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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Achtes Buch.
Kriegsmanifest als entbehrlich betrachtet wird. Wenn hiebei in bona fide verfahren
und nicht etwa der Gegner absichtlich getäuscht wird, um ihn unerwartet und plötz-
lich zu überfallen, so kann man diese Praxis nicht als völkerrechtswidrig verurtheilen.
Aber da der Mißbrauch nahe liegt und jede Unsicherheit über Frieden oder Krieg
schädlich wirkt, so ist diese Methode, einer offenen Erklärung auszuweichen, nicht
empfehlenswerth und ihre Anwendung möglichst auf solche Fälle zu beschränken, in
denen raschestes Handeln durchaus nöthig und zu einer gehörigen Erklärung keine
Zeit mehr ist. Fälle solcher Art waren die Verhinderung der Spanischen Expedition
nach Sicilien im Jahr 1718 durch den Angriff der englischen Flotte, die Kämpfe
zur See zwischen englischen und französischen Schiffen im Jahr 1788, während nur
die Kriegsspannung klar, eine eigentliche Kriegserklärung noch nicht geschehen und
noch nicht bekannt war. Weil man im Krieg auf Ueberraschungen gefaßt sein muß,
so sind die Staten zur Zeit der Vorbereitung und Spannung auf den Krieg zur
Wachsamkeit veranlaßt, und fängt die militärische Nothwendigkeit, den Drohungen
des Feindes rechtzeitig zu begegnen, an mitzuwirken. Es ist dann eine Aufgabe der
Politik, diese militärische Rücksicht mit der auf das Völkerrecht in Harmonie zu
bringen.

524.

Zum Vertheidigungskrieg bedarf es einer vorherigen Kriegserklärung
durch den Vertheidiger nicht. Die kriegerische Abwehr des kriegerischen
Angriffs macht die Kriegserklärung entbehrlich.

Der Vertheidiger ist nicht gehindert, aber er ist nicht verpflichtet, den Krieg
zu erklären. Auch er kann aber seinen Vertheidigungskrieg durch ein Manifest be-
gründen und erklären, und er wird in der Regel gut daran thun, ein solches Ma-
nifest zu erlassen.

525.

Es ist nicht nothwendig, daß ein längerer Zeitraum zwischen der
Kriegsandrohung und dem Beginn der Feindseligkeiten für Unterhandlun-
gen verstattet werde. Aber der gute Glaube und die Rücksicht auf die
Regel des Friedens erfordern, daß dem Gegner soviel Zeit gegeben werde,
um noch den Ausbruch des Krieges durch rasche Nachgiebigkeit zu ver-
meiden.

Die gleichzeitige Kriegserklärung und Eröfsnung des Kriegs ohne vor-
herige unzweideutige Kriegsdrohung verstößt nicht allein gegen die Interessen der
Humanität, sondern auch gegen die rechtliche Natur des Kriegs, als der gewaltsamen
Rechtshülfe aus Noth. Siehe oben § 516 f. Aber es genügt unter Umständen eine
ganz kurze Frist vielleicht von wenigen Tagen, wenn die Gefahr drängt, sogar von

Achtes Buch.
Kriegsmanifeſt als entbehrlich betrachtet wird. Wenn hiebei in bona fide verfahren
und nicht etwa der Gegner abſichtlich getäuſcht wird, um ihn unerwartet und plötz-
lich zu überfallen, ſo kann man dieſe Praxis nicht als völkerrechtswidrig verurtheilen.
Aber da der Mißbrauch nahe liegt und jede Unſicherheit über Frieden oder Krieg
ſchädlich wirkt, ſo iſt dieſe Methode, einer offenen Erklärung auszuweichen, nicht
empfehlenswerth und ihre Anwendung möglichſt auf ſolche Fälle zu beſchränken, in
denen raſcheſtes Handeln durchaus nöthig und zu einer gehörigen Erklärung keine
Zeit mehr iſt. Fälle ſolcher Art waren die Verhinderung der Spaniſchen Expedition
nach Sicilien im Jahr 1718 durch den Angriff der engliſchen Flotte, die Kämpfe
zur See zwiſchen engliſchen und franzöſiſchen Schiffen im Jahr 1788, während nur
die Kriegsſpannung klar, eine eigentliche Kriegserklärung noch nicht geſchehen und
noch nicht bekannt war. Weil man im Krieg auf Ueberraſchungen gefaßt ſein muß,
ſo ſind die Staten zur Zeit der Vorbereitung und Spannung auf den Krieg zur
Wachſamkeit veranlaßt, und fängt die militäriſche Nothwendigkeit, den Drohungen
des Feindes rechtzeitig zu begegnen, an mitzuwirken. Es iſt dann eine Aufgabe der
Politik, dieſe militäriſche Rückſicht mit der auf das Völkerrecht in Harmonie zu
bringen.

524.

