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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 5. Zürich, 1742.

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Kurtze
Abhandlung
von den Dichtungen überhaupt.

DJe Dichtung hat nicht allein Platz in der
gebundenen Schreibart: auch die unge-
bundene kan reich an Dichtungen seyn;
und es giebt eine Poesie in der prosaischen Rede.
Ein munterer Scribent bildet nicht allein die
reichen Wercke, welche ihm die Natur vor Au-
gen leget, mit seiner Feder nach: Seinem stol-
zen Sinn ist auch der weite Umkreis der Natur
viel zu enge: Er sucht sich neue Spuren,

Und fliegt in eine Welt des Epicurus hin,
Und macht sich ein Geschöpf, von dem man nie gelesen,
Das künftig nicht seyn wird, noch jemahls ist gewesen.

Als der grosse Alexander durch seine sieghafte
Waffen die gantze Erden bezwungen, beklagte
er mit Thränen, daß nicht mehr Welten wären,
an deren Besiegung er seinen grossen Muth und
seine unüberwindliche Macht ferner versuchen
könnte. Aber ein lebhafter Kopf bauet sich selbst
in seiner erhizten Phantasie neue Welten, die
er mit neuen Einwohnern bevölckert, welche von
einer fremden Natur sind, und eigenen Gesetzen
folgen. Er dichtet sich neue Personen und neue
Begegnissen: Bald giebt er den Todten das
Leben wieder, und verbindet sie in allerley Un-

ter-
Kurtze
Abhandlung
von den Dichtungen uͤberhaupt.

DJe Dichtung hat nicht allein Platz in der
gebundenen Schreibart: auch die unge-
bundene kan reich an Dichtungen ſeyn;
und es giebt eine Poeſie in der proſaiſchen Rede.
Ein munterer Scribent bildet nicht allein die
reichen Wercke, welche ihm die Natur vor Au-
gen leget, mit ſeiner Feder nach: Seinem ſtol-
zen Sinn iſt auch der weite Umkreis der Natur
viel zu enge: Er ſucht ſich neue Spuren,

Und fliegt in eine Welt des Epicurus hin,
Und macht ſich ein Geſchoͤpf, von dem man nie geleſen,
Das kuͤnftig nicht ſeyn wird, noch jemahls iſt geweſen.

Als der groſſe Alexander durch ſeine ſieghafte
Waffen die gantze Erden bezwungen, beklagte
er mit Thraͤnen, daß nicht mehr Welten waͤren,
an deren Beſiegung er ſeinen groſſen Muth und
ſeine unuͤberwindliche Macht ferner verſuchen
koͤnnte. Aber ein lebhafter Kopf bauet ſich ſelbſt
in ſeiner erhizten Phantaſie neue Welten, die
er mit neuen Einwohnern bevoͤlckert, welche von
einer fremden Natur ſind, und eigenen Geſetzen
folgen. Er dichtet ſich neue Perſonen und neue
Begegniſſen: Bald giebt er den Todten das
Leben wieder, und verbindet ſie in allerley Un-

ter-
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[80/0080] Kurtze Abhandlung von den Dichtungen uͤberhaupt. DJe Dichtung hat nicht allein Platz in der gebundenen Schreibart: auch die unge- bundene kan reich an Dichtungen ſeyn; und es giebt eine Poeſie in der proſaiſchen Rede. Ein munterer Scribent bildet nicht allein die reichen Wercke, welche ihm die Natur vor Au- gen leget, mit ſeiner Feder nach: Seinem ſtol- zen Sinn iſt auch der weite Umkreis der Natur viel zu enge: Er ſucht ſich neue Spuren, Und fliegt in eine Welt des Epicurus hin, Und macht ſich ein Geſchoͤpf, von dem man nie geleſen, Das kuͤnftig nicht ſeyn wird, noch jemahls iſt geweſen. Als der groſſe Alexander durch ſeine ſieghafte Waffen die gantze Erden bezwungen, beklagte er mit Thraͤnen, daß nicht mehr Welten waͤren, an deren Beſiegung er ſeinen groſſen Muth und ſeine unuͤberwindliche Macht ferner verſuchen koͤnnte. Aber ein lebhafter Kopf bauet ſich ſelbſt in ſeiner erhizten Phantaſie neue Welten, die er mit neuen Einwohnern bevoͤlckert, welche von einer fremden Natur ſind, und eigenen Geſetzen folgen. Er dichtet ſich neue Perſonen und neue Begegniſſen: Bald giebt er den Todten das Leben wieder, und verbindet ſie in allerley Un- ter-

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 5. Zürich, 1742, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung05_1742/80>, abgerufen am 28.03.2024.