W. Bölsche Das Liebesleben
in der Natur Eine Entwickelungsgeschichte der Liebe
2. Folge
W. Bölsche Das Liebesleben
in der Natur Eine Entwickelungsgeschichte der Liebe
Mit Buchschmuck von Müller-Schönefeld 1. bis
4. Tausend Verlegt bei Eugen Diederichs , Leipzig
1900
Alle Rechte , insbeſondere das
der Überſetzung in fremde
Sprachen , ſind vorbehalten
Gedruckt in der Spamerſchen Buchdruckerei in Leipzig
Vorwort
I ch habe in dieſem Buche einmal von den verſchiedenen
Schichten geſprochen , die ſich wie Quadern eines uralten Ge¬
birges in unſerem Liebesleben aufeinander lagern . Ich möchte
dieſes Bild im Kleinen brauchen auch für mein Buch ſelbſt .
Mit dieſem zweiten Bande lege ich eine Quader gleichſam
unter meinen erſten . Auch der erſte handelte ja im Kern der
Idee ſchon vom Menſchen . Wenn der zweite dieſen Stoff nun
abermals und energiſcher aufnimmt , ſo iſt ſein Zweck haupt¬
ſächlich , eine Stufe weiter in die Tiefe zu bauen . Vom
Menſchen reden , heißt nicht : an die glatte Oberfläche der
Natur tauchen , ſondern erſt recht in den geheimnisvollen Grund .
Angedeutetes ſoll in dieſem zweiten Teile weiter eingebohrt
werden und Zuſammenhängendes ſtützt ſich darunter . Ein
dritter Band wird bei Luſt und Laune das Fazit nochmals
eine Station ins Innerlichſte hinein ziehen . Inzwiſchen kann
aber auch dieſer zweite Teil , wie ſchon der erſte , ſehr gut
für ſich allein geleſen werden . Wer das will , ſogar ohne den
erſten zu kennen , dem wiederhole ich , was dort ſchon einleitend
geſagt iſt . Mein Buch geht an Denkende , an ſolche , die denken
wollen , denen eine Weltanſchauung ſo wichtig iſt , wie das
tägliche Brod . Wenn ich einen Ertrinkenden retten will , ſo
ziehe ich mich nackt aus und kümmere mich den Teufel darum ,
ob jemand daran Anſtoß nimmt . Solche Ertrinkende ſind wir
uns aber untereinander , ja es iſt einer in jedem ſelbſt , den es
zu retten gilt , — zu retten durch ſplitterfaſernackte Ausſprache
über alle Dinge Himmels und der Erden in der Form , wie
ſie ſind . Wer den nötigen innerlichen Ernſt der Situation
mitbringt , für den brauche ich nicht noch beſondere Feierlich¬
keiten der Rede , eine künſtliche Erhabenheit , die einfach eine
Dummerei wird , ſobald reine , echte , gerade Menſchen bei¬
ſammen ſind , — gerade weil dieſe beiſammen ſind . An ſie
wende ich mich , ohne Mätzchen und Poſen , weil ich ein höheres
Gefühl der Achtung meinem Leſer entgegen bringe . Über den
engeren philoſophiſchen und naturwiſſenſchaftlichen Inhalt meines
Liebesbüchleins mag manches grüne Gras noch wachſen . Es
giebt halt jeder , was er hat . Aber auf den Ton , wie von
ſolchen Dingen geſprochen werden ſollte und hier geſprochen
wird , lege ich Gewicht . In dieſem Sinne hat es mich ge¬
freut , daß der erſte Teil ſo viele und warme Freunde gefunden
hat . Ich habe darin eine Gewähr geſehen für eine doch fort
und fort beſtehende innere nackte Keuſchheit unſerer Zeit , die
wir als ein Palladium des Menſchheitsfortſchritts brauchen .
Friedrichshagen bei Berlin ,
am 151. Geburtstage Goethes ,
28. Auguſt 1900
Wilhelm Bölſche
Inhaltsüberſicht
Seite 1–38. Walpurgisnacht . — Im ſchwarzen Kiefernforſt . —
Der Menſch , der vom Affen abſtammt , und der Menſch , der nicht
von ihm abſtammt . — Adam und Eva der Erkenntnis . — Das
Ungeheure : der Menſch . — Von einer roten Flamme . — Ein
Sturm in der Urwelt . — Die Liebe des Erdgeiſtes . — Kaſpar
Hauſer . — Der Schritt in die Finſternis . — Gott und Staub . —
8000 Meter unter dem Spiegel des Ozeans . — Die Welt in einem
Stäubchen Haſelſamen . — Vor der Venus von Milo . — Der alte
Bettler auf der Märchenbrücke .
Seite 39–58 . Dein weiſer Leib . — Die Haubenſteißfüße auf
dem blauen See . — Ein Frühlingsbad . — Das ewige Weltenkind .
— Was deine Zellen wiſſen . — Die Liebe auf Salas y Gomez . —
Warum der arme Leib geſchwiegen hat . — Die Liebesſprache der
Blumen . — Der weiſe Leib erzählt .
Seite 59–73 . Wie der Menſch wurde . — Der Menſch als
Nebelfleck . — Ein Sprung aus dem Fenſter . — 1500 Millionen
kleine Monde der Erde . — H2O . — Das Märchen der Vulkan¬
inſel . — Tier oder Pflanze ? — Der erſte Mund . — Die Weisheit
des Afters . — „ Dem Wurme gleich' ich , der den Staub durchwühlt . “
Seite 74–84 . Der Menſch als Fiſch und Molch . — Das Brett
vor dem Kopf . — Die Philoſophie des Neunauges . — Deine Haifiſch-
Schnauze . — Die Urgeſchichte des Ruderns . — Wie Arme und
Beine erfunden wurden .
Seite 85–109 . Von der Eidechſe zum Affen . Wenn der Fiſch
Luft ſchluckt . — Im roſigen Licht . — Eine weltgeſchichtliche Miſſion
des Krötenfußes . — Der Kinderlaut der Menſchheit . — Perſephone .
— Der nackte Leib . — Das Schickſal in der Hand . — Vom ehr¬
ſamen Herrn Swinegel . — Homunkulus . — Wie der Gibbon das
Problem löſt .
Seite 110–123 . Das Liebes-Individuum . — Ein Spiel mit
der Zeit . — Die Wirklichkeit als eine ſoziale Übereinkunft . — Die
Geſchlechtsteile als Lehrmeiſter . — Zwei Individuen als eines . —
Du biſt aus kleineren Individuen aufgebaut . — Geteilte Seelen .
— Eine Milchſtraße des Lebens . — Von der Seele des Samen¬
tierchens .
Seite 124–140 . Höhere Lebenseinheiten . — Der Bien . —
Dryas . — Vom Korallenſtock . — Der Menſchenſtock . — Liebe deinen
Nächſten ! — Goethe-Perſonen . — Qualle Nr. Eins und Qualle
Nr. Zwei . — Eine Mähr vom Verleger und Reporter . — Das
transatlantiſche Kabel . — Menſchheitsſeele ? — Amor und Pſyche .
Seite 141—164 . Die Dreieinigkeit der Liebe . — Das Liebes¬
paar und der Telegraphendraht . — Fauſt bei den Müttern . —
Der ideale Robinſon . — Miſchliebe . — Die Liebe per Diſtance . —
Das geiſtige und das leibliche Kind . — Die Dauerliebe . — Ur¬
geſchichte und Philoſophie des Kuſſes . — Die letzte Diſtance . —
Geologiſche Schichten in der Liebe . — Leib und Seele im Zwiſt . —
Der Geiſt des Liebes-Individuums . — Noch einmal von den
Rumpelſtilzchen . — Auge und Ohr als Geſchlechtsorgane .
Seite 165—186 . Credo quia absurdum . — Ich glaube es ,
weil es ſinnlos iſt . — Weshalb ich in die Wüſte zöge . — Die un¬
geheure Verſchwendung der Zeugungsſtoffe . — Wie es ſein ſollte
in der Liebe . — 71980 überflüſſige Eier . — Zweihundert Kilometer
Blutkörperchen . — Von Buddha , der die Krone zerbrach . — Das
Nervengewitter der Wolluſt . — Unlogik der Wolluſt . — Die Wolluſt
als Satanswerk . — Von Erſchaffung der Sünde . — Buddhas
Traum . — Das Ekelhafte . — Im Citronenhain der Riviera .
Seite 187—212 . Die Erlöſung durch den Gedanken . — „ Blüh '
auf , gefrorner Chriſt . “ — Eine Friedensmelodie . — Geſchichte ! —
Die Heimkehr zu den Thatſachen . — Von der Liebe in den Waſſern .
— Der tauſendundeinte Pionier am Nordpol . — Kampf ums Daſein
unter den Samentierchen . — Wie die Menſchheit noch einmal zu
retten iſt . — Schwefelregen . — Der gelbe Stern . — Noch ein Ex¬
kurs vor der Heringstonne . — Wie unſere Ahnen ſchmecken . —
Das Kaviarbrötchen des Philoſophen . — Vier Kilometer auf einem
Butterbrot . — Aus der Urgeſchichte der Menſtruation . — Die Ent¬
deckung der Begattung .
Seite 213—228 . Ein Forellen-Idyll . — Bei Gemſen und
Alpenroſen . — Eine Lukullus-Stunde . — Die Liebesgrube . — Aus
dem Buche der Chronika des Lachsvolkes . — Lachſen Ausfahrt . —
Eine Rheinreiſe in Liebe . — Laue Sitten der Lächſin . — Wie die
Blaufelchen Hochzeit ſpringen . — Urweltliches vom Tanzen . —
Drei Lichtſtrahlen in der Finſternis.
S. 229—262 . Die Liebespforte . — Die Zeugung durch die
Haut . — Die Liebe im Magen . — Wie die Leibeshöhle ſich bildet .
— Rettung des heiligen Graal . — Münchhauſens Not. — Die
Liebespforte des Neunauges . — Das Altertümliche im Weibe . —
Die Liebespforte und die Urinpforte . — Zur Philoſophie des Wider¬
wärtigen . — Böcklin und die Waſſerkatze . — Naturgeſchichte des
Urins . — Wie Jonas aus des Walfiſchs Bauch entrinnt . — Der
Nierenkanal . — Hermaphroditos . — Ein Kunſtſtück der Molche . —
Letzte Chronik von der Liebe und der Niere . — Die Afterliebe . —
Vom Kloakentier . — Zur Philoſophie der Päderaſtie . — Ende der
Kloakenliebe .
Seite 263—292 . Das Liebesglied . — Ein Exkurs vom Feigen¬
blatt . — Meluſine . — Zur Theorie des Unſittlichen . — Was uns
heilig ſein ſollte . — Der Amphioxus . — Ein Kuß in der Panke .
— Das Beißen in der Liebe . — Edith Schwanenhals . — Die Liebe
mit Armen und Beinen . — Der Krötenprinz . — Die Fiſchfloſſe
als Geſchlechtsglied . — Das Afterglied als Preisaufgabe . — Der
Molch experimentiert . — Die Blindwühle experimentiert . — Der
Operngucker der Eidechſe . — Die beſtachelten Kreuzottern . — Das
Krokodil . — Von der Samenrinne zur Samenröhre . — Die Störche
zu Goſen . — Das Schnabeltier . — Das Känguruh . — Eine Rutſch¬
partie im Mannesleibe . — Der Hund . — Der Triumph der
Gliederlöſung . — Zur Äſthetik des Liebesgliedes . — Wie es beim
Weibe ging — Das geheimnisvolle Rudiment . — Runenſchrift der
Weltgeſchichte im Weibe .
Seite 293–325 . Die Liebesluſt . — Im dunkelſten Gebiet . —
Worin du Fachmann biſt . — Das Nadelpiken und die Luftwelle
Au ! — Die Kuckucksuhr als Menſch und der Menſch als Kuckucks¬
uhr . — Die Wolluſt der Amöbe . — Was iſt der Tod für eine
Empfindung ? — Die Liebesluſt auf der Wanderſchaft . — Philo¬
ſophie der Haut . — Haut und Liebe . — Eine Prieſe Schnupftabak .
— Naturgeſchichte des Kitzelns . — Der verliebte Froſch . — Wie
die Luſt vergeiſtigt wurde . — Ein Triumph des Individualiſierens .
— „ Der “ Mann und „ das “ Weib .
Seite 326–339. Intermezzo . — In den Wolken . — Peſſi¬
miſtiſches . — Multatuli . — „ Singen die Würmer mit ? “ — Ein
Weltenflug . — Am Luftufer . — Auf dem Mond . — Die Volva .
— Der Erdſtern . — Saturn . — Farbige Sonnen . — Die Welt
ein Sternpunkt . — Träume des Übermenſchen . — Trübe Welt ! —
Das Samentierchen und die verglühende Welt . — Erlöſung .
Seite 340–394 . Ein Kapitel von Liebe und Kunſt . — Im
Zwinger zu Dresden . — Von der Madonna zu den Paradies¬
vögeln . — Was der alte Geßner weiß . — Herr Alfred Ruſſel
Wallace . — Farbenrauſch . — Paradisea Rudolphi . — Was heißt
Schönheit ? — Im Gehirn eines Vogels . — Die Hochzeitslaube
der Chlamydodera . — Das Schönheitsideal des Paradiesvogels . —
Vom Wettlauf des Haſen und Swinegel . — Frau Starmatz . —
Ein Gedanke Darwins . — Kampf ums Daſein und Kunſt . — Die
Liebeswahl ſchafft Schönheit . — Für und wider Darwin . — Ein
rhythmiſches Prinzip im Organiſchen ? — Der Geiſt in der Materie .
Zum Buchſchmuck
W ie im erſten Teil , ſo ſind auch in dieſem zweiten für die
Randleiſten vielfach richtige naturgeſchichtliche Objekte zu
Grunde gelegt . Die Leiſte auf S. 29 zeigt drei zierliche Kieſel-
Skelette von Radiolarien ( einzelligen Urtieren des Meeres ) in
ſtarker Vergrößerung . ( Links oben Circostephanus coroarius , in
Naturgröße nur 0,5 mm lang ; rechts oben Oroscena Gegenbauri ;
unten Acathodesmia corona ; alle drei Bilder nach Ernſt Haeckels
Monographie der Radiolarien ). S. 39 zeigt zwei Haubentaucher
oder Haubenſteißfüße , merkwürdige deutſche Schwimmvögel ; näheres
darüber ſteht im Text , S. 99 ein Igel . S.108 ein langarmiger
Gibbon-Affe beim aufrechten Gang ; näheres im Text. S.124 eine
ſogenannte Siphonophore oder Staatsqualle , eine zuſammen¬
gewachſene Colonie von Quallentieren mit Arbeitsteilung . Links am
Anfang eine Anzahl Schwimm-Quallen . Darauf folgend an dem
beſchuppten Hauptſtamm abwechſelnd blütenartige Freß-Quallen mit
neſſelnden Fangfäden und kleinere ſpitze Taſt-Quallen mit kleineren
Fühlfäden . An vier Stellen des Stammes ſitzen traubenförmige
Klumpen von Liebes-Quallen , längliche Männchen und rundliche
Weibchen ; näheres im Text S.128 , ſowie im erſten Bande S. 218—
225. S.165 Lotosblumen . S. 213 Kugelfiſche . S. 340 zwei
Arten von Paradiesvögeln . Oben der große Paradiesvogel
( Paradisea apoda ) mit den langen gelben Prachtfedern ; unten der
kleinere Königsparadiesvogel , der im Text genau beſchrieben iſt .
S. 355 der erſt in neuerer Zeit bekannt gewordene König Alberts-
Paradies v ogel mit ſeinen wunderbaren blau-weißen Ohrfedern ,
die viel länger ſind als der ganze Körper .
W alpurgisnacht .
Die Eulen rufen im ſchwarzen Kiefernforſt . Sie locken
ſich , folgen ſich , antworten , — eine ſchaurig-luſtige Zwieſprache .
Jetzt ganz fern wie ein einzelner harter Metallklang . Jäh
dann dicht über uns als grelles geſpenſtiſches Meckern . Das
ſchläft nicht und hat den ganzen Wald zu dieſer Stunde vor
Morgengrauen für ſich allein .
Halt , hier jetzt nicht weiter . Zwiſchen den kohlraben¬
ſchwarzen Säulen ſpannt es ſich wie ein ſenkrechtes weißgrün¬
liches Tuch herab . Wie dürre Spinnenarme dringt es da¬
gegen vor . Halte dich feſt an ſolchem Spinnenarm , ſetz dich
rittlings darauf . Es ſind Kiefernwurzeln , die wie Polypen
frei über den Sandſturz hängen . Das Ufer geht hier hohl
und ſteil hinab . In dieſer Nebelmaſſe , die greifbar wie eine
bleiche Wand unmittelbar gegen dich ſteht , ſteckt der See . Es
iſt etwas Mondlicht in dem Nebel , von ferner Silberſcheibe
irgendwo hinter dir über dem Walde . Du riechſt den herben
Nebelhauch wie Geruch eines dampfenden Ungetüms , das auf
moorigem Schilfufer liegt und pruſtet ; der ganze Sumpfgrund ,
in den es ſich eingeſielt hat , raucht mit herauf .
1
Und doch in all der kühlen Feuchte etwas wie beſonderer
Zauber .
Eine ganz leiſe Süße , die wie mit zarteſtem Geiſter¬
fingerchen deine Stirn rührt . Von den kleinen jungen grünen
Kräutern , die da unten unſichtbar blühen . Aus dem Wald ,
vom tiefſten Leben dieſer ſchweigenden Bäume . Aus der Moos¬
erde ſelbſt dem fahlen Sande hier . Ein faſt unhörbar kleines
Kniſtern wie von tiefem Regen , Wühlen , das auch die graue
Nebelnacht nicht hemmt . Walpurgiszauber . Durch den Nebel
zieht Blütenſtaub . Im Schilf ſchlummert Liebe . Die harzigen
Zweige ſegnen , ſie ſind wach . Frühling . Die Natur läutet ,
ganz , ganz leiſe , ſummend .... .
Was ſagteſt du ? Der Menſch ſtammt vom Affen ab ?
Ja , das pfeifen heute die Spatzen auf den Dächern .
Der Profeſſor doziert es . Der Philiſter fängt an es zu
glauben . Und die Kinder Gottes und die Kinder der Welt
liegen ſich darüber in den Haaren . Und doch : die größere
Maſſe der Menſchen iſt furchtbar damit hereingefallen . Denn
der Satz lautet für ſie gar nicht ſo .
Die Frage iſt , ob wir uns in uns ſelber ſchon aus dem
Affen entwickelt haben .
Ob wir , jeder für ſich , wirklich ſchon Menſchen ſind .
Die wahre Grenze zwiſchen Tier und Menſch liegt nicht
im Grau uralter Tage , zwiſchen Schädeln , von denen der eine
in ſeinem Gehirnraum den anderen um ein paar Kubikzenti¬
meter überragt .
Sie geht mitten durch die Menſchen von heute wie ein
ungeheurer blutiger Schnitt .
Sie ſcheidet den Menſchen , der Erkenntnis ſucht , von dem
Menſchen , der bloß lebt .
Der Menſch , der bloß lebt , iſt heute noch keinen Zoll
hinaus über das Tier . Er kann gar nicht von ihm ab¬
ſtammen , denn er iſt es noch . Er ſitzt wie die Made unter
der Käſeglocke , vor ſich dieſen endloſen Käſeberg des Lebens .
Er frißt und ſtößt und behauptet ſich , abwechſelnd mit Maden-
Stolz und Maden-Reſignation . Bisweilen prallt er wider die
große ſteinharte Glasglocke , dann flennt er , weil ihm etwas
auf den Kopf gefallen ſei , für das er dann einen Namen er¬
findet , irgend einen alten Zauber- und Schamanen-Namen
ſeiner Ammen-Erziehung . Der Menſch der Erkenntnis ſchlägt
mit ſeinem erſten Stoß die Glocke ein . Und ſieht Sterne
leuchten , Welten , Milchſtraßen .
Jener Menſch iſt noch das Spiel von tauſend unbegriffenen ,
blind in ihm wirkenden Trieben , Vererbungen , Anpaſſungen ,
Schutzmitteln , Vorſichten und Rückſichten des Übergangsmenſchen .
Alles , wie es das Tier genau ſo hat . Der andere Menſch
aber hat ſeinen ganzen Wert ſchon auf eine einzige Schluß-
Anpaſſung geſtellt : bewußtes Denken über die Welt . Das
hat kein Tier . Dieſer Menſch iſt über das Tier hinaus .
Gerade dieſer Menſch mag mit Ruhe ſich ſagen , daß ſeine
uralten Ahnen einſt wirklich Tiere waren auch im Äußeren
noch , mit Haaren und Krallen und Schwänzen wie in der
Legende der Satanas . Ihn ſtört das nicht . Iſt er doch ſelbſt
heraus , und das iſt die Hauptſache .
Er ſchaut in die Jahrtauſende der Kulturentwickelung
zurück .
Und immer dort ſchon die zwei Ufer .
Ein kleines Häuflein , das überſpringt . Das ſind Menſchen .
Kein äußerer Rang beſtimmt ſie . Beileibe nicht , als wenn ſie
hinüberſprängen auf dem Sprungbrett von Kronen , Wappen
und Scheinen . Nackte Seelen ſind es , aber mit einem leuchten¬
den Blick , mit einem Blick der Sehnſucht , der eiſerne Ketten
ſchmilzt wie Schnee . Die Beſten aller Zeiten ſind herüber .
Buddha war ein Menſch . Sokrates war ein Menſch . Epikur
1*
war ein Menſch . Spinoza war ein Menſch . Sie alle ſtammten
vom Affen ab , — ſie hatten ihn überwunden .
Die da drüben mögen ſich prügeln oder auch beruhigen
bei dem Satz : immer behalten ſie Unrecht und immer bleibt
er ein Stachel für ſie . Sie ſtammen nicht von Göttern ab ,
wie ſie möchten . Sie ſind Tier , kein Gottesſohn . Aber ſie
ſtammen auch noch nicht ab von dieſem Tier . Sie ſind es
ſelber noch . Vor Jahrtauſenden gab es ſchon Menſchen , die
nicht mehr Tier waren . Heute noch gibt es Menſchentauſende ,
die noch nicht Menſch ſind .
Dieſer Schnitt , dieſer rotblutige Schnitt , dieſe wahre Ge¬
burtswunde von nur lebendem Tier und erkenntnisſuchendem
Menſchen , geht aber durch jedes Sondergebiet auch , das du
dir im Menſchlichen wählſt .
Wir reden von der Liebe .
Von der Liebe des Menſchen jetzt .
Du ſagſt , der Menſch kommt vom Affen herauf . Und
tiefer noch . Von ſo und ſo viel Tieren . Bis zur Ur-Zelle
herab . Darwin lehrt das . Eine neue Weisheit unſerer Tage
ſetzt hier ein . Und von hier will auch das Liebesproblem des
Menſchen alſo neu angeſehen ſein . Aber du mußt dir , ehe
wir davon reden können , jenes eine zuerſt ganz klar ſtellen .
Auch in der Auffaſſung der Liebe geht der Schnitt zuerſt
durch Menſch und Menſch .
Menſch im Alltagsſinne und Denk-Menſch . Schauſt du
hier klar , ſo ſiehſt du ſogar ſofort noch ein Beſonderes für
unſeren Fall .
Walpurgisſchauer der Natur wehen in dieſer einſamen
Träumerſtunde um dich her . Wirf dein Erkennen über Bord .
Lebe nur . Sei einer jener Menſchen , die noch nicht eigentlich
Menſchen ſind . Schwimme , taumele , plätſchere im einfachen
Leben . Und nun in dieſes Leben Walpurgisrauſch . Ein Weib
in deinem Arm — und ſonſt nichts mehr . Liebe . Nicht ein
Erkenntnisbegriff . Wilde That . Nun wärſt du eins mit dieſer
Natur ringsum . Was trennt dich von dem Blütenſtaub , der
durch die Lüfte rinnt , von dem verliebten Kauz , der da oben
in den Kiefern ruft , von all dem Sehnen und Gähren in
Vogel und Wild und Blume und Baum bis zur Muſchel in
dieſem nebelverhangenen Seegrunde hinab ? Sie wie du , du
wie ſie .
Armer Thor !
Auch das iſt nur eine Täuſchung .
Du biſt noch Tier . Aber du biſt nicht mehr das ganze
Tier . Du biſt noch nicht Menſch . Aber auch du gehſt ver¬
hüllten Hauptes ſchon auf der Straße zum Menſchen an . Auf
jene blutrote Meſſersſchneide an . Gerade du , der du bloß
leben willſt , lebſt und liebſt nicht mehr wie Baum und Muſchel
und Eule dort . Um dich hat ſich ein ungeheures Korſett ge¬
wickelt , aus all den Verſuchen , Pfadfindereien , Anpaſſungs¬
experimenten der Stufe zwiſchen echtem Niedertier und echtem
Höhenmenſch .
Auch in deiner Liebe und vor allem da .
Du willſt frei lieben in heiliger Sommernacht , ohne Er¬
kenntnis , ohne Gedankenlicht . Und was umkrallt dich wie die
Hydra der Sage ? Angſt , Sorge , Verſchämtheit , Prüderie ,
moraliſche Gewiſſensbiſſe aller Art , Millionen Formen , Engungen ,
Zweifel . In Schweiß und Qualen liegſt du feſt . Nicht mehr
Baum und Muſchel , — noch nicht Erkenntnismenſch . Leben
willſt du in der Liebe , — und ein dunkles Rot zieht über
dein treues Angeſicht . Röte der Scham . Such dir die Muſchel
da unten im Nebel , frage das Samenſtäubchen der Rainblüte ,
das in Sehnſucht auf dieſen Walpurgislüften ſchwebt : ob ſie
erröten in ihrem Liebestraum ? .....
Eine alte Legende klingt , mit einer erſchütternden Wahr¬
heit . Allerdings nur einer Teil-Wahrheit . Die Legende iſt ja
auch alt und hatte von den Dingen der Menſchheit nur erſt
einen Teil . Adam und Eva ſind im Paradieſe . Nackend , aber
froh . Sie leben und lieben wie Muſchel , Blume und Baum .
Harmlos . Ihr Leben iſt ihr Denken , es giebt kein Zweierlei ,
kein Alt und Neu . Aber im Paradies wächſt der Baum der
Erkenntnis . Sie eſſen davon nur einen Apfel . Da fällt es
auf ſie wie ein Schauer . Ein Engel mit dem Feuerſchwert
ſteht vor dem Natur-Paradieſe . Und ſie ſind im öden Felde ,
einſam . Und ſie ſehen , daß ſie nackt ſind . Ihre Liebe iſt
Sünde . Sie flechten ſich einen Schurz und verhüllen ihre
Geſchlechtsteile . Sie ſind nicht mehr wie Muſchel , Blüte und
Baum . Sie ſind verjagt , verloren , herabgeſunken , verflucht ....
Hier ſchließt die Legende . Es iſt das Märchen von Jahr¬
tauſenden der werdenden Menſchheit . Aber die Legende ſchließt ,
nicht weil ſie aus iſt , ſondern weil man damals noch keine
Fortſetzung wußte , als man ſie erfand .
Heute noch ſtehen Tauſende und Tauſende hier und ſie
halten , wie recht iſt , darum auch noch die Legende hoch als
heilige Tradition , die nie weiter gehen kann . Aber in dieſen
Jahrtauſenden iſt jenes bewußte kleine Häuflein hinübergeklettert
über jenen roten Spalt ins neue Gebiet . Und ſie haben die
Fortſetzung gefunden , mit der die Legende erſt Wahrheit wird .
Adam und Eva hatten an der Erkenntnis genaſcht , aber
nicht reſolut davon ſich genährt . Sie waren erſt der Vormenſch .
Nicht mehr Tier . Noch nicht Menſch . Das einfache Leben
ging ihnen verloren , aber auch die Erkenntnis hatten ſie noch
nicht anders als einen Mund voll , gerade genug zuerſt zur
Bitterkeit . Hier begann denn eine lange , lange Wanderſchaft .
Eine lange , tiefe , ſchwere Entwickelung . Aber eines Tages
kamen Adam und Eva zurück vor die Paradieſespforte . Sie
waren wieder nackt und lachten über den Bärenpelz , den ſie
ſich damals in namenloſer Angſt um die zitternden Hüften
gewickelt . Über ihre neue Nacktheit ſtrömte aber jetzt etwas
wie diamantener Schein . Sie waren jetzt wirklich Menſchen
geworden , Menſchen , die Erkenntnis forderten , und nicht bloß
naſchen wollten . Und vor dieſer Forderung ſchmolz der alte
Seraphin mit ſeinem Schwert wie ein Schemen dahin . Sie
traten in das Paradies und lagerten ſich unter dem unendlichen
grünen Baldachin des Baumes der Erkenntnis . Jedes Blatt
war eine Milchſtraße und jede rote Blüte war eine neue Stufe
der Entwickelung . Im Schatten dieſer Blätter und dieſer
Blüten gab es keine beſchämende Nacktheit mehr . Die Er¬
kenntnis war wieder ſplitterfaſernackt wie eine Maienroſe , der
auch der Verſchämteſte keine Schwimmhoſe überziehen wird .
Und doch war ſie dieſe Roſe nicht mehr . Sie war Menſch ..... .
Nur wenn du dieſen Schluß der Legende begriffen haſt ,
kannſt du mit mir gehen auf jene weite , öde , ſchwere Heide¬
wanderung , die Adam und Eva jenſeits des Paradieſes durch¬
zumachen hatten . Die Geſchichte der menſchlichen Liebe von
dem Punkte , da der Menſch dumpf empfand , daß er kein
Tier mehr ſei , — bis zu dem Punkte , da er nicht mehr Tier
war . Von der Stunde , da Adam und Eva ein Schürzlein
über die Organe zogen , die ihnen am meiſten noch Tier zu
ſein ſchienen , — bis zu der Stunde , da die ſtille , ſegnende
Erkenntnis im Angeſicht der ewigen ſilbernen Weltallsſonnen
dieſes Schürzlein lächelnd wieder hinweghebt und ſpricht : „ Ich
war Tier ; ich bin es nicht mehr ; weshalb ſchäme ich mich ? “
W ir haben von Heringen , Stichlingen , Eintagsfliegen ge¬
redet , vom Seeſtern und vom Bandwurm , von der Spinne
und von der Bienenkönigin . Eine große Menagerie der Liebe .
Jetzt erſcheint ein ganz neues Bild . Unſer Glas , mit dem
wir beobachtet haben , wird zum Spiegel . Und im Spiegel
ſtehſt du ſelbſt . Endlich bloß noch du . Du allerdings in
deinem größten Sinne . Du in deiner tief geheimnisvoll zer¬
ſpaltenen Zweiheit , die gerade durch die Liebe erſt Einheit
wird , — als Mann und Weib . Du im Stammbaum deiner
Jahrtauſende , als ungeheurer Organismus , der Völker treibt ,
wie ein Birnbaum grüne Blätter , und Kulturen wie Blüten¬
ſchnee . Von dem dieſe Völker wieder herabregnen wie gelbes
Laub und die Kulturen fallen wie ausgelebte weiße Blüten¬
blättchen , deren Liebesdienſt erfüllt . Und der dann beide wieder
neu treibt auf einem höheren Aſt .
Hat dich der Gedanke ſchon einmal bis ins Innerſte
durchſchauert : der Menſch ſteht vor dir ?
Denke dich auf einen Moment hinab in die grüne Meeres¬
tiefe . Da wimmelt und glotzt und ſchwimmt all jenes krauſe
Tierzeug , von dem wir geſprochen haben . In ſeine Höhle
gewühlt der ſchwarzblaue Seeigel . Rote Seeſterne in dicken
Lappen auf dem Sand . Eine Seeanemone , der feuchtweiße
Leib knorpelig weich gekrümmt , leiſes Spiel in den Tentakeln
oben , die wie ein halbgeöffneter Blumenkohl vorquellen . Ein
ſilberblauer Fiſch beugt die goldig purpurnen Florideenblätter
auseinander . Eine roſenrote Qualle ſteigt in langſamen Stößen
wie atmend die ſmaragdene Waſſerſäule hinan . Und nun mit
einem Ruck , oben ganz hinaus aus dieſer Spukwelt : freie
Fläche , auf der der Wind ſpielt ; ſchwärzliche Klippen ; wildes
Inſelland mit kreiſchenden weißen Möven ; und auf der Klippe
ſitzt ein junges Menſchenmädchen , die nackten Füßchen im
Waſſer — und ſingt , — über die Felſen , zu den Möven und
dem Wind hinauf . Der Menſch .....
Oder du wanderſt durch einſame Gebirgsöde . Ein wildes
Thal zum Paß . Jenſeits der Baumgrenze . Gelbliche , zer¬
ſchrundene , von der Eroſion zerfreſſene Felswände , an denen
oben nur graue Watteballen von Wolken träge wie angeklebt
hängen . Ein ganz weißzerſchäumter Bach neben dir , deſſen
Lärm jeden anderen Laut tötet . Unter deinem Tritt biegen
ſich widerſpenſtig kleine , zähe Alpenroſenbüſchel wie tiefgrüne
Beſen . Im blaßblauen Himmelsausſchnitt über dir ſchwebt
ein Raubvogel . Alles iſt rieſig , urweltlich , wie auf fremdem
Planeten . Und da plötzlich du .... du meinſt , du ſiehſt dich
ſelbſt , den punktgleich winzigen Wanderer , der da Schritt für
Schritt dieſe Gebirgsöde emporklimmt . Und jählings erſcheint
dir der Menſch als das ganz Ungeheure .
Was iſt das Stückchen grünes Aquarium voll Seegezeug ,
was ſind die paar Felſen mit ihrem Wolkenrauch ! Das Ge¬
hirn des kleinen Mädchens dort iſt eine unendlich viel wunder¬
barere Ozeanstiefe . Dein Gedanke , der in Bergſchrunde taucht ,
iſt das Myſterium ; in ihm iſt alles : der Fels , der Adler , die
Alpenroſe , Urwelt und Gegenwart .
Nun ſage dir aber , daß das ein erſtes Mal da war .
In ganz fernen Tagen — und zum erſten Mal als etwas
Neues dieſer Menſch .... Eine Stunde ohnegleichen . Die alte
Erde , um die Sonne ſich rollend , grünend , in der Walpurgis¬
freude irgend eines Frühlings , wie ſchon ſo viel tauſend und
tauſend Mal — und da der Menſch auf ihr ... .
