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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Zweites Buch.

Dieser Grundsatz, welcher aus der völkerrechtlichen Stellung der europäischen
folgt, wurde auf den Congressen von Laibach (1821) und Verona (1822) nur
unvollständig, besser dagegen auf dem Pariser Congreß (1856) beachtet.

107.

Wenn die Zustände eines States dem europäischen Frieden Gefahr
bringen oder seine Handlungen die allgemeine Sicherheit der europäischen
Staten bedrohen oder die Leiden seiner Bevölkerung der Civilisation Europas
unwürdig und unerträglich erscheinen, so sind das nicht mehr besondere
Angelegenheiten unr dieses States, sondern ist die europäische Staten-
genossenschaft berechtigt, auf Besserung hinzuwirken.

In der Zeit der Interventionspolitik zu Gunsten der legitimen Fürstengewalt
wurde die erste Bedingung einer Intervention arg mißbraucht, indem man da Ge-
fahren für die europäische Rechtsordnung erblickte, wo in Wahrheit nur eine natur-
gemäße Fortbildung des Verfassungsrechts zu finden war. Ein Beispiel der zwei-
ten
Bedingung ist der Krieg der Westmächte gegen Rußland 1853--56, als Ruß-
land die Türkei überzog; und auf die dritte Bedingung hat man sich wiederholt
im Interesse der christlichen Bevölkerung der Türkei berufen. Das heutige Europa
darf nicht mehr dulden, daß die blutigen Ketzerverfolgungen oder die Hexengerichte
nach der Weise des Mittelalters erneuert werden. Die civilisirte Menschheit hat ein
Recht, die Fortschritte der Menschlichkeit gegen den Wahnsinn verblendeter Fanatiker
zu schützen. Vgl. unten Buch VII.

4. Allgemeine Congresse.
108.

Zur Zeit gibt es noch keine anerkannte Rechtsordnung für allgemeine
europäische Congresse und noch weniger für allgemeine Weltcongresse.

Die Institution eines völkerrechtlichen Congresses, auf welchem die Häupter
und Vertreter der Staten zu gemeinsamer Berathung zusammentreten, ist noch in
ihren ersten mangelhaften und unsicher tastenden Anfängen. Noch immer erscheint
der Congreß von Wien 1814--15 als der bedeutendste allgemein-europäische Con-
greß. Die folgenden Congresse von Aachen 1818, Troppau 1820, Laibach
1821 und Verona 1822 waren vorzugsweise nur Congresse der fünf europäischen
Großmächte. Der großartige Vorschlag des Kaisers Napoleon III. vom Jahr 1863 zu
einem allgemeinen europäischen Congreß ist bisher ohne Erfolg geblieben.
Aber die Idee der Congresse hat so sicher noch eine große Zukunft, als die fortschrei-
tende Menschheit sich mehr den friedlichen Mitteln zuwenden wird, um für den
Schutz und die zeitgemäße Fortbildung ihrer gemeinsamen Lebensordnung zu sorgen.

Zweites Buch.

Dieſer Grundſatz, welcher aus der völkerrechtlichen Stellung der europäiſchen
folgt, wurde auf den Congreſſen von Laibach (1821) und Verona (1822) nur
unvollſtändig, beſſer dagegen auf dem Pariſer Congreß (1856) beachtet.

107.

Wenn die Zuſtände eines States dem europäiſchen Frieden Gefahr
bringen oder ſeine Handlungen die allgemeine Sicherheit der europäiſchen
Staten bedrohen oder die Leiden ſeiner Bevölkerung der Civiliſation Europas
unwürdig und unerträglich erſcheinen, ſo ſind das nicht mehr beſondere
Angelegenheiten unr dieſes States, ſondern iſt die europäiſche Staten-
genoſſenſchaft berechtigt, auf Beſſerung hinzuwirken.

In der Zeit der Interventionspolitik zu Gunſten der legitimen Fürſtengewalt
wurde die erſte Bedingung einer Intervention arg mißbraucht, indem man da Ge-
fahren für die europäiſche Rechtsordnung erblickte, wo in Wahrheit nur eine natur-
gemäße Fortbildung des Verfaſſungsrechts zu finden war. Ein Beiſpiel der zwei-
ten
Bedingung iſt der Krieg der Weſtmächte gegen Rußland 1853—56, als Ruß-
land die Türkei überzog; und auf die dritte Bedingung hat man ſich wiederholt
im Intereſſe der chriſtlichen Bevölkerung der Türkei berufen. Das heutige Europa
darf nicht mehr dulden, daß die blutigen Ketzerverfolgungen oder die Hexengerichte
nach der Weiſe des Mittelalters erneuert werden. Die civiliſirte Menſchheit hat ein
Recht, die Fortſchritte der Menſchlichkeit gegen den Wahnſinn verblendeter Fanatiker
zu ſchützen. Vgl. unten Buch VII.

