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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Capitel. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen.
innerlich waren in ihr die verschiedensten Befugnisse geeinigt.
Nicht allein der König, auch jeder Graf hatte zugleich Civil-
und Militärgewalt, administrative und richterliche Befugnisse,
und auf den Dingen (Gerichtsversammlungen) wurde zugleich
der allgemeine Rechtssatz als Gesetz gewiesen und der ein-
zelne Streitfall beurtheilt.

Zuerst hat der Franzose Bodin das Verlangen näher
begründet, dasz wenigstens die höchste Person des Königs die
Rechtspflege nicht mehr selber übe, wie es bisher Sitte war,
sondern unabhängigen Richtern als öffentlichen Magistraten
überlasse. Bodin führt aus, dasz manche Gründe für die ältere
Einrichtung sprechen: Es mache einen groszen und wohl-
thätigen Eindruck, wenn der König die Gerechtigkeit in An-
gesicht alles Volks als Richter ausübe. Aber er ist der Mei-
nung, dasz noch gewichtigere Gründe ihn bestimmen, sich
des persönlichen Richteramts zu enthalten. Wenn der Gesetz-
geber selber richtet, so mischt sich in ihm Gerechtigkeit und
Gnade, Gesetzestreue und Willkür und durch diese Mischung
wird die Rechtspflege verdorben. Die Parteien erlangen nicht
die gehörige Freiheit; sie werden von der Autorität des Sou-
verains gedrückt und geblendet. Die Schrecken des Straf-
gerichts werden riesenhaft vergröszert; und hat der Fürst
einige Anlage zur Grausamkeit, so schwimmt der Richterstuhl
im Blute der Bürger und der Hasz der Völker wendet sich
gegen den Fürsten. Am wenigsten ist es schicklich, dasz der
Fürst in eigener Sache und über Vergehen richte, die gegen
ihn selber verübt worden sind. Eher ziemt es sich und ist
nützlicher für ihn, wenn er sich vorbehält, Gnaden zu er-
weisen und wohl zu thun. 2

In der That konnte sich Bodin auf einige Vorgänge der
französischen Geschichte berufen, in denen Parlamente der
Pairs sich gegen die Anwesenheit des Königs im Gericht aus-

2 Bluntschli, Gesch. des allg. Statsr. S. 42. Vgl. über Pufen-
dorf
S. 124.

Sechstes Capitel. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen.
innerlich waren in ihr die verschiedensten Befugnisse geeinigt.
Nicht allein der König, auch jeder Graf hatte zugleich Civil-
und Militärgewalt, administrative und richterliche Befugnisse,
und auf den Dingen (Gerichtsversammlungen) wurde zugleich
der allgemeine Rechtssatz als Gesetz gewiesen und der ein-
zelne Streitfall beurtheilt.

Zuerst hat der Franzose Bodin das Verlangen näher
begründet, dasz wenigstens die höchste Person des Königs die
Rechtspflege nicht mehr selber übe, wie es bisher Sitte war,
sondern unabhängigen Richtern als öffentlichen Magistraten
überlasse. Bodin führt aus, dasz manche Gründe für die ältere
Einrichtung sprechen: Es mache einen groszen und wohl-
thätigen Eindruck, wenn der König die Gerechtigkeit in An-
gesicht alles Volks als Richter ausübe. Aber er ist der Mei-
nung, dasz noch gewichtigere Gründe ihn bestimmen, sich
des persönlichen Richteramts zu enthalten. Wenn der Gesetz-
geber selber richtet, so mischt sich in ihm Gerechtigkeit und
Gnade, Gesetzestreue und Willkür und durch diese Mischung
wird die Rechtspflege verdorben. Die Parteien erlangen nicht
die gehörige Freiheit; sie werden von der Autorität des Sou-
verains gedrückt und geblendet. Die Schrecken des Straf-
gerichts werden riesenhaft vergröszert; und hat der Fürst
einige Anlage zur Grausamkeit, so schwimmt der Richterstuhl
im Blute der Bürger und der Hasz der Völker wendet sich
gegen den Fürsten. Am wenigsten ist es schicklich, dasz der
Fürst in eigener Sache und über Vergehen richte, die gegen
ihn selber verübt worden sind. Eher ziemt es sich und ist
nützlicher für ihn, wenn er sich vorbehält, Gnaden zu er-
weisen und wohl zu thun. 2

In der That konnte sich Bodin auf einige Vorgänge der
französischen Geschichte berufen, in denen Parlamente der
Pairs sich gegen die Anwesenheit des Königs im Gericht aus-

2 Bluntschli, Gesch. des allg. Statsr. S. 42. Vgl. über Pufen-
dorf
S. 124.
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[587/0605] Sechstes Capitel. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen. innerlich waren in ihr die verschiedensten Befugnisse geeinigt. Nicht allein der König, auch jeder Graf hatte zugleich Civil- und Militärgewalt, administrative und richterliche Befugnisse, und auf den Dingen (Gerichtsversammlungen) wurde zugleich der allgemeine Rechtssatz als Gesetz gewiesen und der ein- zelne Streitfall beurtheilt. Zuerst hat der Franzose Bodin das Verlangen näher begründet, dasz wenigstens die höchste Person des Königs die Rechtspflege nicht mehr selber übe, wie es bisher Sitte war, sondern unabhängigen Richtern als öffentlichen Magistraten überlasse. Bodin führt aus, dasz manche Gründe für die ältere Einrichtung sprechen: Es mache einen groszen und wohl- thätigen Eindruck, wenn der König die Gerechtigkeit in An- gesicht alles Volks als Richter ausübe. Aber er ist der Mei- nung, dasz noch gewichtigere Gründe ihn bestimmen, sich des persönlichen Richteramts zu enthalten. Wenn der Gesetz- geber selber richtet, so mischt sich in ihm Gerechtigkeit und Gnade, Gesetzestreue und Willkür und durch diese Mischung wird die Rechtspflege verdorben. Die Parteien erlangen nicht die gehörige Freiheit; sie werden von der Autorität des Sou- verains gedrückt und geblendet. Die Schrecken des Straf- gerichts werden riesenhaft vergröszert; und hat der Fürst einige Anlage zur Grausamkeit, so schwimmt der Richterstuhl im Blute der Bürger und der Hasz der Völker wendet sich gegen den Fürsten. Am wenigsten ist es schicklich, dasz der Fürst in eigener Sache und über Vergehen richte, die gegen ihn selber verübt worden sind. Eher ziemt es sich und ist nützlicher für ihn, wenn er sich vorbehält, Gnaden zu er- weisen und wohl zu thun. 2 In der That konnte sich Bodin auf einige Vorgänge der französischen Geschichte berufen, in denen Parlamente der Pairs sich gegen die Anwesenheit des Königs im Gericht aus- 2 Bluntschli, Gesch. des allg. Statsr. S. 42. Vgl. über Pufen- dorf S. 124.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/605>, abgerufen am 28.03.2024.