Die Nebel dort unten über dem See wallen und ziehen .
Ein leiſer Wind hat ſich aufgemacht , wie ein allererſter Vor¬
morgengruß . Drüben iſt auf einmal ein Stück Weite wie
aufgehaucht in dem weißgrünen Nebelfeld . Ein ſchwarzer Riß .
Und in dem Riß geiſterhaft einſam ſchwebend , wie zwiſchen
Himmel und Erde , ein rötliches Licht . Von dem kleinen Dorf
herüber , das dort unſichtbar am Seeſeingang in der Nacht
hängt . Der Nebel greift darunter und darüber mit weißem
Arm . Wenn er den Arm etwas ſinken läßt , wird er es wieder
begraben .
Und mir iſt , der Blick gleitet durch Jahrhunderte , durch
Jahrtauſende zurück , — immer in dieſem grünen Nebel und
vor dieſem roten Licht , zurück und zurück . Wie eine leiſe
Muſik läutet der Gedanke in mich hinein aus all dem Nebel ,
der uralte Philoſophengedanke : daß die Dinge der Welt eine
ewige Gegenwart ſind , ein ewig Heilig-Seiendes , und daß
nur der gewordene Menſch den Zeitbegriff wie ein verſchieb¬
bares Mikroſkop gegen dieſen unermeßlichen Weltenteppich lenkt ,
bald aufwärts , bald abwärts , als Vergangenheit , als Zukunft ,
als Jetzt ..... .
Das Mikroſkop ſchiebt ſich und ſchiebt ſich — über ſchnur¬
grade Eiſenbahnlinien , deren feuchtes Metall zwiſchen dem
roten Haidekraut und dem rauchſchwarzen Kiefernforſt blitzt ,
— über alte , ſchlechte , ſandige Landſtraßen , auf denen der
Poſtwagen rumpelt , — über Ritterburgen und bunte gothiſche
Fenſter , — über wilden Wald , in dem ein Einſiedler betet ,
während draußen die Wölfe heulen und fern der Kriegsſchrecken
tobt , — über wendiſche Götzen , vor denen rotes Blut aus
einem ſchneeweißen Menſchenkörper in ein Opferbecken rinnt ,
— über grüne germaniſche Grenzverhaue und glimmernde
Steinringe auf der Höhe , um die der Wachholder wie Cy¬
preſſen ragt .... und dann hinein in den ganz ſchweren ,
ganz tiefen , ganz farbloſen Nebel .
Stimmen ſind darin , geſpenſtiſch wie aus dem Nichts .
Der Schrei des Wildſchwans , der im hohen Röhricht des
Sees niſtet . Ein dumpfes Brüllen : der Siegesruf der rieſigen
Katze , des Höhlenlöwen , der ein Rhinozeroskalb erlegt hat .
In ſchweren Ballen rollt der Nebel durch ſchemenhaftes Geäſt
ungeheurer Urwaldbäume und ſinkt ab gegen den düſteren Wald¬
ſee . Und da wieder das rote Licht . Die Heerdflammen
des Diluvialmenſchen . Sein eigenes Licht . Flamme , die
wie ein Haustier gezähmt bei ihm lebt . Künſtliche Flamme ,
die er ſelber zu entfachen weiß . Und in deren Glanz er
liebt ....
Der Stern der Menſchheit !
Ein neues Lied . Eine neue Zeit . Eine neue Liebe .
Noch nie hatte die Erde mit ſolcher Flamme geleuchtet .
Dieſe alte Erde , die ſelber vielleicht wie ein Tropfen herab¬
geronnen war aus uraltem Licht .
Wie der Nebel jetzt gegen den See ſich ſenkt , läßt er die
Höhe frei . Und wie durch ein zerreißendes , in Fetzen überall
abgleitendes Leinen blitzen drüber die Sterne auf . Der wunder¬
bare Himmelsbogen , durch den die ſilberne Milchſtraße mit dem
zitternden Wellenſchlage der Äonen fließt . Die goldene Kapella ,
der rote Arctur , die weiße Wega .
Eine blendende Silberlilie des Alls wie dieſe Wega war
auch die Erde vielleicht voreinſt . Langſam dann glühte das
Silber zu Gold , bis ſie wie Kapella ſtand . Und wieder das
Gold gewann einen roten Schein wie bei dem Arctur dort .
Rotglut kündete die nahende Nacht . Über dem blanken Schild
wölkten ſich periodiſch roſtrote Flecken , in denen die gährende
Materie ſich zu feſten chemiſchen Verbindungen gattete . Wie
der Wunderſtern Mira im Bilde des Walfiſches , der auf lange
Monate ſich ganz vor unſerem Blick verbirgt , um ſpäter doch
immer noch einmal zu roter Vollglut aufzubrennen , mag ſie
zeitweiſe ſchon ganz verſchwunden ſein , um ſich dann nochmals
aufzuraffen , gleich dem Funken an einem Kerzendocht , der noch
einmal ganz grell glimmt , ehe er jäh verſagt . Dann aber war
die Lichtrolle fürs ferne Weltall endgültig aus . Nie mehr
leuchtete die ganze Kugel , — nur das Sonnenlicht floß fortan
mattgoldig an der einen Seite hin , ließ im Jahreslaufe das
Weiß bald der einen , bald der anderen polaren Eiskappe er¬
blinken und malte um die Ränder der dunkeln Kugel abwechſelnd
das blutige Rot ſeiner Dämmerung . Und auf die Nachtſeite
fiel nur wie Geſpenſterglanz einer toten Welt der Silberhauch
des Mondes , — ſelber erborgtes Licht . Nur wie Funken hier
und da von unten ein letztes Grüßen eigener Sonnenkraft .
Aus dem tobenden Vulkan brach die Lava wie ein flüſſiger
Rubin und hellte auf Nächte die Meeresfläche mit heißem rotem
Schein . In der Atmoſphäre zuckte es von blauen Blitzen .
Grüne und violette Sternſchnuppen und Feuerkugeln verpufften
wie die Exploſion eines Streichholzköpfchens an dem ungeheuren
ſauſenden Luftball während ſeiner Sonnenfahrt , periodiſch ſogar
zu blendendem Feuerwerk vereint . Von den magnetiſchen Polen
aus ergoßen die Nord- und Südlichter ſich in langen bunten
Bändern gegen den Bauch der Planetenkugel hin . Dann aber
allmählich noch viel diskreter , geheimnisvoller eine ganz feine
Lichtwirkung hörerer Art wie ein Beſinnen des ausgeglühten
Sternes auf einen völlig neuen Weg zum Licht .
Schwarz , ohne ein Atom Mondſilber die See . Da auf
einmal , als hebe ſich von unten eine ſmaragdgrün ſchillernde
Wolke aus den Waſſern ſelbſt herauf . Goldſterne , groß und
klein , ſind hinein verwebt . Und der ganze Ozean erwacht zu
lebendigem Lichte . Meerleuchten . Es iſt lebendiges Licht .
Myriaden winziger Weſen , zum Teil Einzeller der allerniedrigſten
Art , treiben den grünen Glanz aus ihrer lebenden Körpermaſſe
ſelbſt hervor und größere Tiere ſchaukeln ſich wie brennende
Zapfen und Kugeln in dem allgemeinen Tag . Das Leben hat
das Licht erobert , — erobert am eigenen Leibe zunächſt . Bis
in die tiefſten , grauenvollſten Schlünde dieſes Ozeans trägt es
ſeine Flammen hinab . Um rote Seeſterne rinnt es auf dem
Meeresgrunde wie ein grüner Raſen von Licht , die Tierkolonie
einer Rindenkoralle ſcheint elektriſch blaugrün durchglüht , der
Tiefſeefiſch Malakoſteus ſtößt grüne und gelbe Lichſtrahlen wie
mit einem Scheinwerfer unmittelbar unter dem empfangenden
Lichtorgan , dem Auge , hervor . Droben auf dem Lande , im
ſchwarzen mondloſen Urwald aber ſchwirrt gleichzeitig der
Cukujo , der Leuchtkäfer , deſſen goldgrüner Stern heute noch
eine Laterne erſetzt und Bücherſchrift leſen läßt .
Noch aber eine ungeheuere Zeit . Und dann die rote
Flamme .... .
Auch dieſer rote Stern der Heerdflamme da drüben , um
den die Löwen der Diluvialzeit brüllen und der Singſchwan
ſchreit , iſt lebendiges Licht . Er wird ſein Leben bewähren . Die
Baumrieſen des Urwaldes werden zuſammenkrachen wie vom
Blitz zerſpellt und an ihre Stelle wird die Großſtadt treten ,
ein blaues Meer von elektriſchem Licht . Wie eine Schlange
mit leuchtenden Schildern wird der Nachtzug auf den Eiſen¬
ſchienen durch die Länder ſauſen . Lichtſignale werden über die
Ozeane fliegen . In die doppelte Nacht des Bergwerks , das
im Grabe der Steinkohlenperiode wühlt , des Tunnels , der die
Granitquader eines Schneegebirges teilt , werden weiße Licht¬
bänder fließen . Das unterſeeiſche Bot wird mit ſeinen Schein¬
werfern wie eine Sonne in die Abgrundswelt der Polypen ,
Seeſterne und Tiefſeefiſche tauchen . Licht wird dem Menſchen
aus jedem geſtoßenen Steine ſtrömen , zum goldenen Quell des
Lichtes wird ihm der leiſe Fall der Waſſerwelle zerſtieben ,
Licht wird ihm der begrabene , verkohlte Farrnwald der Urzeit
entzünden . Im Lichte , das ſein Apparat zerſpalten , wird er
leſen wie in einem Buche , wer die Sterne ſind und was die
Welt gebaut hat . ehe er ſelber war . Vor dem Lichte wird er
in die Kniee ſinken . — als Kind vor dem brennenden Dorn¬
buſch , in dem Jehova ſpricht , — als Mann vor der ewigen
Gotteskraft der Natur , die in Lichtwellen wie Menſchenhirnen
kreist .
Menſchen ſind es , die dieſes rote Sternchen dort hüten ,
— die wunderbare letzte Lichtgeburt des erlöſchenden Planeten .
Der Menſch iſt da !
S chwarz-gelbe Wetterwolken häuften ſich an . Raſend
wie ein apokalyptiſcher Reiter ritt der Sturm voran . Mit
elementarer Wucht brach er in das dröhnende Geäſt des Ur¬
waldes , den noch keine Kultur berührt . Morſche Stämme ,
welk wie Zunder , die nur das Rankenwerk von Schlingpflanzen
noch ſtützt , regen ſich geſpenſtiſch , wanken . Jetzt ſtürzt die
Windsbraut in das offene Feld , alles beugend , in Wellen vor
ſich her legend . Das gelbe Gras bäumt ſich , trockene Diſteln
krachen , am Sumpfſee klirrt und raſſelt das braune Schilf
und Binſenvolk . Nun ein Schwefelſchein und ein Donnerſchlag
und weithin anhaltendes rotes Leuchten . Die große Eiche , die
anlehnenden morſchen Baumruinen brennen , der Urwald
ſchwehlt und dampft . Und der Wind wirft das Feuer in die
verſengte Steppe . Weithin am Horizont eine ungeheure blut¬
rote Garbe . Großes Getier flieht trappelnd vorbei , aufge¬
ſcheuchte Vögel ſauſen als ſchwarze Schatten der feurigen
Helle voran . Jetzt aber zerbricht mit einem Ruck der dräuende
Wolkenſchlauch . Unendlicher Regen . Die Flamme erſtickt im
weißen Qualm . Und die gelbe Wolken-Aegis zerreißt . Blauer
Himmel . Der letzte Qualm treibt mit den Nachtwolken ab ,
die Brandſtätte wird zugänglich . Da kommen Tiere aller Art
zurück , angelockt durch köſtliche Beute . Überall verkohlte , an¬
geſengte , gebratene Leichen . Raubzeug macht ſich darüber her ,
vierbeiniges und geflügeltes , der Wolf , der am Boden ſchleicht ,
wie der Falke , der aus den rauchigen Lüften ſtößt . Wieder¬
käuer lecken die ſalzige Aſche und wärmen ſich auf dem wohlig
erhitzten Feld . Aber noch ein beſonderes Weſen hat das Feuer
erlebt und genutzt . Die Nacht iſt gekommen , nur die ſtillen
Sterne ſtrahlen . Hier und da ein Glühwürmchen in unbe¬
rührter Waldestiefe . Dort aber eine rote Flamme , immer
noch . Eine einſame , — fernab von allem großen Brand . Der
Menſch hat ſie gerettet . Mit unendlicher Sorgfalt hütet er
ſie . Die wilden Wölfe haben nur heute wohlfeilen Braten ,
der in köſtlicher ſchwarzer Salzkruſte angerichtet iſt . Er wird
ihn haben , ſo lange die gerettete Flamme ihm bleibt . Immer
wieder wird das Wild , das ſein Pfeil erlegt , an dieſer köſt¬
lichen Flamme , — „ ſeiner Flamme “ , — ebenſo gebraten
werden . Und das gebratene Fleiſch , der gebackene Fiſch werden
ſich konſervieren , — länger als es ſonſt je geglückt . Heiliges
Gut : dieſe Flamme . Der Wandernde muß ſie mit ſich führen
wie einen Talisman . Und er entdeckt , wie das geheimnißvoll
ſegnende Weſen , das rote Feuer , zu nähren , zu erhalten iſt
auch auf einer Wanderſchaft . Im ausgehöhlten Rohr , im
hohlen Stabe wird glimmendes Holzmehl mitgeführt . Um
ſolches Mehl zu ſchaffen , wird Holz fein zerrieben , aneinander¬
gerieben , Holz in Holz gebohrt . Da zeigt ſich , daß das raſch
gemahlene Holzmehl ſich ſelber ſchon entzündet , glimmt , ver¬
kohlt , — nach Geſetzen der Umwandlung von Bewegung in
Wärme , die uns heute erſt als ſolche offenbar geworden ſind .
Und der Menſch begreift , daß man Feuer nicht nur bewahren ,
daß man es auch erzeugen kann ! Er ſchlägt ſich den Stein
zur Waffe zurecht . Den Stein , den Du ſelbſt eben hier im
Sande fandeſt : den Feuerſtein . Funken ſprühen . Nun den
Zunder dazu , und die Flamme leckt . Wieder iſt eine Art ge¬
geben , wie jenes künſtliche Zeugen des Feuers zu einem Akt
des Willens und der Herrſchaft wird . Und die rote Flamme
glüht , wann immer der Menſch es will und wo er es will .
Prometheus iſt er , der die Himmelsleuchte im hohlen Stabe
trägt , — nicht mehr blindes Tier , das bloß beutelüſtern auf
die Gelegenheit der verbrannten Steppen ſtürzt , ſie einmal ge¬
nießt , aber nie wieder zu finden weiß . Der Menſch weiß es
immer wieder neu .
In dieſem „ immer wieder neu “ ſteckt der ganze Menſch .
Hundertmal verlöſcht ihm der Herd , hundertmal zündet
er ihn wieder an . Hundertmal bricht ihm der Speer , bricht
ihm die Steinwaffe entzwei : hundertmal baut er ſie ſich neu .
Denn die Dinge ſind ihm Werkzeug , nach außen projiziertes
Organ , das er beliebig erzeugen kann .
Er braucht nicht den leuchtenden Leib des Johannis¬
wurms , nicht die feſt in die Körpermaſſe eingewachſene Laterne
des Fiſches Malakoſteus . Sein Gehirn umſchließt das alles
in der einen gedanklichen Möglichkeit : daß er ſich außen
in den Dingen der Welt Licht , Feuer erzeugen kann , ſo oft
er will .
Er braucht nicht das Horn des Rhinozeros , nicht das
Gebiß des Löwen am eigenen Leibe . Denn ſein Gehirn und
ſeine Hand bauen ihm Horn und Reißzahn zu jeder Stunde
aus jedem Feuerſteinſplitter . Dieſe ganze unendliche Anſamm¬
lung ſtahlharten Geſteins , das die Gletſcher der Eiszeit aus
der Kreide von Rügen und Moen herausgeſägt und über die
Ebenen Nordeuropas ausgeſtreut haben , iſt ſein Gehörn und
ſein Gebiß , womit er Nashorn und Löwe als Herr ſich unter¬
werfen wird .
Nashorn und Löwe zuerſt — und zuletzt die ganze Erde
mit allem , was auf ihr lebt .
Er wird die vollkommene Anpaſſungsform dieſer
Erde ſein . Mit ſeinen Werkzeugen baut er ſich einen neuen
Rieſenleib . Seine neuen Nerven ſpannen ſich als elektriſches
Netz über die Länder , auf dem Ozeansgrunde laufen ſie als
2
Kabel von Erdteil zu Erdteil . Seine projizierte Muskelkraft
ſprengt als Dynamit Berge auseinander , bewegt als Hebelkraft
Eiſenblöcke , vor denen die Wucht eines Elefanten zum Tippen
einer Kinderhand wird , gebraucht einen Niagara für ſeine
Zwecke wie der Affe einen grünen Urwaldzweig . Seine Stimme
hallt auf dem Telephondraht unendlich viel weiter als der
lauteſte Donner rollt . Im Rieſenfernrohr des Lord Roſſe ,
deſſen Spiegel zweieinhalb Quadratmeter und deſſen Rohr ſieb¬
zehn Meter mißt , ſtarrt ſein Gigantenauge in die Welt der
Nebelflecken und holt ſich den Mond bis auf fünfzehn Meilen
herab . Im Mikroſkop faßt er den Bazillus , deſſen Durchmeſſer
nur den zweitauſendſten Teil eines Millimeters beträgt . Ein
Angriff ſeiner neuen Glieder , der Werkzeuge : und die Waſſer
des Mittelmeeres ergießen ſich durch das Rote Meer in den
Indiſchen Ozean ; die Kartoffelpflanze aus einem Winkel Chiles
breitet ſich über ganz Europa aus ; Wälder werden abgeſägt
und eine ganze Gegend erſtarrt zur waſſerloſen Karſtöde , ändert
alle ihre Waſſerläufe , bekommt ein neues Klima , oder umgekehrt :
es wird ein Kanal gezogen und die Wüſte blüht , das Schlamm¬
meer trocknet aus , — die Fata Morgana und der Fliegende
Holländer werden zum wirklichen Orangenwald über blauem
See und zum weißen Segel des Kulturſchiffs , das Anker wirft ,
wo einſt Karawanen verdurſtet ſind . Keine Grenzen auf der
ganzen Kugel giebt es dieſem Märchenleibe mehr . In die
Tiefen bohrt er ſich wie eine ungeheure Wurzel , in die Luft¬
höhe reckt er ſich , wie der höchſte Sonnenſproß .
Eine kurze Friſt noch : und dieſer ganze ſauſende Planet
mit ſeiner Hunderttauſendtrillionenzentnerlaſt gehört ihm , wie
einem Künſtler ſeine Statue gehört , die bloß einſtweilen noch
in der Gußform ſteckt . Jede Sekunde Sonnenfahrt der Kugel
mehr auch ein Hammerſchlag mehr gegen die rohe Hülle , der
das Kunſtwerk , ſein Werk , befreit . Hörſt du den leiſen Pfiff
der Lokomotive , der fern her über die Wälder kommt ? Der
Hammer tanzt auch jetzt in ſtiller Nacht und die morſche Deck¬
maſſe bebt , — ſeine Erde , die Menſchenerde blitzt durch den
Spalt . Er ganz angepaßt an ſie , die abſolute Anpaſſung , die
höchſte , die das Leben erreicht — und dann der große Wechſel :
ſie ſich anpaſſend an ihn . Beide unlösbar verwachſend : der
Menſch Erde , die Erde Menſch . Die Erde ſein Leib , der Menſch
ihr Geiſt .... .
Von der Liebe dieſes Erdgeiſtes ſollen wir reden .
Auch er ein Liebeskind , im Weltenbann der Liebe .
Aber welche Liebe hat ihn gezeugt ? Wo und wann ?
Dunſt , Qualm , Nebel . Aus dem Nebel kommt das rote
Licht der Herdflamme , um die ſich Menſchen der Diluvialzeit
kauern . In den Nebel geht die große Frage . Es iſt der
Menſch ſelber , der hochentwickelte Menſch , der nach ſeinem
Geburtsdatum fragt . Seine Städte funkeln von Licht , ſeine
Stimme rauſcht über Erdteile und Ozeane . Vor ihm das All ,
zu dem er ſich mit ſeiner Erde ſchwingt . Auf das Sternbild
des Herkules trägt ihn die Sonne zu . Und er ſelber ein
Herkules . Wunderländer des Wiſſens , der Freiheit , der Liebe
dehnen ſich im Lichtduft der Zukunft vor ihm aus . Er wird
ſie erobern , wird in ihnen wohnen . Unter wehenden Palmen ,
über rauſchenden Brunnen . Ein Königskind des Sonnenſyſtems .
Unter märchenhaften Fügungen hat er ſich emporgekämpft . Er
hat ſich ſelber das ungeheuere Schwert geſchliffen . Und dann
hat er es in den Winkel geſtellt , daß Staub darauf ſinkt . Und
hat ſich mit Roſen bekränzt und goldene Lieder angeſtimmt .
Und hat mit leuchtenden Augen das Licht der Sonnen und
Milchſtraßen getrunken . Zu ſich ſelber iſt er als Gott herab¬
geſtiegen , der im Sturm einſetzte und ſchließlich im leiſen Wehen
kam . Als Buddha hat er ſich getröſtet , als Chriſtus ſich ver¬
ſöhnt . Als Kepler und Darwin hat er die Welt in ſich auf¬
2*
genommen . Als Goethe hat er den Grundſtein gelegt zu ſeiner
eigenen Überwelt . Und nach Jahrtauſenden , deren Brauſen
ihm noch im Ohr klingt , ſteht er immer erſt noch wie ein
Jüngling da . Nicht wie Moſes , der das gelobte Land einmal
in ſeinen Abendfeuern ſieht und ſtirbt . Sondern wie Moſes
das Kind , das im Rohrſchifflein auf dem heiligen Strom er¬
wacht und mit großen morgenhellen Augen über den Teppich
roter Lotosblumen ſtarrt .
Und dieſer Menſch jetzt greift ſich an die Stirn .
Woher er ſelbſt ?
Wie ein toller Zecher beim Bacchusfeſt , dem auf einen
Moment aller Lärm fern verhallt und die Fackeln dunkler
glühen . Er beſinnt ſich dumpf . Wie kamſt du hierher ? Was
biſt du überhaupt ?
Es giebt zwei Wege zur Antwort .
Je nachdem du den rechten gehſt , haſt du auch den Schlüſſel
zur Liebe des Menſchen in der Hand . Zu der Liebe , die ihn
gezeugt hat . Und zu der Liebe , die noch heute in ihm zeugt .
Der eine Weg führt ganz durch den Geiſt .
Er iſt ja ſo ſtark , dieſer Menſchengeiſt . Wie ſoll er
nicht auch dieſes Geheimniſſes Löſung in ſeiner Tiefe haben .
Du gehſt langſam durch den Nebel da unten hin . Nichts vor
Augen . Den ganzen Blick inwendig . Und ſinnſt .
Was weiß ich ſelbſt als Einzelner , wenn ich vierzig
Jahre im rauſchenden Leben ſtehe und auf einmal ſtill halte ,
in mich gehe , mich ſelber frage — was weiß ich aus mir
ſelbſt von meiner Geburt ?
Durch mein Leben klirrt eine Kette abwärts von Er¬
innerungen . Zuerſt eine Maſſe ganz hell , ganz nah noch .
Handlungen , Bilder , Perſonen , Landſchaften , Schmerz , Glück ,
ungeheure Dummheiten , die ich als überwunden fühle , ein¬
zelne brauchbare Staffeln , die hinan führten . In allem aber
ganz unzweideutig „ ich “ . Das geht hinab und hinab . Nun
wird es immer blaſſer , immer undeutlicher . Handlungen
tauchen auf , die mir doch ſchon faſt fremd ſind . Auch inner¬
lich fremd . Man hat ja allerhand Blödſinn begangen , weil
man es nicht beſſer wußte . Aber kann ich je ſo herzerweichend
dumm , ſo grün , ſo „ kindiſch “ gehandelt haben ? Noch tiefer —
und es ſind nur noch Schemen da . Eine ſchwarzgoldige
Tapete in einem fremden Zimmer . Ein Garten , wo bekannte
Stimmen ſchallen , mit denen ſich mir doch heute keine Perſon
mehr verknüpft . Eine Straße , von der ich noch meine , ich kann
die Steine zählen , von der ich aber nicht mehr weiß , wo ſie
iſt . Ich muß mir berichten laſſen . Du warſt ein Kind , da
und da ; Andere , Aeltere wiſſen es noch . Noch eine Stufe und
ich ſehe gar nichts mehr .
Für meine eigene Erinnerung bin ich jetzt verloren , ewig
verloren . Jetzt weiß ich nur noch durch Andere . Aber ſelbſt
dieſer Faden wird dünn . Ein Geburtsdatum , amtlich geſtempelt .
Das iſt unwiderleglich . Aber was iſt „ Geburt “ ? Ein ſchon
in gewiſſem Sinne „ reifer “ Organismus hat ſich von der
Mutter gelöſt . Neun dunkle Monate . Im erſten „ war “ ich
ſchon , aber ich war noch nicht Menſch . So lehrt die Natur¬
geſchichte . Meine Keimform war noch nicht einmal menſchen¬
ähnlich . Und dieſer Keim entſtand zuletzt durch einen Zeugungs¬
akt ....
Hier taucht mein Leben vollends zurück . Meine Eltern ,
— Schleier legen ſich darüber . Heilige Liebesempfindungen .
Und dann gehe ich ein als Doppelweſen in beide , als Samen¬
zelle hier , als Eizelle dort . Jede Zelle in den Rieſenverband
eines anderen Körpers . Das Licht brennt ganz düſter . Jetzt
brauche ich nicht mehr bloß fremde menſchliche Tradition —
und ſeien es ſelbſt diskreteſte menſchliche Bekenntniſſe . Ich ge¬
rate mir ſelber ins ultraviolette Wunderland der Philoſophie ....
So ich . Aber nun die „ Menſchheit “ . Sie hat keine
Mitmenſchen , keine Onkel , Tanten , Eltern , die erzählen . Hin¬
ſichtlich der Tradition iſt ſie aufgewachſen wie Kaſpar Hauſer .
Ein Paar tauſend Jahre : — Könige , Prieſter , Reiche , Sklaven ,
wie heute , vielleicht ein paar Dummheiten mehr , aber auch
ſchon tiefe , tiefe Weisheiten . Darüber hat ſie noch Tage¬
bücher geführt , in Keilſchrift , Hieroglyphen , chineſiſchen Thee¬
kaſten-Lettern . Aber was dann ? Auch hier ſchwarzgoldene
Tapeten , Pflaſterſteine , ich weiß nicht wo . Und ein grüner
Garten , wo ich unter einem Apfelbaum ſaß . Wo war das doch ?
Keiner weiß wo . Es war ja kein zweiter dabei , der reden
könnte . Antwort ! Antwort ! Ackere die Erdkugel um , ob nicht
irgendwo noch ein Kinderſpielzeug liegt . Ob die Wurzeln des
Apfelbaums nicht irgendwo ſtecken , wo du ſpielteſt . Aber was
beweiſen ſelbſt ſie ? Sie zeigen dich als Kind , aber ſchon als
Menſchenkind . Wo iſt dein Geburtsatteſt ? Und der Mutterleib ?
Und die heilige Weiheſtunde zeugender Elternliebe ? Arme Menſch¬
heit ! Die Blüte der Erde und keine beſſeren Dokumente jenſeits
deiner Erinnerung als ein Kaſpar Hauſer , deſſen Herkunft ge¬
waltſam raffiniert verſchleiert wurde .... .
Du meinſt heute , du denkſt das allein . Aber an dieſer
Stelle war das reine Denken vor dieſer Frage ſchon Jahr¬
tauſende vor dir angekommen . Es ſtand da ebenſo feſt , aber
es wollte ſich nicht unterkriegen laſſen . Der Stolz des
Geiſtes bäumte ſich dagegen auf . Und ſo faßte er die
Dinge mit Herrenmacht und ſchuf ſich in der Phantaſie
ein Bild , das ihm groß genug ſchien zur Löſung . Er wollte
eben durch um jeden Preis , — der Geiſt als Pfadfinder in
ſich ſelbſt .
Daß du als einzelner Menſch wohl im Mutterleibe vor
dem ſtatiſtiſchen Faktum deiner Geburt gelebt haben mußt , mit
allen Prämiſſen bis zum Zeugungsakt , — das holſt du dir
ſtillſchweigend wie etwas ſelbſtverſtändliches aus der „ Natur¬
geſchichte “ . Das geht doch wirklich nicht anders , und ſelbſt der
Prüde giebt es unter der Bedingung zu , daß man nicht
davon ſpricht .
Aber die Menſchheit ? Da muß der träumende Geiſt ,
meint er , ausholen bis in das Wunderbarſte , Oberſte , Rieſigſte ,
was er ſich denken kann . Der erſte „ Menſch “ der Menſchheit ,
heißt es , kam — „ von Gott “ . Du weißt ja : eines Tages
ſaß er unter dem Apfelbaum . Vorher nicht . Auf der Kante
dieſes „ eines Tages “ und „ vorher “ balanciert die Schöpfung
aus der Verſenkung . Des reinen Geiſtes äußerſter Weg .
A us dem Nebel vor dir hier am Seerande reckt es ſich
wie ein koloſſales Brockengeſpenſt . Ein Menſchenſchatten , und
doch ins Gigantiſche erhöht . Es iſt kein Seerand mehr , über
dem er ragt . Die ewige Weltküſte . Hier Welt und drüben
nichts . Ein myſtiſches Rauſchen fährt herab in den weißen
Uferſand , daß er ſich geiſterhaft tanzend bewegt ....
Gott ſchuf den Menſchen aus einem Erdenkloß . Zu
Staub ſoll er werden , wie er aus Staub geſchaffen iſt .
Gott und Staub .
An dieſem Bilde haben ſich unzählige getröſtet und er¬
baut . Du ſelber biſt noch damit aufgewachſen . Dein tiefſtes
religiöſes Empfinden klammert ſich daran . Wenn man dir zu¬
ruft , daß es nicht mehr gelten ſoll , ſo iſt dir , als wanke die
ſchönſte Säule , die das Lichtblau deiner Weltgedanken trug .
Nichts liegt mir ferner in dieſer heiteren Walpurgisſtunde , wo
alle Geiſter leben und leben laſſen , als dein religiöſes Empfin¬
den zu verletzen . Ich , wenn ich einen Wunſch haben ſoll , ich
wünſchte , daß die Menſchen von heute alleſamt vieltauſendmal
religiöſer geſtimmt wären als ſie ſind . Religiös im Sinne
tiefſter Sehnſucht , — im Sinne des „ Ich laſſe dich nicht , du
ſegneſt mich denn , “ — du , das Welträtſel . Und ich habe
nicht minder den höchſten Reſpekt vor jedem Verſuch des
ringenden Geiſtes , wo immer er eine Antwort aus ſich heraus¬
gekämpft hat , ſei ſie , wie ſie ſei . Aber ich habe doch etwas
gelernt aus der Geſchichte ſolcher Antworten . Der Geiſt iſt
ein Durchgänger . Was er greift in ſolchem Falle , iſt meiſtens
nicht eigentlich falſch , es iſt nicht zu ſchwach , zu klein , —
ſondern es iſt zu groß . Das wird dir freilich nun erſt recht
wohl ſchwer in den Kopf wollen .
Ja : Gott und Staub . Dieſe Begriffe haben ſich alle
beide ſelber in uns heute weiterentwickelt , — nicht bei den
Spöttern , ſondern gerade recht bei den ganz Ernſten . Und
darum ſagen ſie uns thatſächlich nichts mehr .
Das ſchien ſo unendlich einfach , als es zuerſt kam : ja
das war der Ausweg : — Gott und Staub . Jeder wußte
doch , was das war . Gott , der alte Übermenſch in ſeinem
goldenen Glanze , — der alles konnte . Und ein Häuflein
Staub , das armſeligſte Ding der Welt , das ein Lüftchen ver¬
weht , du findeſt ſeine Spur nicht mehr . Zwiſchen Himmel
und Erde bauten die zwei Worte ein greifbares Netz , in dem
das Kindlein Menſchheit beruhigt wie in einer Wiege lag .
Wohin iſt ſie , — dieſe leichte Zeit ....
Gott .
Eiſerne Menſchenarbeit ſelber hat an dem Gott ge¬
ſchmiedet und geſchmiedet . In der Welt Homers erſcheint der
gute Zeus noch wie ein luſtiger Spaziergänger in der vom
Fatum regierten Natur . Schöne Mädchen ſitzen am Welten¬
wege und er küßt ſie . Dieſe Welt ſelbſt mit Sonne und Meer
und Blütenkelchen iſt aber vorhanden auch ohne ihn . Er iſt
bloß etwas der größere , ſtärkere Menſch darin . Er beherrſcht
ſchon die Elektrizität und blitzt , wo Achilles bloß Speere
ſchleudern kann . Er ſieht durch Wände wie mit Röntgenſtrahlen .
Er ſtreut Peſtbazillen über ein Griechenheer , deſſen Ärzte noch
kein Mikroſkop beſitzen . Er fliegt in die Wolken , wie ein
paar Jahrtauſende ſpäter Montgolfiers Ballon . Wie hübſch
klein dieſer Gott noch war . Er umſpannte die Menſchen bloß
durch ein paar verbeſſerte techniſche Fähigkeiten . Geſchweige
denn die Natur im ganzen . Aber ſelbſt den Menſchen faßte
er nicht in die Tiefen ſeiner Innenwelt hinein . Nur ein
ſchwächlicher Abglanz waren die Leidenſchaften , die inneren
Schickſale der Götter von dem Ungeheuren , das wirklich in
des Menſchen ganzer Tiefe lag . Der Menſch , wenn er ſich be¬
ſann , war größer als ſein Gott . Und er beſann ſich ſchließlich .
