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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Recht der Neutralität.
diese ist nur dann vorhanden, wenn der Stat entweder den Neutralitätsbruch her-
vorruft oder doch in feindlicher Absicht begünstigt oder wenn ihm eine grobe Fahrlässig-
keit vorgeworfen werden kann, indem er es versäumt, denselben zu verhindern. Wenn
ihm z. B. angezeigt wird, oder er sonst es erfährt, daß sich Truppen oder Freischaren
an der Grenze sammeln, um einen feindlichen Einfall in das benachbarte Kriegsland
zu machen oder dem feindlichen Heere zuzuziehn, so wird er diese Schaaren zerstreuen
und den Einfall verhindern müssen, damit ihm nicht Connivenz mit dem Neutra-
litätsbruch vorgeworfen werde.

780.

Fällt der Neutralitätsbruch lediglich dritten Personen, nicht dem neu-
tralen State selbst zur Last, so ist der dadurch verletzte und geschädigte
kriegführende Stat berechtigt, von dem neutralen State Abstellung des
Unrechts, so weit es in dessen Macht steht und je nach Umständen Be-
strafung der Schuldigen, nicht aber deren Auslieferung zu fordern.

Die dritten Personen können sein:

a) eine der Kriegsparteien selber,
b) Unterthanen oder Bürger des neutralen Stats,
c) Fremde Individuen in dem neutralen Gebiete.

Die Abstellung des Unrechts ist in allen Fällen Aufgabe des neutralen Stats.
Die Bestrafung der Schuldigen wird in der Regel nur gegen die Individuen
durchzuführen sein, welche in dem Bereich der neutralen Strafgewalt sind. Die
Auslieferung der Einheimischen an eine fremde Strafgewalt wird von dem
heutigen internationalen Strafrecht nicht gebilligt; die Auslieferung der Fremden
ist zwar zulässig, aber der Stat, der sie -- ohne die dringendsten Motive -- gegen
politische Flüchtlinge vollzieht, würde sich dem Vorwurf der Grausamkeit und der
Inhumanität aussetzen, weßhalb sie von dem neutralen State nicht erwartet werden
kann. Vgl. § 398. 399.

781.

Hat der neutrale Stat den Bruch der Neutralität selbst verschuldet,
so ist die dadurch verletzte Kriegspartei berechtigt, von demselben Genug-
thuung und Entschädigung zu fordern und in schweren Fällen die Neu-
tralität als erloschen zu erklären und auch seinerseits nicht weiter zu
beachten.

Die Verletzung der Neutralitätspflichten berechtigt keineswegs die verletzte
Kriegspartei, nun auch den neutralen Stat als Feind zu behandeln. In sehr
vielen Fällen wäre eine solche Wirkung unverhältnißmäßig. Sie fällt lediglich

Recht der Neutralität.
dieſe iſt nur dann vorhanden, wenn der Stat entweder den Neutralitätsbruch her-
vorruft oder doch in feindlicher Abſicht begünſtigt oder wenn ihm eine grobe Fahrläſſig-
keit vorgeworfen werden kann, indem er es verſäumt, denſelben zu verhindern. Wenn
ihm z. B. angezeigt wird, oder er ſonſt es erfährt, daß ſich Truppen oder Freiſcharen
an der Grenze ſammeln, um einen feindlichen Einfall in das benachbarte Kriegsland
zu machen oder dem feindlichen Heere zuzuziehn, ſo wird er dieſe Schaaren zerſtreuen
und den Einfall verhindern müſſen, damit ihm nicht Connivenz mit dem Neutra-
litätsbruch vorgeworfen werde.

780.

Fällt der Neutralitätsbruch lediglich dritten Perſonen, nicht dem neu-
tralen State ſelbſt zur Laſt, ſo iſt der dadurch verletzte und geſchädigte
kriegführende Stat berechtigt, von dem neutralen State Abſtellung des
Unrechts, ſo weit es in deſſen Macht ſteht und je nach Umſtänden Be-
ſtrafung der Schuldigen, nicht aber deren Auslieferung zu fordern.

Die dritten Perſonen können ſein:

a) eine der Kriegsparteien ſelber,
b) Unterthanen oder Bürger des neutralen Stats,
c) Fremde Individuen in dem neutralen Gebiete.

