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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Viertes Buch.
die Aufgabe, der Gewalt Schranken zu setzen. In der That hat die Eroberung, in-
sofern sie nur als physische Unterwerfung mit Gewalt unter die Herrschaft des Sie-
gers erscheint, für sich die Kraft nicht, neues Recht zu schaffen, außer höchstens das
vorübergehende Nothrecht des Kriegs. Damit die Eroberung Recht bil-
dend wirke, muß noch ein anderes rechtliches Moment zu dem der thatsächlichen
Ueberlegenheit des Siegers hinzukommen, es muß insbesondere die Nothwendig-
keit der Umgestaltung
offenbar geworden sein. Dann ergibt sich daraus, daß
jene Gewalt selbst nicht rohe und bloße Gewalt war, sondern daß sich in ihr die
Macht der natürlichen Verhältnisse und ihrer Entwickelung gezeigt
habe, und in dieser Macht ist allerdings der stärkste Trieb zu statlicher Rechtsbildung
zu erkennen. Das wird im Friedensschluß voraus klar gemacht; denn indem
die kriegführenden Parteien Frieden schließen, erkennen sie die dauernde Nothwendig-
keit der im Frieden bekräftigten Ordnung an. Dem Frieden steht aber die Aner-
kennung
der Bevölkerung beziehungsweise das gänzliche Erlöschen jedes Wider-
stands gleich. Die offenbar gewordene Unfähigkeit und Unmöglichkeit, den Kampf
fortzusetzen oder zu erneuern, macht jene Recht bildende Macht ebenfalls offenbar.
Die Ausdehnung schon der alten Jüdischen Statshoheit über Palästina ist in
grausamster und rohester Form der Eroberung vollzogen worden und dennoch in
ihrem Erfolg anerkannt worden. Die Gründung der meisten germanischen
Staten auf römischem Boden ist ebenso durch Eroberung geschehen und öfter durch
Anerkennung der Bevölkerung als durch Friedensschlüsse bestätigt worden.

290.

Auch wenn es an einem besondern Rechtstitel für den Erwerb fehlt
oder sogar erweislich die anfängliche Besitznahme gewaltsam und mit Ver-
letzung des Rechts vollzogen worden ist, aber der Besitzstand so lange Zeit
ruhig fortdauert, daß derselbe nunmehr von dem Bewußtsein des Volks
als fortdauernd nothwendig anerkannt wird, so ist anzunehmen, der ur-
sprüngliche Gewaltzustand sei von der reinigenden Macht der Zeit in den
entsprechenden Rechtszustand umgewandelt worden.

Eine Verjährung in diesem Sinne, freilich ohne daß eine bestimmte An-
zahl Jahre wie in der privatrechtlichen Ersitzung fixirt werden kann, und ohne daß
die privatrechtlichen Bedingungen dafür gelten, ist völkerrechtlich geradezu unentbehr-
lich, wenn nicht die Entwicklung der geschichtlichen Statenbildung und Statenerwei-
terung einer nie endenden Bestreitung Preis gegeben werden soll. Dieselbe ist denn
auch in der Hauptsache schon von Hugo Grotius II. 4,1 als nothwendig erklärt
worden. Nur indem die reinigende und Recht bildende Macht der Zeit anerkannt
wird, kann das Gefühl der Rechtssicherheit unter den Völkern befestigt und der all-
gemeine Friede gesichert werden. Vgl. oben § 37. 38. Phillimore I. 255 ff.

Viertes Buch.
die Aufgabe, der Gewalt Schranken zu ſetzen. In der That hat die Eroberung, in-
ſofern ſie nur als phyſiſche Unterwerfung mit Gewalt unter die Herrſchaft des Sie-
gers erſcheint, für ſich die Kraft nicht, neues Recht zu ſchaffen, außer höchſtens das
vorübergehende Nothrecht des Kriegs. Damit die Eroberung Recht bil-
dend wirke, muß noch ein anderes rechtliches Moment zu dem der thatſächlichen
Ueberlegenheit des Siegers hinzukommen, es muß insbeſondere die Nothwendig-
keit der Umgeſtaltung
offenbar geworden ſein. Dann ergibt ſich daraus, daß
jene Gewalt ſelbſt nicht rohe und bloße Gewalt war, ſondern daß ſich in ihr die
Macht der natürlichen Verhältniſſe und ihrer Entwickelung gezeigt
habe, und in dieſer Macht iſt allerdings der ſtärkſte Trieb zu ſtatlicher Rechtsbildung
zu erkennen. Das wird im Friedensſchluß voraus klar gemacht; denn indem
die kriegführenden Parteien Frieden ſchließen, erkennen ſie die dauernde Nothwendig-
keit der im Frieden bekräftigten Ordnung an. Dem Frieden ſteht aber die Aner-
kennung
der Bevölkerung beziehungsweiſe das gänzliche Erlöſchen jedes Wider-
ſtands gleich. Die offenbar gewordene Unfähigkeit und Unmöglichkeit, den Kampf
fortzuſetzen oder zu erneuern, macht jene Recht bildende Macht ebenfalls offenbar.
Die Ausdehnung ſchon der alten Jüdiſchen Statshoheit über Paläſtina iſt in
grauſamſter und roheſter Form der Eroberung vollzogen worden und dennoch in
ihrem Erfolg anerkannt worden. Die Gründung der meiſten germaniſchen
Staten auf römiſchem Boden iſt ebenſo durch Eroberung geſchehen und öfter durch
Anerkennung der Bevölkerung als durch Friedensſchlüſſe beſtätigt worden.