Gott bekam ein neues Reich , nach Innen hinab . Unter
dem heiligen Banyanenbaum am Ganges , der noch heute von
Buddha rauſcht , ſank Gott zum erſtenmal in die Kniee vor
dem Menſchen , erfaßt von jenem Ungeheuren des moraliſchen
Schickſals in der Tiefe der Menſchenbruſt . Und er zerbrach
die Königskrone und wurde ganz Menſch . Und nahm das
Ungeheure in ſich auf : die eine Hälfte der Welt . Es war
derſelbe Gott , der auf Golgatha ſeine Arme ausbreitete , die
ganze Menſchheit zu umfangen , — ſie waren mit Nägeln an¬
geheftet , dieſe Arme , zum Beweis , daß die Sache nicht ſo leicht
war . Und doch hat er gefaßt , was er wollte .
Nun geht über ein Jahrtauſend hin . Neue Zeiten reifen .
Da kommt zu der einen auch die andere Hälfte der Welt .
Die Naturerkenntnis eröffnet den Kosmos . Und auch dieſer
Kosmos geht jetzt reſtlos ein in Gott . Zu den Tiefen des
Menſchenſchickſals kommen die Tiefen des unermeßlichen
Sternenmeers . Gott , der Menſch geworden iſt , wird jetzt
Sirius und Aldebaran , Wega und Beteigeuze , er wird der
wirbelnde Maelſtrom des Spiralnebels im Sternbild der
Jagdhunde und der Nebelring in der Leyer . In dieſes Gottes
Rieſenleib iſt jetzt die ganze Bahn der Sonne von den flammen¬
den Urwelten des Orion bis zu den fernen Zukunftsſternen
des Herkules ein winzigſtes Äderchen , das ein Blutkügelchen
durcheilt . In Gottes zeitlicher Entfaltung trabt das Mammut ,
ſchwimmt der Ichthyoſaurus , fällt die ganze Erde wie ein
Lichtſtäubchen aus der Nacht und wieder in die Nacht . Das
ſind wir jetzt — und unſer Gott . In Gott alles eingegangen
bis zum letzten glimmenden Sternenpünktchen des Alls , in
Gott das ganze Naturgeſetz , alle unzerſtörbare , nur ſich
wandelnde Kraft , in Gott die ganze natürliche Entwickelung
Darwins . In Gott das ganze Leben des Alls , von dem wir
ahnen , daß es in unendlichen leuchtenden Katarakten auch
über das hinabſtrömt , was wir heute noch das Anorganiſche
nennen , und daß es mindeſtens in großen Flammenſäulen
aufbrennt , ſo weit Millionen wohnlicher Geſtirne ziehn . In
Gottes Adern ſtarrt das Fernrohr , das ſchwindelnd in Milch¬
ſtraßen verſinkt . Gott iſt es , den das Prisma zu ſieben blüh¬
enden Farben bricht . Gott iſt der Stein von Hildburghauſen ,
der einſt Meeresſchlamm war und in dem ſich die Fährte
eines verſchollenen froſchartigen Ungeheuers abgedrückt hat .
„ Gott ſchuf “ heißt nichts anderes , als : auch der Menſch
wurde in ihm , wurde in der Welt . Aber dieſe Antwort
zerflattert in Orionweiten . Das Wort iſt endlich zur vollen
Größe erwacht . Aber nun iſt es zu groß für die einzelne
Antwort . In ſeiner Rieſenhand ſtürzt der kleine Erdenmenſch
von Stern zu Stern in das unerſchöpfliche Danaidenfaß der
Weltentiefe hinab . Es iſt ſo gut wie keine Antwort mehr .
Gewiß hängt der Menſch auch im Gewebe dieſer ganzen Welt .
Alle dieſe Sterne , alle dieſe Zeiten floſſen zuſammen auch in
ihm . Aber das enträtſeln !! Enträtſeln vom Saum dieſes
winzigen Planeten aus , enträtſeln von dieſer Menſchenweisheit
aus , die wie eine arme Sonnenblume angewurzelt ſteht und
ihre goldenen Säuglingsärmchen zum blauen Weltenhimmel
reckt . ... . Es iſt zu groß . Wir richten Teleſkope , wir
graben in der Erde , wir mühen uns auf allen Wegen mit
unſerer Naturforſchung . Kleine Schachte voll Finſternis und
Grubengas , die wir da und dort in den Leib Gottes ſtoßen .
Das iſt der Weg . Aber nicht das wilde tönende Ganzwort ,
das ſo leicht klingt und uns in Orionfernen verbrennt ..... .
U nd nun Staub .
Wirf Dich auf den nebelfeuchten Strand des Sees hier
nieder und häufe ſpielend wie ein Kind den weichen Sand .
Der naive Kinderglaube träumte keine heilige magiſche Materie ,
aus der das erſte Menſchlein entſprungen ſei . Er dachte an
den groben roten Lehm der Euphratniederung . Flöhe und
Mäuſe gingen in ſeiner kindiſchen Naturgeſchichte fröhlich aus
ſolchem Lehm hervor , heute wie anno dazumal . In ſolchen
Lehm griff auch Gottes Hand und damals wurde es — ein
Menſch . Lehm , der ſonſt in der nächſten Sonnenſtunde er¬
härtet , zerplatzt , zerbröckelt , als Staub vom fidelen Winde
aufgegriffen und über die Lande gejagt worden wäre . Aber
haſt Du eine Ahnung , was Staub iſt ?
Sieh dieſes kleine Plättchen hier , ſo klein , daß du es im
Portemonnaie tragen kannſt . Ein Glasſtreifchen , auf das ein
Zweites aufgeklebt iſt . Halte es gegen das Licht deiner Zigarre .
Zwiſchen den Gläſern liegt ein Tropfen kanadiſchen Balſams
und in dem Balſam liebevoll eingebettet gewahrſt du eine An¬
zahl winzigſter Pünktchen . Ein Pröbchen Staub , klein und arm¬
ſelig wie eine Prieſe Schnupftabak . Aber lies die Aufſchrift
des angeklebten Zettelchens . Radiol . Ooze . Chall Stat. 225.
W. Pacif . 4475 Fd. Klingt wie ein Apothekenrezept . Ich über¬
ſetze dir die Geheimſchrift . Ooze heißt engliſch Schlamm und
Radiolarian Ooze iſt Schlamm , der größtenteils aus Radiolarien
beſteht . Es iſt eine Probe Schlamm aus den Abgründen der
Tiefſee . Die berühmte Tiefſee-Expedition des engliſchen Schiffes
Challenger hat ſie mit kunſtvollem Apparat vom Grunde
des West Pacific , des weſtlichen Stillen Ozeans , an ihrer
225. Sondirungs-Station ( zwiſchen den Karolinen-Inſeln und
Japan ) heraufgeholt . Aus wahrhaft koloſſaler Tiefe . 4475 Faden
reicht das Meer dort hinab , ehe das Lot auf Grund ſtößt .
Das ſind über 8000 Meter , mehr als eine Meile . Der höchſte
Berg der Erde , der Gauriſankar ließe ſich dort verſenken und
der größte Dampfer könnte noch über den Gipfel wegfahren
ohne auf eine Untiefe zu ſtoßen . Schlamm aber liegt dort
unten , unendlicher Schlamm . Und Schlamm geht ſo durch alle
Ozeangründe . Denke dir jäh durch einen geologiſchen Akt die
Meerwaſſer der Erde aufgeſaugt , den Ozeansboden allenthalben
gehoben und frei . Endloſe Wüſten , an Flächeninhalt größer
als alle fünf alten Erdteile zuſammengenommen , gähnten auf
einmal empor . Ihr trocknender Grundſchlamm aber zerfiele
wirklich jetzt zu dürrem , weißlichem und rötlichem Staub . Und
wenn der Sturm pfiffe , würde er Sandhoſen bis zu den
Wolken aufwirbeln von dieſem Staub , von Millionen Quadrat¬
kilometern Staub . Und nun nimm eine ſolche Probe Tiefſee-
Staubes unter das Mikroſkop . Schraube dir die Vergrößerung
richtig ein . In der kleinen Lichtinſel , die dein Auge wie mit
Zauberkraft weit über ſeine gewohnten Grenzen ſtärkt , erſcheint
ein märchenhaftes Bild . So liegt der Zwergenſchatz in der
unnahbaren Felsſpalte . Ein Berglämpchen glüht und in ſeinem
Scheine blitzt unendliches Silber . Oder der Nibelungenhort
taucht in berauſchender Rebenſtunde aus dem kryſtallgrünen
Strom und flimmert im Mondlicht . Zum magiſchen Spiegel
des Venediger-Männleins , der alle verſunkenen Schätze der
Tiefe ſpiegelt , ſcheint das Mikroſkop geworden zu ſein . Da
drängen ſich ſilberne Kettenpanzer , runde Sarazenenſchilde mit
Buckeln und ſcharfen Spitzen , Helme mit feinem Viſir und
langen Bügeln , köſtliches Geſchmeide aller Art , Ringe und
Spangen , Spielzeug in Edelmetall und von alter Goldſchmied¬
arbeit , als ſei es für Königskinder geſchaffen , Kaiſerkronen und
Papſtkronen , Szepter und altertümliche Schwerter , auch fromme
Kreuze und Dornenkronen . Manches zerbrochen , wie es Schätzen
aus verſchollenen Tagen zukommt . Aber noch jedes Bruchſtück
ein Wunderwerk der Kunſt . Und doch jetzt das alles kein
wirklicher Schatz von Menſchenhand . Dieſes Pröbchen Staub
iſt eine Hekatombe winzigſten Lebens , das die ungeheure , meilen¬
lange Waſſerſäule durchwimmelt hat . Es ſind die harten
Schalen einzelliger Urtiere , der ſogenannten Radiolarien , jede
aufgebaut aus Kieſelerde , alſo demſelben Stoff , der den ſchönen
Bergkriſtall bildet . Aufgebaut aber nach geheimisvollen Ge¬
ſetzen rhythmiſcher Anordnung , die unſer Menſchenauge als
„ ſchön “ begrüßt . Aufgebaut vom formloſen Schleimleibe jener
niedrigen Weſen in der ſchwarzen Waſſernacht . Zum tiefſten
Abgrund hinabgeſunken bilden die Schalen heute dort den
Schlamm , den Staub . In jeder Schnupftabakprieſe ſolchen
Staubes hundert und aberhundert köſtlichſte Formen , — Formen ,
kriſtallartig vollkommen in ihrem Linienbau und doch ſchon
vergeiſtigt , vom Organiſchen , dem unzweideutig „ Lebendigen “ ,
gleichſam in zweiter Inſtanz der Natur erzeugt .
Und nun hebe den Blick wieder auf vom Mikroſkop und
vergegenwärtige dir . Jeder dieſer entzückenden Radiolarien¬
panzer , in die ſich dir der „ Staub “ auflöſte , ſetzt ſich inner¬
lich wieder zuſammen aus ungezählten Kieſelteilchen , wie der
lebendige Zellenleib des winzigen Urtiers darin aufgebaut war
aus ebenſo ungezählten Teilchen der Eiweißſubſtanz des Proto¬
plasma . Dieſe Teilchen aber beſtehen abermals aus noch
kleineren Teilchen . Das Mikroſkop ſieht ſie nicht mehr , aber
die Chemie weiß ſie noch zu faſſen . Die Kieſelerdenteilchen
löſen ſich jedes wieder auf in Teilchen des Elementes Silicium
und des Elementes Sauerſtoff . Die Protoplasmateilchen in
Teilchen reinen Kohlenſtoffs , Sauerſtoffs u. ſ. w. Die Welt
der Moleküle , der Atome beginnt hier . Grade die Chemie , die
uns dabei noch ein Stück weiter führt , führt aber auch fort
und fort auf neue rhythmiſche Lagerungen dieſer Teilchen , auf
beſtimmte Verhältniſſe . Kein Zweifel : dem wirklich ſehenden
Blick würden immer neue Schätze , neue Kaleidoſkopfiguren ,
neue kryſtallartig mathematiſchen Gebilde im Schoße jedes ein¬
zelnen dieſer Kieſelſchälchen erſcheinen . Ein Gewimmel , eine
Maſſe , bis du meinteſt , du ſeieſt vor ein neues Weltall ent¬
rückt , ſchauteſt in den Flockenſchauer von Milchſtraßen , wo jede
glitzerndweiße Flocke vor dem Blau eine Sonne , eine Doppel¬
ſonne , ein Planetenſyſtem iſt . Und es ſind Syſteme , da unten
wie dort . Syſteme , in denen Weltkräfte walten . Jedes Molekül
eine Sonne in ſeiner Art . Die Sonnenwelt da droben hat
keinen Abſchluß . Hinter dem Orion , hinter der ganzen Lichtinſel
unſeres Fixſternſyſtems dämmern neue Orionſyſteme , neue Fixſtern¬
inſeln auf , — bis unſer gläſernes Teleſkopauge verſagt . Ebenſo
wenig reißt die Welt der winzigſten Materienteilchen jemals ab .
Und immer und immer dort wie hier ein heiliger Reigen¬
tanz , nie und nie und nie ein Abſinken wirklich zu regellos
elendem „ Staub “ , — immer Harmonie , immer ein Schwingen ,
Sichgatten , Sichlagern zu rhythmiſchen , äſthetiſch vollkommenen
Gebilden , immer der leiſe Wogenſchlag des großen , gleichen
Geheimniſſes , in dem der Orion eine Welle iſt und du als
Menſch eine Welle biſt und das Radiolar eine Welle iſt und
jedes Molekül in dieſem Radiolar eine Welle iſt .
Das iſt dein „ Staub “ !
Und du meinſt , du haſt etwas ausgeſagt , wenn du ſagſt :
aus Staub iſt der Menſch geſchaffen ? Haſt das komplizierte
Wunderwerk des Menſchen auf das Einfachſte , nicht weiter
Diskutierbare zurückgeführt mit dem Wörtlein Staub ?
„ Aus Staub iſt er geworden , zu Staub ſoll er werden . “
Nimm deine Hand und richte daſſelbe Mikroſkop auf die un¬
ſichtbar winzigen Stäubchen , die an ihr haften . Du biſt durch
den Lenzwald gewandert . Über dir hingen die Liebesarme
der Haſelkätzchen und regneten träumend ihren goldenen Staub
auf dich herab . Hier haftet noch , unſichtbar dem bloßen Auge
in ſeiner Vereinzelung , ein ſolches gelbes Staubblättchen an
deiner Hand . Auch dieſes Staubteilchen , wenn du es ganz
enträtſeln könnteſt , zerriſſe dir wie ein Schleier vor jener
Milchſtraße der Elemente , wo ſich Atome von Kohlenſtoff ,
Waſſerſtoff , Sauerſtoff zu Sternſyſtemen gatten . Aber in dieſem
Staubpünktchen liegt noch etwas anderes . An den rechten
Fleck gebracht , wird es eine neue Pflanze aus ſich erwachſen
laſſen , eine neue Haſelſtaude , die nicht bloß nach unten in die
Welt der Atome ſich dehnt , ſondern auch nach oben das Gold¬
licht der wirklichen Sonne trinkt . In dieſes gelbe Staub¬
pünktchen hat ſich die ganze Kraft aller Haſelbüſche , die ſeit
Jahrmillionen , vielleicht ſeit der Kreidezeit , auf der Erde
blühen , hinein konzentriert , ſodaß es wieder einen ſpezifiſchen
Haſelſtrauch erzeugen kann . In der Exiſtenz des erſten Haſel¬
ſtrauches am Anfang jener Jahrmillionen ſteckte aber konzentriert
wieder die ganze Vergangenheit des Pflanzengeſchlechts , ſteckten
alle Nadelhölzer , Palmfarrne , echten Farrne , Algen und Ur¬
pflanzen mit ihrer fortzeugenden Kraft bis zum erſten und
älteſten Pflanzenorganismus der Erde überhaupt . Dieſer
älteſte Ururorganismus war aber zugleich auch der Ausgangs¬
punkt der tieriſchen Entwickelung . So hängt im Grunde alles
darin , alles Lebendige , was wir ſehen und ahnen , — alles in
dieſem gelben Plättchen Haſelſtaub . Der Haſelbuſch iſt ein
3
kleiner Buſch . Aber aus Samenſtäubchen , nicht größer als
dieſes , erwächſt der Eukalyptusbaum Auſtraliens , der ſo hoch
wird wie die Türme des Kölner Doms . Es erwachſen die
Cypreſſen und Drachenbäume , die mit ihrem Alter von Jahr¬
tauſenden auf ganze Kulturepochen der Menſchheit wie auf
eine Nachtwache niederſchaun . Staub . Bekommſt du nicht Re¬
ſpekt vor dieſem Staub ?
Denke dir die Erde leergefegt von allem , was ſie trägt .
Kein Leben , kein Waſſer , keine Luft , keine innere Bewegung
der Geſteine . Leer alles , glatt und tot . Trillionen und Qua¬
drillionen von Jahrtauſenden ſoll ſie ſo ſchwingen um ihren
Schwerpunkt . Was wird zu ihr kommen ? Was wird als
geheime neue Regung ſie berühren ? Staub . Das Weltall ,
die freien Planetenräume , die Sternenweiten führen unabläſſig
eines zu : feinen Staub . Auch auf unſere Erde , wie ſie heute
iſt , ſinkt immerzu feinſter meteoriſcher Staub , nickelhaltiger
Eiſenſtaub . Auf dem jungfräulichen Eiſe der Polarlande
findeſt du ſeine Spur . Du findeſt ſie zwiſchen den Radiolarien¬
ſchalen in der Gauriſankartiefe des Ozeans . Immer meteoriſches
Nickeleiſen , das von fernen Welten kommt , vielleicht irgendwo
verpulverten Welten . Wieviel Wunder der Entwickelung , wie¬
viel Kulturen mögen als letzter Extrakt in dieſen Eiſenſtäubchen
ſtecken ! Aber das nun regnend und regnend Trillionen von
Jahrtauſenden lang . Der Planet würde wachſen , ſeine Schwere
würde ſich ändern und mit der Schwere ſeine Bahn . Vielleicht
wäre es auch neues Leben , das ſo als Staub auf ihn nieder¬
regnete . Lebenskeime , die der Kälte von Stern zu Stern ge¬
trotzt haben , wie der Kürbisſamen , der eine künſtliche Kälte
von — 192 ° C. überſteht . Du ſiehſt den Staub bei der
Arbeit , wie er Welten baut , Planetenſyſteme verſchiebt . Mit
dem Staube iſt es genau wie mit Gott . Unter deinen Fingern
löſt er ſich und wird zur Weltenwolke , die ins Unermeſſene
verſchwebt . Löſe mir das Rätſel des Staubes und ich gebe
dir das Rätſel des Menſchen mit in Kauf . Aber es geht
wie bei Gott , es iſt zu groß . Es iſt das Welträtſel . Ein
ungeheures Lichtband Gott iſt die Welt . Und eine ungeheure
Wolke rinnenden Staubes . Orionweiten hier wie dort . Wie
der alte Lucretius ſingt : Tritt ans Ende alles Erkannten und
wirf mit kühner Hand einen Speer hinaus : er fliegt neuen
Welten zu . Welten , die vor dir glimmen wie ſilberner Staub .
Welten , die immer noch Gott ſind , wie der Orion , wie die
Sonne , wie du . Gott wie Staub : ſie ſind keine Antwort , ſie
ſind Welt . An Kleineres , Engeres , Näheres mußt du dich
wenden für deine Frage , woher der Menſch und ſeine Liebe
auf dieſem Planeten Erde kamen . Du ſagſt : „ Gott ſchuf ihn
aus Staub . “ Ich ſage : Staub iſt Gott ; Gott iſt Staub .
Auf dem Wege dieſer Gottwerdung des Staubes ſteht aller¬
dings der Menſch . Aber wo .... ? Das Wort hilft nichts .
Wir müſſen uns anderswo und ſchwerer die Stelle ſuchen .
Und ſo wäre der Flug des rein grübelnden Geiſtes hier
lahm gelegt . Der eine Weg wäre verrammelt . Am Ende
dieſes ſtolzen Geiſtesfeldzuges bliebe nichts anderes übrig als
eine gewiſſe Melancholie . Ja , wir müſſen uns das wirklich
eingeſtehen , ſo ſchwer es fällt : in dem ganzen Stück Welt¬
hiſtorie von Urtagen der Erde bis heute , das wir kennen ,
giebt es eigentlich keine ſeltſamere , rührendere und doch auch
lehrreichere Thatſache als dieſe : wie lautlos , belanglos , bei¬
nah wie eine Bagatelle das wirkliche und natürliche Auftauchen
des Menſchen auf dieſer Erde ſich vollzogen hat . Unſere Natur¬
erkenntnis bis in ferne Vergangenheit hinein hat ſo helle Bilder .
Dieſe ungeheure , dämoniſche Sache aber verbirgt ſich wie in
einem Zwiſchenakt .
3*
Unwillkürlich meinen wir , die Welt müſſe einen beſonderen
Tag gehabt haben , als ſich das ereignete . Ein Klang müſſe
durch die Sphären gegangen , aus den Nieren der Erde herauf¬
gekommen ſein wie Glockengeläut . In einem Kapitel des Hiob
fragt Jehova mit dem Stolz eines wahren Weltpoeten , der an
die Stunde denkt , da er ſeine Welt gedichtet hat und ſeine
Verſe ihn zum erſten Mal anblitzten : „ Wo warſt du , da ich
die Erde gründete , — da mich die Morgenſterne miteinander
lobeten und jauchzeten alle Kinder Gottes ? “
Etwas von dieſem Jauchzen der Morgenſterne erwartet
man mindeſtens . Aber nichts . Die Geiſtesgeſchichte der Erde
iſt kein Theater geweſen , das auf uns als Zuſchauer zielte .
Und im Grunde ſollten wir das aus der ſpäteren Geſchichte
der Menſchheit ſchon wiſſen . Die Morgenſterne haben nicht
hörbar gejauchzt und die Sphären geläutet , als „ Homer “ die
Ilias komponierte . Im Gegenteil , der Dichter iſt verſchollen
bis zum Niemehrwiederfinden , bis zum Triumph der Schul¬
meiſter , die hier wie immer die Perſon töten möchten . Shake¬
ſpeare iſt heute auf dem beſten Wege , dieſes Los zu teilen .
Zoroaſter , Buddha , Confutſe , Moſes ſind rote Feuerſäulen im
Nebel . Der Schein fließt und hellt eine Menſchheitsepoche auf .
Aber die Hand , die die Fackel gehalten hat , ſcheint aus dem
Nichts zu kommen . Und doch müſſen es Rieſenhände geweſen
ſein , die da irgendwo heruntertappten . Chriſtus , über deſſen
Wiege die Legende wirklich die Engel ſingen läßt , iſt als
hiſtoriſche Geſtalt wie in einem ſchwarzen Waſſer kritiſchen
Wirrwarrs verſunken , er , deſſen Geiſt auf Sturmwaſſern ging
und heute noch geht . Wo iſt der Mann , der jenes Buch Hiob
gedichtet hat ? Wo der Meiſter von Pergamon ? Du mußt
in einſamer Sonnenſtunde vor der Venus von Milo im
Pariſer Louvre geſtanden haben und dir geſagt haben , daß
dieſe unſagbare Frauenſchöne keinen Namen eines Künſtlers
trägt und daß ihre ganze Fortexiſtenz an den paar Zoll Näher¬
rücken jener brutalen Kraft hing , die ſchon ihre Arme zu Staub
zermalmt hatte .... um einzuſehen , daß das Leben der Welt¬
geſchichte ein geheimeres iſt , als unſer grober Sinn ſich träumt .
Ein geheimeres , aber deswegen nicht minder erhabenes . „ Er
iſt ein ewge Stille “ ſingt der alte Angelus Sileſius mit tiefem
Sinn von ſeinem Weltengeiſt .
Der Nebel hatte dich ganz eingeſponnen , du ſahſt jetzt
ſchlechterdings gar nichts mehr . Und doch war es nur die
Nähe grade des Tages , die ihn ſo aufdringlich machte . Es
iſt nichts mit dem Weg des reinen Geiſtes . Zermartere dein
armes Gehirn : du erinnerſt dich an nichts . Und wenn du
phantaſierſt ins Blaue hinein , ſo wird 's auch nur Nebel . Aber
es giebt noch einen zweiten Weg . Mit ihm wird es hell und
Tag . Du haſt geſonnen und geſonnen , ſtundenlang . Blick auf ,
es iſt Tag . Und ich will dir den Weg zeigen .
Dem Manne im Märchen iſt verheißen , daß ein Un¬
bekannter ihm die Kunde bringen ſoll , die ſein Glück macht .
Auf der Brücke ſoll er ſtehen und harren , bis ihn einer an¬
ſpricht , — der wird es ſein . Er harrt vom frühen Morgen
bis zum Abend , ſchaut jeden Vornehmen , der kommt , an und
wartet des Spruches . Keiner redet ihn an . Den ganzen
Tag aber ſteht ein alter Bettler neben ihm auf der Brücke ,
den er nicht beachtet . In der letzten Minute des langen
Tages , als er ſchon alles verloren giebt , tritt der Bettler
zu ihm , und er jetzt iſt der unbekannte Mann , der das Glück¬
wort bringt .
So mag es dir mit deiner Menſchenfrage gehen . Himmel
und Erde durchſtürmſt du und findeſt nichts . Und wie du dich
hier ans ſtille morgenfriſche Seeufer in den weißen Sand ge¬
worfen , verzweifelt , daß du nichts weißt , da ſteht der Weiſe
hinter dir , der dich lehren kann . Er ſteht hinter dir , — auch
wenn du ganz allein biſt . Wo du biſt , iſt er wie dein Schatten
bei dir . Du achteſt ihn nur nicht . Ich will ihn dir zeigen .
D ie Nebel ſind verhaucht .
In wunderbarer Glorie der erſten Maienſonne liegt der
See . Wie eine Lotosblüte von tiefem , tiefem Blau . Blauer
als der Himmel , an dem milchige Wölkchen treiben . Dicht
vor dir am Ufer ein Doppelkranz , erſt junges nachſproſſen¬
des goldgrünes Frühlingsſchilf , noch nicht höher als ſtarkes
Gras . Dann die braune Stoppelwelle des vorjährigen dürren
Schilfs , ab und zu von einer einzeln ſtehengebliebenen hohen
trocknen Fahne kniſternd überweht . Die Meilenfläche des Sees
wirklich heute in ihrem harten Blau blumenhaft klein . Drüben
ein langer , grellgelber Streifen Sandufer feſt auf dem Blau
wie mit dem Lineal gezogen . Darüber ebenſo ſcharf ein faſt
ſchwarzes Band Kiefernforſt , trotz der grellen Sonne ſo finſter .
Ab und zu nur davor ein zartes roſtrotes Wölkchen : knoſpende
Erlen am Sandhang . Oder ein Fleck blaßgrün , duftig wie
Rauch , — eine Weide , die ſchon Blättchen geſetzt hat . Die
roten Fabrikgebäude der Waſſerwerke am Waldausgang wie
aus einem Kinderbaukaſten . Die Schornſteine geben lange ,
rötlich zitternde Reflexe im Waſſerblau .
Heilige Frühlingsſtille .
Und doch jetzt ein leiſer Ton , luſtig und fern , wie ein
ſilberhelles Glöckchen . Tjäk ! Tjäk ! Jetzt hier wieder , dort ,
antwortend . Tätterättätätt . Siehſt du die Punkte dort im
See ? Dein Auge gewöhnt ſich langſam an das blinkende
Metallblau , unterſcheidet . Hier ſind zwei größere , ganz nah .
Sie ſteuern unmittelbar aus dem dürren Schilf in die offene
Fläche hinein . Schwarze Teichhühner . Die weißen Schnäbelchen
blinken . Es iſt ihre Liebeszeit . Streng Paar um Paar kommen
ſie aus dem Schilf . Selig in die große Bläue hinein , auf
der die Sonne tanzt .
Ein unendliches wohliges Brautbett ungezählter Vögelchen ,
dieſer Frühlingsſee .
Du ſiehſt nur noch die Nachzügler abfahren . Draußen
auf der hohen Fläche muß es ſchon wimmeln von Liebes¬
pärchen . Siehſt du die endloſe Punktreihe dort : Wildgänſe ,
eine Unmenge , die dazwiſchen in geſchloſſener Kolonne fiſchen .
Ein Boot ſcheucht ſie für einen Moment auf , wie eine wirbelnde
Rauchſäule ſchatten ſie nach beiden Seiten des Sees ab , und
trotz der Entfernung kommt ein leiſes Geklapper ihrer Schnatter¬
ſtimmen zu dir wie von raſſelnd gerückten Kaffeetaſſen in einem
Reſtaurant .
Dann wieder alles ſtill .
Am Schilf blitzt es , weiß wie wenn Seeroſen ſich gelöſt
hätten und langſam dahin trieben . Aber es giebt noch keine
um dieſe Zeit . Ein neues Geſchwader Vögel rückt den Teich¬
hühnern nach . Größere Geſellen , die Bruſt weiß , die Flanke
rötlich , der Kopf ſteil herauf wie ein züngelndes Natterhaupt ,
oben daran etwas wie ein kleines Kapothütchen , das unter der
Kehle eine Schleife ſchlägt . Es iſt die ſteife Federkrauſe , die
den Haubenſteißfuß , den König alles Waſſergevögels hier an
Schönheit und ſtolzer Haltung , kennzeichnet . Auch die Hauben¬
ſteißfüße haben Brauttag . Siehſt du das Pärchen dort , dicht
nebeneinander , treue Hochzeiter die beiden , die es ernſt meinen .
Bisweilen heben ſie ſich zugleich , girrend , die weißen Bäuche
eng aneinander geſchmiegt , faſt in voller aufrechter Größe aus
der Flut , — ihre ſüßeſte Liebesſtellung . Ein zweites Paar
nähert ſich . Das ſind aber keine Brautleute . Zwei ruppige
Junggeſellen , noch ziemliche Grünſchnäbel , die herumflanieren ,
ob der Mai ihnen nicht auch was Weibliches beſcherte . Einſt¬
weilen auf der Suche halten ſie mit Strolchtreue eng zuſammen .
Vielleicht daß ſich irgend eine ehrſame Frau noch abſpenſtig
machen läßt . Sie kommen auf gut Glück dem liebenden Paar
dort verdächtig nahe . Hei , wie der Herr im Recht plötzlich
ausſchlägt . Erſt wird der eine Rivale hitzig verfolgt , dann
der andere . Gegen beide geht 's ſo energiſch los , daß ſie kopf¬
über untertauchen . Das Weib bleibt ruhig . Der Stärkere wird
ſchon ſiegen . Logik der Weibertreue . Aber — das Feld iſt
wieder rein , und zärtlich ſchwimmt Gattin mit Gatte dem hohen
Seeſpiegel zu . Weit drüben ſind auch die verwegenen Grün¬
ſchnäbel wieder aufgetaucht und haben ſich neu zuſammen¬
gefunden . Abgeblitzt , wie ſie ſind , ſteuern auch ſie in weitem
Bogen an den andern vorbei in den hellen Glaſt , wo der
Blick ſie verliert , — auf neue Abenteuer mit einem ſchwächeren
Ehemann .
Frühling , Liebesleben überall .
Dicht neben dir hier am Ufer murkſt es auch leiſe , nicht
einzelne Töne , ſondern ein unabläſſiger einheitlicher Murmel¬
ton . Auch das von Liebe . Ein Tümpelchen Waſſer hat der
See , im Vor-Frühling übertretend , hier zurückgelaſſen . Siehſt
du die weißen Knöſpchen in dem ſeichten dunkeln Spiegel ?
Es ſind die Murmeler . Jedes iſt die weiße Kehle einer jungen
Knoblauchskröte , die gerade nur ſo weit aus dem Waſſer ragt .
Ab und zu blitzt eine neue dazu , ein ſchnelles Verſchieben , wie
wenn Waſſertropfen an einer Leiſte zuſammenſchießen . Dann
iſt die Reihe wieder feſt und quarrt einheitlich immer halb¬
laut ſo fort . Sie ſingen nicht bloß . Viele ſind , obwohl reg¬
los , im luſtigſten heimlichen Liebesſpiele , Männchen halten
Weibchen in der Reihe von hinten her feſt umfaßt . Doch
alles gemütlich , ein Idyll der Kleinen , denen dieſe Spanne
Tümpelwaſſer genau ſo gut iſt wie den Vögeln der ganze
blaue See . Bachſtelzen wippen wie Elfchen um den Tümpel ,
natürlich auch verliebt . Im Walde jubelt ein liebesfroher
Grünſpecht .
Und die Sonne glüht und glüht herab , glüht in all dieſe
Liebe hinein .
Ein Strom von Licht und Wärme aus fernen Welten ,
einen Strom von Liebe löſend auf dem alten Erdplaneten .
Jeder dieſer Lichtſtrahlen , die auf dem kleinen Krötentümpel
blitzen , iſt zwanzig Millionen Meilen gewandert durch den
eiſigen Raum . Und löſt nun hier die Liebe dieſer Vögel und
Kröten aus wie ein glühendes , berauſchendes Weltallsbad .
Tauſend und tauſend junger Vögelein und Krötlein ſteigen
neu gezeugt aus dem Lichtbad ſolchen Sonnentages wie heute ,
auf jede Meile Lichtbahn ein Seelchen , das dieſes Lichtes ſich
ſelber wieder freuen wird .....
Der Schilfkranz öffnet ſich zu einer verſchwiegen lieb¬
lichen Badeſtelle . Im Sommer , wenn das grüne Schilf wie
eine Mauer ſteht , hat mancher Kahn , im Schilflabyrinth ge¬
ſchickt geſteuert , hier ſchon in warmer Dämmerſtunde angelegt
und auch menſchlichen Liebespärchen einen Strand der Seligen
gewieſen , den vom See her kein profanes Auge gewahren
kann . Nach dem Lande deckt wie eine zweite Schutzwand der
rote Säulentempel des Kiefernwaldes , deſſen Wurzeln wie
Guirlanden aus dem gelben Sandſturz drängen . Jetzt iſt die
Schilfſeite noch offen . Aber das Waſſer ſchmiegt ſich ſchon ſo
weich an den Sand , glimmernd im eigenen Sonnenbad . In
der Seetiefe iſt es wohl noch von herber Frühlingskälte . Aber
die Oberfläche iſt ſchon warm . Es liegt Verjüngungskraft in
ſolchem Frühlingswaſſer , — auch für dich . Wirf deine Kleider
von dir und tauche hinein . Nun biſt du ſelbſt mit deinem
weißen Leibe eine Silberblüte im blauen Walpurgisſee wie
die ſchneeigen Brüſte der Haubenſteißfüße und die ſingenden
Kehlchen der kleinen Kröten .
Jetzt habe ich dich , wo ich dich haben will .
