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Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898.

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VII. Abschnitt. [Gleich. 290]
mit logischer Nothwendigkeit von selbst folgt, dass, wo immer
Körper in Wechselwirkung treten, sich die richtigen Anfangs-
bedingungen vorfinden müssen. Unsere Theorie erfordert näm-
lich nichts, als dass jedesmal, wo Körper in Wechselwirkung
treten, der Anfangszustand des von ihnen gebildeten Systemes
ein durch besonders hervorragende Eigenschaften ausgezeich-
neter (geordneter, unwahrscheinlicher) sei, welche verhältniss-
mässig nur sehr wenigen Zuständen desselben mechanischen
Systemes unter den in Frage stehenden äusseren mechanischen
Bedingungen zukommen. Hierdurch erklärt es sich, dass dieses
System mit der Zeit Zustände annimmt, denen diese Eigen-
schaft nicht mehr zukommt, und welche man ungeordnete
nennt. Da weitaus die meisten Zustände des Systemes un-
geordnete sind, so nennt man die letzteren auch die wahr-
scheinlichen Zustände.

Die geordneten Anfangszustände verhalten sich zu einem
ungeordneten nicht etwa wie ein bestimmter Zustand zu dem
gerade entgegengesetzten (durch alleinige Umkehr der Richtung
aller Geschwindigkeiten daraus entstandenen), sondern der
einem geordneten Zustande entgegengesetzte ist immer wieder
ein geordneter Zustand.

Der sich einstellende wahrscheinlichste Zustand, welchen
wir den der Maxwell'schen Geschwindigkeitsvertheilung nennen
wollen, da Maxwell dafür zuerst in einem speciellen Falle
den mathematischen Ausdruck fand, ist nicht etwa ein ausge-
zeichneter singulärer Zustand, welchem unendlich vielmal mehr
nicht Maxwell'sche Geschwindigkeitsvertheilungen gegenüber-
stehen, sondern er ist im Gegentheile dadurch charakterisirt,
dass die weitaus grösste Zahl der überhaupt möglichen Zu-
stände die charakteristischen Eigenschaften der Maxwell'-
schen Zustandsvertheilung hat und gegenüber dieser Zahl die
Anzahl derjenigen möglichen Geschwindigkeitsvertheilungen,
welche bedeutend von der Maxwell'schen abweichen, ver-
schwindend klein ist. Das Kriterium der gleichen Möglichkeit
oder gleichen Wahrscheinlichkeit verschiedener Zustandsver-
theilungen liefert dabei immer der Liouville'sche Satz.

Um zu erklären, dass die unter dieser Voraussetzung aus-
geführten Rechnungen den wirklich beobachteten Vorgängen
entsprechen, muss man annehmen, dass ein enorm complicirtes

VII. Abschnitt. [Gleich. 290]
mit logischer Nothwendigkeit von selbst folgt, dass, wo immer
Körper in Wechselwirkung treten, sich die richtigen Anfangs-
bedingungen vorfinden müssen. Unsere Theorie erfordert näm-
lich nichts, als dass jedesmal, wo Körper in Wechselwirkung
treten, der Anfangszustand des von ihnen gebildeten Systemes
ein durch besonders hervorragende Eigenschaften ausgezeich-
neter (geordneter, unwahrscheinlicher) sei, welche verhältniss-
mässig nur sehr wenigen Zuständen desselben mechanischen
Systemes unter den in Frage stehenden äusseren mechanischen
Bedingungen zukommen. Hierdurch erklärt es sich, dass dieses
System mit der Zeit Zustände annimmt, denen diese Eigen-
schaft nicht mehr zukommt, und welche man ungeordnete
nennt. Da weitaus die meisten Zustände des Systemes un-
geordnete sind, so nennt man die letzteren auch die wahr-
scheinlichen Zustände.

Die geordneten Anfangszustände verhalten sich zu einem
ungeordneten nicht etwa wie ein bestimmter Zustand zu dem
gerade entgegengesetzten (durch alleinige Umkehr der Richtung
aller Geschwindigkeiten daraus entstandenen), sondern der
einem geordneten Zustande entgegengesetzte ist immer wieder
ein geordneter Zustand.