4. Allgemeine Congreſſe.
108.

Zur Zeit gibt es noch keine anerkannte Rechtsordnung für allgemeine
europäiſche Congreſſe und noch weniger für allgemeine Weltcongreſſe.

Die Inſtitution eines völkerrechtlichen Congreſſes, auf welchem die Häupter
und Vertreter der Staten zu gemeinſamer Berathung zuſammentreten, iſt noch in
ihren erſten mangelhaften und unſicher taſtenden Anfängen. Noch immer erſcheint
der Congreß von Wien 1814—15 als der bedeutendſte allgemein-europäiſche Con-
greß. Die folgenden Congreſſe von Aachen 1818, Troppau 1820, Laibach
1821 und Verona 1822 waren vorzugsweiſe nur Congreſſe der fünf europäiſchen
Großmächte. Der großartige Vorſchlag des Kaiſers Napoleon III. vom Jahr 1863 zu
einem allgemeinen europäiſchen Congreß iſt bisher ohne Erfolg geblieben.
Aber die Idee der Congreſſe hat ſo ſicher noch eine große Zukunft, als die fortſchrei-
tende Menſchheit ſich mehr den friedlichen Mitteln zuwenden wird, um für den
Schutz und die zeitgemäße Fortbildung ihrer gemeinſamen Lebensordnung zu ſorgen.

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[102/0124] Zweites Buch. Dieſer Grundſatz, welcher aus der völkerrechtlichen Stellung der europäiſchen folgt, wurde auf den Congreſſen von Laibach (1821) und Verona (1822) nur unvollſtändig, beſſer dagegen auf dem Pariſer Congreß (1856) beachtet. 107. Wenn die Zuſtände eines States dem europäiſchen Frieden Gefahr bringen oder ſeine Handlungen die allgemeine Sicherheit der europäiſchen Staten bedrohen oder die Leiden ſeiner Bevölkerung der Civiliſation Europas unwürdig und unerträglich erſcheinen, ſo ſind das nicht mehr beſondere Angelegenheiten unr dieſes States, ſondern iſt die europäiſche Staten- genoſſenſchaft berechtigt, auf Beſſerung hinzuwirken. In der Zeit der Interventionspolitik zu Gunſten der legitimen Fürſtengewalt wurde die erſte Bedingung einer Intervention arg mißbraucht, indem man da Ge- fahren für die europäiſche Rechtsordnung erblickte, wo in Wahrheit nur eine natur- gemäße Fortbildung des Verfaſſungsrechts zu finden war. Ein Beiſpiel der zwei- ten Bedingung iſt der Krieg der Weſtmächte gegen Rußland 1853—56, als Ruß- land die Türkei überzog; und auf die dritte Bedingung hat man ſich wiederholt im Intereſſe der chriſtlichen Bevölkerung der Türkei berufen. Das heutige Europa darf nicht mehr dulden, daß die blutigen Ketzerverfolgungen oder die Hexengerichte nach der Weiſe des Mittelalters erneuert werden. Die civiliſirte Menſchheit hat ein Recht, die Fortſchritte der Menſchlichkeit gegen den Wahnſinn verblendeter Fanatiker zu ſchützen. Vgl. unten Buch VII. 4. Allgemeine Congreſſe. 108. Zur Zeit gibt es noch keine anerkannte Rechtsordnung für allgemeine europäiſche Congreſſe und noch weniger für allgemeine Weltcongreſſe. Die Inſtitution eines völkerrechtlichen Congreſſes, auf welchem die Häupter und Vertreter der Staten zu gemeinſamer Berathung zuſammentreten, iſt noch in ihren erſten mangelhaften und unſicher taſtenden Anfängen. Noch immer erſcheint der Congreß von Wien 1814—15 als der bedeutendſte allgemein-europäiſche Con- greß. Die folgenden Congreſſe von Aachen 1818, Troppau 1820, Laibach 1821 und Verona 1822 waren vorzugsweiſe nur Congreſſe der fünf europäiſchen Großmächte. Der großartige Vorſchlag des Kaiſers Napoleon III. vom Jahr 1863 zu einem allgemeinen europäiſchen Congreß iſt bisher ohne Erfolg geblieben. Aber die Idee der Congreſſe hat ſo ſicher noch eine große Zukunft, als die fortſchrei- tende Menſchheit ſich mehr den friedlichen Mitteln zuwenden wird, um für den Schutz und die zeitgemäße Fortbildung ihrer gemeinſamen Lebensordnung zu ſorgen.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/124>, abgerufen am 24.04.2024.