Dein nackter Leib iſt der Bettler auf der Märchenbrücke .
Der Weiſe , der dich lehren ſoll .
D ein weiſer Leib .
„ Es iſt mehr Vernunft in deinem Leibe als in deiner
beſten Weisheit “ , hat Nietzſche einmal geſagt . Ich weiß bei
Nietzſche nicht , ob er ſich dasſelbe oder auch nur etwas Ähn¬
liches dabei gedacht hat , wie ich jetzt denke . Aber das Wort
iſt trefflich und giebt thatſächlich genau , was ich meine . Haſt
du ſchon einmal ernſtlich in deinem Leben darüber nachgedacht ,
in wieviel Punkten dein Leib mehr weiß als dein bewußter
Geiſt ?
Dein Geiſt mag unendliche Gebiete um dich her beherrſchen .
Sei ein König , deſſen Willen über Millionen verfügt , deſſen
Wort Reiche vergiebt und die Weltgeſchichte macht . Dieſer
König wüßte ſein eigenes Herz nicht klopfen zu machen , wenn
es das Herz nicht von ſelber thäte . Wie Sancho Panza würde
er vor einer Schlemmertafel voll Kapaunen und Hummerſalat
elendiglich verhungern , wenn ſein Verdauungsapparat nicht ge¬
nau wüßte , wie man dieſe guten Sachen wirklich dem Körper
zuführt . Der Gedanke klingt trivial und doch iſt er von gar
nicht abzumeſſender Tragweite .
Wie dein nackter weißer Leib jetzt hier in dem jungen
Graſe liegt und ſich von der Goldſonne wieder durchwärmen
läßt , ſieht er nicht nach Alter aus . Dein Geiſt mit ſeinem
Grübeln ſcheint dir eher ſchon etwas grau . Und doch iſt es
genau umgekehrt .
Dein Geiſt iſt in Wahrheit nur die paar Jahre alt .
Einſam , jung , friſch , naiv ſteht er da . Wie ein ganz unbeſchriebenes
Blatt iſt er plötzlich aufgetaucht . Jetzt iſt einiges wohl auch
auf dieſes Blatt ſchon geſchrieben : die Erfahrungen von ein
paar Jahren , etwas erlernte Geſchichte , die einen kleinen Hori¬
zont weiter rückwärts giebt . Aber im Grunde iſt 's doch ein
Jüngling , ja ein Kind . Vielleicht iſt es das Geheimnis unſerer
menſchlichen Bewußtheit und wachſenden Individualität , daß
der Geiſt immer naiv und frei wieder geboren wird als dieſes
unbeſchriebene Blatt , als das ewige Weltenkind . Vielleicht
iſt die weiße Fläche dieſes Blattes die wahre Fläche der Ent¬
wickelung , die immer wieder weiß ſein muß in dem Geſamt¬
organismus Menſch , damit ſich auf ihr wirklich Neues ab¬
präge . Auf alle Fälle aber : gegen dieſen deinen Geiſt iſt
dein Leib uralt . Ein eisgrauer Heiliger , in dem das Erinnern
an Urälteſtes nie erſtorben iſt .
Bedenke , was dieſer Leib alles ſchon vollbracht hatte , ehe
auch nur die erſte winzigſte Erinnerungsſchrift auf jenes weiße
Bewußtſeinsfeld bei dir kam . Im Leibe deiner Mutter hat
er ſich ſelber aufgebaut . Die wunderbarſten Leiſtungen waren
dazu nötig . Zuerſt mußten die beiden Grundſteine ſeines
Baues dort überhaupt zuſammen kommen : Samenzelle und Ei¬
zelle . Sie waren ja urſprünglich über zwei andere Menſchen¬
weſen verteilt : die Samenzelle bei dem Vater , die Eizelle bei
der Mutter . So mußten ſie erſt dort , jeder für ſich , eine
Rolle ſpielen . Durch höchſt geheimnisvolle , aber unbedingt
vorhandene Wirkungen mußten ſie in den beiden Körpern dort
das hervorbringen , was wir geſchlechtliche Erregung nennen .
In einem höchſten Steigerungsmoment , da jene beiden Körper
ausſchließlich ſich dieſer Erregung hingaben — alſo gradezu
als Ganzes vorübergehend in den Dienſt und die Gefolgſchaft
des Willens jener beiden Zeugungszellen traten — in einem
ſolchen Moment iſt die wirkliche Vereinigung erfolgt . Einmal
beide im gleichen Mutterleibe , haben die zwei Zellen jetzt jenes
verwickelte Schauſpiel ihrer engeren Liebesverbindung und
Verſchmelzung aufgeführt , das ich dir früher einmal erzählt
habe . Erſt dann ſind ſie dazu übergegangen , zu deinem Leibe
im engeren Sinne ſich zu geſtalten . Durch eine Art eigener
Vermehrung , aber ungeſchlechtlicher Art , indem ſie aus ſich
ſelber immer neue Zellen haben hervorgehen laſſen . Dieſe
Zellen haben ſich geordnet , zu einander gelagert , zunächſt ſo ,
daß etwas wie ein allgemeiner Grundriß entſtand deines Körpers ,
dann gleichſam Zimmer um Zimmer , Korridor um Korridor ,
Treppe um Treppe .
Denke dir , der größte Bewußtſeins-Genius der Menſchheit ,
Spinoza oder Goethe oder Darwin , einerlei , wen du nimmſt :
er ſollte vor dieſe Aufgabe geſtellt worden ſein , einen rohen
Zellenhaufen Stück für Stück ſo aneinander zu ſetzen , daß ein
Menſchenleib entſtünde . Unmöglich . Selbſt der raffinierteſte
Anatom von heute könnte es auch noch nicht annähernd .
Und doch müſſen dieſe bauenden Körperteilchen ſelbſt , die
Zellen da im Mutterleibe , thatſächlich die Sache verſtehen .
Sie wiſſen ganz zweifellos , wie man eine Niere , ein Rücken¬
mark , eine Leber ſo baut , daß ſie hinterher viele Jahre lang
ihren Dienſt thut in einer Arbeitsteilung , vor deren Verwickelung
dem Beſchauer ſchwindelt .
Sie müſſen ſogar nicht bloß unmittelbar wiſſen , wie ein
Menſch bis in jedes mikroſkopiſche Detail beſchaffen ſein muß ,
— dieſe Körper-Bauzellen . Du erinnerſt dich , wie ich dir
früher von dem höchſt ſeltſamen Geſetz erzählt habe , das bei
dieſem Aufbau des Leibes im Mutterleibe ſeine Rolle noch be¬
ſonders zu ſpielen ſcheint . Man hat es das biogenetiſche
Grundgeſetz genannt und es beſagt in dieſem Falle , daß der
Keim oder Embryo da im Mutterleibe nicht ſofort Menſchen¬
geſtalt annimmt , ſondern gewiſſe einfachere Formen zuerſt zeigt ,
die an beſtimmte Tiere erinnern , — Tiere , von denen wir
vermuten , daß ſie im Sinne Darwins die Vorfahren des
Menſchen in der alten geſchichtlichen Entwickelung geweſen
ſind . So entſpricht eine Stufe des Embryo etwa dem Wurm ,
eine andere hat Kiemen wie ein Fiſch , und was der Sonder¬
barkeiten mehr ſind .
Hier ſetzt alſo ein noch verwickelteres Wiſſen deiner
bauenden Zellen ein .
Sie wiſſen Dinge aus der Urwelt . Die zum Teil viele
Millionen Jahre weit hinter der ganzen Menſchheit zurück¬
liegen . Sie wiſſen , daß einmal der „ Menſch “ noch in einem Tier
ſteckte , das hinten einen langen Schwanz trug ; oder das im
Waſſer lebte und mit Kiemen atmete ; oder das ſtatt einer
feſten Wirbelſäule erſt einen dünnen Knorpelſtab im Rücken
trug . Das alles wiſſen deine Zellen offenbar noch ſo genau ,
daß ſie bei ihrem Bau dem geradezu noch Rechnung tragen
und ihren Grundriß ſo einrichten , daß erſt von dem Alten
allerlei noch ſichtbar wird , ehe der echte Menſch herauskommt .
Sie erinnern ſich , — erinnern ſich an Dinge , die einem Welt¬
denker wie Spinoza oder Kant in den ganzen Jahren ſeines
Denkerlebens unmöglich je aus ſich eingefallen wären und von
denen auch thatſächlich weder Spinoza noch Kant zu ihrer Zeit
ein Sterbenswörtchen gewußt haben .
Vielleicht ſtößt du dich noch an den Ausdrücken wie
„ Wiſſen “ oder „ Erinnern “ . Du willſt ſo was den Zellen
deines Leibes nicht zugeſtehen . Es ſoll da alles in einem
einfachen Druck beſtimmter Naturgeſetze , alſo rein mechaniſch ,
vor ſich gehen . Aber es iſt mit dieſen ganzen Worten ſo eine
Sache . Du magſt dir über Seeliſch und Mechaniſch eine Vor¬
ſtellung machen wie du willſt . Leugnen läßt ſich unmöglich ,
daß in jeder Zelle deines Leibes , ſitze ſie nun in deiner Leber
oder in deinem Darm oder in deinen Geſchlechtsteilen , auch
etwas ſitzt , was du als Seeliſch bezeichnen mußt . Der Be¬
griff einer Zell-Seele iſt kein Märchen , ſondern ein ſehr ſcharfer
Denkſchluß . Es muß etwas derart geben . Jede Zelle hat ihre
Individualität und die erſcheint , von ſich ſelbſt aus genommen ,
als ihre Seele . Wenn ich nun ſolche Zellen ein beſtimmtes
Gebäude , den Kindesleib , im Mutterleibe aufführen ſehe mit
einer Folgerichtigkeit , wie beſſer keine Schar menſchlicher Bau¬
arbeiter einen vorgeſchriebenen Plan in That umſetzen könnten ,
ſo ſteht meines Erachtens nicht das Mindeſte im Wege , im
Hinblick auf jene Zellſeele zu ſagen : jede dieſer Zellen weiß ,
was ſie zu thun hat . Und wenn im Sinne jenes biogenetiſchen
Grundgeſetzes unter dieſen Leiſtungen ſolche vorkommen , wo
es ſich um Wiederholung von Dingen handelt , die vor Millionen
von Jahren ſchon paſſiert ſind , ſo kann ich ebenſo auch ſagen :
die Zellen erinnern ſich . Ins innerſte Gewebe dieſer Dinge
hinein ſieht doch vorläufig kein Menſch . Mechaniſch und Seeliſch ,
das ſind alles nur ſo taſtende Worte wie Schneckenfühler ins
Unbekannte . Der Materialiſt wird dir ſagen : auch unſer
menſchlich-bewußtes Geſamtwiſſen und Erinnern , wie du es
als „ Geiſt “ haſt , geht auf Mechaniſches zurück . Umgekehrt
wird es verflixt ſchwer ſein , einen Menſchen zu widerlegen ,
der etwa von der Erde , wenn ſie mit ihrer Hunderttauſend¬
trillionenzentner-Schwere den Mond anzieht , ſagen wollte : die
Erde „ weiß “ , wie man das macht , den Mond an ſich zu feſſeln .
Das Wiſſen wäre eben nur der ſeeliſche Ausdruck für ganz
genau dieſelbe Leiſtung , die mechaniſch in jener Ziffer als
Gravitationsgeſetz ausgedrückt wird . Notabene von uns Menſchen
ausgedrückt , die alle dieſe Begriffe ja erſt erzeugen , um den
Dingen mit irgend einer Hilfskonſtruktion auf den Leib zu
rücken .
Doch dieſe ganzen begrifflichen Sachen , ſo hübſch ſie ſind ,
führen uns hier vom Hundertſten ins Tauſendſte . Laſſen wir
das lieber jetzt .
Beſchränken wir uns : die Zellen deines Leibes thun
allerlei jedenfalls , das du mit deinem konventionell ſo genannten
Geiſt da oben unbedingt nicht gekonnt hätteſt . Wollen wir das
ſeeliſch als ein Wiſſen , Erinnern u. ſ. w. dieſer Zellen bezeichnen ,
ſo handelt es ſich auf alle Fälle um ein Wiſſen und Erinnern ,
das mit deinem Geſamt-Geiſte da oben zunächſt nicht in Ver¬
bindung ſteht . Und das ſoll das Wort bloß ausdrücken : dein
Leib iſt in dieſen beſtimmten Punkten weiſer als du .
Gehen wir den Thatſachen noch ein Stückchen weiter nach .
Bleiben wir in der Linie der engeren Liebes -Thatſachen .
In deinem Geiſte ſpukt die Liebe und baut Himmel und
Höllen auf . Aber nun dein weiſer Leib . Was wärſt du ,
wenn du ſelber in die Liebesjahre kommſt , ohne den . Über¬
lege dir . Ohne Prüderie , die in dieſe heiligſten Dinge wahr¬
haftig nicht gehört . Ganz nüchtern ernſt .
Dein Leib weiß zu ſeiner Reifezeit um die Geſchlechts¬
funktionen ganz genau — und ſei dein Geiſt auf ſeinem mit¬
bekommenen weißen Blatte auch noch ſo unbeſchrieben nach
dieſer Seite .
Nimm an , du biſt als geſchlechtsunreifes Kind auf jenen
weltverlaſſenen Felſen verſchlagen , den Chamiſſos Lied feiert :
Salas y Gomez. Einſam . Kein Menſch außer dem armen
ſchiffbrüchigen Kinde . Nur blaues Meer ringsum . Und See¬
vögel auf der Klippe , die Eier legen . Der Erhaltungsſinn
des Kindes ſoll gerade ſchon ſo weit entwickelt ſein , daß es
4
Regenwaſſer aus einer Mulde im Geſtein trinkt und mit Eiern
ſich ſelbſt ernähren kann . Nun laß dieſen Robinſon in die
Jahre kommen . Wenn er ein Mann iſt , hat er nie vom
Myſterium des Weibes gehört . Und umgekehrt als Weib nie
von dem des Mannes . Die Tafel ſeines Geiſtes liegt hier
abſolut leer . Keiner iſt da , ſie zu beſchreiben . Und doch :
auf dieſem einſamen Ozeanseiland weiß einer von Liebesdingen .
Sein Leib .
Er weiß davon , — nicht aus Wort und Schrift und An¬
blick . In uralter dunkler Tradition , die den unmittelbaren
Weg durch die Leiberfolge der Geſchlechter gegangen iſt , weiß
er davon . Seine Zellen , die einſt ſich ſelber zu dieſem Leibe
geordnet und bei dieſer Ordnung auch die Geſchlechtsteile an¬
gelegt haben , lange , lange ehe an irgend eine wirkliche Ver¬
wertung dieſer Teile zu denken war : ſie wiſſen noch ein ganzes
Stück auch weiter den Weg .
Iſt das einſame Kind ein Mädchen , ſo erfolgt in gewiſſer
Reife der Jahre , ſagen wir etwa nach deutſchen Verhältniſſen
mit dem vierzehnten Jahre , ein innerlicher Akt zum erſtenmal ,
der mit dem eigentlichen Bewußtſein dieſes Mädchens ſchlechter¬
dings gar nichts zu thun hat , ſondern ihm ſelber wie aus einer
fremden Welt zu kommen ſcheint . Die Pforte des Leibes , die
bisher nur der Harn-Entleerung diente , ſondert plötzlich Blut
ab . Dieſe Blutabſonderung ſteht aber in einem tiefen Zu¬
ſammenhang mit einer innerlichen Geſchlechtshandlung des Leibes ,
die gleichſam nur durch ſie als äußerliches Merkmal ange¬
deutet wird .
An einem der beiden Eierſtöcke iſt eine kleine Fruchtkapſel
geplatzt und hat einem winzigen Menſchenei freie Bahn gegeben .
Dieſes Ei iſt darauf langſam durch den Verbindungskanal zur
Gebärmutter befördert worden . Dort iſt die das Innere aus¬
tapezierende Schleimhaut in eine Art Entzündung geraten und
das Ergebnis dieſer Entzündung iſt jene Blutabſonderung , die
durch die äußere Pforte ſchließlich ſichtbar abläuft .
Dieſe ganze Loslöſung und innere Wanderung des Eies
iſt aber durchaus eine aktive Geſchlechtshandlung des Leibes .
Er „ weiß “ , um das Wörtchen noch einmal ſo anzubringen ,
daß von außen die Samentierchen gegen die Gebärmutter vor¬
dringen werden . Weiß , daß der Ort , wo die Entwickelung
des befruchteten Eies am beſten vor ſich geht , die Gebärmutter
iſt . Weiß , daß in der geſchloſſenen Blaſe am Eierſtock ( dem
ſogenannten Follikel ) , in dem das Ei zunächſt ſteckt , eine Be¬
fruchtung nicht möglich iſt . Daher alſo das Entgegenkommen .
Wenn das Mädchen wirklich Einſiedlerin iſt , wird ja alles Ent¬
gegenkommen thatſächlich umſonſt ſein . Die Samenzellen werden
ſich nicht einfinden , ob auch allmonatlich mindeſtens eine har¬
rende Eizelle ihnen entgegen in die Gebärmutter wandere .
Aber auch ſo : welche Weisheit der Zellen tief da drinnen im
Geſchlechtsapparat gegenüber dem Wiſſen dieſes ganzen Mädchens ,
das weder weiß , was dieſer monatliche Bluterguß überhaupt
bedeute , noch in ſeiner Einſiedelei jemals aus ſich ſelbſt geiſtig
auch nur darauf kommen wird , was für ein Unterſchied zwiſchen
Mann und Weib beſteht und was ein Geſchlechtsakt ſein kann !
Haben wir doch hinſichtlich der Blutung ſelbſt bei uns unter
Verhältniſſen , die gar nichts mit Salas y Gomez zu thun haben ,
Mädchen und Frauen zu tauſenden und abertauſenden , die in
ihrem ganzen Leben ſich nie darüber unterrichtet haben , was
dieſe Erſcheinung ſoll . Sie nehmen ſie wie eine häßliche Zu¬
fallsgabe , die das Schickſal mit dem edlen Begriffe Weib ver¬
knüpft hat . Und ahnen nie , wie ſie gerade mit dieſem Prozeß
weit überflügelt werden durch die Weisheit ihres Leibes , ohne
die das Menſchengeſchlecht längſt elendiglich ausgeſtorben wäre .
Dieſe rote Welle iſt in der That eine Lebenswelle der Menſchheit .
4 *
Jetzt nimm den umgekehrten Fall . Einen ebenſo einſamen
Knaben , der Mann wird . Auch ihm iſt der Unterſchied der
Geſchlechter geiſtig vollkommen unbekannt geblieben . Das freie
Feld ſeines Bewußtſeins iſt in Hinſicht auf das ganze Geſchlechts¬
leben wirklich vollſtändig weiß geblieben . Er hat nicht die
geringſte Ahnung davon , daß es Weſen gebe , deren Leibes¬
apparat in beſtimmter Hinſicht anders gebaut ſein könnte als
ſein eigener . Wenn er noch ſo viel grübelt , wird er doch aus
ſeinem Denken heraus ſich niemals ein Bild erſchließen können
von dem Körperbau eines Weibes . Er kennt ja nicht einmal
dieſes Zweierlei in klarem Sinne . Und er kennt vollends
nicht die Möglichkeiten , wie die beiden Organiſationen ſich zu
einer Einheit ergänzen können . Merkwürdig genug aber auch
hier : ſein Leib kennt unanzweifelbar alle dieſe Dinge . Seine
Körperzellen haben ſich zunächſt , als ſie ihn überhaupt auf den
„ Mann “ zuſchnitten , ſo geordnet , daß ſich bei ihm das typiſche
Mannesorgan entwickelt hat . Dieſes Mannesorgan wäre voll¬
kommen ſinnlos , wenn es nicht jenem Sachverhalt genau an¬
gemeſſen wäre . Wie beim Weibe bildet es zugleich auch die
Ausgangspforte des Körpers für die Harnſtoffe , alſo Abfall¬
ſtoffe der Ernährung , die einfach entfernt werden müſſen . Nicht
die leiſeſte Urſache läge aus dieſer Harn-Leiſtung heraus vor ,
daß dann nicht eine einfache Pforte hier am Leibe beſtehen
ſollte , genau gleich der weiblichen für denſelben Zweck . Wenn
die bauenden Zellen aber ſtatt deſſen ſchon im Kinde das
Mannesglied angelegt hatten in der allgemein bekannten Form ,
ſo trugen ſie eben nicht dem Harn-Akt , ſondern dem Geſchlechts-
Akt damit vorſchauend Rechnung . Sie legten ein Organ an ,
deſſen Ergänzung die weibliche Scheide war . Das ihr nicht
entſprach im Sinne gleichen Ausſehens , ſondern grade um¬
gekehrt durch eine Verſchiedenheit , die aber doch in Wahrheit
eine äußerſt nützliche logiſche Ergänzung war . Die bauenden
Zellen , die dieſem Organ die Geſtalt eines vorſpringenden ,
keilartig geformten Körpers gaben , bauten unzweideutig mit
Rückſicht auf ein zweites Organ eines anderen Menſchenleibes ,
das eine reine Öffnung darſtellte , in die dieſer keilförmige
Körper paßte .
Der „ weiſe Leib “ weiß aber noch weiter Beſcheid . Zur
wirklichen Geſchlechtsergänzung genügt noch nicht die Exiſtenz
eines äußerlich irgendwie vorſpringenden männlichen Organs .
Dieſes Organ muß eine gewiſſermaßen mathematiſche Einſtellung
erhalten , um den großen und heiligen Zweck erfüllen zu können .
Denken wir uns einen männlichen Körper und einen weiblichen
Körper gegeneinander gekehrt . Sie bilden mathematiſch zwei
Parallelen , die ſich als ſolche nach einem einfachen Lehrſatze
der Mathematik niemals ſchneiden können . Will ich eine Ver¬
bindung zwiſchen ihnen herſtellen , die zugleich die denkbar
kürzeſte ſein ſoll , ſo muß ich von einem Punkte der einen
graden Linie eine Senkrechte fällen auf die parallele andere .
Die Lage dieſer Senkrechten iſt nun unzweifelhaft auch die einzig
zweckentſprechende Situation jenes Organs , das jene beiden
Körper ergänzend miteinander verbinden ſoll . Der „ weiſe
Leib “ überſchaut das vollkommen . Sobald die reifen Jahre
beginnen , dieſelben , da dort bei dem Weibe jene geheimnis¬
volle Wanderung der Eizellen einſetzt , läßt er auf geringe
Reizungen hin ſofort in dem Mannesorgan gewiſſe Blut¬
ſtauungen eintreten . Dieſe Blutſtauungen erfüllen das Zell¬
gewebe des äußeren Organs mit ſtarken Blutmaſſen , die nicht ſo¬
gleich wieder abfließen können . Reſultat iſt ein Anſchwellen des
betreffenden Organs der Art , daß ſein keilförmiger Körper ſich
thatſächlich rechtwinklig zu der graden Linie des Geſamtleibes
einſtellt . Unſerm Einſiedler fehlt natürlich in unſerm Falle
jetzt ebenſo die wirkliche Parallele , das Weib , wie es vorher
bei jener wandernden , die Blutungen verurſachenden Eizelle
der Einſiedlerin der Fall war . Aber die Bedingungen ſind
gleichwohl auch ſo von der Mannesſeite wenigſtens erfüllt im
Sinne eines Wiſſens des Geſamtverlaufs . Und das bei
einem reifen Jüngling , der geiſtig ſelber überhaupt nicht weiß ,
was ein Weib iſt , — geſchweige denn , daß er etwas von
jener Mathematik des Zeugungsaktes verſtehe .
Du kannſt dieſe Gedankengänge noch weit ausſpinnen ,
ſie ergeben alle daſſelbe . Denke an den Zeugungsakt ſelber ,
— wie nicht dein Geiſt und Geiſteswille die Samen¬
zellen im entſcheidendſten Moment wirklich in Aktion bringt ,
ſondern der Leib aus ſeiner Initiative . Erinnere dich , wie
der weibliche Mutterſchoß jetzt in langer Reihe kunſtvollſter
Akte dem wachſenden Keimling ſein verborgenes Bettlein be¬
reitet , wie das Mutterblut ihn tränkt , und wie endlich zur
rechten Stunde der Leib ihn durch preſſende Wehen entläßt , —
alles allein und ohne den Geiſt der Mutter um Rat und
Stunde zu fragen . Erſt von ihm haben die Mütter ſchon
früher Zeiten gelernt und dann durch Tradition weitergegeben ,
daß neun Monate rund nötig ſind für des werdenden Menſch¬
leins Zeit im Mutterleibe , — aus ſich hätten ſie 's wahrlich
nicht gewußt . Noch erlebt die Mutter ein „ Wiſſen “ des Körpers ,
indem ſich dann aus ihren Brüſten die köſtliche Nährſuppe ,
die Milch , abſondert . Dieſe weiße warme Suppe ſelber wie
die natürliche Schüſſel , in der ſie kredenzt wird , ſind genau
gemacht für ein kleines neues Weſen , das ſehr im Gegenſatz zu
allen reif ausgewachſenen Menſchenkindern noch keinen einzigen
Zahn im Munde hat , alſo auf das Saugen von Flüſſigkeit
angewieſen iſt . Eine arme junge Menſchenmutter in der Wildnis ,
die ohne jede Lehre aufgewachſen iſt und nie ein kleines Kind
geſehen hat vor dem Tage , da ſie ſelbſt als unwiſſende Eva
einem das Leben ſchenkt : wie ſollte ſie in ihrem Bewußtſein
je vorher darauf kommen , daß das Zwerglein ihres Schoßes
noch abſolut nichts beſitzt von dem blanken Gebiß , das ſie als
Naturkind ihr eigen nennt , ſo lange ſie ſich erinnern kann !
Dieſes Erinnern hat gerade da den fatalen Riß , wo ihre eigene
Lebensgeſchichte in die erſte Kindheit überlenkt , und ſchwerlich
wird es ihr noch ſagen , daß auch ſie ſelbſt einmal ohne
Zähnchen an einem warmen Mutterbuſen lag und ſaugte .
Der Gipfel des Wunderbaren in dieſem Falle iſt , daß
ſogar dein Mannesleib — und das vollends ohne Zuthun
deines Bewußtſeins — eine dunkle Kenntnis beſitzt jenes
Suppenapparates für den zahnloſen Säugling . Laß deine
Hand über deine nackte Bruſt gleiten . Was fühlſt Du ? Rechts
und links eine Erhöhung , die Bruſtwarze . Sie entſpricht dem
kleinen Saugpfropfen auf jeder Weiberbruſt , den der Säugling
ſo hübſch zu benutzen weiß , wenn die Nährflaſche gefüllt iſt .
Es ſind in alten und neuen Zeiten immer wieder vereinzelte
Fälle beobachtet worden , wo ein Mann nicht nur die Bruſt¬
warzen , ſondern auch den wirklichen Milchapparat in voller
Thätigkeit beſaß und ſein Kind trotz der Mutter ernähren
konnte . Das iſt ja nun offenbar ſeltene Ausnahme ſtatt der
Regel . Aber auf alle Fälle ſitzen die männlichen Bruſtwarzen
da wie ein geheimes Wiſſen , ein geheimes Sicherinnern nun
gar auch des Mannesleibes an jenes Bedürfnis des Neu¬
geborenen — mag es auch ein Wiſſen und Erinnern ſein , das
für gewöhnlich zwecklos geworden iſt . Ich komme auf den
Punkt noch zurück . Denke für jetzt nur noch einmal an jenen
einſiedleriſchen Knaben auf Salas y Gomez , der nie , mit
Bewußtſein von der Exiſtenz von Weibern und Kindern erfährt .
Laß ihn weiſe werden wie Salomo : wie ſollte er wohl je
das dunkle Wiſſen und Deuten ſeines Leibes in dieſen ſeinen
eigenen Bruſtwarzen , die er alle Tage vor Augen ſieht , ver¬
ſtehen lernen ?
Die Beiſpiele genügen , da ſie ja doch alle auf das gleiche
hinauslaufen . Ich denke , du ahnſt jetzt , welcher Weiſe da vor
dir liegt im grünen Uferkraut . Ein Adept , ein Wiſſender , der
dich wirklich wie ein Kind lehren mag .
Es hat lange genug gedauert , bis er zu ſeinem Rechte
als Lehrer kam . Wie hat die Menſchheit in ihrem Denken ſich
herumgeplagt , ſich möglichſt weit von ihm abzukehren ! Ver¬
borgen wurde er wie ein Greuel . Fleiſch und Satan ſind
lange geradezu gleichbedeutende Begriffe geweſen . Der Anachoret
hüllte ſich bis unters Kinn in Kameelshaare und ſtarrte in die
Sterne . Als ob er da oben in etwas anderes geſtarrt hätte
als doch nur wieder in einen Leib , in den Zellenbau eines
Leibes von Fixſternen und Milchſtraßen , der ſeine Weisheit
hat wie ſeiner , der Sonnen aus ſich gebiert wie er Samen¬
zellen ...
So lange der arme Leib ſo ſchlecht behandelt wurde , hat
er trotzig geſchwiegen . Soll er uns Antwort ſtehen , ſo iſt
eine gewiſſe Reinheit in uns , den Fragenden , ſelber dazu nötig .
Wir müſſen , was heute allerdings noch keineswegs leicht fällt ,
uns gewöhnen , den nackten Menſchenleib ſo friedlich und un¬
befangen anzuſehen wie wir etwa eine ſchöne Blume anſchauen .
Im Sinne des Arztes bringen wir das ja ſchon am eheſten
heute fertig . Mit dem Mitleid wird uns alles keuſch . Aber
gerade das langt noch nicht . Wir ſehen doch auch eine Blume
nicht mit Mitleid an , ſondern wir freuen uns ihrer , wenn ſie
erſt recht in Vollkraft der Geſundheit ſteht .
Und doch iſt — grade ſo ein Fingerzeig der Natur —
eine ſolche Blume im ſtrengſten Sinne nicht bloß ein nackter
Leib , ſondern ſie iſt die gefährlichſte Partie dieſes Leibes ,
nämlich ausgeſucht der Geſchlechtsteil .
Ja , dagegen hilft gar nichts . Die glutrote Roſe und das
ſilberne Maiglöckchen , die keuſche Lilie und der brennende Mohn :
ſie alle ſind große , aufdringliche Geſchlechtsteile . Der Griffel
iſt der weibliche Schoß , der der Befruchtung harrt , — der
Staubfaden das Mannesglied , von dem der Samen fällt . Alle
die bunten Farben , der Duft , der Honig ſind Lockmittel für
die Fliegen , Bienen und Schmetterlinge , die ab und zu fliegend
die Begattung vermitteln .
Nimm die kleine , eben aus dem violetten Knöſpchen ent¬
faltete Vergißmeinnichtblüte hier . Sie ſchaut dich an wie ein
liebes taufriſches Mädchenantlitz , ein Zwergenmädchen , auf
einen grünen Stengel verzaubert . Und doch iſt es kein Ge¬
ſicht , du irrſt dich . Es iſt der Liebesſchoß des Pflanzenelfchens .
Der köſtlichſte , heiligſte Teil des ganzen grünen Pflanzenleibes
iſt es . Und auch dieſer kleine Leib iſt ein Wiſſender : ohne
Scheu , in klarer Erkenntnis ſeiner Beſtimmung , reckt er dieſes
wichtigſte Glied am offenſten in die Sonne vor . Das Blau
der weichen Elfenhaut ſoll Inſekten anlocken , daß ſie den Liebes¬
boten ſpielen . Das gelbe Kränzlein , das ſo lieblich in dem
blauen Stern glänzt , wirkt auf das Inſekt wie ein treues
Wirtshausſchild : hier giebt's Honig . Indem das Inſekt den
Honig naſcht , trägt es den Samen auf den Griffel einer Nachbar¬
pflanze . Alles nur Geſchlechtsteile und Geſchlechtsſachen . Jedes
farbenprangende Blumenparkett eine einzige ungeheure An¬
preiſung zahlloſer Geſchlechtsglieder . Geſchlechtsteile ſind die
weißen Myrtenſternchen , die du der Braut ins Haar windeſt .
Ein Geſchlechtsglied iſt die lackrote Nelke deines Knopflochs .
Männliche Geſchlechtsglieder ſind die goldig ſtäubenden Haſel¬
kätzchen , die du als erſte liebe Frühlingsboten dir ins Glas
ſtellſt ; bei dieſen Haſeln ſind die Geſchlechter getrennt : das
Kätzchen iſt bloß Mannesblüte ; am gleichen Zweige aber findeſt
du aus der Spitze brauner Blattknöſpchen auch winzige rote
Federblütchen vorſchauend , — das ſind die Weibesteile , die
ſehnſüchtig den goldenen Lebensſtaub der anderen aufſaugen
und ſo begattet werden .
Und doch , wenn du das alles dir ſagſt , was ändert ſich
im Grunde dir nun an der Schönheit , Reinheit , Lieblichkeit
dieſer bunten Blumenkinder , an der unſchuldige Augen ſich
erfreuen werden , ſolange die Sonne dieſen heiteren Planeten
wärmt und Farben und Düfte kocht in lebendigen Pflanzen¬
zellen ? Ich denke doch , ſie bleiben dir erſt recht ſo lieb wie
zuvor . Bloß daß du jetzt noch ein intimeres Verhältnis zu
ihrem wirklichen Wollen und Mitthun in der Welt gewonnen
haſt . Du haſt einen Schlüſſel zu einer neuen , erweiterten Er¬
zählung ihres lieben Antlitzes gefunden vom Moment ab , da
du weißt , daß dieſes Vergißmeinnicht- oder Myrtenſternchen dir
die Liebesgeſchichte der Pflanze ausplaudert .
Es muß nun möglich ſein , einen ſolchen Blumenſtandpunkt
auch für deinen eigenen Leib zu erringen . Im Moment , wo
du ihn feſt haſt , fängt auch dein Leib an , dir in einer ganz
neuen Weiſe zu erzählen . Seine wunderbarſte Erzählung aber
geht gerade von den Geſchlechtsteilen auch bei ihm aus , —
von ſeiner Blüte .
W as iſt alſo nun der Menſch ? Dein Weiſer giebt dir
eine ſehr ſchlichte , aber ſehr überzeugende Antwort .
Du ſitzeſt auf der Erde und über dir ſind die Sterne .
Im weiteſten Sinne biſt auch du ein ſolcher Weltkörper . Auf
die Größe kommt nichts an . Ein einſames Meteorſplitterchen
im Raum iſt viel kleiner als du und du wirſt es doch nicht
anders bezeichnen können .
