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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.
blosz ein Rechtssystem, sondern auch eine Rechtsgeschichte;
und es gibt eine Politik der Gesetzgebung. Zwischen beiden
Seiten ist eine Wechselwirkung wahrzunehmen, wie überall,
wo organische Wesen erscheinen. Damit wird jener Unter-
schied nicht beseitigt, sondern besser erklärt. Die Rechts-
geschichte
unterscheidet sich gerade dadurch von der poli-
tischen
Geschichte, dasz jene sich darauf beschränkt, den
Entwicklungsgang der normalen, fest gewordenen Existenz des
States nachzuweisen und die Entstehung und Veränderung der
dauernd gewordenen Institutionen und Gesetze darzustellen,
diese aber den Hauptnachdruck auf die wechselnden Schicksale
und Erlebnisse des Volkes, die Motive und Handlungsweise
der politischen Personen, die Thaten und Leiden beider legt,
und so das reich bewegte Leben schildert. Der oberste und
reinste Ausdruck des Statsrechts ist das Gesetz (die Ver-
fassung), die klarste und lebendigste Aeuszerung der Politik
ist die practische Leitung des States selbst (die Regierung).
Die Politik ist daher mehr noch Kunst als Wissenschaft. Das
Recht ist eine Voraussetzung der Politik, eine Grundbedingung
ihrer Freiheit, freilich nicht die einzige. Die Politik soll
sich mit Beachtung der rechtlichen Schranken entfalten. So
übernimmt sie die Sorge für die wechselnden Bedürfnisse des
Lebens. Das Recht hinwieder bedarf der Politik, um vor Er-
starrung gesichert zu bleiben und mit der Entwicklung des
Lebens Schritt zu halten. Ohne den belebenden Hauch der
Politik würde der Rechtskörper zum Leichnam werden, ohne
die Grundlagen und die Schranken des Rechtes würde die
Politik in ungezügelter Selbstsucht und in verderblicher Zer-
störungswuth untergehen.

Lediglich Gründe der Klarheit und Vereinfachung be-
stimmen uns, den beiden Statslehren Statsrecht und Politik
noch als dritte, oder vielmehr erste Abtheilung der Stats-
wissenschaft die Allgemeine Statslehre voraus zu
schicken. Wir betrachten hier noch den Stat im Ganzen,

Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.
blosz ein Rechtssystem, sondern auch eine Rechtsgeschichte;
und es gibt eine Politik der Gesetzgebung. Zwischen beiden
Seiten ist eine Wechselwirkung wahrzunehmen, wie überall,
wo organische Wesen erscheinen. Damit wird jener Unter-
schied nicht beseitigt, sondern besser erklärt. Die Rechts-
geschichte
unterscheidet sich gerade dadurch von der poli-
tischen
Geschichte, dasz jene sich darauf beschränkt, den
Entwicklungsgang der normalen, fest gewordenen Existenz des
States nachzuweisen und die Entstehung und Veränderung der
dauernd gewordenen Institutionen und Gesetze darzustellen,
diese aber den Hauptnachdruck auf die wechselnden Schicksale
und Erlebnisse des Volkes, die Motive und Handlungsweise
der politischen Personen, die Thaten und Leiden beider legt,
und so das reich bewegte Leben schildert. Der oberste und
reinste Ausdruck des Statsrechts ist das Gesetz (die Ver-
fassung), die klarste und lebendigste Aeuszerung der Politik
ist die practische Leitung des States selbst (die Regierung).
Die Politik ist daher mehr noch Kunst als Wissenschaft. Das
Recht ist eine Voraussetzung der Politik, eine Grundbedingung
ihrer Freiheit, freilich nicht die einzige. Die Politik soll
sich mit Beachtung der rechtlichen Schranken entfalten. So
übernimmt sie die Sorge für die wechselnden Bedürfnisse des
Lebens. Das Recht hinwieder bedarf der Politik, um vor Er-
starrung gesichert zu bleiben und mit der Entwicklung des
Lebens Schritt zu halten. Ohne den belebenden Hauch der
Politik würde der Rechtskörper zum Leichnam werden, ohne
die Grundlagen und die Schranken des Rechtes würde die
Politik in ungezügelter Selbstsucht und in verderblicher Zer-
störungswuth untergehen.

Lediglich Gründe der Klarheit und Vereinfachung be-
stimmen uns, den beiden Statslehren Statsrecht und Politik
noch als dritte, oder vielmehr erste Abtheilung der Stats-
wissenschaft die Allgemeine Statslehre voraus zu
schicken. Wir betrachten hier noch den Stat im Ganzen,

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[4/0022] Erstes Capitel. Die Statswissenschaft. blosz ein Rechtssystem, sondern auch eine Rechtsgeschichte; und es gibt eine Politik der Gesetzgebung. Zwischen beiden Seiten ist eine Wechselwirkung wahrzunehmen, wie überall, wo organische Wesen erscheinen. Damit wird jener Unter- schied nicht beseitigt, sondern besser erklärt. Die Rechts- geschichte unterscheidet sich gerade dadurch von der poli- tischen Geschichte, dasz jene sich darauf beschränkt, den Entwicklungsgang der normalen, fest gewordenen Existenz des States nachzuweisen und die Entstehung und Veränderung der dauernd gewordenen Institutionen und Gesetze darzustellen, diese aber den Hauptnachdruck auf die wechselnden Schicksale und Erlebnisse des Volkes, die Motive und Handlungsweise der politischen Personen, die Thaten und Leiden beider legt, und so das reich bewegte Leben schildert. Der oberste und reinste Ausdruck des Statsrechts ist das Gesetz (die Ver- fassung), die klarste und lebendigste Aeuszerung der Politik ist die practische Leitung des States selbst (die Regierung). Die Politik ist daher mehr noch Kunst als Wissenschaft. Das Recht ist eine Voraussetzung der Politik, eine Grundbedingung ihrer Freiheit, freilich nicht die einzige. Die Politik soll sich mit Beachtung der rechtlichen Schranken entfalten. So übernimmt sie die Sorge für die wechselnden Bedürfnisse des Lebens. Das Recht hinwieder bedarf der Politik, um vor Er- starrung gesichert zu bleiben und mit der Entwicklung des Lebens Schritt zu halten. Ohne den belebenden Hauch der Politik würde der Rechtskörper zum Leichnam werden, ohne die Grundlagen und die Schranken des Rechtes würde die Politik in ungezügelter Selbstsucht und in verderblicher Zer- störungswuth untergehen. Lediglich Gründe der Klarheit und Vereinfachung be- stimmen uns, den beiden Statslehren Statsrecht und Politik noch als dritte, oder vielmehr erste Abtheilung der Stats- wissenschaft die Allgemeine Statslehre voraus zu schicken. Wir betrachten hier noch den Stat im Ganzen,

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/22>, abgerufen am 19.04.2024.