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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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derung durchzusetzen, zum Kriege greift, gleicht jenem Bären der Fabel, welcher
schwere Steine nach der Fliege wirft, welche auf der Stirne des schlafenden Freun-
des spaziert und in der Absicht die Fliege zu vertreiben, den Freund damit tödtet.
Es wäre nicht mehr zu früh für das humaner gewordene Rechtsbewußtsein der civi-
lisirten Welt, wenn endlich von einem Congreß der Staten für derartige Fälle der
Krieg untersagt und ein schiedsrichterliches Verfahren zum voraus angeordnet würde,
durch welches solche kleine Händel billig geschlichtet werden sollen.


5. Zwangsmittel ohne Krieg: Selbsthülfe durch Repressalien,
Retorsion, Sperre.
499.

Wenn das Minneverfahren oder das schiedsrichterliche Verfahren den
Streit zweier Staten nicht erledigt oder unthunlich erscheint, so ist der
verletzte Stat zur Selbsthülfe berechtigt.

Wenn ein Stat, der sich in seinem Recht verletzt fühlt, keine Beseitigung
des Unrechts und keine Genugthuung erreichen kann durch Unterhandlungen oder in
Folge eines geordneten Rechtsverfahrens, so bleibt nur der Weg der Selbsthülfe
übrig, wenn er es nicht vorzieht, sich das Unrecht gefallen zu lassen und auf Genug-
thuung zu verzichten. Die Mittel der Selbsthülfe sind wieder sehr verschieden, wenn
gleich sie nun alle den Zwang und insofern die Anwendung der statlichen
Gewalt
in sich schließen.

500.

Als völkerrechtlich zulässige Repressalien, ohne Krieg, gelten:

a) die Beschlagnahme und nach Umständen Pfändung und Ver-
silberung von gegnerischem Statsvermögen innerhalb des eigenen
Statsgebiets;
b) die Beschlagnahme von Privatvermögen der Angehörigen des
gegnerischen Stats innerhalb des eigenen Gebiets, insofern der-
selbe sich zuvor in widerrechtlicher Weise an dem Privatvermögen
der eigenen Statsangehörigen vergriffen hat;
c) die Hemmung des Handels- und Postverkehrs, der Eisenbahn-
und Telegraphenverbindung, der Schiffahrt;

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derung durchzuſetzen, zum Kriege greift, gleicht jenem Bären der Fabel, welcher
ſchwere Steine nach der Fliege wirft, welche auf der Stirne des ſchlafenden Freun-
des ſpaziert und in der Abſicht die Fliege zu vertreiben, den Freund damit tödtet.
Es wäre nicht mehr zu früh für das humaner gewordene Rechtsbewußtſein der civi-
liſirten Welt, wenn endlich von einem Congreß der Staten für derartige Fälle der
Krieg unterſagt und ein ſchiedsrichterliches Verfahren zum voraus angeordnet würde,
durch welches ſolche kleine Händel billig geſchlichtet werden ſollen.


5. Zwangsmittel ohne Krieg: Selbſthülfe durch Repreſſalien,
Retorſion, Sperre.
499.

Wenn das Minneverfahren oder das ſchiedsrichterliche Verfahren den
Streit zweier Staten nicht erledigt oder unthunlich erſcheint, ſo iſt der
verletzte Stat zur Selbſthülfe berechtigt.

Wenn ein Stat, der ſich in ſeinem Recht verletzt fühlt, keine Beſeitigung
des Unrechts und keine Genugthuung erreichen kann durch Unterhandlungen oder in
Folge eines geordneten Rechtsverfahrens, ſo bleibt nur der Weg der Selbſthülfe
übrig, wenn er es nicht vorzieht, ſich das Unrecht gefallen zu laſſen und auf Genug-
thuung zu verzichten. Die Mittel der Selbſthülfe ſind wieder ſehr verſchieden, wenn
gleich ſie nun alle den Zwang und inſofern die Anwendung der ſtatlichen
Gewalt
in ſich ſchließen.

500.

Als völkerrechtlich zuläſſige Repreſſalien, ohne Krieg, gelten:

a) die Beſchlagnahme und nach Umſtänden Pfändung und Ver-
ſilberung von gegneriſchem Statsvermögen innerhalb des eigenen
Statsgebiets;
b) die Beſchlagnahme von Privatvermögen der Angehörigen des
gegneriſchen Stats innerhalb des eigenen Gebiets, inſofern der-
ſelbe ſich zuvor in widerrechtlicher Weiſe an dem Privatvermögen
der eigenen Statsangehörigen vergriffen hat;
c) die Hemmung des Handels- und Poſtverkehrs, der Eiſenbahn-
und Telegraphenverbindung, der Schiffahrt;
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[278/0300] Siebentes Buch. derung durchzuſetzen, zum Kriege greift, gleicht jenem Bären der Fabel, welcher ſchwere Steine nach der Fliege wirft, welche auf der Stirne des ſchlafenden Freun- des ſpaziert und in der Abſicht die Fliege zu vertreiben, den Freund damit tödtet. Es wäre nicht mehr zu früh für das humaner gewordene Rechtsbewußtſein der civi- liſirten Welt, wenn endlich von einem Congreß der Staten für derartige Fälle der Krieg unterſagt und ein ſchiedsrichterliches Verfahren zum voraus angeordnet würde, durch welches ſolche kleine Händel billig geſchlichtet werden ſollen. 5. Zwangsmittel ohne Krieg: Selbſthülfe durch Repreſſalien, Retorſion, Sperre. 499. Wenn das Minneverfahren oder das ſchiedsrichterliche Verfahren den Streit zweier Staten nicht erledigt oder unthunlich erſcheint, ſo iſt der verletzte Stat zur Selbſthülfe berechtigt. Wenn ein Stat, der ſich in ſeinem Recht verletzt fühlt, keine Beſeitigung des Unrechts und keine Genugthuung erreichen kann durch Unterhandlungen oder in Folge eines geordneten Rechtsverfahrens, ſo bleibt nur der Weg der Selbſthülfe übrig, wenn er es nicht vorzieht, ſich das Unrecht gefallen zu laſſen und auf Genug- thuung zu verzichten. Die Mittel der Selbſthülfe ſind wieder ſehr verſchieden, wenn gleich ſie nun alle den Zwang und inſofern die Anwendung der ſtatlichen Gewalt in ſich ſchließen. 500. Als völkerrechtlich zuläſſige Repreſſalien, ohne Krieg, gelten: a) die Beſchlagnahme und nach Umſtänden Pfändung und Ver- ſilberung von gegneriſchem Statsvermögen innerhalb des eigenen Statsgebiets; b) die Beſchlagnahme von Privatvermögen der Angehörigen des gegneriſchen Stats innerhalb des eigenen Gebiets, inſofern der- ſelbe ſich zuvor in widerrechtlicher Weiſe an dem Privatvermögen der eigenen Statsangehörigen vergriffen hat; c) die Hemmung des Handels- und Poſtverkehrs, der Eiſenbahn- und Telegraphenverbindung, der Schiffahrt;

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/300>, abgerufen am 28.03.2024.