Das eigentliche Grundwiſſen deines Leibes ſind allgemeine
Weltkörper-Eigenſchaften . Dein Auge faßt im All das kleine
Lichtpünktchen des Sternes Sirius . Dieſer Sirius iſt viele
Billionen von Meilen von dir entfernt . Wie kommt es , daß
du ihn mit deinem Leibe doch noch gleichſam berühren kannſt ?
Du und der Sirius , ihr ſchwimmt alle beide in dem feinen
Weltenſtoff , den der Phyſiker Äther nennt , wie zwei Fiſche in
demſelben ungeheuren Teich . In dieſem Äther ſchlägt die
koloſſale Flamme jenes glühenden Sirius eigentümliche Wellen¬
kreiſe . Du kennſt die Kreiſe , die in einem gewöhnlichen Waſſer¬
teich entſtehen , wenn ein Stein hineinfällt . Immer einer um
den andern , wobei immer neue Waſſerteilchen in Mitleidenſchaft
gebracht werden , immer weitere , bis zum Ufer , wo der letzte
ſich bricht . So erzeugt auch der Sirius in dem Lichtäther
eigentümliche , wahrſcheinlich elektromagnetiſche Wellen , und in¬
dem ſolche Wellenkreiſe durch die ganzen Billionen von Meilen
Ätherzwiſchenleib zu dir kommen und von deinem Leibe auf¬
gefangen werden , erhältſt du die Erſcheinung des Lichtes . Du
„ ſiehſt “ den Sirius . Es kann aber eben nur geſchehen , weil
du genau ſo wie der Sirius ein Weltkörper innerhalb des
großen Äthermeeres biſt .
Es iſt derſelbe Weg , auf dem du Licht und Wärme von
der Sonne bekommſt , obwohl auch ſie noch zwanzig Millionen
Meilen von dir abſteht . Dein Leib weiß ſehr genau mit dieſem
Sonnenlicht Beſcheid . Wie er hier ſo blütenweiß im Grünen
liegt , erzeugt er dieſe ſeine Farbe durch eigene Leiſtung eben
aus dem Sonnenlicht . Seine Haut wirft das Licht zurück und
erſcheint ſo „ weiß “ . An einigen Stellen wählt ſie aus ihm
( das bekanntlich alle Farben in ſeinem Weiß als Gemiſch enthält )
auch wohl bloß eine einzelne Farbe aus und malt ſie allein
wieder : ſo giebt deine Lippe bloß Rot zurück . Dein ſchwarzes
Haar umgekehrt ſchluckt faſt das ganze Licht . Und die Glas¬
haut deines Auges , bei dem ein Zweck vorliegt , daß möglichſt
ſämtliche Strahlen unbehindert nach dem Innern des Auges
durchpaſſieren , reflektiert weder Licht noch ſchluckt ſie welches ,
ſondern ſie läßt alles glatt durch und erſcheint alſo abſolut
durchſichtig , — „ durchlichtig “ könnte man noch beſſer ſagen .
So weit die uns bekannte Welt reicht , biſt du mit ihr
durch dieſe Äther-Dinge verknüpft : bis zum fernſten Nebelfleck .
Du wüßteſt ja nichts von dieſem Nebelfleck , wenn dein Leib
ſeine Lichtwellen nicht zu parieren und in deinen Beſitz zu
bringen wüßte . Auf dieſem gleichen Äther vollziehen ſich aber
noch mancherlei Sachen mehr , mit denen dein Leib unaus¬
geſetzt zu thun hat . Da kommen jene viel größeren Wellen ,
die wir im engeren Sinne elektriſche nennen , und durchqueren
deinen Körper bald ſo , bald ſo . Wer weiß , was in dieſem
Moment , da der wollüſtig weiche , unbeſchreibliche Zauber der
Frühlingsſonne und Frühlingsluft dich durchſchauert , daß dein
Sein bis in jede Faſer bebt : wer weiß , was da geheimnisvoll
alles an ſolchen und verwandten , ja noch von ganz unbekannten
und unbenannten Wellenzügen des Weltäthers durch dich flutet
und ebbt , Wellenzügen , die auf unbekannten Zentralſonnen an¬
geregt , von Sonnen reflektiert und verſtärkt , von Planeten in
beſonderen Raumlagen und Achſenſtellungen abermals abgelenkt
und umgeformt ſind . Dein Leib hat noch weitere Weltkörper-
Fähigkeiten . Er hängt im Weltennetz der Schwere , der Gra¬
vitation . Springe nur aus einer gewiſſen Höhe herab . Du
brauchſt gar nichts zu wollen und zu denken dabei : er weiß
ganz allein den geradezu mathematiſch genauen Weg . Erſt
Galilei und Newton haben den durch ſchriftliche Tradition
verknüpften Menſchengeiſtern etwas von den Geſetzen des Falles
und der allgemeinen Schwere dargelegt . Die Leiber der
Menſchen aber ſind nach der raffinierteſten Folge dieſer Geſetze
gefallen , ſo lange es Menſchen giebt . Empedokles iſt ſchon
danach in den Ätna gefallen , Marcus Curtius in die berühmte
Erdſpalte zu Rom geſauſt , Fiesko von ſeiner weltgeſchichtlichen
Planke in die ſchwarze See geſtolpert . Immer iſt maßgebend
dabei geweſen , daß der kleine Menſchenleib ſo und ſo viel
Maſſe hat und der enorme Erdenleib ſo viel , und daß die
kleinere Maſſe auf die größere rein automatiſch wie auf Grund
eines uralt eingepaukten Penſums loseilt nach dem durch Newton
feſtgeſtellten „ direkten Verhältnis der Maſſen und dem um¬
gekehrten Quadrat ihrer Entfernung voneinander “ . In dieſem
Sinne biſt du als einzelner Menſch thatſächlich nichts anderes
als ein kleines Weltkörperchen , das infolge der Schwerkraft
ein kleines Trabantchen , ein kleiner magerer Mond gewiſſer¬
maßen des ungeheuren fetten Erdkörpers iſt . Er ſauſt nicht
mit der Schnelligkeit des anderen großen Mondes hoch oben
im Blau um die Erde herum , in ſchwindelnder Balance ge¬
halten durch den eigenen Schwung . In kleinen Bewegungen
krebſt er dicht an der harten Erdkruſte ſelbſt äußerſt langſam
dahin , und erſt ſeit nicht ganz vierhundert Jahren iſt es
einigen wenigen dieſer Möndlein ab und zu geglückt , unter
vielen Fährlichkeiten und immerzu dicht an der Erd- und
Waſſerſcholle um den ganzen Planetenbauch einmal „ welt¬
umſegelnd “ ſo herumzukommen , wie es uns in freier Äther¬
höhe der große Mond allmonatlich einmal wie eine ſelbſt¬
verſtändliche Promenade vormacht .
Dieſe allgemeine Lehre , womit der Leib dich dir als
Weltkörper bei Nebelflecken , Sonnen und Monden zu erkennen
giebt , iſt ja nun ſchon recht intereſſant . Der Leib ſpezialiſiert
aber ſofort ein Stück weiter .
Das Weltkörperchen , das du darſtellſt , nimmt ganz un¬
verkennbar eine beſtimmte Stelle ein in einer gewiſſen Reihen¬
folge der Weltſtoff-Gebilde . Dein Leib hat ſich ſchon im
Mutterleibe aus ganz beſtimmten Stoffen aufgebaut und ergänzt
ſich fort und fort durch ähnliche Stoffe . Dieſe Stoffwahl aber
giebt dir in jener Reihe deinen Rang . Du biſt kein Nebel¬
fleck , der bloß aus zwei oder drei Stoffen , hauptſächlich Waſſer¬
ſtoff , in loſeſter Gasform beſteht . Gegen den gehalten ſtehſt
du etwa der Sonne ſchon ſehr viel näher . Die beſteht ſchon
aus ſo und ſo viel wohlgeſonderten Elementen , einer ganzen
Tabelle . Aber auch dieſer Sonne fehlt noch viel , um dir
ganz auf den Leib zu kommen . Die Stoffe auf ihr befinden
ſich ſämtlich noch in einem furchtbaren Glutzuſtand , innen eine
einheitlich weißglühende Bombe und um dieſe Weißglut wogend
bunte Schleier von Metalldämpfen . Dieſe Glut iſt ſo gewaltig ,
daß chemiſche Verbindungen zwiſchen den einzelnen Elementen ,
wie es ſcheint , überhaupt noch ganz ausgeſchloſſen ſind . Solche
Verbindungen ſind aber der wahre Bauſtein deines Leibes ,
mit dem er ſo gut wie ganz arbeitet .
Man muß ſich bloß an die ſimpelſte aller ſolcher Ver¬
bindungen erinnern , die berühmte H 2 O , wie der Chemiker ſagt :
zwei Teile Waſſerſtoff und ein Teil Sauerſtoff zum Rezept
„ Waſſer “ verbunden . Was ſollte dein Leib anfangen ohne
Waſſer ? Es iſt nicht nur eines ſeiner wichtigſten Nahrungs¬
mittel , ſondern geradezu der Hauptbeſtand ſeines ganzen Ge¬
bäudes . Ein großes Venedig iſt alle feſte Subſtanz in uns ,
vom Waſſer umſpült , auf dem Waſſer ſchwebend . Das neu¬
geborene Kind beſteht zu ſechsundſechzig Prozent aus Waſſer ,
der Erwachſene immer noch aus achtundfünfzig Prozent .
Selbſt deine ſoliden Knochen haben noch zwölf Prozent Waſſer¬
gehalt , dein denkendes Gehirn hat fünfundſiebzig , dein Blut
gar dreiundachzig . In dem ganzen Sonnenball mit ſeinen ein¬
undeindrittel Millionen Kilometern Durchmeſſer findet ſich aber
kein kleinſtes Fleckchen , wo auch nur ein einziges Tröpflein
Waſſer ſich bilden könnte . Alſo Sonne biſt du auch nicht .
Du gehörſt nochmals eine Weltenſtufe weiter in die Region der
ſchon beträchtlich viel Abgekühlteren , — der Planeten .
Wo die Temperatur bis auf eine gewiſſe , mäßige Wohlig¬
keit heruntergeht , — wo das Eiſen hart wird und an ſeiner
harten Rinde mit dem Sauerſtoff chemiſche Liebeleien anzu¬
bändeln beginnt , daß eine rote Roſtkruſte auf ihm entſteht , —
wo die wilden Luftgeiſter Waſſerſtoff und Sauerſtoff ſich eben¬
falls in Liebe gatten und als wunderbares taufriſches Waſſer¬
kind auf einmal einen blauen Himmelsbogen über das Gefilde
ſpannen , von dem es in Tropfen fällt , die ſich unten zu ſozialen
Genoſſenſchaften , Quellen , Seen , Ozeanen , vereinigen : — da
iſt das geheimnisvollſte aller bekannten Weltkörperchen erſt da¬
heim : der Menſch .
Aber auch auf dem Erdplaneten hat er noch wieder ſeinen
beſonderen Fleck . Denke dich hinaus in den einſamen ſonnen¬
blauen Ozean . Vulkaniſche Kräfte haben in der Tiefe des
Grundbodens gewühlt . Eine Weile kochte das Waſſer an be¬
ſtimmtem Fleck weiß brodelnd auf , eine Dampfſäule ſtand wie
ein Warnungsſignal darüber , Bimsſteinmaſſen ſchwammen wie
verglaſter Schaum in breiten Feldern nach allen Seiten ab .
Dann , auf einmal , an einem Morgen , da der Dampf ſich zum
erſten Mal verzieht , liegt es da : ein ſchwarzer Fels , der die
Flut überragt und die langen Ozeanswellen zu weißer Giſcht
bricht . Eine Spalte der Erdrinde hatte ſich gebildet , durch
irgendwelche Maſſenverſchiebungen . Stoffe der Geſteins-Tiefe
ſind jäh entlaſtet worden , ſind emporgequollen , haben den Tiefſee-
Schlamm durchbrochen , haben ſich ziſchend im Waſſer aufein¬
ander getürmt , immer höher , bis zum Spiegel herauf , ſind zu¬
gleich in der Flut erkaltet , erſtarrt .... eine neue Inſel ſteht
da . Nackt und bloß zunächſt . Gott zeigt ſich nicht , um auf
ihr etwas zu ſchaffen . Aber die ſchon vorhandene Natur hilft
ſelber weiter , wenn auch mit etwas Zeit .
Ganz allmählich ſtellt ſich auf dem Stückchen Fels jene
Erſcheinung des Erdplaneten ein , die wir im gewöhnlichen
Brauch „ Leben “ nennen .
Mit dem Hauch der Luft herangeweht erſcheinen jene
unſichtbar Allgegenwärtigen , die Bakterien , auch Bazillen genannt .
Sie , die im Tropenbrand leben wie am äußerſten Polarpunkt
Nanſens , — die Anſpruchsloſen , die auf dem nackteſten Fels
der Urerde , den noch kein Stäubchen Humus bedeckte , ſchon
hätten gedeihen können , die , wenn es not thut , Schwefelwaſſer¬
ſtoff atmen , der allem übrigen Leben ein Gift und Greuel iſt ,
die im buchſtäblichen Sinn Steine als Brod freſſen . Aber mit
der Welle kommt auch die Muſchelſchale , die ans Land treibt ,
es kommt die ſchwerfällige Schildkröte , die hier ihre Eier ab¬
legt , Robben wälzen ihren ungeſchlachten Leib herauf , um in
der verſchwiegenen Stille dieſes Strandes ihre Liebesabenteuer
auszufechten . Mit der Luft kommen kreiſchende Seevögel , die
den Felsgipfel mit Guano bepudern wie mit Schnee , und ein
windverwehtes Käferlein , das ſich eilig in dieſen Miſt gräbt
und ſeine Eier hineinlegt . Ein Sturm verrauſcht über Nacht ,
und als es Morgen wird , hat er vom nächſten Koralleneiland
tief unter dem Horizont glücklich eine Kokosnuß auf ſeinen
Wellenroſſen herüber verfrachtet . Ihr ſolider Bau hat ſie vor
dem Salzwaſſer geſchützt . Jetzt erhebt ſich alsbald auch jenes
ſeltſame organiſche Weſen hier , das wir Pflanze nennen , mit
einer Wurzel abwärts ins Erdreich gebohrt , mit einem Stamm
aufrecht gegen das Licht orientiert ; auf dieſem Stamm ſchwankt
ein Strauß grüner Blätter , die das Sonnenlicht trinken und
verdauen wie ein himmliſches Manna , das ihnen jeder liebe
Tag von neuem giebt .
Da haſt du nun alle die großen Reiche der Erdnatur
beiſammen . Hier Mineralreich , den Fels in ſeiner Welle , und
dort das ſogenannte Leben . Und dieſes Leben wieder für ſich
geſondert in das Bakterium , die Pflanze und das Tier . Wohin
gehörſt du enger , wenn du dich im Geiſte auf dieſe hübſche neue
Schöpfungsinſel ſtellſt ? Dein Leib antwortet ſogleich ganz feſt .
Gegen die glutſchwellende Sonne da oben gehalten , gehörſt
du enger zum erſtarrten Lavafels und zur kühlen blauen Welle .
Aber auf dieſem Fels gehörſt du in nochmals ſcharfer Scheidung
zu jenen Gebilden des ſogenannt Lebendigen . Dein Leib hat
eine Weisheit , die der Lavablock da im Ozean niemals hätte ,
— eben die beſondere Weisheit und Erfahrung des Organiſch-
Lebendigen . Aber wie die Wege ſich in dieſem hier alsbald
dreifach teilten , ſo biſt auch du hier abermals in engere Wahl
genommen .
Gegen den Fels und die Welle gehalten , gehörſt du gewiß
enger zum Bakterium . Aber das Bakterium als einfachſtes
Lebeweſen beſteht nur aus einem einzigen Klümplein lebendigen
Stoffs : einer einzigen ſogenannten Zelle . Dein Leib aber ſteht
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da wie ein ſtolzes Königreich ſolcher Zellen . Wohl hub auch
er einmal an mit zwei Zellen nur : der Samenzelle und der
Eizelle . Ja , die verſchmolzen — und nun war’s nur noch
eine einzige Zelle überhaupt . Aber dieſe Zelle hat ſich dann
gemehrt , als ſei ſie in einer Märchen-Bank auf Wucher-Zinſen
gelegt : ungezählte Milliarden von Zellen bilden heute deinen
fertigen Leib . Wie du hier jetzt im Graſe liegſt , haſt du in
deinem Leibe allein etwa zehn Pfund Blut . In dieſem Blute
kreiſen rote Körperchen , die ſogenannten Blutkörperchen . Jedes
ſtellt eine ( wenn auch etwas veränderte , des Kernes beraubte )
Zelle dar . Jene zehn Pfund Blut enthalten aber nun ſchon
rund fünfundzwanzig Milliarden roter Blutkörperchen , — jedes
im Werte einem ganzen einzelnen Bakterium gleich . Du biſt
einfach weit , weit über das Bakterium hinaus , — eine Milch¬
ſtraße des Lebendigen gegen ein Meteor-Splitterchen . Gerade
darin aber kommſt du mit Pflanze und Tier zuſammen . Auch
der Palmbaum beſteht aus ſo viel Zellen , daß dir ſchwindelte ,
wenn du ſie zählen ſollteſt . Und die Auſter , die Schildkröte ,
der Vogel , die Robbe ſind jedes für ſich Zell-Pyramiden ähn¬
licher Art. Alſo Tier biſt du , lehrt dein großer Zellenbau¬
meiſter Leib , — oder Pflanze ; nicht ein-zelliges Bakterium .
Aber was nun da wieder : Tier oder Pflanze ?
Für deinen jungen Geiſt könnte das ſo recht wieder eine
Doktorfrage werden , des Schweißes der Philoſophen wert .
Dein Leib aber entſcheidet augenblicklich . Er hat auch hier
wieder ein altes Penſum eingepaukt in ſich , das er erledigt ,
ob mit , ob trotz all deiner Philoſophie . Und dieſes Penſum
heißt in Worten einfach : ich bin nicht Pflanze , ſondern Tier .
Unter deinen Bruſtwarzen , deinen Brüſten hier , von denen
wir vorhin geſprochen haben , hebt und ſenkt ſich leiſe dein
Bruſtkaſten . Du athmeſt . Die Zellen deines Leibes bilden
da drunter einen doppelten Sack , die Lunge . Sie nimmt Luft
auf und verarbeitet ſie für den Körper . Sauerſtoff nimmt ſie
auf ins Blut , die unbrauchbare ſchädliche Kohlenſäure atmet
ſie wieder aus . Etwas tiefer in deinem Leibe bilden die Zellen
einen anderen Sack mit einer Anzahl wurſtartiger Dependenzen
nach ganz unten und ganz hinten : Magen und Darm . Hier
ſtopfſt du täglich ſo und ſo viel pflanzliche oder anderstieriſche
Beſtandteile hinein und verarbeiteſt ſie ähnlich , dieſes Teil be¬
haltend , jene wieder abſcheidend . Das alles aber iſt nun aus¬
geſprochen tieriſche Art . Die Pflanzen atmen mit den grünen
Lungen ihrer Blätter im Lichte wenigſtens gerade das aus ,
was die Tiere atmend bei ſich behalten : den Sauerſtoff . Die
Pflanzen ernähren ſich wenigſtens in der Regel durchaus nicht
von anderspflanzlichen und tieriſchen Stoffen , ſondern von
unmittelbar anorganiſchem , mineraliſchem Stoff , den du abſolut
nicht gebrauchen könnteſt . Alſo du biſt Tier , kein Zweifel .
Dein Leib iſt „ auf Tier “ angelernt im Haushalt ſeiner Zellen ,
und „ auf Pflanze “ verſtehts er 's einfach nicht . Seine Weisheit
iſt Tier-Weisheit , er hat alſo gar keine Wahl weiter in jener
Frage , ſobald du ihn überhaupt hören willſt .
Schon wieder biſt du wie der Groſchen in einer Zähl¬
maſchine eine Rubrik enger durchgeſiebt . Jetzt aber : was für
eine Sorte Tier biſt du ? Wir hatten ja im Beiſpiel ſchon
Muſchel , Schildkröte , Vogel . Es giebt rund dreihunderttauſend
bekannte ( lebende und ausgeſtorbene ) Arten von Tieren . Die
Arche Noäh . Wo gehört Noah ſelber hin ? Dein Leib iſt
nicht ein loſer Klumpen , eine erſte loſe Genoſſenſchaft bloß von
Zellen , die ſich auf tieriſche Art ernähren . In ſinnvollſter
Weiſe ſind dieſe Zellen zu einander geordnet ſchon nach dem
großen Prinzip der Arbeitsteilung . Sie bilden Organe , von
denen jedes ſein beſonderes Reſſort im allgemeinen Leibes-
Haushalt vertritt . Gleichſam kleine Leiblein ſind dieſe Organe ,
5*
der Magen , das Herz , die Lunge , der Geſchlechtsapparat und
ſo weiter , noch einmal in dem großen Geſamtleibe . Aus dieſer
Gliederung des Leibes in Organe aber kannſt du jetzt den Reſt
deines großen Rubrizier-Verfahrens über den Menſchen glatt ab¬
leſen . Es iſt , als zerſpalte ſich dein großer Weiſer dir dabei in
ſo und ſo viel Einzel-Weiſe , die dir der Reihe nach Antwort ſtehen .
Der Erſte , der ſich zum Worte meldet , iſt nochmals der
Magen .
Er beſtimmt dich nicht bloß in der allgemeinen Methode
ſeiner Nahrungswahl als Tier . Sondern enger noch in ſeiner
ausgeſprochenen Form als Organ im Innern des Leibes , das
( im weiteſten Sinne in ſeinen Verlängerungen gefaßt ) einen
langen innerlichen Schlauch bildet , in den die Nahrung durch
ein äußeres Loch der Leibeswand , den Mund , eintritt . In
dieſer Form verkündet er dir , daß du in der Reihe der Tiere
ſchon einer gewiſſen höheren Gruppe angehörſt . Das niedrigſte
Tiervolk , das ſchon tieriſch ſich ernährt und auch ſchon zum Teil
aus vielen Zellen beſteht , entbehrt doch noch gänzlich des Magens
als eines feſten Innenorgans mit feſter Mundöffnung . Zu dieſen
Ur-Tieren oder Vor-Tieren gehörſt du offenbar nicht mehr .
Aber ſchon ein verhältnismäßig noch ſo überaus einfaches
Tierlein wie der grüne Süßwaſſer-Polyp , von dem ich dir
früher bereits einiges erzählt habe , hat einen Magen und
Mund . Das Tier ſieht aus wie ein grünes oder braunes
Pflanzenblütchen . Aber die ſcheinbaren Blütenblättchen ſind
kleine Fangarme des Mundes und was dieſe Fangarme wie
vorgeſtreckte Lippen gefaßt haben , das ſtopfen ſie abwärts durch
das Mundloch in den Magen , genau ſo wie wenn deine Kehle
einen guten Biſſen überſchluckt . Wenig unterhalb dieſes Polypen
muß die erſte Bildung eines ſolchen Magens zum erſtenmal
bei den Tieren eingeſetzt haben — wie Häckel meint , bei einer
Tierform , die nicht am Boden feſtſaß , wie der Polyp , ſondern
frei ſchwamm — und die er Gaſträa , das Ur-Magentier ,
nennt . Von der Gaſträa und ſolchen immerhin eng verwandten
Gaſträaden wie dem Hydra-Polypen an aufwärts im Syſtem
hat das geſamte Tiervolk einen regelrechten Magen und Darm
— es ſei denn , daß einige wüſte ſchmarotzernde Geſellen , wie
der Bandwurm , ihn nachträglich noch wieder „ abgeſchafft “ haben ,
weil 's ohne jenen beſſer ging .
In dieſes „ Aufwärts “ gehörſt du alſo zweifellos auch .
Du biſt aber darum doch keine Gaſträa und kein Hydra-Polyp .
Ein ſolcher Polyp hat außen eine Haut und innen einen
Magen . Oben laſſen Haut und Magen ein Loch , den Mund .
So einfach biſt du wahrlich nicht gebaut .
Zunächſt weiſt dein Magen ſelber auf etwas hin , was dort
nicht iſt . Dein Magen öffnet ſich nicht bloß durch eine obere
Verlängerung , die Speiſeröhre , in einem Munde , der die
Nahrung aufnimmt . Er geht auch nach hinten weiter durch ſo
und ſo viel enge Darm-Fortſetzungen endlich bis zu einer Pforte
am Gegenpol deines Körpers . Was an überflüſſigen Reſten
der vorne aufgenommenen Nahrung wieder fort ſoll aus dem
Leibe , das geht hier ab .
Dieſe Gegen-Pforte ſteht in unſerer alltäglichen Auffaſſung ja
gar gewaltig im Mißkredit . Jene abgehenden Überſchüſſe und
Müllſtoffe der großen Verdauungsfabrik tragen an der Stirn
eine Art Vermerk oder Warnungstafel , daß ſie antimenſchlich ,
von der inneren Jury des Menſchenleibes endgültig verworfen
ſind . Durch uralte Gewöhnung und Schutz-Anpaſſung haben
ſich nun die empfindenden Sinne dieſes Menſchen dahin geeinigt ,
vor allem den Geruch dieſer Abfuhrſtoffe ſich als den Geruch
einer ſchlechterdings unbrauchbaren und vermeidenswerten Sache
einzuprägen . Unſer Geiſt empfängt das vom Leibe wie eine
längſt feſtgeſtellte und beſchloſſene Sache . So übernimmt er
dieſen Geruch und Begriff als die höchſte Summe des Schauder¬
haften , Widerwärtigen , Eklen . Während er in der Aufnahme
der Nahrung mit allen Genüſſen ſchwelgt , vermaledeit er jene
umgekehrte Ecke aufs äußerſte . Ein Wörtlein wie Kot wird
ihm zur Bezeichnung alles Niederſten , Menſchenunwürdigſten ,
Verabſcheuenswerteſten . Wo es nach Kot riecht , da hebt die
Hölle an . Das iſt nun an ſich eine ſinnreiche Sache , auch
eine jener uralten Nützlichkeits-Weisheiten gleichſam des Leibes ,
die wir jungen Geiſteskinder ſogleich mitbekommen haben —
wenn ſchon es in etwas hausbacken grober Form geſchah . Im
Sinne einer groben Nützlichkeit war es jedenfalls von hohem
Gewinn , daß den armen dummen Entwickelungskindern ſo hahne¬
büchen wie möglich eingepaukt wurde : das , was hier an eurem
Gegenpol abgeht , das iſt abſolut verbrauchtes Zeug , iſt genau
das , was ihr nicht brauchen könnt , was euer Zellenleib nicht
in ſich aufnehmen konnte — alſo freßt das bloß nicht noch
einmal auf , um eurem Magen und Darm noch einmal dieſelbe
verlorene Liebesmüh zu machen . Als die Sinne das endlich
wirklich eingepaukt hatten durch ſo und ſo viel Erfahrungen
vieler Generationen , ſagten ſie beim Anblick ſolcher Stoffe ganz
konſequent „ Pfui “ . Der am unmittelbarſten reagierende Sinn ,
die Naſe , ſagte „ Das ſtinkt “ . Endlich hinkte der ſogenannte
Geiſt nach ( das heißt das obere Stockwerk großer Zuſammen¬
ſchlüſſe von einer höheren Individualität aus ) und ſagte : Dieſe
Gegenpols-Sachen ſind „ unanſtändig “ — man ſchweigt ſie tot ,
nimmt ſie ſelbſt ſprachlich und ideell nicht mehr in den Mund .
Das iſt nun alles ſehr gut . Unſere unbefangene Betrachtung
aber , der in einem nochmals höheren Erkenntnislicht der Leib
abermals rein iſt als heiliges Erkenntnisobjekt ohne jedes prak¬
tiſche Mittelchen der gewöhnlichen Dutzend-Nützlichkeit , — ſie
darf trotzdem vom After und ſeiner Weisheit ſich genau ſo
belehren laſſen , wie von der des Mundes .
Es iſt in dieſem Falle durchaus keine Afterweisheit , die
der After dich lehrt , ſondern abermals ein Stück Erkenntnis in
unſerer Linie . Denke dir , du wärſt von Jugend auf mit dem
Gegenpol deines Leibes irgendwo feſtgewachſen . Ein Stück der
Unmöglichkeit wäre für dieſen Fall , daß die Afterpforte wirklich
funktionierte . Wollte dein Magen und Darm das Unverdauliche ,
wie er doch muß , wieder aus dem Leibe herausſchaffen , ſo
bliebe ihm kein anderer Weg als Wiederausſpuken nach oben , —
durch denſelben Mund , der die Nahrung zunächſt nur ſo ganz
allgemein beſehen und ohne feinere Auswahl hineingeſchluckt hat .
Damit nun wärſt du auf einem Standpunkt , den abermals ein
großer engerer Kreis von magenbeſitzenden Obertieren wirklich
einnimmt . Es ſind juſt alle die , die ſich enger an jenen Hydra¬
polypen anſchließen . Der ſitzt ſelber ſchon hinten auf , und die
nach ihm machen's alle ſo . Sie leben ohne After und ſpucken ,
wenn ſie genügend verdaut haben , alles wieder nach oben , was
unverdaulich iſt . Solche Tiere ſind die vielgeſtaltigen Gruppen
der Schwämme , der Korallen , Polypen , Seeroſen , ſchließlich
auch der Quallen . Denn ob die Qualle zwar vom Polypen¬
ſtadium ſich loslöſt und wie eine abgekehrte Glocke frei durchs
Waſſer ſchwimmt , ſo bleibt ſie doch zeitlebens hinten zugewachſen
wie eine Käſeglocke und ihr geſamter Leibesbau bleibt in dieſer
einſeitig offenen Glockenform permanent . Du aber , der Menſch ,
mit deinem Mund und After , zwiſchen denen das Magen- oder
Darmrohr einen einzigen , vorne und hinten offenen Schlauch
bildet , du zählſt dich damit ſelber einer nochmals darüber
erhabenen engeren Tiergruppe zu .
Du biſt nicht Schwamm , noch Koralle , noch Qualle .
Die niedrigſte Form des Tierreiches , bei der ſolche After¬
bildung beginnt , iſt der Wurm .
Von einer gewiſſen Gruppe ab zeigen die Würmer ſchon
vollkommen dieſelbe Grundſchlauchform wie du . Und von da
ab bleibt das durch das ganze obere Stockwerk jetzt der Tier¬
völker ſo . Es kommen aber hier , wenn ſchon einmal Menſch
und Wurm in die engere Wahl geraten , alsbald noch mehrere
andere Organe deines Leibes neben dem After in Betracht . Du
ſtichſt dir mit der Nadel in den Finger und hervorquillt rotes
Blut . In prächtigen Kanälen rauſcht dieſes Blut durch die
ganzen Wände deines Leibesſchlauches . Wie ein innerer Lebens¬
bronnen ſpeiſt es und tränkt es dich bis in jedes Fäſerchen
hinein . Wenn dein Blut aus dir ausläuft , verſchmachteſt du
elendiglich . Wenn die Blutwelle nur einen Moment dein
Gehirn nicht durchſpült , ſinkſt du in todesähnliche Ohnmacht .
Bei den Würmern taucht das innere Leibeskunſtſtück dieſer
Blutkanaliſation zum erſtenmal auf , alles was darunter ſteht ,
weiß nichts davon .
Und noch weiter . Dein Gehirn , ſage ich , erlahmt , wenn
das Blut es nicht ſpeiſt . Auch das Gehirn ſelber erſcheint zum
erſtenmal beim Wurm . Wohl haſt du bei viel tieferen Tieren
ſchon die deutlichen Anfänge eines Nervenſyſtems . Die ſchöne
bunte Qualle , die , noch ohne After und noch ohne Blut , durch
den blauen Ozean dahinſegelt , ſie trägt doch um den Rand
ihrer durchſichtigen Schwimmglocke ſchon einen Ring von Nerven¬
ſubſtanz — einen „ Geiſtesring “ wenn du ſo willſt , und an
dieſem Ringe ſitzen kleine Augen und Ohren , die ganz gewiß
ſchon ein ganzes Stück Außenwelt ähnlich erfaſſen wie deine .
Aber dein Menſchenleib iſt keine Quallenglocke . Dein Gehirn
ſitzt als großer herrſchender Klumpen von „ Geiſtesſubſtanz “ an
einer beſtimmten Stelle oben über der Mundöffnung des Magen¬
ſchlauches feſt beiſammen . Und ſo gerade taucht es zuerſt auch
beim Wurme auf . Auch der Wurm iſt keine Glocke mehr wie
Polyp oder Qualle . Er iſt ſelber bereits der längliche Schlauch
wie du . Gradlinig , Mund vorauf und After hintennach ,
ſchlängelt er ſich dahin . An dem wichtigen vorderen Ende ,
gleichſam auf der Wacht über dem Futterſchlund , konzentriert
ſich bei ihm die Nervenſubſtanz zu einem erſten wirklichen
„ Gehirn “ . Du als Menſch läufſt ja heute aufrecht herum , an¬
ſtatt wie der Wurm in der Längenrichtung zu krabbeln . Du
kriechſt nicht mehr auf dem Bauch , ſondern balanzierſt dich
höchſt kunſtvoll auf den unter die Afterſpitze des Leibes ge¬
ſchlagenen Hinterbeinen . Aber noch haſt du auch ſo dein
prachtvolles großes Menſchengehirn genau ſo an der Mundſpitze
deines Leibesſchlauches wie es beim Wurm angelegt iſt .
Die Sortiermaſchine rappelt dich indeſſen nochmals durch .
Deine Ernährung und Atmung forderten dich als Tier im
Gegenſatz zur Pflanze ; dein Magen und Mund als höheres
Tier jenſeits etwa des Polypen ; dein After , Blut und Gehirn
als ganz hohes Tier mindeſtens jenſeits des Wurms .
Wohin nun ?
Über die Würmer erheben ſich im Syſtem nur noch eine
beſchränkte Reihe äußerſter Tier-Stämme . Vier im ganzen .
Einen ſolchen Stamm oder Aſt höchſten Stiles bilden zum
Beiſpiel die Seeſterne und Verwandten . Einen die Schnecken ,
Muſcheln und Tintenfiſche , Einen die Krebſe , Spinnen , In¬
ſekten . Gehörſt du da irgendwo hin ? Dieſe Stämme ſind
alle ſo unter ſich grundverſchieden , daß du notwendig nur unter
eine einzige Rubrik gehören kannſt . Fragt ſich alſo , welche .