Die Abſtellung des Unrechts iſt in allen Fällen Aufgabe des neutralen Stats.
Die Beſtrafung der Schuldigen wird in der Regel nur gegen die Individuen
durchzuführen ſein, welche in dem Bereich der neutralen Strafgewalt ſind. Die
Auslieferung der Einheimiſchen an eine fremde Strafgewalt wird von dem
heutigen internationalen Strafrecht nicht gebilligt; die Auslieferung der Fremden
iſt zwar zuläſſig, aber der Stat, der ſie — ohne die dringendſten Motive — gegen
politiſche Flüchtlinge vollzieht, würde ſich dem Vorwurf der Grauſamkeit und der
Inhumanität ausſetzen, weßhalb ſie von dem neutralen State nicht erwartet werden
kann. Vgl. § 398. 399.

781.

Hat der neutrale Stat den Bruch der Neutralität ſelbſt verſchuldet,
ſo iſt die dadurch verletzte Kriegspartei berechtigt, von demſelben Genug-
thuung und Entſchädigung zu fordern und in ſchweren Fällen die Neu-
tralität als erloſchen zu erklären und auch ſeinerſeits nicht weiter zu
beachten.

Die Verletzung der Neutralitätspflichten berechtigt keineswegs die verletzte
Kriegspartei, nun auch den neutralen Stat als Feind zu behandeln. In ſehr
vielen Fällen wäre eine ſolche Wirkung unverhältnißmäßig. Sie fällt lediglich

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[421/0443] Recht der Neutralität. dieſe iſt nur dann vorhanden, wenn der Stat entweder den Neutralitätsbruch her- vorruft oder doch in feindlicher Abſicht begünſtigt oder wenn ihm eine grobe Fahrläſſig- keit vorgeworfen werden kann, indem er es verſäumt, denſelben zu verhindern. Wenn ihm z. B. angezeigt wird, oder er ſonſt es erfährt, daß ſich Truppen oder Freiſcharen an der Grenze ſammeln, um einen feindlichen Einfall in das benachbarte Kriegsland zu machen oder dem feindlichen Heere zuzuziehn, ſo wird er dieſe Schaaren zerſtreuen und den Einfall verhindern müſſen, damit ihm nicht Connivenz mit dem Neutra- litätsbruch vorgeworfen werde. 780. Fällt der Neutralitätsbruch lediglich dritten Perſonen, nicht dem neu- tralen State ſelbſt zur Laſt, ſo iſt der dadurch verletzte und geſchädigte kriegführende Stat berechtigt, von dem neutralen State Abſtellung des Unrechts, ſo weit es in deſſen Macht ſteht und je nach Umſtänden Be- ſtrafung der Schuldigen, nicht aber deren Auslieferung zu fordern. Die dritten Perſonen können ſein: a) eine der Kriegsparteien ſelber, b) Unterthanen oder Bürger des neutralen Stats, c) Fremde Individuen in dem neutralen Gebiete. Die Abſtellung des Unrechts iſt in allen Fällen Aufgabe des neutralen Stats. Die Beſtrafung der Schuldigen wird in der Regel nur gegen die Individuen durchzuführen ſein, welche in dem Bereich der neutralen Strafgewalt ſind. Die Auslieferung der Einheimiſchen an eine fremde Strafgewalt wird von dem heutigen internationalen Strafrecht nicht gebilligt; die Auslieferung der Fremden iſt zwar zuläſſig, aber der Stat, der ſie — ohne die dringendſten Motive — gegen politiſche Flüchtlinge vollzieht, würde ſich dem Vorwurf der Grauſamkeit und der Inhumanität ausſetzen, weßhalb ſie von dem neutralen State nicht erwartet werden kann. Vgl. § 398. 399. 781. Hat der neutrale Stat den Bruch der Neutralität ſelbſt verſchuldet, ſo iſt die dadurch verletzte Kriegspartei berechtigt, von demſelben Genug- thuung und Entſchädigung zu fordern und in ſchweren Fällen die Neu- tralität als erloſchen zu erklären und auch ſeinerſeits nicht weiter zu beachten. Die Verletzung der Neutralitätspflichten berechtigt keineswegs die verletzte Kriegspartei, nun auch den neutralen Stat als Feind zu behandeln. In ſehr vielen Fällen wäre eine ſolche Wirkung unverhältnißmäßig. Sie fällt lediglich

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/443>, abgerufen am 20.04.2024.