Zum Vertheidigungskrieg bedarf es einer vorherigen Kriegserklärung
durch den Vertheidiger nicht. Die kriegeriſche Abwehr des kriegeriſchen
Angriffs macht die Kriegserklärung entbehrlich.

Der Vertheidiger iſt nicht gehindert, aber er iſt nicht verpflichtet, den Krieg
zu erklären. Auch er kann aber ſeinen Vertheidigungskrieg durch ein Manifeſt be-
gründen und erklären, und er wird in der Regel gut daran thun, ein ſolches Ma-
nifeſt zu erlaſſen.

525.

Es iſt nicht nothwendig, daß ein längerer Zeitraum zwiſchen der
Kriegsandrohung und dem Beginn der Feindſeligkeiten für Unterhandlun-
gen verſtattet werde. Aber der gute Glaube und die Rückſicht auf die
Regel des Friedens erfordern, daß dem Gegner ſoviel Zeit gegeben werde,
um noch den Ausbruch des Krieges durch raſche Nachgiebigkeit zu ver-
meiden.

Die gleichzeitige Kriegserklärung und Eröfſnung des Kriegs ohne vor-
herige unzweideutige Kriegsdrohung verſtößt nicht allein gegen die Intereſſen der
Humanität, ſondern auch gegen die rechtliche Natur des Kriegs, als der gewaltſamen
Rechtshülfe aus Noth. Siehe oben § 516 f. Aber es genügt unter Umſtänden eine
ganz kurze Friſt vielleicht von wenigen Tagen, wenn die Gefahr drängt, ſogar von

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[294/0316] Achtes Buch. Kriegsmanifeſt als entbehrlich betrachtet wird. Wenn hiebei in bona fide verfahren und nicht etwa der Gegner abſichtlich getäuſcht wird, um ihn unerwartet und plötz- lich zu überfallen, ſo kann man dieſe Praxis nicht als völkerrechtswidrig verurtheilen. Aber da der Mißbrauch nahe liegt und jede Unſicherheit über Frieden oder Krieg ſchädlich wirkt, ſo iſt dieſe Methode, einer offenen Erklärung auszuweichen, nicht empfehlenswerth und ihre Anwendung möglichſt auf ſolche Fälle zu beſchränken, in denen raſcheſtes Handeln durchaus nöthig und zu einer gehörigen Erklärung keine Zeit mehr iſt. Fälle ſolcher Art waren die Verhinderung der Spaniſchen Expedition nach Sicilien im Jahr 1718 durch den Angriff der engliſchen Flotte, die Kämpfe zur See zwiſchen engliſchen und franzöſiſchen Schiffen im Jahr 1788, während nur die Kriegsſpannung klar, eine eigentliche Kriegserklärung noch nicht geſchehen und noch nicht bekannt war. Weil man im Krieg auf Ueberraſchungen gefaßt ſein muß, ſo ſind die Staten zur Zeit der Vorbereitung und Spannung auf den Krieg zur Wachſamkeit veranlaßt, und fängt die militäriſche Nothwendigkeit, den Drohungen des Feindes rechtzeitig zu begegnen, an mitzuwirken. Es iſt dann eine Aufgabe der Politik, dieſe militäriſche Rückſicht mit der auf das Völkerrecht in Harmonie zu bringen. 524. Zum Vertheidigungskrieg bedarf es einer vorherigen Kriegserklärung durch den Vertheidiger nicht. Die kriegeriſche Abwehr des kriegeriſchen Angriffs macht die Kriegserklärung entbehrlich. Der Vertheidiger iſt nicht gehindert, aber er iſt nicht verpflichtet, den Krieg zu erklären. Auch er kann aber ſeinen Vertheidigungskrieg durch ein Manifeſt be- gründen und erklären, und er wird in der Regel gut daran thun, ein ſolches Ma- nifeſt zu erlaſſen. 525. Es iſt nicht nothwendig, daß ein längerer Zeitraum zwiſchen der Kriegsandrohung und dem Beginn der Feindſeligkeiten für Unterhandlun- gen verſtattet werde. Aber der gute Glaube und die Rückſicht auf die Regel des Friedens erfordern, daß dem Gegner ſoviel Zeit gegeben werde, um noch den Ausbruch des Krieges durch raſche Nachgiebigkeit zu ver- meiden. Die gleichzeitige Kriegserklärung und Eröfſnung des Kriegs ohne vor- herige unzweideutige Kriegsdrohung verſtößt nicht allein gegen die Intereſſen der Humanität, ſondern auch gegen die rechtliche Natur des Kriegs, als der gewaltſamen Rechtshülfe aus Noth. Siehe oben § 516 f. Aber es genügt unter Umſtänden eine ganz kurze Friſt vielleicht von wenigen Tagen, wenn die Gefahr drängt, ſogar von

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/316>, abgerufen am 28.03.2024.