S chlage dich mit dem Finger vor die Stirn . Es iſt die
Geſte des Menſchen , wenn er ſich als ganz dumm , ganz ratlos
bezeichnen will . Hier aber , wo ſich alles vergeiſtigt und tipp¬
teſt du auch auf die ſchier unmöglichſten Stellen deines Leibes ,
iſt dieſe Geſte der einfache Weg zur Antwort .
Dein Leib antwortet dir abermals auf dein Klopfen .
Gegen was prallt dein Finger an ? Nicht unmittelbar unter
der weißen Haut gegen dein Gehirn . Damit wärſt du nur
wieder beim Wurm . Zwiſchen Haut und Hirn liegt dir da
eine harte Wand . Die Knochenwand des Schädels . Eine
ſolide Schale umkapſelt dein zartes Gehirn . Steh auf . Da
ſtehſt du im Sonnenglaſt in deiner ganzen Menſchenſchöne .
Wie kommt es , daß dein weicher Leibesſchlauch dieſe ſchwere
Knochenkapſel an ſeinem Gipfel überhaupt tragen kann ? Warum
klappſt du nicht elend zuſammen damit ?
Dieſer Schädel iſt ja nur die Krone eines ganzen Knochen¬
gerüſtes in dir , in dem ſich alles ſtützt und trägt wie in einem
wundervollen Säulentempel . Hier in der Mittellinie deines
Rückens , zwiſchen den Schulterblättern abwärts zeigt ſich unter
der Haut in weicher Ornamentik gerade noch leiſe angedeutet
die Hauptſäule dieſes Tempels .
Die Wirbelſäule .
Das weiche Gehirn ſendet in dieſer gleichen Linie eine
Art großer Wurzel herunter . Und wie der harte Schädel das
Gehirn , ſo ſtützt , umfaßt , beſchützt die Wirbelſäule dieſe Wurzel
von Nervenſubſtanz , das Rückenmark . Soll dein weicher Körper
wirklich als aufrecht geſtellter Wurm-Schlauch einmal angeſehen
werden , ſo iſt es , als ſei mit der Wirbelſäule ein ſteifes
Brett unter die Rückenwand dieſes Schlauches geſtoßen — ein
Brett , das dem ganzen jetzt erſt derartig den Halt und Stütz¬
punkt giebt , daß der Schlauch nachträglich beinah bloß wie
ein Überzug und bauchſeitiges weiches Anhängſel dieſes Brettes
erſcheint .
Dabei iſt ſehr intereſſant , wie dieſes Brett in den Schlauch
eingeſtoßen iſt . Es liegt zunächſt , wie geſagt , auffällig an der
Rückenſeite — das Wort Rückgrat trägt dem ja ſchon Rechnung .
Die Haut mit ihrer darunterliegenden Muskelſchicht , alſo die
äußerſte Schlauchwand , faßt zwar ganz darum herum . Der
innere Separat-Schlauch des Magens und Darmes dagegen
liegt weſentlich frei davor an der Bauchſeite . Gehirn und
Rückenmark , alſo die wichtigſten Nervenſubſtanz-Maſſen des
Schlauches , ſind für den erſten Anblick ſozuſagen hineingeraten
in das Brett . Schaut man aber genauer zu , ſo hat man vor
allem bei der Wirbelſäule doch den Eindruck , daß das Brett
in ſeiner ſoliden Maſſe eigentlich ſo eingeſchoben iſt , daß es
genau zwiſchen dieſem Nervenmark und dem Magenſchlauch
ſteckt . Von dieſer Baſis erſt haben dann Wirbel für Wirbel
und endlich auch beim Schädel harte Brettteile (— alſo Kno¬
chenteile ! ) ſo nach oben um die weichen Gehirn- und Rücken¬
markteile herumgegriffen , daß ſchließlich dieſe Teile geradezu in
die oberſte Brettſchicht wie in einen übergreifenden Kanal mit
hineingeraten ſind .
Dieſe famoſe innere Rückenſtütze deines Leibes iſt nun
des Rätſels Löſung , wo du oberhalb des Wurmes hingehörſt .
Da findeſt du in den Tierſtämmen jenſeits der Würmer ja
allerlei ähnliche Verſuche , den weichen Schlauchleib des Wurmes
irgendwie zu feſtigen , zu ſtützen und zu ſchützen durch allerlei
Verknöcherungen und Verhärtungen — durch ſo und ſo viel
Bretter , die bald über , bald untergeſtülpt werden . Die Schnecke
hat ihr Haus , die Muſchel ihre Doppelſchale , der Seeigel ſeine
ſonderbare Melone voller Stacheln , in der er wie eine Kaſtanie
ſteckt , der Krebs ſeine prächtige Rüſtung , die dem ganzen kom¬
plizierten Leibe in jedes Fältchen und Scharnier von außen
folgt . Aber das alles hat nicht die leiſeſte Ähnlichkeit mit dir
und deinem Rückgrat .
Keiner dieſer Tierſtämme giebt dir den geringſten Anhalts¬
punkt , daß dieſer dein „ Rücken “ dort hingehören könnte .
Trennte dich dein Bauch mit dem Magen und Darm vom Ur-
Tier jenſeits des Hydra-Polypen — ſo trennt dich diesmal
dein ſchöner , ſtolz aufgereckter Rücken , dieſe Freude aller Künſtler
ſeit der alten Griechenzeit , von Muſchel , Schnecke , Tintenfiſch ,
Seeſtern , Seeigel , Krebs , Spinne und Käfer und Schmetter¬
ling . Dagegen weiſt er dir eine ganz beſtimmte Linie nach
oben hinaus über den Wurm nunmehr ebenſo ſicher als deine
Linie .
Da giebt es ſchon bei den höchſt entwickelten wurm¬
ähnlichen Tieren ein ſeltſames Geſchlecht . Es ſind die ſoge¬
nannten Manteltiere oder Ascidien . Seetiere , dem Laien ab¬
ſolut fremd . In Neapel werden ſie mit Liebhaberei gegeſſen .
Was man da zu eſſen bekommt , ſieht äußerlich wie eine ver¬
faulte Kartoffel aus . Das ausgewachſene Manteltier dieſer
Art bildet nämlich eine holzartige Borke um ſich . Da drinnen
liegt es wie ein gelbes Ei , und das holt der Neapolitaner ſich
als Leckerbiſſen vor . Solche Ascidie nun iſt als junges Tier
noch nicht ſo hölzern eingekapſelt , ſondern ſchwimmt luſtig
umher als glashelles Würmlein . Und in dieſer frohbewegten
Jugendzeit gewährt ſie ein mit Rückſicht auf deinen menſchlichen
Rücken höchſt eigenartiges Bild . Da ſiehſt du oben in dem
Wurmſchlauch-Rücken ein Hirn mit einer Verlängerung als
Rückenmark . Unten in dem Wurmſchlauch-Bauch liegt ein
Darm . Zwiſchen beiden aber — genau alſo an der kritiſchen
Einſchiebeſtelle für das harte Brett bei dir — ſteckt ein Stab
oder Sparren aus immerhin ſchon etwas gefeſteter Knorpelmaſſe :
ein erſter Anlauf zum Brett . Kaum ein Zweifel : hier geht
irgendwie der Pfad zu dir weiter .
An derſelben italieniſchen Küſte , zum Beiſpiel bei Meſſina ,
lebt aber ſtill im Sande von Ufertümpeln verborgen ein Tier ,
das gleich noch ein Stück darüber hinausführt . Der Amphioxus
oder Lanzettfiſch . Zeit ſeines Lebens iſt er ſo gebaut wie die
jugendliche Ascidie : er trägt zwiſchen Rückenmark und Darm
ein knorpeliges Stäblein. Rückenſaite ( Chorda dorsalis ) wird
es vorſichtig genannt . Noch könnte keiner von einem eigent¬
lichen harten Rückgrat ſprechen . Das „ Brett “ , das dir als
Geradehalter beim aufrechten Göttergang dienen ſoll , iſt hier
noch ein Kartenblättlein . Aber vorhanden iſt es ſchon , da hilft
nichts . Vom Nebelfleck im Sternbild der Andromeda bis an
dieſe Stelle giebt es kein uns bekanntes Naturgebilde , das ſo
ſehr deinem ſoliden Wirbel-Brett gliche wie dieſes Kartenblatt
zwiſchen Mark und Darm des Amphioxus-Fiſches .
Und ein erſter Fiſch iſt er . Der niedrigſte von allen ja .
Aber jedenfalls ſchon ein Fiſch . Damit jetzt iſt die Linie haar¬
ſcharf bezeichnet , in die dich der Sortier-Apparat geworfen hat .
Mit dem Fiſch beginnen die Wirbeltiere . Der vierte jener
höchſten Äſte des Tierreichs oberhalb der Würmer . Ein Wirbel¬
tier biſt du — ein Tier vom Amphioxus an aufwärts . Von
hier läßt ſich die Leiter jetzt ſo gut wie ganz glatt abklettern .
Du brauchſt nur nochmals an deine Stirn zu klopfen , ſo
ſiehſt du den erſten engeren Schritt über den Amphioxus hin¬
aus . Du haſt nicht bloß das allgemeine Rückgrats-Brett .
Dieſes Brett läuft dir oben in eine Kugel aus : den Schädel ,
die harte Schutzhülle des Gehirns . Davon hat der Amphioxus
noch keine Spur , ſein Knorpelſtab zwiſchen Mark und Darm
läuft vorne wie hinten einfach ſpitz zu .
Das erſte Wirbeltier , das einen Schädel hat , iſt das
Neunauge .
Du kennſt es als Feinſchmecker , haſt es aber ſchwerlich je
ſo hoch geachtet . Es iſt thatſächlich für unſere lebenden Tier¬
arten heute ſogar das erſte Wirbeltier , das überhaupt ein
Gehirn hat . Wohl iſt dieſes Gehirn an ſich ſchon ein Beſitz¬
tum des höheren Wurmes und ſo ſollte es ſchon der Amphioxus
von dort mitbekommen haben . Aber der Amphioxus , wie er
heute noch vor uns lebt , hat gewiſſe kurioſe Lebensgewohnheiten
angenommen , die ihn ſozuſagen etwas heruntergebracht haben .
Er iſt etwas degeneriert und hat durch ſein Wühlen im Sande
Augen , Ohren und Gehirnanhäufung nachträglich , wie es ſcheint ,
noch wieder eingebüßt . Das Neunauge dagegen beſitzt ein
regelrechtes , über den Wurm ordentlich ſchon hinaus entwickeltes
Gehirn und zum Schutz dieſes Gehirns hat ſich vorne an der
Scheide des einfachen knorpeligen Rückgrats eine halb häutige ,
halb knorpelige Blaſe angeſetzt : ein erſter Schädel . Wenn du
unſere leckeren Oder-Neunaugen ſo wie kleine braune Aale in
ihrer Brühe beim Kaufmann ſchwimmen ſiehſt , ahnſt du als
Laie ſchwerlich , was dieſes Tierlein bedeutet . Das Neunauge
iſt kein Aal , es iſt kaum noch im gewöhnlichen Sinne , was
man Fiſch nennt . Ganz unten am Anfang aller Fiſche bildet
es eine Gruppe altertümlich wunderlicher Wirbeltiere für ſich .
Dieſe Gruppe gerade bezeichnet aber eine Wende ohne gleichen .
Mit dem Neunauge fängt das Organ all deiner Bewußtſeins-
Weisheit an : der Kopf mit Schädel und Hirn . Das Kopf¬
ſchütteln und die Hartköpfigkeit ſetzte erſt von hier ein . Erſt
von hier an aufwärts konnten Schädel eingeſchlagen werden .
Aber auch alle Philoſophie der Plato , Spinoza und Kant , alle
Menſchenliebe , alle Sehnſucht , Verzweiflung und Weltüber¬
windung des Kopf-Geiſtes — ſie alle ſchwimmen in der Wiege
dieſes Fäßleins brauner Neunaugen beim Kaufmann ......
Aber du redeſt laut im Eifer deines Philoſophierens , dein
Unterkiefer bewegt ſich wie im Takt zu jedem Worte an deinem
Schädel und im Sturm der Debatte haut deine Fauſt auf den
Tiſch . Von alle dem hat das Neunauge trotz ſeines Gehirns und
Schädels wieder noch nichts . Es hat keine Kiefer im Maul , es hat
nicht den leiſeſten Anſatz am Leibe zu irgend welchen Gliedmaßen .
Der Haifiſch iſt das erſte Wirbeltier , mit dem du jetzt
wieder dieſe Dinge teilſt .
Ein uraltes wildes Räubervolk beleben die Haifiſche noch
heute alle unſere Meere . Als der Menſch Seefahrer wurde ,
lernte er den Hai zuerſt mit Grauſen kennen . Wo ein Schiffer
über Bord fiel , da ſchoß ein Ungetüm in Fiſchesgeſtalt auf ihn
los und riß ihm mit dem Biß furchtbarer Zähne die Glieder
vom Leibe . Das Wort „ Menſchenhai “ wurde gebildet , ein
Schreckwort aller , die an die See dachten . Und doch liegt in
dem Worte noch ein geheimerer Sinn als Schrecken und Gefahr
für das Menſchenkind , das in des großen Fiſches Element
gerät . Ein viel tieferes , bedeutſameres Band verknüpft Menſch
und Hai und läßt uns vom Menſchenhai reden .
Deine ſchwellenden roten Lippen , hinter denen die weiße
Zahnkette wie ein kleines Schneegebirge blinkt — und weiſe
Philoſophenworte hervorquellend aus dieſem Menſchenmunde :
— — und dann ein Haifiſch-Rachen ! Es ſcheint der äußerſte
Gegenſatz . Und doch iſt es eigentlich gerade ein Haifiſch-Rachen ,
was du beſitzt . Von allen Tieren der Haifiſch zuerſt zeigt
dieſes Gebilde eines Ober- und Unterkiefers . Von ihm an
war das in der Welt . Bis zu ihm war der Mund ein Loch
einfach am vorderen Ende des Darmes . Von ihm ab geht
dieſes Loch durch ein kompliziertes , ſchließlich knochenhartes
und bewegliches Werkzeug . Der Haifiſch iſt der eigentliche
Erfinder der Schnauze , des Schnabels , des Maules — des
Mundes , wie grob oder liebenswürdig du die Sache nun
nennen willſt . Und er iſt noch mehr , was dich angeht , iſt noch
in mehr Punkten ein wahrer Menſchenhai .
Was giebt einem nackten Menſchenkörper eigentlich ſeine
vollendet harmoniſche Schönheit ? Schneide dir in Gedanken
die Gliedmaßen , die Arme und Beine , herunter und es bleibt
eine plumpe Ungeſtalt . Wohl würde dein Antlitz mit Stirn
und Auge noch den Geiſtmenſchen verraten . Aber wenn dieſer
Körper ſich ſo bewegen wollte , müßte er mühſelig auf dem
Bauche rutſchen wie eine große fleiſchfarbige Schnecke und ſelbſt
das Geſicht wendete ſich mehr oder minder abwärts . Die
Gliedmaßen erſt ſind es , die den „ Menſchen “ ermöglichen .
Auf ihnen iſt er um die Erde gewandert . Mit ihnen hat er
dieſe Erde bezwungen . Erinnere dich , daß an der Exiſtenz
deiner Arme und Hände die Erfindung des Werkzeugs hing ,
die größte Erfindung , die der Menſch gemacht hat , ſeine Grenz-
Erfindung gegen das Tier .
Die Entſtehung harter Kiefern mit Zähnen hätte ja einen
Schatten dazu auch liefern können . Aber man muß ſich aus¬
malen , was es hieße , wenn alle menſchliche Werkzeug-Schaffung
mit dem einzigen Leibesorgan des Gebiſſes ſich hätte vollziehen
ſollen . Ein Feuerſteinmeſſer auch nur , das erſte Kulturprodukt ,
zurecht geſchlagen mit dem Munde !
Schon das allein wäre eine verzweifelte Thatſache geweſen ,
daß der Mund nur einmal da war und zwar genau in der
Längsachſe des Leibes . Wie unendlich viel glücklicher der
doppelt vorhandene Arm — zwei Hände von rechts und links
zugreifend , dazu dieſe beiden natürlichen Klammern unabhängig
von den Thätigkeiten des Eſſens , Trinkens , Aus- und Ein¬
atmens und Sprechens , die alle auf die Mundgegend gehäuft
ſind . Auch dieſe deine Arme wie Beine gehen aber zurück auf
den Haifiſch , beginnen mit ihm . Sie beginnen in einer ſimpeln
Form , die aber nichtsdeſtoweniger alle Fortentwicklung ſchon
in der Nuß umſchließt . Wunderbar genug ja , wie ſich ſo etwas
anlegte zunächſt in einem ganz anderen Element .
Der Fiſch hatte vom Wurm die allgemeine Schlauchform ,
grundbedingt durch den vorne und hinten offenen Darm , mit¬
bekommen . Zur Stütze dieſes Schlauchs legt ſich in die Längs¬
achſe das bewußte Brett , der Knorpelſtab des werdenden Rück¬
grats . Das Neunauge zeigt dieſe einfache Schlauchgeſtalt
äußerlich noch vortrefflich in einer wahren Grundform . Aber
nun ſchwamm der mehr und mehr innerlich gefeſtigte Schlauch
dahin und entwickelte ſich im Haifiſch fort . Es war eine Not¬
wendigkeit , daß die weiter entſtehenden Organe mehr und mehr
in Doppelform , an den zwei Seiten dieſes Schlauches , ent¬
ſtanden . Auch das begann ſchon beim Wurm , jetzt aber wurde
es erſt eigentlich Trumpf .
Vergegenwärtige dir ( es iſt eine hochwichtige Sache , auf
die ich noch bei der Entſtehungsgeſchichte der menſchlichen
Geſchlechtsteile zurückkomme ) zunächſt einmal am Auge etwa ,
wie ich das meine . Hier ſteht ein Haus mit ſeinen vier
Wänden . In der Vorderwand iſt eine große Thür und in
der Hinterwand ebenfalls eine . Jetzt will ich Fenſter anlegen ,
um möglichſt gut die Umgebung betrachten zu können . Es iſt
klar , daß ich in jede der beiden noch freien Wände je ein
Fenſter ſchlage , alſo im ganzen zwei Fenſter , nach jeder Seite
eines . Ein Auge iſt am Leibe eines Tieres nun durchaus
nichts anderes als ein Fenſter , eine Sehluke in der Haut , durch
die Licht ( und damit Geſtalten und Farben der Außendinge )
ins innerliche Nervenſyſtem , ins Gehirn , hineinbefördert werden
kann . Das Gehirn des Wurmes , des Neunauges , des Hai¬
fiſches lag am vorderen Schlauchende innen im Schlauch des
Leibes . Vorne vor ihm öffnete ſich die Hausthür des Mundes .
So ſchlug es alſo auch ſeine Fenſter rechts und links , nach
jeder Seite je eines .
Schon die Neunaugen haben wenigſtens in ihrer be¬
kannteſten Form zwei ſchöne Augen genau ſo rechts und links
in der vorderen Schlauchwand . Das Wort Neunauge , nebenbei
geſagt , iſt wohl ſo entſtanden , daß im Volk die runden Kiemen¬
löcher , die an beiden Seiten hinter dem runden Äugelchen
liegen , die aber der Atmung und nicht dem Sehen dienen ,
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zum teil mit in Rechnung gezogen ſind . Ein drittes Auge
noch nach der Bauchſeite hätte wenig Zweck gehabt und wäre
ſchlecht mit dem Gehirn zu verbinden geweſen , das nun einmal
beim Wirbeltier konſequent über dem Mund und Darm lag .
Eher hätte ſich ſchon ein Cyklopenauge oben auf dem Schlauch ,
alſo auf dem Kopf , bilden laſſen , und in der That iſt bei
einer Anzahl mittlerer Wirbeltiere ( zum Beiſpiel bei aus¬
geſtorbenen molchähnlichen Amphibien und verkümmert bei noch
lebenden Eidechſen ) ein ſolches Parietal- oder Scheitelauge vor¬
handen . Es hat ſich erſt bei den höheren Wirbeltieren wieder
vollſtändig verloren , wahrſcheinlich weil die Beweglichkeit des
Kopfes , die bequem auch mit den Seitenaugen nach oben ſehen
ließ , es doch auch überflüſſig machte — und andererſeits in
Kampf und Gefahr der exponierte Fleck da oben ſich zu ſchlecht
bewährte ; lieber da oben einheitliche harte Schädelmaſſe , die
gelegentlich auch einen derben Puff aushielt , als ein ſo zartes
und zerbrechliches Ding , wie ein Auge . Du ſiehſt aber : der
Cyklop des Märchens iſt an ſich , wie das meiſte ſolcher Menſchen¬
märchen , gar nicht übel erfunden geweſen . Bloß dichtet er den
Menſchen nicht genügend darwiniſtiſch-ſcharfſinnig nach vorwärts
um — er läßt ihn zu etwas zurückkehren , was die Eidechſen
ſchon als unpraktiſch hinter ſich gelaſſen haben .
Mindeſtens wird dir ſo klar ſein , wie die Doppel¬
entwickelung von Organen jetzt an beiden Schlauchſeiten über¬
haupt eine Art Notwendigkeit werden mußte . Wie mit den
Augenfenſtern , ſo ging es auch mit den Telephonleitungen des
Fiſch-Hauſes : je ein Ohr kam an jede der beiden freien Wände .
Und vollends ſo mußte es gehen mit den Bewegungsgliedern ,
als ſolche beim Haifiſch zuerſt auftraten .
Nimm noch einmal jenes Haus , das hinten und vorne
eine Thür und rechts und links je ein Fenſter hat . Ver¬
wandle es dir in einen Pferdebahnwagen , der ſich vorwärts
bewegen ſoll . Wo bringſt du die Räder an ? Rechts und links
natürlich . Und wenn es ein ſchlauchartig langer Darm von
Wagen iſt , ebenſo natürlich am beſten je zwei ſolcher Paare ,
rechts vorne und links vorne ein Rad , und rechts hinten
eins und links hinten eins . Aufs Haar genau nach dieſem
Prinzip eines Pferdebahnwagens ſind die vier Gliedmaßen beim
Haifiſch entſtanden , die heute noch als zwei Arme und zwei
Beine an deinem eigenen nackten weißen Menſchenleibe hier im
Graſe liegen . Der Haifiſch ſchwamm geradeaus durchs Waſſer .
Anderes als Waſſer kannte er ja noch nicht . Aber das zwei¬
ſeitige Räder-Prinzip paßte genau ſo auch aufs Waſſer . Siehſt
du das gelbe Ruderboot mit der blauen Flagge dort im See ,
das die tändelnden Waſſervögel wie eine Wolke vor ſich her¬
ſcheucht ? Vier ſchlanke tapfere Geſellen in weißem Rudertrikot
und mit ſonnenbraunen Hälſen , Armen und Knieen treiben es
dahin , im Taktſchlag ihrer Ruder . Jeder führt zwei Ruder ,
rechts eins und links eins . Und das Boot ſauſt pfeilſchnell
durch die Sonnenfläche des Sees wie ein fideler Frühlingsfiſch .
Dasſelbe Prinzip ! Die ſehnigen braunen Arme der halbnackten
Ruderer führen Ruder als Werkzeuge , als gleichſam verlängerte ,
über Fleiſch und Knochen des Armes künſtlich noch hinaus
fortgeſetzte Gliedmaßen . Die Ruderſchaufel packt das Waſſer ,
wirft es dahin und das Boot fliegt , als liefe es auf Rädern .
Der Haifiſch kannte für ſein Teil noch kein Werkzeug . Was
er ſich als Mittel erwarb , mußte ihm aus dem eigenen Leibe
wachſen . Und ſo wuchſen ihm vier Ruder am Leibesſchlauch ,
vier feſt angewachſene Ruder : vier Floſſen . Es iſt noch einiger¬
maßen ſtrittig , wie ſie bei ihm zuſtande gekommen ſind . Viel¬
leicht ſind ſie zunächſt aus weichen Hautfalten an den Leibes¬
ſeiten entſtanden . Wahrſcheinlicher iſt , daß ſie ſich aus hinterſten
Kiemenbogen an jeder Halsſeite des Fiſches , die Knorpelſtacheln
trugen , entwickelt haben , ſodaß alſo zuerſt zwei Paar Vorder-
oder Bruſtfloſſen da geweſen wären , von denen allmählich erſt
das eine Paar gleichſam weiter am Leibesſchlauche herabgerutſcht
und zu den Hinter- oder Bauchfloſſen geworden wäre . Das
ſei nun wie es wolle . Jedenfalls ſteckte in dieſen Bruſt- und
6*
Bauchrudern der Anfang alles deſſen , was wir noch beim
Menſchen Gliedmaßen nennen . Aus den Bruſtfloſſen des Hai¬
fiſches ſind die Arme geworden , aus den Bauchfloſſen die Beine .
Was ihm noch reines Ruder war , das wurde den ſpäteren
Landtieren zu „ Rädern “ , das heißt zu Vorder- und Hinter¬
beinen , die den Körper auch auf dem Lande dahinbewegten .
A uf dem Lande ! Das iſt wieder ein Leitwort . Wohl —
wie du da im Graſe liegſt und Arme und Beine in die erſte
heiße Frühlingsſonne ſtreckſt : Du biſt ein Wirbeltier oberhalb
des Haifiſches , weil du Arme und Beine haſt . Aber oberhalb
dieſes Menſchenhaies dehnen ſich neue Straßen . Es giebt einen
purpurnen Dämmerraum , wo auch du als werdendes Menſchlein
einmal bloß ſolche vier knoſpenhaften Leibes-Floſſen trugſt wie
der wirkliche Hai : als Embryo im Mutterleibe auf beſtimmter
Stufe . Aber das haſt du als Individuum längſt hinter dir ,
wie die geſamte Menſchheit den Hai . Du biſt als vollendeter
Menſch kein Hai mehr . Ja überhaupt nicht mehr ein Fiſch .
Alles Fiſchechte geht aus vom Hai . Da kommen unzählige
Geſtalten . Der Stör , der Aal , der Wels und der Hecht .
Alles im Waſſer , alles dem Waſſer angepaßt , alles mit Floſſen
bald dieſer , bald jener Form . Bei dir aber ſind die Floſſen
ja wirklich Landgliedmaßen geworden . Wie geſchah das ? Wo¬
her kam der Begriff „ Land “ ?
Dein weiſer Leib weiß es an einer anderen Stelle . Nur
wenig im Syſtem oberhalb des Haies , dicht an der Grenze ,
wo der Hai zunächſt zum Stör vorſchreitet — da iſt ganz
deutlich vorgezeichnet die neue Ecke für dich .
Du liegſt am Lande hier . Goldene Frühlingsluft um¬
ſtrömt dich wie ein Himmelsbad . Du nimmſt ſie auf mit dem
Munde . An der gleichen Stelle , wo dein Darm nach oben
ſich öffnet zum Schlunde — da , wo die uralte Schlauchpforte
der Gaſträa , des Polypen , des Wurmes liegt — da ſaugſt du
auch dieſe Luft in dich ein . Aber ſie ſinkt hier nicht bloß in
deinen Magen und Darm im ganzen hinab . Dicht an deinem
Schlunde hängt da innen noch beſonders etwas wie ein ſepa¬
rater Sack , der gierig bloß Luft ſaugt . Ein doppelter Sack ,
nach rechts und links in dich hinein je ein Zipfel .
Deine Lunge .
Kein Zweifel : auch ſie iſt eine Art Darm im Kleinen .
Ein Ernährungsapparat . Du brauchſt ja als lebendes Weſen
nicht bloß flüſſige und feſte Nährſtoffe , die dein echter Darm in
Körperkraft umſetzt . Du brauchſt auch Luft . Und da du Tier
biſt , brauchſt du Sauerſtoff . Die Wände deiner Lunge beſorgen
dieſe Art Verdauung , die Luft-Verdauung . Freilich : dieſer
Luft-Magen hat bei dir keinen After hinten wie der echte
Verdauungsmagen , durch den er das Unbrauchbare , das Ex¬
krement gleichſam ſeiner Luftnahrung wieder hinausbefördern
könnte . Er muß das ſchlechte Luft-Exkrement , die unbrauchbare
Kohlenſäure , durch dasſelbe Mundloch , durch die er die Nähr-
Luft erhalten hat , auch wieder hinaus expedieren . Die Geſchichte
dieſes deines Luftdarmes , Lunge genannt , iſt nun überaus
lehrreich zu deiner weiteren tieriſchen Einordnung jenſeits des
Fiſches .
Alle Wirbeltiere bis etwas über den Haifiſch hinaus leben
ausſchließlich im Waſſer . Auch ſie bedürfen dort des Sauer¬
ſtoffs . Aber ſie nehmen ihn mit dem Waſſer in ſich auf , nicht
unmittelbar , wie du , bloß durch Verſchlucken von Luft . So
tritt die Atmung hier in einer Weiſe zunächſt auf , die gewiſſer¬
maßen noch mit dem einfachen großen Nahrungsdarm allein
auskommt . Das Maul ſäuft Waſſer in ſich hinein , direkt in
den alten Darmſchlauch . Die vorderſte Hälfte dieſes Darmes
ſaugt aus dem Waſſer die nötige Luftnahrung ebenſo auf , wie
weiter hinten feſte Nahrung verarbeitet und verdaut wird .
Löcher in den Seiten dieſes Vorderdarmes laſſen das über¬
flüſſige Waſſer einfach glatt wieder abfließen . Aus dieſem
Prinzip , das ſchon bei einzelnen Würmern klar gegeben und
ſo ſchon jenem niedrigſten Amphioxus-Fiſch überliefert iſt , leitet
ſich glatt der ſogenannte Kiemen-Apparat des Fiſches ab : die
Kiemen ſind die eigentlichen Verdauungsſtellen für die Luft
jederſeits am Schlunde ; das Waſſer kommt ihnen vom Maul
zu und läuft durch ihre Spalten am Halſe rechts und links
wieder ab , nachdem der nötige Sauerſtoff daraus verdaut iſt .
Den Übergang von dieſer Fiſch-Atmerei und deiner Menſchen-
Atmung liefert dir nun wirklich ſonnenklar der ſogenannte
Molchfiſch . Er beſitzt noch regelrechte Kiemen gleich dem echte¬
ſten Fiſch — wie er denn überhaupt im Äußeren noch ganz
und gar einem Fiſch ähnelt , Schuppen und Floſſen hat und in
normalem Zuſtande im Waſſer lebt .
Aber gleichzeitig beſitzt er an ſeiner vorderen Darmöffnung
auch ſchon jene tiefe , ſackartige Darm-Taſche , die wir bei uns
als Lunge benamſen und die nicht mehr Luft aus dem Waſſer
zieht , ſondern unmittelbar Luft ſchluckt und verdaut . Es iſt
auch in dieſem Falle , gerade wie bei den vier Gliedmaßen ,
ſehr drollig zu verfolgen , wie dieſer luftſchnappende Sack ſich
anfangs rein für Zwecke eines ausſchließlich waſſerlebenden
Tieres angelegt hatte — ganz ohne Beziehung zunächſt zur
Atmung .
Ein Fiſch im Waſſer kann Luft ja auch für etwas ganz
anderes noch gebrauchen . Je mehr Luft er ſchluckt und im
Leibe hält , deſto mehr vermindert ſich ſein ſpezifiſches Gewicht
— er kann ſchließlich bewegungslos an jeder beliebigen Stelle
im Waſſer ſchweben wie ein Ballon im Luftmeer , ohne zu
ſinken , da ſein Gewicht dem des Waſſers genau die Wage hält .
So haben ſich alſo ſchon früh Fiſche gewöhnt , ab und zu das
Maul aus dem Waſſerſpiegel zu ſtecken und ſtatt bloßen
Kiemen-Waſſers auch mal pure Luft zu ſchnappen . Dieſe Luft
ſammelte ſich ihnen vorne im Darm , und allmählich entwickelte
ſich an der oberen Schlundwand da eine beſondere Falte , ja
endlich ein regelrechter Sack dafür — ein Luftſack , mit dem
der Fiſch fortan beliebig ſein Gewicht regulieren konnte . Nun
iſt zweierlei aber weiter möglich geweſen .
Die Wand des Sackes enthielt Blutgefäße und dieſe
ſchieden ſchon ſelber Luft aus . Das ließ ſich für jenen reinen
Ballon-Zweck verwerten . Bei Fiſchen im ſehr tiefen Waſſer
beiſpielsweiſe konnte das Luftſchnappen durch den Mund ganz
eingeſtellt werden : die Wand des Darmſackes vorne erzeugte
ſich aber doch ſelbſt die nötige Luftfüllung . Schließlich mochte
der Sack vom Schlunde her gar ganz zuwachſen , alſo eine
einfache geſchloſſene Blaſe bloß im Leibesinnern bilden : ſie
blieb dennoch mit Luft aus ſich angefüllt . Das iſt der Weg ,
den vom Haifiſch und Stör an aufwärts die Mehrzahl der
Fiſche gegangen ſind . Der Sack wurde ihnen zur „ Schwimm¬
blaſe “ , alſo zu einem Organ , das nach wie vor bloß im Waſſer
einen Zweck und zwar einen Gewichts-Zweck hatte .
Umgekehrt aber : der Nachdruck konnte auch gerade auf
dem beſtändigen Einſchlucken friſcher Außenluft und dem Aus¬
ſtrömen der inneren bleiben . Indem die Blutgefäße der Sack-
Wand immerzu friſche neue Luft zugeführt bekamen , gewöhnten
ſie ſich , nicht bloß ihre Luftreſte auszuſcheiden , ſondern auch
von dieſer neuen , ſauerſtoffreichen Luft Luftnahrung direkt in
ſich aufzunehmen . Sie machten einfach den Waſſerkiemen im
Stillen hier Konkurrenz — der Darm ( der Sack war ja bloß
eine eingeſtülpte Darmfalte ) fing an einer neuen Stelle an zu
freſſen und zwar diesmal nicht bloß vom Waſſer mitgeſchwemmte
Luft , ſondern Luft als ſolche , die das Maul unmittelbar ein¬
gepumpt hatte . Eine Weile mochte das bloß ſo nebenher gehen .
