
          <fw place="top" type="header">Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.</fw><lb/>
          <p>c) ebenso wenig die <hi rendition="#g">Nationalökonomie</hi>, insofern sie<lb/>
die wirthschaftlichen Gesetze erforscht, welche für Jedermann<lb/>
&#x2014; nicht bloss für den Stat &#x2014; gelten;</p><lb/>
          <p>d) noch die Lehre von der <hi rendition="#g">Gesellschaft</hi>, insofern das<lb/>
Leben der Gesellschaft sich selbständig bewegt, nicht als<lb/>
Statsleben erscheint.</p><lb/>
          <p>Die alten Griechen nannten die gesammte Statswissen-<lb/>
schaft <hi rendition="#g">Politik</hi>. Wir unterscheiden <hi rendition="#g">Statsrecht</hi> und <hi rendition="#g">Politik</hi><lb/>
sorgfältiger als zwei besondere Wissenschaften, und fügen<lb/>
denselben überdem noch manche besondere Lehren unter<lb/>
eigenem Namen bei, wie z. B. die statliche Statistik, das<lb/>
Verwaltungsrecht, das Völkerrecht, die Polizeiwissenschaft<lb/>
u. s. f.</p><lb/>
          <p>Statsrecht und Politik betrachten beide den Stat im<lb/>
Grossen und Ganzen, aber jede der beiden Wissenschaften<lb/>
betrachtet ihn von einem andern Standpunkte aus und nach<lb/>
anderer Richtung. Um den Stat gründlicher zu erkennen,<lb/>
zerlegt die Wissenschaft den Stat in die beiden Hauptseiten<lb/>
seines Daseins und Lebens. Sie untersucht die Theile, da-<lb/>
mit sie das Ganze vollständiger begreife. Dem wissenschaft-<lb/>
lichen Interesse entspricht das practische. Die Klarheit, das<lb/>
Masz und die Stärke des Rechts haben gewonnen, seitdem<lb/>
man dieses schärfer abgesondert hat von der Politik; und der<lb/>
Reichthum der Politik entwickelt sich erst in voller Freiheit,<lb/>
wenn sie in ihrer Eigenthümlichkeit geschaut und erwogen<lb/>
wird.</p><lb/>
          <p>Die Wissenschaft des Statsrechts betrachtet den Stat in<lb/>
seinem geregelten Bestand, in seiner richtigen Ordnung. Sie<lb/>
stellt die Organisation des States dar und die dauerhaften<lb/>
Grundbedingungen seines Lebens, die Regeln seiner Existenz,<lb/>
die Nothwendigkeit seiner Verhältnisse. <hi rendition="#g">Der Stat</hi>, <hi rendition="#g">wie er<lb/>
ist</hi>, in seinen geordneten Verhältnissen, <hi rendition="#g">das ist das Stats-<lb/>
recht</hi>.</p><lb/>
          <p>Die Wissenschaft der Politik aber betrachtet den Stat in
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0020] Erstes Capitel. Die Statswissenschaft. c) ebenso wenig die Nationalökonomie, insofern sie die wirthschaftlichen Gesetze erforscht, welche für Jedermann — nicht bloss für den Stat — gelten; d) noch die Lehre von der Gesellschaft, insofern das Leben der Gesellschaft sich selbständig bewegt, nicht als Statsleben erscheint. Die alten Griechen nannten die gesammte Statswissen- schaft Politik. Wir unterscheiden Statsrecht und Politik sorgfältiger als zwei besondere Wissenschaften, und fügen denselben überdem noch manche besondere Lehren unter eigenem Namen bei, wie z. B. die statliche Statistik, das Verwaltungsrecht, das Völkerrecht, die Polizeiwissenschaft u. s. f. Statsrecht und Politik betrachten beide den Stat im Grossen und Ganzen, aber jede der beiden Wissenschaften betrachtet ihn von einem andern Standpunkte aus und nach anderer Richtung. Um den Stat gründlicher zu erkennen, zerlegt die Wissenschaft den Stat in die beiden Hauptseiten seines Daseins und Lebens. Sie untersucht die Theile, da- mit sie das Ganze vollständiger begreife. Dem wissenschaft- lichen Interesse entspricht das practische. Die Klarheit, das Masz und die Stärke des Rechts haben gewonnen, seitdem man dieses schärfer abgesondert hat von der Politik; und der Reichthum der Politik entwickelt sich erst in voller Freiheit, wenn sie in ihrer Eigenthümlichkeit geschaut und erwogen wird. Die Wissenschaft des Statsrechts betrachtet den Stat in seinem geregelten Bestand, in seiner richtigen Ordnung. Sie stellt die Organisation des States dar und die dauerhaften Grundbedingungen seines Lebens, die Regeln seiner Existenz, die Nothwendigkeit seiner Verhältnisse. Der Stat, wie er ist, in seinen geordneten Verhältnissen, das ist das Stats- recht. Die Wissenschaft der Politik aber betrachtet den Stat in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/20
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/20>, abgerufen am 29.03.2024.