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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833.

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"Im Jahre 1070 brach in Peking eine sonder¬
"bare Krankheit aus, deren Wirkung sich an den
"Haaren derjenigen zeigte, die in freier Luft lebten.
"In kurzer Zeit verlohr der Kranke die Hälfte sei¬
"ner Haare und darauf starb er. Als der damalige
"Kaiser Tschanglug dieses erfuhr, sagte er mit be¬
"stimmten Worten, er wolle von dieser Krank¬
"heit nichts hören. Dieser höchste Wille, mit
"Festigkeit ausgedrückt, machte die Seuche verschwin¬
"den." Gute Nacht.


Ist denn das Alles wahr, was ich in einer
Stuttgarter Zeitung gelesen, wie neulich die Frank¬
furter beim Durchzuge der Polen durch manches
schöne Wort eine noch schönere Gesinnung offenbart?
Einer, der vor dem Wagen der Polen zog, sagte:
"Dir helf ich ziehen, Philipp, was geht mich Kaiser
"und König an? Das hier sind brave Kerle, das
"weiß ich." Ein Anderer, den man abwendig ma¬
chen wollte, antwortete: "Ei, Ihr habt die Sontag
"ziehen wollen; die haben den Russen noch etwas
"ganz Anderes vorgesungen." Ein dritter äußerte:
"wir müssen den jungen Leuten zeigen, daß
"wir keine Preußen sind." Der Berichterstat¬
ter in der Stuttgarter Zeitung bemerkte hierbei, daß
die Frankfurter, die sich so geäußert, aus den nie¬

„Im Jahre 1070 brach in Peking eine ſonder¬
„bare Krankheit aus, deren Wirkung ſich an den
„Haaren derjenigen zeigte, die in freier Luft lebten.
„In kurzer Zeit verlohr der Kranke die Hälfte ſei¬
„ner Haare und darauf ſtarb er. Als der damalige
„Kaiſer Tſchanglug dieſes erfuhr, ſagte er mit be¬
„ſtimmten Worten, er wolle von dieſer Krank¬
heit nichts hören. Dieſer höchſte Wille, mit
„Feſtigkeit ausgedrückt, machte die Seuche verſchwin¬
„den.“ Gute Nacht.


Iſt denn das Alles wahr, was ich in einer
Stuttgarter Zeitung geleſen, wie neulich die Frank¬
furter beim Durchzuge der Polen durch manches
ſchöne Wort eine noch ſchönere Geſinnung offenbart?
Einer, der vor dem Wagen der Polen zog, ſagte:
„Dir helf ich ziehen, Philipp, was geht mich Kaiſer
„und König an? Das hier ſind brave Kerle, das
„weiß ich.“ Ein Anderer, den man abwendig ma¬
chen wollte, antwortete: „Ei, Ihr habt die Sontag
„ziehen wollen; die haben den Ruſſen noch etwas
„ganz Anderes vorgeſungen.“ Ein dritter äußerte:
wir müſſen den jungen Leuten zeigen, daß
wir keine Preußen ſind.“ Der Berichterſtat¬
ter in der Stuttgarter Zeitung bemerkte hierbei, daß
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[125/0139] „Im Jahre 1070 brach in Peking eine ſonder¬ „bare Krankheit aus, deren Wirkung ſich an den „Haaren derjenigen zeigte, die in freier Luft lebten. „In kurzer Zeit verlohr der Kranke die Hälfte ſei¬ „ner Haare und darauf ſtarb er. Als der damalige „Kaiſer Tſchanglug dieſes erfuhr, ſagte er mit be¬ „ſtimmten Worten, er wolle von dieſer Krank¬ „heit nichts hören. Dieſer höchſte Wille, mit „Feſtigkeit ausgedrückt, machte die Seuche verſchwin¬ „den.“ Gute Nacht. Freitag, den 3. Februar. Iſt denn das Alles wahr, was ich in einer Stuttgarter Zeitung geleſen, wie neulich die Frank¬ furter beim Durchzuge der Polen durch manches ſchöne Wort eine noch ſchönere Geſinnung offenbart? Einer, der vor dem Wagen der Polen zog, ſagte: „Dir helf ich ziehen, Philipp, was geht mich Kaiſer „und König an? Das hier ſind brave Kerle, das „weiß ich.“ Ein Anderer, den man abwendig ma¬ chen wollte, antwortete: „Ei, Ihr habt die Sontag „ziehen wollen; die haben den Ruſſen noch etwas „ganz Anderes vorgeſungen.“ Ein dritter äußerte: „wir müſſen den jungen Leuten zeigen, daß „wir keine Preußen ſind.“ Der Berichterſtat¬ ter in der Stuttgarter Zeitung bemerkte hierbei, daß die Frankfurter, die ſich ſo geäußert, aus den nie¬

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris04_1833/139>, abgerufen am 29.03.2024.