Der Luftſack diente noch hauptſächlich als Ballon für die Ge¬
wichtsverhältniſſe , etwas aber doch auch ſchon als Ernährungs-
Hilfsapparat . Nun laß aber Situationen gekommen ſein , da
das Waſſer für die Kiemen einmal verſagte , ſei es , daß der
ganze See , in dem ein Fiſchvolk etwa lebte , austrocknete , oder
daß das Waſſer zeitweiſe ſchlechte und mangelhafte Luft gab ,
weil es ſtagnierte und zu viel Bewohner auf engem Fleck alle
zugleich die Luft herausdeſtillieren wollten . In ſolchem Falle
wurden das freie Luftſchlucken an der Oberfläche des Sees und
die bisher nebenſächliche Luftnahrungsfabrik da oben in dem
Schlundſack plötzlich die Rettung und Hauptſache . Die Waſſer-
Kiemen umgekehrt wurden nebenſächlich . Und wenn etwa gar
das Waſſer ganz ſchwand , ſo beſorgte der Luftſack einfach dieſes
geſamte Ernährungsreſſort mit , fraß Sauerſtoff und exkremen¬
tierte Kohlenſäure für den ganzen Körper genug . Das frühere
Waſſerlufttier konnte als reines Lufttier fortan unter freiem
Himmel auf dem Trockenen ausdauern , ohne am Lufthunger
zu erſticken .
Damit wurde von ſelbſt jener Darm-Sack als Gewichts-
Ballon ganz überflüſſig — er verſah jetzt die Dienſte aus¬
ſchließlich wieder als Verdauungsmaſchine — — er war eine
Lunge geworden . Und das war , zweifellos , diesmal der Weg
aus dem Fiſch heraus auf den Menſchen zu . Der Molchfiſch
in den Gewäſſern Auſtraliens , Südamerikas und Afrikas be¬
zeichnet noch gerade die Grenze . Hat er ſauerſtoffhaltiges
Waſſer genug , ſo atmet er mit den Waſſerkiemen . Trocknet
ſein Tümpel aus oder wird das Waſſer darin arm an Sauer¬
ſtoff , ſo ſchluckt er nur noch unmittelbar Luft ein und atmet
mit ſeinem Darmſack — mit der „ Schwimmblaſe “ , die natürlich
bei ihm niemals ganz zuwachſen darf . Dem Molchfiſch ver¬
dankſt du als ſpäter Erbe , daß du da oben „ atmeſt im roſigen
Licht “ und nicht in die Purpurtiefe des flüſſigen Elementes
heute noch gebannt biſt zu dem „ ſtachlichten Rochen , dem Klippen¬
fiſch und des Hammers gräulicher Ungeſtalt . “
Gleich das nächſt höhere Tier jenſeits des Molchfiſchs
zeigt dir den ganzen ungeheuren Umſchwung , den der Beſitz
der Lunge bedeutete . Die kleinen quarrenden Krötlein mit
ihren weißen Kehlchen hier in ihrem Liebestümpel rudern ihn
dir vor , — ſie ſingen ihn dir vor .
Wohl ſitzen ſie noch in der Pfütze bei ihrem Zeugungsfeſt .
Aber ſie ſind auf dem Lande ſchon ſo gut zu Haus wie im
Waſſer . Beidlebige nennt ſie der Naturforſcher , Amphibien .
In ihrer Jugend , als Kaulquäpplein , ſchwimmen ſie zwar noch
gleich echten Fiſchen kiemenatmend im Storchteich , wie nach ur¬
alter lieber Tradition , von der ihr Geſchlecht ſich noch nicht
ganz losreißen kann . Aber auch du als Menſch haſt ja noch
Kiemenſpalten im Mutterleibe . Dieſer Tümpel mit ſeiner
ſonnenwarmen Flut iſt gleichſam der Kaulquäppchen gemein¬
ſamer Mutterleib . Eines Tages wird aber die Kröte reiner
Luftatmer wie du , ſie verliert ganz ihre Kiemen und verdaut
die Luft ausſchließlich mit demſelben Darmſack , den du auch
haſt — mit der Lunge . Und damit iſt ſie Bürger einer anderen
Welt — nicht mehr der Fiſch-Welt , ſondern deiner Welt .
Ihre vier Haifiſch- und Molchfiſch-Floſſen ſind echte Beine
geworden . Zwei Vorderbeine , zwei Hinterbeine . Wie einſt
dort der Rücken im ganzen , ſo hat jetzt auch jedes dieſer Glieder
ſein „ Brett “ bekommen , das es innerlich ſtützt — ſogar ein
überaus verwickeltes , in Gelenken kunſtvoll bewegliches Knochen-
Brett . Und unten an jedem Gliede ſitzt bei der Kröte ſchon
die eigentliche Krone des ganzen Land-Bewegungsapparats : die
Pfote , der Fuß . Schon ſiehſt du da am Hinterfuß die be¬
rühmte Fünfzahl der Zehen . Hier , bei dieſem Krötenfuß , be¬
ginnt ein weites , ſtrahlendes Kapitel deiner eigenen Kultur¬
geſchichte . An ſeinen fünf Fingern und fünf Zehen hat der
Menſch in der Kindheit ſeiner Kultur zählen gelernt . Von
hier ging die Grundlage ſeines Rechnens aus , noch heute im
Dezimalſyſtem verewigt . Mit dieſem Rechnen aber erſchloß ſich
ihm die höchſte aller Offenbarungen : die Geſetzmäßigkeit der
Welt . Kein Gott im flammenden Dornbuſch hat dem Menſchen
einen höheren Weg gewieſen als dieſe Zehnzahl ſeiner Finger .
Aber es war auch dieſer gleiche fünfzehige Amphibienfuß ,
der , ſelber herausgewachſen aus den Knorpelſtrahlen einer Fiſch¬
floſſe , die Hand gab , mit der das Werkzeug gehandhabt wurde ,
das Werkzeug , das der Hebel des Archimedes geworden iſt , mit
dem der Menſch die Erde bewegt — und dazu jene andere Hand ,
die den Meißel des Phidias führte und den Pinſel Rafaels .
Als aber der Körper des Landtiers einmal ſtattlich auf
ſeinen vier Gliedmaßen wirklich da ſaß , als ſtatt des Floſſen¬
ruders die Pfote reſolut den Grund faßte und den Körper
Schritt für Schritt dahintrug : da fügte die Lunge noch ein
neues aus ſich hinzu . Sie quarren , ſchnurren , quäken dort in
ihrem Frühlingsbad , deine Krötlein . Und wieder iſt es , als
reiße ein Thor auf gegen dich , gegen das weiße nackte Men¬
ſchenkind hier im Grünen . Die Lunge iſt da ; entſprechend jener
Doppellagerung der ſpäteren Organe des Schlauchleibes hat ſie
ſich in zwei Sackzipfel jederſeits vom Hauptdarm in die Bruſt
gedehnt ; aber indem die Luft durch die gemeinſame Schlund¬
öffnung bei ihr ein- und ausſtrömt , entſteht im Schlunde ein
Wellenſchlag , ein leiſer Windhauch : eine erſte Stimme . Auch
deine Sprache legt ſich hier beim Amphibium an ! Lauſche
ihm mit Andacht , dieſem Girren und Quaken des Froſchgeſangs .
Von hier an war auch das wieder in der Welt , was bei dir
das wunderſamſte Menſchenband werden ſollte . An dieſer
Sprache haben wir Menſchen uns zuſammengeſchmiedet zu einem
höheren Organismus , zu einem millionenköpfigen Sozial-Indi¬
viduum . Und an dieſer Sprache ſind wir in der rhythmiſchen
Welt des Geſanges noch eine Stufe höher geklettert gegen die
heilige Weltharmonie heran . Aus einem Teich der Urwelt
aber , da zum erſtenmal Amphibien plärrten , haben wir das
mit auf den Weg bekommen . Ein Kinderlaut der Menſchheit ,
die noch äonenfern im Schoße der Entwickelung ruht , iſt es ,
wenn du die Kröten ſingen hörſt .
Weiter ! Auch das Amphibium biſt noch nicht du , obwohl
es dich abermals in ſeinen Ring faßt . Jenſeits der Kröte ,
des Molchs — was jetzt ?
D a liegt ſie in der Sonne , die ſchlanke , lang geſchwänzte ,
grüne Fee des Grasrains , reglos , als habe die Sonnenglut ſie
verſteint — die Eidechſe . In uralten Tagen hat ſie ſchon
einmal ſo an irgend einem Tümpelrand gelegen — als neuer
Schritt zu dir über das Amphibium hinaus . Sie iſt nicht
mehr beidlebig , ſondern nur noch einlebig . Aus dem Ei ſchon
kriecht ſie hervor als Lufttier , das keine kiemenatmende Kaul¬
quappe mehr kennt . Sie ſchwänzelt als grotesker Waran durch
die brennende waſſerloſe Wüſte , wohin kein Molch oder Froſch
ſich noch getraut hätte , ohne zur dürren Mumie zu ſchrumpfen .
Sie wächſt zum grimmen Ichthyoſaurus aus , der , obwohl
immerzu auch er nur noch lungenatmend , der wildeſte Räuber
wieder des Ozeans trotz allen Fiſchen wird . Sie hüpft auf¬
recht auf den Hinterbeinen als Iguanodon dahin , das erſte
echte „ Bein- und Armtier “ , das deinen ſonnenaufgewandten
Menſchengang ſchon vorwegnimmt . Sie flattert endlich als
Pterodaktylus durch die Lüfte , indem ſie die alte Haut , die
einſt als Ruderfloſſe vorſprang , nun gar als Segel vom Finger
zum Schenkel ſpannt .
Und doch biſt du auch dieſe Eidechſe nicht mehr . Da
liegſt du — und da ſie . Ihr beide im Sonnenbad , beide ſelig
und wohlig ob dieſer Sonne . Und doch ſo verſchieden . Dein
Leib freut ſich der Sonne , ihre Wärme umſchmeichelt dich wie
eine wollüſtig weiche Weltenhand , die da zwanzig Millionen
Meilen weit herkommt , um dich zu ſtreicheln , in die große
Sehnſucht aller Kreatur gegen Licht und Sonne und Frühling
einmal wieder — nach ſo viel Winterſchmerz der Seele —
einzuwiegen . Aber ſchließlich ſtehſt du auf , ziehſt deine Kleider
an . Und auch ohne Sonne dringt es jetzt aus deinem weißen
Leibe von innen heraus wie eine geheime Heizung . Kalt war
dein Hemd , als es an dich rührte . Ein paar Minuten , und
es iſt warm . Von dir aus — von der eigenen Wärmequelle
deines Leibes . Er weiß ſich eben ſelber beſtändig bis zu einer
gewiſſen Temperatur zu heizen , dieſer Leib . Und da weiß er
etwas , wovon die Eidechſe dort noch keine Ahnung hat .
Die Eidechſe iſt , was man mit gutem Wort ſo nennt ,
„ wechſelwarm “ . Ihr Blut richtet ſich nach der Lufttemperatur
draußen . Brennt ihr die liebe Sonne wacker auf die Schuppen¬
haut , ſo durchglüht ſich auch ihr Inneres . Wenn aber die
Nacht und der kalte Tau kommt , oder gar wenn es Winter
wird , dann ſinkt auch ihre Bluttemperatur bang und immer
bänglicher herab , da wird es auch in ihr eiſekalt . Ihr Atmen ,
ihr Blutkreislauf , ihr Stoffwechſel im ganzen Leibe — ſie
haben noch nicht die Kraft , aus ſich heraus ſo viel innerliche
Wärme zu produzieren , daß der Körper ſich dauernd ein ge¬
wiſſes Normalmaß wahren kann . Das giebt ihrem ganzen
Daſein nun heute noch , wie es ſo vor dir ſteht , einen beſtimmten
Zug , der für dich nicht mehr exiſtiert . Sie iſt eigentlich in
allem beſten ein Sonnenkind . Nur wenn die liebe Sonne da
oben für ſie mitheizt , hat ſie ihre gute Zeit . Da iſt ſie geiſtig
regſam und munter , als ob ſie einen köſtlichen Feuerwein ge¬
ſchlürft hätte . Sobald aber auch nur eine gewiſſe Kühle mit
der Sonnenwärme wechſelt , ſinkt alles jäh bei ihr , ihr Leben
und Lieben und Herumtollen wird wie gelähmt . Und wenn
es gar Winter giebt , Monde lang , dann liegt ſie ſteif und
ſtarr wie ein regloſer Klotz in irgend einem Winkel . Ein
Perſephone-Los iſt ihr beſchieden . Nur ein halbes Jahr
wirkliches Leben im Licht ; und ein halbes Jahr öder Tartarus-
Schlaf . In einem dauernd kalten Lande könnte ſie überhaupt
nicht leben . So liegt ſie hier mit ihrem grünen Schuppen¬
hemd , ihrem langen Schwänzlein und ihren luſtig funkelnden
Augenſternchen doch in dieſem Punkte vor dir nur wie ein
ſtehengebliebener Nachzügler — ein kleiner Urwelts-Ritter , den
die große Entwickelung ſchon einmal gewaltig hinter ſich ge¬
laſſen hat .
In ſehr alten Tagen war's . Bei jenem Reptilien-Volk ,
das heute in unſern Muſeen ſteht , in verſteinert ſchemenhaftem
Reſt noch abgeprägt auf morſchen Schieferplatten . In der
Triaszeit , Jurazeit und noch früher . Da wurden in para¬
dieſiſch warmem Sonnenlande , wo von Froſt und Eis wohl zu¬
nächſt noch keinerlei Rede war , gewiſſe Onkel dieſer Eidechſe
immer luſtiger , immer mutiger auf ihrem Landboden , den ſie
ſich durch ihre dauernde Lungen-Atmung ſo endgültig erobert
hatten . Die einen hüpften wie die Känguruhs auf den Hinter¬
beinen über den warmen Grasplan . Die anderen ſtiegen auf
die Urwaldbäume , kletterten von Aſt zu Aſt und ſprangen und
jagten ſich ſchließlich in kühnſten Sätzen von Baum zu Baum .
Ihre Bruſt atmete immer wilder , der Stoffwechſel im ganzen
Leibe mit ſeinem chemiſchen Verbrennungsprozeß ging haſtiger
vor ſich als je , das Blut ſtrömte in immer beſſerem Kreislauf
durch den Leib . Da entſtand zum erſtenmal jene dauerhafte
Innenerwärmung , zunächſt wohl eigentlich nur als eine mehr
oder minder belangloſe Begleiterſcheinung . Aber , einmal er¬
worben , erwies ſie ſich dann bald als weit mehr als das .
Wenn das Klima ſich verſchlechterte , die Nächte kalt wurden
oder gar Schneewehen kamen , wo vorher Tropenglut geherrſcht
hatte — oder wenn der Daſeinskampf mit Hungersnot , Über¬
völkerung oder Terrainveränderungen zu Wanderungen nach
anderen , kühleren , nördlicheren Gegenden zwang — da rettete
dieſe dauernde Innenwärme jetzt vor dem Perſephone-Fluch
und half , zuerſt durch zunehmende Regſamkeit geſchaffen , jetzt
in mißlichem Außenſtand ſelber dieſe Regſamkeit durchretten .
In ſolcher Stunde iſt aus dem wechſelwarmen Reptil eine
Gruppe dauerwarmer Geſchöpfe als die nächſt höhere , über¬
bietende , umfaſſende Entwickelungsſtufe hervorgegangen . Und
da auch du dauerwarm biſt , ſo muß das abermals die Linie
geweſen ſein , die auf dich losging .
Als das dauerwarme Blut aber einmal der äußeren Kühle
gegenüber einen wirklichen Schutz-Zweck bekam , da muß Hand
in Hand damit noch etwas ſehr wichtiges Weiteres einge¬
treten ſein .
Da ſitzſt du und ziehſt gemach Stück um Stück deine
Kleider an , weil 's dir denn doch hier oben auf der Nordhalb¬
kugel der Erde unter dem zweiundfünfzigſten Breitegrad ſelbſt
in der erſten Maienhitze eines märkiſchen Seeufers nachgerade
zu kalt wird , um ſo ſplitterfaſernackt den Teichhühnern und
Haubenſteißfüßen nachzuträumen . Deine innere Heizung des
Leibes garantiert dir etwa ſiebenunddreißig Grad Celſius .
Trotzdem fängt deine Haut hier in der unabläſſig bewegten
Luft ſchon an , den ſteten Wärmeverluſt an dieſe Luft mit einem
gewiſſen Unbehagen zu empfinden . Sie möchte eine Decke , die
gewiſſermaßen einen Abſchluß nach da außen herſtellte , einen
Abſchluß , der zwiſchen deine Haut und die äußere Luft einen
möglichſt ſchlechten Wärmeleiter ſetzte . Ein ſolcher ſchlechter
Wärmeleiter iſt nun der Woll- oder Baumwollſtoff deiner
Kleider . Am beſten dient vor allem die Wolle . Wo nimmſt
du aber dieſe Wolle her ? Vom Schaf . Alſo von einem Tier ,
einem höheren Wirbeltier . Daheim haſt du noch einen anderen ,
eigentlich noch beſſeren Stoff : im Plumeau deines Bettes . Der
Name giebt ihn ſchon : Plume iſt die Feder . Und auch die
kommt unmittelbar vom tieriſchen Leibe , bloß von einem anderen
höheren Wirbeltier : dem Vogel . In dieſen paar Begriffen :
äußerer Schutz der Körperwärme durch einen ſchlechten Wärme¬
leiter , und als ſolche Schutzmittel hier das Wollhaar , dort die
Feder , liegt der weitere Weg auch für jene alte Entwickelung .
Als die Eidechſen Warmblütler geworden waren , wurde
es der Nachtkühle oder gar Winterkühle gegenüber nützlich ,
wenn der Körper ſich mit einer Schutzhülle der Art überzog .
Zwei verſchiedene Methoden ſolcher Hülle , ſolchen auf den Leib
feſtgewachſenen „ Kleides “ ſtellten ſich aber ein . Hier die Feder .
Dort das Haar . Beide müſſen ſich aus der ſchon vorhandenen
Eidechſenhaut gebildet haben . Die echte Eidechſe , wie ſie dort
liegt , hat heute noch Schuppen . Die Feder iſt nun ganz ſinn¬
fällig nichts anderes als eine etwas umgeformte , verfeinerte ,
faſt möchte ich ſagen : vergeiſtigte Hornſchuppe . Vom Haar hat
man das früher auch wohl behauptet , es ſcheint aber viel eher ,
daß das nicht eigentlich aus der Schuppe der Eidechſenhaut
hervorgegangen iſt , ſondern aus kleinen Knötchen oder Zäpfchen
zwiſchen dieſen Schuppen , die anfangs rein als Sinnesorgane ,
als Taſtorgane dienten . In ſolcher Form , als feinſte Vor¬
ſprünge der Haut , die dem Taſten dienten , finden ſich haar¬
ähnliche Gebilde maſſenhaft in der ganzen Tierwelt entwickelt .
Indem ſie den Wärmeſchutz jetzt übernahmen , wurde die Schuppe
daneben bloß ein Hemmnis und verkümmerte in dieſem Falle
ganz . Wahrſcheinlich iſt in beiden Fällen , bei Feder ſowohl
wie Haar , die eigentliche umbildende und fortentwickelnde Macht
die äußere Kälte ſelber geweſen . Der Gegenſatz innerer Wärme
und äußerer Kühle wirkte auf die Haut als Reiz , das Blut
ſtrömte kräftiger zu , die Haut wurde energiſcher ernährt und
begann all ihre Gebilde ſtrotzender , üppiger zu entfalten —
und das Ergebnis war abermals etwas , das wieder dem ganzen
Körper in ſeinem Wärmeſchatz trefflich zu ſtatten kam : die Aus¬
bildung von Haaren und Federn und damit einer köſtlichen
Schutzwand gegen die äußere Kälte ſelbſt . Eine befiederte oder
behaarte , warmblütige Eidechſe mochte jetzt auch in recht bitterer
Kälte ihre volle Lebensfriſche ſich wahren . Aber wenn ſie ſo
weit war , ſo war ſie eben keine alte echte Eidechſe mehr . Ein
Tier mit warmem Blut und Federn : das war der Schritt zum
Vogel . Ein Tier mit warmem Blut und Haaren : das war
der Schritt zum Säugetier .
Haar und Feder ſchließen ſich aus . Hier liegen zwei
verſchiedene Wege , einer ſo , einer ſo . Wohin gehörſt du ?
Laß deine Kleider einſtweilen noch einmal bei Seite und
frage deinen nackten Leib . Du haſt keinen leiſeſten Anſatz zu
Federn . Dagegen haſt du am Kopf , unter den Achſeln und
über dem Geſchlechtsteil ganz unzweideutige inſelartige Flecken
auf dir noch von Wollhaar . Und wenn du genau hinſchauſt ,
ſo ſiehſt du auch ſonſt deinen Leib allenthalben noch wenigſtens
mit Miniatur-Härchen dicht überzogen , die allerdings aus irgend
einem Grunde verkümmert und wieder bis auf die Stufe mehr
von feinſten Taſtſpitzchen ſtatt eigentlichen Wärme-Schutzhaaren
herabgegangen ſind .
Ein Haartier biſt du , kein Vogel . Der Vogel iſt eine
Separat-Anpaſſung für die Luft . Aus ſpringenden Eidechſen ,
die von Baum zu Baum ſauſten , iſt er geworden . Bei ihm
erhielt die Warmblütigkeit noch eine beſondere Ausdehnung nach
einer Seite , wie ſie im Waſſer der Fiſch ſich durch die Schwimm¬
blaſe errungen hat . Der Vogel füllte ſeine hohlen Knochen
mit heißer Luft und entwickelte ſo Eigenſchaften eines echten
Luftballons . Gleichzeitig machte er aus ſeinem äußeren Wärme¬
ſchutzmittel , der neu errungenen Feder , ſofort auch noch ein
Bewegungsvehikel : er vergrößerte ſie zur Schwungfeder , bildete
ſeine Vorderbeine zu einer kunſtvollen Stütze dieſer Bewegungs¬
federn um und erreichte ſo durch Kombination von Luftballon
und Schwungflügel ſein höchſtes Entwickelungsziel , über das er
nicht mehr hinausgekommen iſt : den Flug . Der Flug hatte ja
letzten Endes noch wieder ſeinen Gewinn umgekehrt auch für
die Wärme-Frage ; mit ihm war dem Vogel gegeben , der
äußerſten Winterkälte einfach auch noch durch Bewegung , durch
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zeitweiſen Ortswechſel aus dem Wege zu gehen . Die Schwalbe
und der Storch wiſſen ein Lied davon . Sie wandern , wenn
der Winter kommt , und Ozeane und Erdteile ſind ihnen ein
Spiel auf ihrer freien Fahrt durch das Luftblau . Aber das
war auch der letzte Trumpf . Dabei iſt der Vogel ſtehen ge¬
blieben . Folge dem Raubvogel da drüben über dem Wald .
Wie er Kreiſe zieht , wunderbar , mit einer Kunſt , die ihm ſelbſt
der kluge Menſch ſo individuell frei heute noch nicht nachmachen
kann . Und nimm die grüne Eidechſe hier daneben . Das iſt
die Eidechſe dort , warmblütig geworden , luftballonleicht , mit
Federkleid und mit Schwungfedern zum Flug . Und doch nur
ein Vogel . Du biſt mehr . Du mit deinen Haaren . Jedes
Löckchen da an deinem Leibe , bis zu dem goldigen Flaum , der
nur noch wie Stäubchen dir auf Arm und Schenkel ſchimmert
— ſie reden von deinem Schickſal , das den anderen , den höheren
Weg ging . Über das Haartier . Das Säugetier .
D ie große Sortiermaſchine holt zum letzten Zuge aus ,
du klapperſt die äußerſten Löcher durch . Unendlich leicht
iſt aus hundert Gründen zu belegen , daß du wirklich ein
regelrechtes Säugetier biſt . Deine Bruſtwarzen , zum Milch¬
ſaugen angelegt , predigen es dir . Laß aber auch ein Tröpflein
deines „ ganz beſonderen Saftes “ , des Blutes , rinnen und be¬
trachte es im Mikroſkop . Da treiben in der Welle rote
Körperchen , von denen das Blut ſeine rote Farbe hat . Dieſe
Blutkörperchen ſind kreisrund , und in ihrem Innern weiſen ſie
keinen Kern . Vergleiche damit die Körperchen im Blute anderer
höherer Tiere . Seltſam : beim Vogel , bei der Eidechſe , beim
Molch , beim höheren Fiſch giebt es im Blute auch welche .
Aber dort ſind ſie nicht allemal rund , ſondern länglich , und
im Innern ſteckt allemal ein kleiner Kern . Vergleichſt du da¬
gegen mit Säugetieren , wie Hund und Haſe , Igel und Fleder¬
maus , Pferd und Affe : immer fehlt hier genau wie bei dir
der bewußte Kern . Und wenn du bloß von den Kameelen
abſiehſt , die ihre Eigenheit ſich wahren , ſo haſt du auch
bei allen Säugetieren jene charakteriſtiſche runde Form der
roten Blutkörperlein im Gegenſatz zur länglichen , alſo auch
wieder eben das , was du ſelber dein eigen nennſt .
Säugetiere ! Schließlich iſt auch das noch ein bunter
Troß . Da teilen ſich zunächſt ab gewiſſermaßen drei Stock¬
werke . Im unterſten ſieht's noch ziemlich altertümlich , ziemlich
ärmlich aus , wie in einer Großmutterſtube im Erdgeſchoß , wo
noch das Spinnrad flirrt .
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Da ſitzen die Schnabeltiere , kurioſeſte Geſellen im heutigen
Auſtralien . Sie markieren noch mit unverwüſtlicher Altentreue
die Grenze vom Säugetier zur Eidechſe . Noch heute legen ſie
Eier wie dieſe , wenn auch ſchon mit einigen fortſchrittlichen
Zuthaten hinſichtlich der Ernährung . Noch heute iſt ihr Blut
ganz auffällig ſchwach geheizt , daß man ſich an die Scheide
zum „ Wechſelwarmen “ zurückverſetzt glaubt . Das haſt du alles
gründlich überwunden , und ein Schnabeltier biſt du alſo un¬
bedingt nicht mehr .
Ein Stockwerk höher hauſen die ſogenannten Beuteltiere ,
die zwar keine Eier mehr legen , aber ihre ganz unreif geborenen
Jungen in einem warmen Brutbeutel am Bauche mit ſich her¬
umſchleppen . Dein Menſchenbauch hat keine Taſche der Art
mehr . Das neue Menſchlein wächſt ſich bis zur reifen Geburt
im Innern aus . Alſo Beuteltier biſt du auch nicht : kein
hüpfendes Känguruh , kein ſchwerfälliger Beutelbär , kein biſſiges
Opoſſum , das in Nordamerika nachts dem Farmer die Hühner
murkſt und ausſaugt und , wenn du es faſſen willſt , hoch im
Baum an ſeinem luſtigen Wickelſchwanze vom Aſt baumelt .
Jetzt kommt aber die oberſte Schicht . Die eigentlich ganz
echten Säugetiere im gangbaren Sinne .
Gieb mir deine Hand .
Dieſe ſchöne Hand . Ein Kunſtwerk iſt ſie , ſie , in der ſo
viel Menſchenkunſt umſchloſſen liegt . Aber auch eine weiſe
Hand . Der Myſtiker ſuchte in ihren Linien das Schickſal zu
leſen . Der Freigeiſt hat das verlacht . Es liegt aber mehr
Schickſal wirklich in dieſer Hand , als in tauſend ſibylliniſchen
Büchern unſerer Klügſten . Schon einmal hat ſie uns geleitet .
Jetzt , zu den letzten Staffeln , brauchſt du nichts mehr als ſie .
Laß ſie im Geiſte alle an dir vorbeiziehen , die Säugetier-
Geſchlechter oberhalb des Känguruhs . Wie eine große dumpfe
trampelnde raſſelnde brüllende Viſion . Und recke bloß deine
ſchöne weiße Hand hier dagegen aus — an dieſem Felſen wird
der ganze Spuk ſich brechen , bis der Rechte vortritt , den du brauchſt .
Da drängt es ſich heran von Geſtalten aller Art , die
haben alles mögliche , aber ſie haben gerade von dem , was du
ihnen da entgegenſtreckſt wie Fauſts Zauberſchlüſſel , ſchlechter¬
dings ſelber gar nichts : ſie beſitzen keine Hand . Wie ſollten ſie
ſie haben ! Auf vier gleichartigen Floſſen ſtelzte ſich der Fiſch
aus dem Waſſer aufs Land . Das wurden vier Beine dann .
Auf vier Beinen , normaler Weiſe mit je fünf Zehen , lief das
alte Eidechſenvolk , aus dem das Säugetier heraufkam . Auf
ſolchen vier Patſchen läuft genau ſo noch das Schnabeltier .
Alſo Vorderfüße , Hinterfüße . Aber wo ſoll die Hand zunächſt
herkommen ?
Was iſt die Hand eigentlich im Gegenſatz zum Fuß ? Ein
Greiforgan . Ja , da liegt ihr ganzer Zauber ! Der Fuß
tritt auf und bewegt den Körper auf der Fläche dahin . Die
Hand aber faßt , langt , greift . Hier miſchen ſich in deinem
Menſchenkörper zwei wunderbare Dinge . Aufrechter Gang auf
den Hinterbeinen . Und zugleich Umwandlung der Vorderbeine
zu einem raffinierteſten Greiforgan . An dieſem Sachverhalt
laß jetzt die da drüben Revue paſſieren .
Das Laufen auf zwei Beinen iſt ja ganz tief bei den
Eidechſen ſelber ſchon probiert worden . Alte Saurier der Ur¬
welt liefen , hüpften , balancierten ſich ſo in kleinem wie rieſigſtem
Format . Von da hat's der Vogel mitbekommen . Der verliebte
Haubenſteißfuß dort im See läuft in dieſem Punkte genau ſo
wie du : er hat echte „ Beine “ mit Füßen daran . Aber ſeine
Arme haben keine Hände entwickelt , ſondern Flügel . Er wollte
eben nicht greifen , ſondern fliegen . Alſo Apage !
Das Säugetier iſt ja auch gar nicht über dieſen Vogel
weggegangen . Sondern für ſich ſeparat wieder von der ſchlichten
vierbeinig laufenden Eidechſe des flachen Bodens aus . Ihr
entſpricht jenes Schnabeltier , mit dem die Säugerreihe anhebt .
Aber da iſt im nächſten Stockwerk , bei den Beuteltieren , das
Känguruh . Es läuft wie ein Vogel gewohnheitsmäßig jetzt
auch als Säugetier auf den Hinterbeinen , und die Vorderbeine
ſind klein wie Zwergenärmchen . Bloß daß an dieſen Ärmchen
auch hier noch keine eigentliche Hand iſt . Doch da ſind andere
Beuteltiere , die klettern auf Bäume . Ihre Pfoten nähern ſich
unverkennbar der Handform , wenn ſchon noch ohne Erreichen .
Auch der Hüpffuß des Känguruhs iſt ja noch durchaus kein
echter Menſchenfuß . Alles iſt erſt wie ein Ahnen . Wie Stücke ,
Fragmente , die da , dort herumſchwimmen . Wer wird ſie einigen ,
vervollkommnen ? Es ſcheint geradezu unmöglich . Wie kann
ein Tier zugleich klettern , um Hände zu bekommen — und
auf den Hinterbeinen hüpfen , um ſich echte Füße im menſch¬
lichen Sinne anzulegen ? Es giebt ein Känguruh auf Neu-
Guinea , das auf Bäume klettert . Aber es bleibt Zwitterei
ohne echten Fortſchritt .
Nun kommen die höchſten Säuger-Gruppen . Die Beutel¬
tierſtufe wird überhaupt verlaſſen . Anpaſſungen aller Art
werden verſucht . Das Prinzip , das wir ſuchen , ſcheint zunächſt
ſelbſt in ſeinen Anfängen verloren , aufgegeben . Da iſt die un¬
geheuer vielgeſtaltige Gruppe , die das Wort „ Huftiere “ zuſammen¬
faßt . Von Klettern wie von Hinterbein-Hüpfen keine Spur .
Alle vier Gliedmaßen faſſen die Erde . Auf ihnen laufen iſt
Trumpf . Es wird ſo gut gemacht wie denkbar . Da kommen die
Elefanten . Da die Nilpferde , die Schweine , die Kameele , die
Hirſche , die Ochſen und Schafe . Da kommen der Tapir , das
Rhinoceros , das Pferd . Nicht zu rechnen ſo und ſo viel heute
ſchon ausgeſtorbene Urweltler . Im Pferde iſt das Lauf-Problem
auf dem Gipfel ſeiner Löſung . Alle vier Beine ſtelzen nur
noch auf einer einzigen Zehe , die ein ſolider Huf ſchützt .
Weiter ab vom Problem „ Hand und Fuß , Greifhand und Geh¬
fuß “ konnte die Entwickelung ſich kaum verlieren . Alſo „ vor¬
über , ihr Schafe , vorüber . “
Um deinen Zauberſtuhl rauſcht auf einmal das Meer .
Als wollten die Fiſche noch einmal wiederkommen . Es kommen
aber nur Säugetier-Gruppen , die ſich nochmals dem Leben im
Waſſer rückwärts angepaßt haben . Walfiſche und Seekühe .
Dieſe Fiſch-Renegaten haben die Hinterbeine überhaupt ab¬
geſchafft , ihre ungeſchlachte Körperwalze läuft hinten zu wie in
einen gekreuzten Wurſtzipfel und die Vorderpfote iſt Schaufel¬
floſſe mit unbewegbaren Fingern geworden . Vorbei , vorbei !
Da ſind die Gürteltiere , Ameiſenfreſſer , Schuppentiere und
Erdferkel , noch ganz niedrige , urweltliche Geſellen , zum Teil in
derben Panzern wie Schildkröten . Sie graben urſprünglich alle
in der Erde , und ihre Füße ſind Scharrſchaufeln geworden .
Wohl ſind dann ein paar Formen im Urwald auch zu Kletterern
geworden : das Faultier hängt träge im Blätterdach . Aber ſtatt
der Hände hat es ſtarre Kleiderhaken ſich entwickelt , die Grab¬
ſchaufel zu einem Ding beinah wie eine Eishacke , mit der es
ſich von Aſt zu Aſt zieht , umgeformt . Nichts für dich !