Der sich einstellende wahrscheinlichste Zustand, welchen
wir den der Maxwell’schen Geschwindigkeitsvertheilung nennen
wollen, da Maxwell dafür zuerst in einem speciellen Falle
den mathematischen Ausdruck fand, ist nicht etwa ein ausge-
zeichneter singulärer Zustand, welchem unendlich vielmal mehr
nicht Maxwell’sche Geschwindigkeitsvertheilungen gegenüber-
stehen, sondern er ist im Gegentheile dadurch charakterisirt,
dass die weitaus grösste Zahl der überhaupt möglichen Zu-
stände die charakteristischen Eigenschaften der Maxwell’-
schen Zustandsvertheilung hat und gegenüber dieser Zahl die
Anzahl derjenigen möglichen Geschwindigkeitsvertheilungen,
welche bedeutend von der Maxwell’schen abweichen, ver-
schwindend klein ist. Das Kriterium der gleichen Möglichkeit
oder gleichen Wahrscheinlichkeit verschiedener Zustandsver-
theilungen liefert dabei immer der Liouville’sche Satz.

Um zu erklären, dass die unter dieser Voraussetzung aus-
geführten Rechnungen den wirklich beobachteten Vorgängen
entsprechen, muss man annehmen, dass ein enorm complicirtes

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[252/0270] VII. Abschnitt. [Gleich. 290] mit logischer Nothwendigkeit von selbst folgt, dass, wo immer Körper in Wechselwirkung treten, sich die richtigen Anfangs- bedingungen vorfinden müssen. Unsere Theorie erfordert näm- lich nichts, als dass jedesmal, wo Körper in Wechselwirkung treten, der Anfangszustand des von ihnen gebildeten Systemes ein durch besonders hervorragende Eigenschaften ausgezeich- neter (geordneter, unwahrscheinlicher) sei, welche verhältniss- mässig nur sehr wenigen Zuständen desselben mechanischen Systemes unter den in Frage stehenden äusseren mechanischen Bedingungen zukommen. Hierdurch erklärt es sich, dass dieses System mit der Zeit Zustände annimmt, denen diese Eigen- schaft nicht mehr zukommt, und welche man ungeordnete nennt. Da weitaus die meisten Zustände des Systemes un- geordnete sind, so nennt man die letzteren auch die wahr- scheinlichen Zustände. Die geordneten Anfangszustände verhalten sich zu einem ungeordneten nicht etwa wie ein bestimmter Zustand zu dem gerade entgegengesetzten (durch alleinige Umkehr der Richtung aller Geschwindigkeiten daraus entstandenen), sondern der einem geordneten Zustande entgegengesetzte ist immer wieder ein geordneter Zustand. Der sich einstellende wahrscheinlichste Zustand, welchen wir den der Maxwell’schen Geschwindigkeitsvertheilung nennen wollen, da Maxwell dafür zuerst in einem speciellen Falle den mathematischen Ausdruck fand, ist nicht etwa ein ausge- zeichneter singulärer Zustand, welchem unendlich vielmal mehr nicht Maxwell’sche Geschwindigkeitsvertheilungen gegenüber- stehen, sondern er ist im Gegentheile dadurch charakterisirt, dass die weitaus grösste Zahl der überhaupt möglichen Zu- stände die charakteristischen Eigenschaften der Maxwell’- schen Zustandsvertheilung hat und gegenüber dieser Zahl die Anzahl derjenigen möglichen Geschwindigkeitsvertheilungen, welche bedeutend von der Maxwell’schen abweichen, ver- schwindend klein ist. Das Kriterium der gleichen Möglichkeit oder gleichen Wahrscheinlichkeit verschiedener Zustandsver- theilungen liefert dabei immer der Liouville’sche Satz. Um zu erklären, dass die unter dieser Voraussetzung aus- geführten Rechnungen den wirklich beobachteten Vorgängen entsprechen, muss man annehmen, dass ein enorm complicirtes

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Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/270>, abgerufen am 29.03.2024.