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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
schränkt man sie alle wechselseitig. Aber der entscheidende
Grund für die besondere Gestaltung der Organe, welche be-
stimmte Functionen zu vollziehen haben, ist doch nicht jene
politische Rücksicht einer gröszeren Sicherheit für die bürger-
liche Freiheit, sondern voraus der organische, dasz für jede
Function besser gesorgt wird, wenn das ihr dienende Organ
eigens für diesen Zweck eingerichtet wird, als wenn man
demselben Organe ganz verschiedene Functionen zuweist.
Die organisatorische Kunst des Statsmanns folgte nur dem
Vorbild der Natur, indem sie diese Sonderung der Organe
vornahm. Das Auge ist zum sehen, das Ohr zum hören, der
Mund zum sprechen und die Hand zum greifen und wirken
gebaut. Ebenso soll es im Statskörper sein und auch da jedes
Organ eigens für die Functionen geschaffen sein, die von ihm
verlangt werden.

Der beliebte Ausdruck freilich: "Trennung der Gewal-
ten" miszleitet zu falschen Anwendungen eines richtigen
Princips. Die vollständige "Trennung" der Gewalten wäre
Auflösung der Statseinheit und Zerreiszung des Statskörpers.
Wie in dem natürlichen Körper alle einzelnen Glieder unter
sich wieder verbunden sind, so musz auch im State der
Zusammenhang der verschiedenen Organe nicht minder
sorgsam gewahrt bleiben. Der Stat fordert daher die Ein-
heit
der Statsgewalt, welche nur je nach der Art ihrer
Functionen nach besonderen Organen zu gliedern ist.
Er will daher die relative Sonderung, nicht die absolute
Trennung der Gewalten.

Die gangbarste Unterscheidung dieser Theilgewalten --
die Franzosen haben den bessern Ausdruck pouvoir -- ist seit
Montesquieu die dreifache:

1) gesetzgebende Gewalt (pouvoir legislatif),

2) vollziehende Gewalt (pouvoir executif),

3) richterliche Gewalt (pouvoir judiciaire).

Auch die Engländer haben dieselbe für ihre Theorie des

Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
schränkt man sie alle wechselseitig. Aber der entscheidende
Grund für die besondere Gestaltung der Organe, welche be-
stimmte Functionen zu vollziehen haben, ist doch nicht jene
politische Rücksicht einer gröszeren Sicherheit für die bürger-
liche Freiheit, sondern voraus der organische, dasz für jede
Function besser gesorgt wird, wenn das ihr dienende Organ
eigens für diesen Zweck eingerichtet wird, als wenn man
demselben Organe ganz verschiedene Functionen zuweist.
Die organisatorische Kunst des Statsmanns folgte nur dem
Vorbild der Natur, indem sie diese Sonderung der Organe
vornahm. Das Auge ist zum sehen, das Ohr zum hören, der
Mund zum sprechen und die Hand zum greifen und wirken
gebaut. Ebenso soll es im Statskörper sein und auch da jedes
Organ eigens für die Functionen geschaffen sein, die von ihm
verlangt werden.

Der beliebte Ausdruck freilich: „Trennung der Gewal-
ten“ miszleitet zu falschen Anwendungen eines richtigen
Princips. Die vollständige „Trennung“ der Gewalten wäre
Auflösung der Statseinheit und Zerreiszung des Statskörpers.
Wie in dem natürlichen Körper alle einzelnen Glieder unter
sich wieder verbunden sind, so musz auch im State der
Zusammenhang der verschiedenen Organe nicht minder
sorgsam gewahrt bleiben. Der Stat fordert daher die Ein-
heit
der Statsgewalt, welche nur je nach der Art ihrer
Functionen nach besonderen Organen zu gliedern ist.
Er will daher die relative Sonderung, nicht die absolute
Trennung der Gewalten.

Die gangbarste Unterscheidung dieser Theilgewalten —
die Franzosen haben den bessern Ausdruck pouvoir — ist seit
Montesquieu die dreifache:

1) gesetzgebende Gewalt (pouvoir législatif),

2) vollziehende Gewalt (pouvoir exécutif),

3) richterliche Gewalt (pouvoir judiciaire).

Auch die Engländer haben dieselbe für ihre Theorie des

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[589/0607] Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten. schränkt man sie alle wechselseitig. Aber der entscheidende Grund für die besondere Gestaltung der Organe, welche be- stimmte Functionen zu vollziehen haben, ist doch nicht jene politische Rücksicht einer gröszeren Sicherheit für die bürger- liche Freiheit, sondern voraus der organische, dasz für jede Function besser gesorgt wird, wenn das ihr dienende Organ eigens für diesen Zweck eingerichtet wird, als wenn man demselben Organe ganz verschiedene Functionen zuweist. Die organisatorische Kunst des Statsmanns folgte nur dem Vorbild der Natur, indem sie diese Sonderung der Organe vornahm. Das Auge ist zum sehen, das Ohr zum hören, der Mund zum sprechen und die Hand zum greifen und wirken gebaut. Ebenso soll es im Statskörper sein und auch da jedes Organ eigens für die Functionen geschaffen sein, die von ihm verlangt werden. Der beliebte Ausdruck freilich: „Trennung der Gewal- ten“ miszleitet zu falschen Anwendungen eines richtigen Princips. Die vollständige „Trennung“ der Gewalten wäre Auflösung der Statseinheit und Zerreiszung des Statskörpers. Wie in dem natürlichen Körper alle einzelnen Glieder unter sich wieder verbunden sind, so musz auch im State der Zusammenhang der verschiedenen Organe nicht minder sorgsam gewahrt bleiben. Der Stat fordert daher die Ein- heit der Statsgewalt, welche nur je nach der Art ihrer Functionen nach besonderen Organen zu gliedern ist. Er will daher die relative Sonderung, nicht die absolute Trennung der Gewalten. Die gangbarste Unterscheidung dieser Theilgewalten — die Franzosen haben den bessern Ausdruck pouvoir — ist seit Montesquieu die dreifache: 1) gesetzgebende Gewalt (pouvoir législatif), 2) vollziehende Gewalt (pouvoir exécutif), 3) richterliche Gewalt (pouvoir judiciaire). Auch die Engländer haben dieselbe für ihre Theorie des

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/607>, abgerufen am 29.03.2024.