290.

Auch wenn es an einem beſondern Rechtstitel für den Erwerb fehlt
oder ſogar erweislich die anfängliche Beſitznahme gewaltſam und mit Ver-
letzung des Rechts vollzogen worden iſt, aber der Beſitzſtand ſo lange Zeit
ruhig fortdauert, daß derſelbe nunmehr von dem Bewußtſein des Volks
als fortdauernd nothwendig anerkannt wird, ſo iſt anzunehmen, der ur-
ſprüngliche Gewaltzuſtand ſei von der reinigenden Macht der Zeit in den
entſprechenden Rechtszuſtand umgewandelt worden.

Eine Verjährung in dieſem Sinne, freilich ohne daß eine beſtimmte An-
zahl Jahre wie in der privatrechtlichen Erſitzung fixirt werden kann, und ohne daß
die privatrechtlichen Bedingungen dafür gelten, iſt völkerrechtlich geradezu unentbehr-
lich, wenn nicht die Entwicklung der geſchichtlichen Statenbildung und Statenerwei-
terung einer nie endenden Beſtreitung Preis gegeben werden ſoll. Dieſelbe iſt denn
auch in der Hauptſache ſchon von Hugo Grotius II. 4,1 als nothwendig erklärt
worden. Nur indem die reinigende und Recht bildende Macht der Zeit anerkannt
wird, kann das Gefühl der Rechtsſicherheit unter den Völkern befeſtigt und der all-
gemeine Friede geſichert werden. Vgl. oben § 37. 38. Phillimore I. 255 ff.

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[172/0194] Viertes Buch. die Aufgabe, der Gewalt Schranken zu ſetzen. In der That hat die Eroberung, in- ſofern ſie nur als phyſiſche Unterwerfung mit Gewalt unter die Herrſchaft des Sie- gers erſcheint, für ſich die Kraft nicht, neues Recht zu ſchaffen, außer höchſtens das vorübergehende Nothrecht des Kriegs. Damit die Eroberung Recht bil- dend wirke, muß noch ein anderes rechtliches Moment zu dem der thatſächlichen Ueberlegenheit des Siegers hinzukommen, es muß insbeſondere die Nothwendig- keit der Umgeſtaltung offenbar geworden ſein. Dann ergibt ſich daraus, daß jene Gewalt ſelbſt nicht rohe und bloße Gewalt war, ſondern daß ſich in ihr die Macht der natürlichen Verhältniſſe und ihrer Entwickelung gezeigt habe, und in dieſer Macht iſt allerdings der ſtärkſte Trieb zu ſtatlicher Rechtsbildung zu erkennen. Das wird im Friedensſchluß voraus klar gemacht; denn indem die kriegführenden Parteien Frieden ſchließen, erkennen ſie die dauernde Nothwendig- keit der im Frieden bekräftigten Ordnung an. Dem Frieden ſteht aber die Aner- kennung der Bevölkerung beziehungsweiſe das gänzliche Erlöſchen jedes Wider- ſtands gleich. Die offenbar gewordene Unfähigkeit und Unmöglichkeit, den Kampf fortzuſetzen oder zu erneuern, macht jene Recht bildende Macht ebenfalls offenbar. Die Ausdehnung ſchon der alten Jüdiſchen Statshoheit über Paläſtina iſt in grauſamſter und roheſter Form der Eroberung vollzogen worden und dennoch in ihrem Erfolg anerkannt worden. Die Gründung der meiſten germaniſchen Staten auf römiſchem Boden iſt ebenſo durch Eroberung geſchehen und öfter durch Anerkennung der Bevölkerung als durch Friedensſchlüſſe beſtätigt worden. 290. Auch wenn es an einem beſondern Rechtstitel für den Erwerb fehlt oder ſogar erweislich die anfängliche Beſitznahme gewaltſam und mit Ver- letzung des Rechts vollzogen worden iſt, aber der Beſitzſtand ſo lange Zeit ruhig fortdauert, daß derſelbe nunmehr von dem Bewußtſein des Volks als fortdauernd nothwendig anerkannt wird, ſo iſt anzunehmen, der ur- ſprüngliche Gewaltzuſtand ſei von der reinigenden Macht der Zeit in den entſprechenden Rechtszuſtand umgewandelt worden. Eine Verjährung in dieſem Sinne, freilich ohne daß eine beſtimmte An- zahl Jahre wie in der privatrechtlichen Erſitzung fixirt werden kann, und ohne daß die privatrechtlichen Bedingungen dafür gelten, iſt völkerrechtlich geradezu unentbehr- lich, wenn nicht die Entwicklung der geſchichtlichen Statenbildung und Statenerwei- terung einer nie endenden Beſtreitung Preis gegeben werden ſoll. Dieſelbe iſt denn auch in der Hauptſache ſchon von Hugo Grotius II. 4,1 als nothwendig erklärt worden. Nur indem die reinigende und Recht bildende Macht der Zeit anerkannt wird, kann das Gefühl der Rechtsſicherheit unter den Völkern befeſtigt und der all- gemeine Friede geſichert werden. Vgl. oben § 37. 38. Phillimore I. 255 ff.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/194>, abgerufen am 29.03.2024.