Graue Geſpenſterſcharen in der Luft , am Zweige hängend
wie ein eingeklappter Regenſchirm : die Fledermäuſe . Zwiſchen
ihre rieſenhaft geſpreizten Finger iſt die Haut in breiter Fläche
eingewachſen , bis ein ſchwaches Flugorgan entſtanden iſt . Ein
Renegatenzug zum Vogel ! Aber das äußerſte Gegenteil von
Lauffuß und Kletterhand . Vorbei ! Die Raubtiere . Bei ihnen
iſt die Klaue in erſter Linie Waffe geworden . In furchtbaren
Krallen , nicht mehr zum Graben , ſondern zum Packen der Beute ,
konzentriert ſich ihre wichtigſte Leiſtung . Die ſo bewehrte Pranke
iſt Meſſer , Schwert , Streitaxt . Aber die Waffen ſind da¬
bei angewachſen , ſind Organ . Wäre die Hand frei beweglich
wie bei dir , ſo könnte ſie ſich Waffen jeder Art aus fremden
Stoffen ſchmieden . Aber ſo ... vorbei !
Die Nagetiere . Da hüpft die Springmaus wieder auf
den Hinterbeinen wie das Känguruh . Folge dem Eichkätzchen ,
wie niedlich es Männchen macht und die Frucht mit den Vorder¬
füßchen zum Munde führt , wirklich faſt wie mit Händen . Aber
auch an dieſen Händen ſitzen noch keine Nägel , ſondern ſcharfe
ſpitze Krallen . Und der Fuß der Springmaus iſt noch ganz
und gar kein Gehfuß . Immerhin iſt an dieſen kleinen Geſellen
etwas wie ein Ahnen , ein Vordeuten , als ſollte es hier herum
auf dich losgehen . Eine alte Gruppe ſind dieſe Nager , ſehr
früh und vielleicht ſehr für ſich hervorgegangen aus den Beutel¬
tieren . Das gilt aber noch mehr von einer ganz kleinen anderen
Säugergruppe .
Siehſt du die braunen Erdhügel dort im Graſe — mit
fabelhafter Wucht durch den zähen Uferboden heraufgeſtoßen
von einem wühlenden Geſellen , der , ein Liliputer an Größe ,
doch eine Herkuleskraft in ſich hegt — dem Maulwurf ! Nur
zwei Stammesbrüder hat er noch hier im Lande : die Spitz¬
maus und den Igel . Das Trio bildet die Gruppe der ſo¬
genannten Inſektenfreſſer . Wie Schnabeltier und Känguruh
ſind ſie Nachzügler einer entſchwundenen Zeit . Sie haben wohl
den Ichthyoſaurus noch gekannt , wahrſcheinlich ſind ſie über¬
haupt die allererſte Säugerſorte geweſen , die in der Entwickelung
ſich über Schnabeltier und Beuteltier erhoben hat .
Ja , ſo viel der Volksmund auch über ihn ſcherzen mag ,
über den ehrſamen Herrn Swinegel : er iſt ein Urweltfahrer ,
ein grauer Anachoret , der einſt im Morgenrot des ganzen
höheren Säugetiervolks geſtanden hat — von allen Säugetieren
deines deutſchen Landes mindeſtens das älteſte und merkwürdigſte .
Deine Hochachtung muß ſich aber noch mehren , wenn du er¬
fährſt , daß dieſer Igel aller Wahrſcheinlichkeit nach auch noch
in deiner eigenen Menſchwerdung auf Erden eine Rolle ge¬
ſpielt hat .
Der Igel ſelber iſt ja weder ein Hinterbeinläufer noch ein
Handkletterer . Menſchenunähnlicher kann nicht leicht ein Tier
ausſehen . Aber darauf kommt 's hier nicht an . Schon ſein Stachel¬
kleid verrät , daß Herr Swinegel ein uralter , den reptiliſchen
Säugerahnen näherer Epigone in unſerer Zeit iſt . Dreimal im
ganzen nur im Bereich der Haartiere kommt ſolche ſonderbare
Stachelei vor . Einmal noch bei ſehr niedrigen und altertüm¬
lichen Nagetieren , den Stachelſchweinen . Und dann , bezeichnen¬
derweiſe , beim Schnabeltier , das noch Eier legt und geradezu
erſt auf der Grenze von Reptil und Säugetier ſteht . Das
Land-Schnabeltier von Auſtralien und Neu-Guinea gleicht ſehr
auffällig in ſeinem Stachelrock dem Igel . Alſo in dieſem Sinne
knüpft der Igel noch ganz unten an . Die Linie läuft für ihn
bloß : Eidechſe , Schnabeltier , Beuteltier — dann kommt er .
Was ſich jenſeits der Beuteltiere ſonſt an jenen anderen großen
Säugergruppen herangebildet hat , geht ihn in ſeiner unmittel¬
baren uralten Angliederung nichts an .
Umgekehrt aber : und jetzt kommt das eigentlich Entſcheidende ,
hat der Igel nach oben über ſich hinaus wieder eine Ent¬
wickelungslinie angeregt . Noch heute hat der Igel auf
den tropiſchen Sundainſeln gewiſſe entfernte Verwandte , die
ſogenannten Spitzhörnchen , die gleich Eichkätzchen auf den Bäumen
klettern und zugleich treffliche Springer mit ziemlich langen
Hinterbeinen ſind . Aus ſolchen inſektenfreſſenden Kletterkünſtlern
ſcheint ſich nun in ebenfalls ſehr grauen Tagen die letzte Säuger¬
gruppe entwickelt zu haben , die uns überhaupt jetzt noch übrig
iſt — nämlich die Affen .
Den Übergang bildeten dabei die ſogenannten Halbaffen ,
ein ſonderbares , nächtlich lebendes Geſchlecht bereits aus¬
geſprochener Kletterer , das , einſt weit verbreitet , heute auf der
Erde größtenteils ausgeſtorben iſt und in einer Anzahl von
Nachzüglern hauptſächlich nur noch die große geheimnisvolle
Inſel Madagaskar bewohnt .
Dieſe Halbaffen oder Lemuren ſind , wenn du auf der
Suche nach dir ſelber zu ihnen kommſt , nun endgültig der
Zeichen und Vordeutungen allenthalben voll . Hier bei dieſen
Halbaffen iſt der entſcheidende Griff gethan , auf den du ſo
lange gewartet haſt . Gieb ihnen die Hand hin , den „ ſchlottern¬
den Lemuren “ , wie ſie zu deinem Hexenkeſſel von den Urwald¬
äſten verſchollener Tage und aus den Nachtwäldern Mada¬
gaskars huſchen — eine Hand legt ſich auch in deine Hand .
Da ſtellt ſich der Daumen ſchon beweglich den anderen Fingern
gegenüber . Da formt ſich die Kralle zum Nagel um . Es iſt
die erſte Hand des Weltenwerdens , die ſich zu dir reckt . Der
Fuß der Igel und Schnabeltiere , zum endgültig praktiſchſten
aller Greiforgane umgeſchaffen im äußerſten Triumph des
Kletterberufs .
Seltſamſtes Volk fürwahr , dieſe Lemuren . Da iſt das
Koboldäffchen oder der Geſpenſtermaki , mit rieſigen Nachtaugen .
Auf den Gewürzinſeln Aſiens hauſt er . Mit ſeinen langen
Springbeinen und Kletterhänden zugleich iſt es , als ſei that¬
ſächlich eine Springmaus hier auf die Zweige geſtiegen . Und
in dieſer aufrechten Geſtalt ſtarrt dich das Geſpenſtlein beinah
ſchon an wie ein verwunſchenes Menſchen-Zwerglein . Gerade
es ſteht deiner Ahnenreihe auch zweifellos irgendwie beſonders
nahe . In Amerika ſind verſteinerte Reſte ſolcher Kobolde ge¬
funden worden , die in all ihrer Kleinheit doch ſo rieſige Ge¬
hirnhöhlen haben , daß man ſie geradezu „ Homunculus “ , das
Zwitter-Menſchlein , benannt hat . Trotzdem iſt jene ſcheinbare
Vereinigung von Hüpfen auf langem Hinterbein und Klettern
mit den Pfoten auch hier noch nicht das Entſcheidende geweſen
— das machte nur noch einmal dasſelbe vor , was Kletter-
Känguruh und Kletter-Igel ſchon früher vollbracht . Der wahre
Weg zum gehenden und greifenden Menſchen ging vielmehr
über etwas , was zunächſt wie ein Abweg ausſah .
Der Halbaffe , ganz allgemein , war , wie geſagt , der Gipfel
zunächſt im Klettern . Für die Zwecke des Kletterns formte er
ſeine vordere Igelpfote zur Hand . Für die Zwecke des noch
ausgiebigeren Kletterns ging er dann aber noch einen Griff
weiter : er formte auch noch ſeine Hinterpfoten ebenfalls zur
Hand . Nicht nur das erſte „ Handtier “ wurde er — er wurde
ſogleich das Extrem des Handtiers : — ein Vierhänder . Alſo
etwas , was du nicht biſt . Es ſcheint ein Abweg , gleich bei
der erſten entſchiedenen Staffel zu dir . Und doch iſt es keiner .
Aus dem Halbaffen wurde eines Tages der echte Affe .
Jene bunte Reihe vom winzigen gelben Löwenäffchen bis zum
grotesken rotnaſigen Mandrill und bis zum unheimlichen ſchwarzen
Gorilla , der dich an Größe und phyſiſcher Kraft überragt .
Vom Halbaffen ſchon erbte dieſer Affe die vier Hände — das
heißt : die Umwandlung auch der Hinterfüße zu Greiforganen .
Er aber kam damit noch eine Stufe weiter . Indem er die
Kletterei ſo intenſiv wie möglich forttrieb , entſtand eine Weile
ein Fortgang der Art , daß ſeine Vordergliedmaßen , ſeine Arme ,
die immer mehr vor griffen , während die Hinterhände bloß
ſtützten beim Klettern im Geäſt , ſich länger entwickelten als
die Hinterbeine . Das erreichte ſeinen Gipfel bei dem Gibbon-
Affen .
Einen Meter etwa hoch , klaftert er mit ausgebreiteten
Armen das doppelte . Gerade dieſe Gibbon-Affen hatten ſich
nun ſonſt in allem ſehr günſtig weitergebildet . Ein ſolcher
Gibbon hat hinten ſchon keinen Schwanz mehr , genau wie du .
Ein ſolcher Gibbon ſingt dir die Tonleiter fehlerlos vor , was
kein Säugetier ſonſt kann .
Vom Nebelfleck an — es giebt kein Gebilde der ganzen
dir bekannten Welt , das eine ſo verführeriſche Ähnlichkeit mit
dir hätte wie ein ſolcher Gibbon-Affe .
Bloß : auch er iſt zunächſt noch das ausgeſprochenſte
Klettertier . Er hat deine Gehfüße noch nicht . Ihn jetzt mit
dem Känguruh oder der Springmaus verquicken — und wir
hätten dich ! Halt aber . Er ſelber ſteigt vom Baum . Und
nun macht er dir vor , daß er thatſächlich mehr iſt als Känguruh
und Springmaus . Durch ſeine Kletterei ſelbſt hat er gerade
ſie überwunden — überwunden in demſelben Augenblick , da er
zum erſtenmal vom Baum herabſteigt .
G ibbons hauſten in einem Gehölz . Der Ort iſt ihnen
verleidet . Sie werden hier verfolgt oder ſonſt etwas . Drüben ,
jenſeits eines Stückes Flachboden lockt ein anderer Baumfleck ,
der ungeſtörter erſcheint oder beſſere Nahrung giebt . Es ſind
ja ſchon enorm kluge Tiere , die kalkulieren . Alſo auf dahin .
Der Gibbon ſteigt vom Baum und ſchickt ſich an , die zwiſchen¬
liegende Landſtrecke zu nehmen . Im erſten Moment ſcheint
das verzweifelt ſchwierig . Das nächſte wäre ja : auf allen
Vieren laufen , wie die Ahnen , die Igel , Beutelratten und
Schnabeltiere gelaufen ſind . Auf der Fläche aller vier Hände !
Aber wie die Viere zugleich ins Tempo bringen ? Die Vorder¬
arme ſind viel länger als die Hinterglieder . Es geht nicht !
Der Körper iſt aber doch beim Klettern ſchon ſo unzählige
Male frei aufgerichtet worden . Alſo verſuchen wir 's ſo , hoch
auf den Hinterbeinen . Wie Känguruh und Springmaus hüpfend
geht 's freilich auch nicht — mit dieſen aufgeſetzten platten
hinteren Handflächen und dieſen ſchweren ſchlotternden Armen .
Da muß nochmals die Schläue helfen .
Das ganz beträchtliche Gehirn liefert ſie ja .
Die Hinterhände müſſen als Gehfüße nicht hüpfend , ſondern
feſtſchreitend Boden faſſen , und zugleich müſſen die Arme irgend¬
wie in die Balance gebracht werden . Ein ähnlicher großer
Affe der Art , der Orang-Utan , ſtützt ſich vorgebeugt einfach
gehend auf die Vorderhände . Der Gibbon aber macht 's noch
ſchlauer . Er hebt die langen Schlenkerarme bis über den Kopf
herauf , knickt die Hände nach außen um und läuft ſo , etwas
torkelig wohl noch , aber immerhin im Gleichgewicht , ſchnell da¬
hin auf den nächſten Wald zu . Triumph !
Mit dieſer einfachen Leiſtung iſt das „ Bewegungsproblem
Menſch “ gelöſt . Auf Java ſind die Knochenreſte eines Gibbon-
Affen gefunden worden , der im Gehirnraum ſeines Schädels
genau ſchon die Mitte hielt zwiſchen Gorilla und Menſch und
der gleichzeitig bereits ſo famos geſtreckte Oberſchenkel beſaß ,
daß aufrechter Gang bei ihm ſchon feſte Regel geweſen ſein
muß . Von dieſem Weſen iſt mit ſcharfer Definition nicht mehr
auszuſagen , ob es noch Affe — oder ſchon Menſch war .
Es war der Affenmenſch .
Vom Baumleben hatte er ſich dauernd entfremdet . Damit
war jene übermäßige Kletter-Verlängerung der Vorderarme ,
wie ſie der echte Gibbon zeigt , bei ihm von ſelbſt wieder rück¬
gebildet worden . Bloß die Beweglichkeit des Armes und die
famoſe Hand hatte er ſich bewahrt . Seine Hinterhände aber
hatte er zu dauernden Gehfüßen werden laſſen .
Du magſt dich wehren oder nicht : mit einem Weſen dieſer
Art , deſſen Knochen heute im Muſeum zu Leiden zu jedermanns
Kenntnisnahme liegen , biſt „ du “ im weſentlichen einfach er¬
reicht . Die Sortiermaſchine wirft dich ins letzte Loch . Du
biſt ein höchſt entwickelter Affe .
Du merkſt wohl , was dein Leib , der alte Weiſe , dir
eigentlich erzählt hat .
Im Bilde deſſen , was du biſt , hat er dir gezeigt , wo du
herſtammſt . Die Sortiermaſchine , in der er dich weidlich hin
und her geworfen hat , bis du endlich beim Affen herauskamſt ,
iſt in Wahrheit dein Stammbaum , das große heilige Pergament ,
das dir deine Ahnenreihe verbrieft . Er ſteht nicht in irgend
welchen Phantaſieen und viſionären Träumen , ſondern dein
Leib ſelber lebt ihn noch heute in dir .
Es iſt eine ewige Gegenwart wirklich in den Dingen .
Alles Gewordene ſchließt wie Jahresringe ſein eigenes Werden
ein . Nur dein Auge muß den Maßſtab langſam dafür finden .
Das Geiſtesauge der Menſchheit nähert ſich heute unverkennbar
dem Punkte , wo auf langem Umweg durch tauſend Einzelheiten
der Forſchung etwas derart ſich auch bei ihm eingeſtellt . Es
iſt gleichſam , als ſtrecke ſich unſer Zeitbegriff .
Der Zeitbegriff iſt ja etwas ganz relatives . Man kann
ihn ſich verengt und erweitert denken . Zum Beiſpiel du als
Menſch in deinem gewöhnlichen Lebenszuſtande empfindeſt alles ,
was innerhalb etwa einer Sekunde liegt , als Eins , als Gleich¬
zeitiges , als „ Augenblick “ . Trotzdem kann ſich in ſolcher Se¬
kunde zweifellos unendlich viel hintereinander abſpielen , und rein
gedanklich kannſt du ſie als Kreis eines ungeheuren Zifferblattes
denken , auf dem der Zeiger genau ſo Schritt für Schritt dahin
tickt wie der gröbere Zeiger deiner Stundenuhr . Wenn du dir
denkſt , dein Empfindungsvermögen ſei plötzlich ſehr verfeinert ,
ſo wäre nichts beſonderes dabei , daß du wirklich in einer
Sekunde eine Unmaſſe Vorgänge um dich her wohl geordnet
nacheinander aufmarſchieren ſäheſt . Die Sekunde würde dir
dann einfach ſtundenlang vorkommen . Es ſcheint ſogar geradezu ,
daß unſer Aufmerkungsvermögen in gewiſſen beſonderen Lagen
derartig erregt werden kann , daß es ſich vorübergehend wirklich
ſo ſtellt . In höchſten Gefahrmomenten erleben wir lange Ketten
von Vorgängen , die uns endlos dünken , in einer Sekunde .
Und im Traum hat wohl jeder ſchon mitgemacht , daß er einer
langen , komplizierten Handlung folgt , die im Wachen viele
Stunden , ja Tage in Anſpruch nähme — wenn du aber hinter¬
her auf die Uhr ſiehſt , ſo biſt du kaum ſo lange eingenickt
geweſen , als eine Uhr zwölf ſchlägt . Auf dieſen letzteren Sach¬
verhalt führt ſich ( nebenbei geſagt ) wohl auch jene oft beob¬
achtete Traumthatſache zurück : wir träumen eine lange Hand¬
lung , die auf einen Donnerſchlag oder Schuß abzielt , vielleicht
das Aufſteigen eines Gewitters oder Vorbereitungen zu einer
Pulverexploſion oder ähnliches — endlich kommt auch der
Schlag ... in dieſem Moment aber erwachen wir und hören
wirklich einen lauten Ton , etwa den Schlag des weckenden
Hausknechts gegen unſere Zimmerthür . Man fragt ſich , wie
das möglich war . Haben wir prophetiſch geträumt ? In Wahr¬
heit hat ſich die ganze Traumerfindung einfach innerhalb des
winzigen Zeitbruchteils erſt angeſponnen und bewegt , die der
Klopflaut ſelber umfaßt ; im Wachen empfinden wir ihn als
eine einzige momentane Schallempfindung ; der Traum aber hat
mit ſeinem ſchnelleren Zeitmaßſtab eine lange Folgekette von
Ereigniſſen zwiſchen ſeinen Anfang und ſein Ende hinein¬
gedichtet .
Solche Verſchiebungen ließen ſich nun leicht auch umgekehrt
nicht bloß ins Kleine , ſondern auch ins Große hineindenken .
Stelle dir einen Zeit-Maßſtab vor , bei dem ein Jahr etwa
das Weſen einer Sekunde annähme . Alle ſeine Vorgänge
drängten ſich einem Auge , das ſo empfände , in einen einzigen
Moment , in einen „ Augenblick “ einheitlich zuſammen . Was
aber von Jahren gelten mag , ließe ſich ſchließlich auch ganz
genau ſo gut von Jahrhunderten , Jahrtauſenden , ja von Jahr¬
millionen ausdenken . Da ſähe ein Auge in ein einziges Mo¬
mentbild verſchmolzen unermeßliche Entwickelungsketten , von
Nebelflecken bis zu Planeten mit Menſchenkunſt und Menſchen¬
liebe . Haſt du aber wohl einmal daran gedacht , daß du mit
deinen Menſchenaugen in gewiſſem Sinne wirklich ſo ſiehſt ?
Und daß alle deine Geſchichts- und Naturforſchung ins Detail
des Alten und entwickelungsgeſchichtlich Früheren hinein eigentlich
nichts iſt , als ein Verſuch , in dein Augenblicksſehen , das alles
in eins ſieht , wieder etwas von jenem feineren Sekunden-
Maßſtab zurückzubringen , auf daß das engere Entwickelungs-
Gewebe noch einmal ſichtbar werde ?
Du ſchauſt deinen nackten Leib an . Als ein einheitliches
Momentbild blitzt er in deine Seele . Aber in dieſem nackten
Leibe iſt in Wahrheit alles umſchloſſen , was zwiſchen Nebel¬
fleck und Menſch liegt . Es iſt in ein Schlußbild zuſammen¬
faſſend gezwängt — aber darin iſt alles . Indem du die
ganze Vorgeſchichte daraus herauszuleſen ſuchſt , gliederſt du
dieſes „ Alles “ bloß dir Stück um Stück wieder in einen ver¬
tiefteren Zeit-Maßſtab um — du lieſt gleichſam die Bruchteile
der Sekunde Eindruck dieſes nackten Körpers wieder hinein mit
Hilfe eines beſtimmten wunderbaren Traumes , über den ſich
die Menſchheit als „ Realität “ ſo ziemlich geeinigt hat : der
Wiſſenſchaft . Im Detail iſt es ja vielfach noch ſo eine Sache
ſogar mit dieſer Einigung , und mancher wird das , was der
eine ſchon für Wiſſenſchaft hält , noch ſchlechtweg und mit böſem
Sinne Traum nennen . Das ſei aber nun einerlei . Schließlich
iſt ja das ganze greifbare Ungetüm , das wir „ Wirklichkeit “
nennen , überhaupt nichts anderes als ein durch Übereinkunft
der ſozial lebenden Kulturmenſchheit von etwa fünftauſend
Jahren gleichſam konventionell anerkannter „ Einzeltraum “ unter
vielen — der logiſch beſte , glatteſte , am häufigſten bei vielen
gleichartig wiederkehrende und alſo ſozial am einfachſten zu
berechnende und zu verwertende Traum ! Wobei denn immer
noch kleine Grenzſtreitigkeiten mit unterlaufen mögen .....
Über die darfſt du dir nicht allzu viel graue Haare wachſen
laſſen .
Die Hauptſache iſt , daß du heute noch hier mit deinem
warmen lebendigen liebesreifen Leibe an dieſem hellen Maien¬
tag die ganze Entwickelungslinie vom Urnebel bis zur erſten
Zelle , von der erſten Zelle zum Wurm , Fiſch und Molch und
endlich bis zum Menſchen herauf in dir ſelber verkörperſt .
Je nachdem ich dich heute zerlege mit meinem Geſchichts-
Maßſtab , biſt du auch jetzt noch Nebelfleck , Urzelle , Wurm und
Fiſch . Mit all dem früheren zuſammen bildeſt du eine einzige
ungeheure Einheit . In der Sekunde , da ich dich hier an¬
ſchaue , durchdrungen von dem andächtigen Gefühl „ Welch herr¬
liches Kunſtwerk iſt der Menſch “ — in dieſer Sekunde ſtrahlt
dein Körper mir alle jene Jahrmillionen der Entwickelung wie
aus einem Brennſpiegel der Zeit entgegen . Wie dein Leib
räumlich nicht hier endet , wo dein Auge lacht , ſondern in
Wahrheit bis zur Sonne und bis zum Sirius reicht , die er
trotz ihrer räumlichen Entfernung von Millionen und Billionen
Meilen mit dem kleinen Hautſtückchen ſeiner Netzhaut im Auge
noch leibhaftig taſtet — ſo hört auch dein Zeitleib nicht auf
mit dieſer Sekunde , noch mit den paar Jahren deiner ganzen
ſogenannten Menſchenexiſtenz — er hört nicht auf mit den
paar Jahrhunderttauſenden der ganzen ſogenannten Menſchheit ;
ſondern er greift in ſich zuſammen wie ein kosmiſcher Winkel¬
ried die Speere aller Jahrmillionen hinter ſich und aller
Formen in dieſen Jahrmillionen , die auf ihn angegangen , die
„ er ſelbſt “ jemals geweſen ſind .
Im Sinne dieſer höchſten und freieſten philoſophiſchen
Betrachtung laß uns jetzt verſuchen , unſerm weiſen Leibe auch
die zweite und engere Frage vorzulegen : was iſt die Liebe des
Menſchen ?
Die einzelnen Organe , Magen , Hirn , Rückgrat , Lunge ,
Hand haben uns ſo ziemlich durchgeholfen für eine Angliederung
des heutigen Menſchen an einen rieſigen Organismus , der in
Aonen der Zeit ſich fort und fort gewälzt hat und endlich
ganz und gar in ihm aufgegangen iſt . Unſere zweite Frage
jetzt muß nun ein engeres Organ nochmals herausgreifen und
in dieſer ganzen umfaſſenden Bahn uns vor Augen ſtellen .
Du begreifſt , was allein für ein Organ da in Betracht kommen
8
kann : das Geſchlechtsorgan . Indem wir uns das Recht jenes
Blumenſtandpunktes vollends wahren , ſtellen wir es unbefangen
jetzt in den Mittelpunkt unſerer Erörterung , gleichwie wenn
eines jener lieben Vergißmeinnicht-Blauäugelein oder Myrthen-
Sternchen uns naiv ſeine Befruchtungsſeite im hellen Lichte
entgegen reckte .
D ie friedliche Betrachtung der menſchlichen Geſchlechtsteile
führt uns in allererſter Linie vor die ſchon in dieſem Plural
gegebene Thatſache : daß es ſich nicht um den Geſchlechtsteil
handelt , ſondern um „ die “ in der Mehrheit .
Der Zweiheit .
Der Menſch , wie er ſich uns als Geſchlechtsweſen präſen¬
tiert , iſt zunächſt unabänderlich auch eines jener Doppelweſen
mit Geſchlechtertrennung . Hie Mann , hie Weib . Hie männ¬
liches Geſchlechtsteil , hie weibliches . In Summa Geſchlechtsteile .
Dieſe Thatſache iſt von Anfang an überaus wichtig . Sie
lehrt uns nämlich folgendes . Bei der ganzen Organbetrachtung ,
der wir bisher gefolgt ſind , bei Magen , Hirn , Knochengerüſt ,
Lunge , Hand und ſo weiter , konnten wir immer von einem
Körper allein ausgehen . Wohl ergab dieſer Körper in ſich
ſchon gewiſſe Notwendigkeiten , wo er nach dem Fenſter- , Räder- ,
und Ruderprinzip eine Zweiteilung der Organe in ſich ſelbſt
möglich und nötig machte : zwei Arme und Beine , zwei
Lungenflügel , auch zwei Gehirnhälften und ſo weiter . Aber
ſchließlich blieb das alles im einen und gleichen Leibe umfaßt .
Bei den Geſchlechtsteilen dagegen kann ich nicht zu dir ſagen :
zieh dir die Kleider aus und wirf dich nackt ins Gras und
laß dich von dieſem deinem Leibe belehren . Hier mußt du in
der Idee dir etwas ergänzen . Du mußt dir zwei Leiber ſo
denken , einen männlichen und einen weiblichen . Mit dem
kleinen Wörtchen „ zwei “ ſpringſt du aber um einen wahren
Weltenabſtand . Eins heißt Einſiedelei . Zwei heißt Soziales .
8*
Mit den Geſchlechtsteilen , das mußt du dir geradezu als Grund¬
theſe einprägen , ſprengſt du auch beim Menſchen den konven¬
tionellen Individual-Begriff nach oben hinaus . Das iſt ſo
zu verſtehen .
Du , — wie du hier vor mir ſitzſt und dir von der Ur¬
geſchichte der Liebe erzählen läßt — was biſt du ? Ein
Menſch . Ja wohl , aber es giebt 1500 Millionen Menſchen
rund gerechnet auf dem Planeten Erde . Was biſt ſpeziell du
bei dieſen Millionen ? Du biſt ein einzelner Menſch , ein ein¬
zelnes menſchliches Individuum . Der Begriff Menſch oder
allgemeiner geſagt , Menſchheit zerſpaltet ſich auf der Erde in
rund 1500 Millionen ſolcher Individuen wie du eines biſt .
Das Geheimnis dieſer Zerſpaltung beruht darauf , daß du dich ,
obwohl du „ Menſch “ biſt wie alle die anderen 1499 999 999
Menſchen , doch noch als etwas beſonderes darunter fühlſt .
Du fühlſt dich als „ Ich “ , als geſonderten Punkt in dieſer
ungeheuren Kopfzahl , als Anſchauungsmittelpunkt . Alle die
anderen , obwohl auch zugeſtandenermaßen Menſchen , ſtehen dir
gegenüber als „ Du “ . In dir ſelber biſt du der ewige Luther ,
der da ſagt : „ Hier ſtehe ich , ich kann nicht anders . “ Dieſes
Gefühl des Aufſichſelbſtſtehens , des eigenen Punktbildens , des
innerlich unerſchütterlichen Alpha und Omega , des aus dem
Tiefſten herausgepreßten Bekenntniſſes : „ Hier ſtehe ich “ , —
das iſt es , was man „ Individuum “ nennt .
Der Begriff iſt eigentlich ſeeliſch erſchaffen worden , —
oder beſſer noch geſagt : aus jenem reinen Grundzuſtande in
uns heraus , der noch gar nichts mit der begrifflichen Trennung
von Seele und Leib zu thun hat . Wenn du auf dieſe trennende
Welt aber nachträglich dich einmal einläßt , ſo iſt wohl zu
merken , daß der Begriff des Individuums ſich auch körperlich
bei dir bis zu gewiſſem Grade faſſen und greifen läßt . Du
ſtehſt nicht nur für dich , ſondern auf einem gewiſſen Umwege
greifbar auch für mich — alſo objektiv genommen — als
etwas ſo zu ſagen Einheitliches , im allgemeinen Menſchentypus
Individualiſiertes vor mir , — obgleich ich in deine Seele nicht
ſchauen kann , ſondern mich an den ſogenannten Leib halten muß .
Und wenn du dich hier im Waſſer abgeſpiegelt beſiehſt , alſo dich
dir ſelber objektivierſt , ſo ſiehſt du da auch an dir einen
Menſchenkörper , der als ſolcher ſeine Beſonderheiten wohl
gegenüber allen anderen auf Erden hat .
Das iſt nun alles klar und hübſch , und wenn wir etz¬
welche Kunſtausdrücke fortlaſſen , ſo wirſt du ſagen , daß das im
Grunde eine wahre Bauern- und Barbiersweisheit ſei , ſo
ſelbſtverſtändlich , daß es überhaupt nicht noch einmal geſagt
zu werden brauchte . Nun habe ich dir aber früher einmal
bekannt , du müßteſt gerade zu dem Wörtchen Individuum noch
ziemlich viel hinzulernen , um dieſes Wortſchifflein wieder
ordentlich flott zu kriegen auf dem wilden Ozean moderner
Welt-Ideen . Und da iſt eine Hauptſache dieſes .
Du mußt dir ſagen , daß eine Individualität zunächſt nach
unten zuſammengeſetzt ſein kann aus ſo und ſo viel kleineren
Individualitäten .
Das ſieht ja im erſten Moment aus wie eine Ungeheuer¬
lichkeit . „ Ich “ ſoll aus etwas zuſammengeſetzt ſein . Indivi¬
duum heißt ja grade : das Unteilbare . Ich bin ich und bin
alſo nicht teilbar . Gemach . Nehmen wir einmal an , die
Welt ſei wirklich grob dualiſtiſch geſchieden in Seeliſches und
Körperliches . Ich halte dieſe Unterſcheidung im Weſen für
falſch und nehme ſie ernſtlich nur als nachträgliche begriffliche
Trennung , die einen gewiſſen Finde-Wert hat . Aber einerlei .
Es ſeien hier einmal wirklich zwei Wege des Erkennens .
Und ſo nehmen wir alſo ein grobes Beiſpiel aus der
körperlichen Welt .
Hier iſt ein dicker Sack und in dem Sack iſt Sand . Der
ganze Sandſack wiegt ſo und ſo viel . Er drückt auf die Wage
mit dem und dem Gewicht . Dieſe Gewichtsziffer iſt eine feſte
Größe . So viel Druckkraft übt der Sack als Ganzes aus .
Sagen wir mal , dieſe Ziffer ſei jetzt der Ausdruck der wirkenden
Perſönlichkeit , der Individualität „ Sack “ . Dieſer Maſſe , die
dieſe beſtimmte Wirkung ausübt , entſpricht auch hier eine äußere
individuelle Form : wir ſehen den Sack als ſolchen da ſtehen ,
ſehen das Ding , das genau dieſe beſtimmte Ziffer Druckkraft
auf die Wage ausübt . Trotz alledem weißt du ganz genau :
der Inhalt des Sackes beſteht aus ſo und ſo viel einzelnen
Sandkörnern . Jedes Sandkörnlein , für ſich allein gedacht ,
würde nur ein Gewicht von höchſtens ſo und ſo viel Prozent
des Geſamtgewichtes haben . Für ſich allein auf die Wage
gelegt , wöge es das aber wirklich . Allein dahin gelegt , bildete
es für ſich eine ebenſolche Einheit wie der ganze Sack , bloß
eine in der Druckwirkung faſt verſchwindend ſchwächere Einheit .
Nun ſieh deinen Leib an . Auch zunächſt rein körperlich .
Er vollführt gewiſſe Leiſtungen , genau wie der Sack ſeinen
Druck auf die Wage ausübt . Und doch kannſt du auch in
dieſem deinem Leibe eine innere Vielheit körperlich ſehr gut
erkennen , — genau ſo wie im Sack die Sandkörner . Ich laſſe
beiſeite , daß dein Leib aus kleinſten Teilchen ſeiner ſtofflichen
Elemente und ſeiner chemiſchen Verbindungen zuſammengeſetzt
iſt : den ſogenannten Atomen und Molekülen . Das ginge ja
noch unter die Sandkörnlein hinunter . Wie aus dieſen der
Sack , ſo iſt aber dein Leib zuſammengeſetzt aus ſeinen Zellen .
Dieſe Zellen ſind kleine Teilchen belebter Maſſe , die deinen
lebenden Körper ſo zuſammenſetzen , daß jede ihre unverkennbare
körperliche Einzelgeſtalt ſo weit bewahrt , dabei aber doch im
Ganzen der neue , wieder ganz einheitliche Leib entſteht . Es
geſchieht das hier auf eine Weiſe , die an ſich ja noch viel
verwickelter iſt als die einfache Zuſammenhäufung der Sand¬
körnlein in unſerm Sack . Die Zellenkörnlein haben ſich näm¬
lich innerhalb ihres großen Leibesſacks erſt noch einmal zu
kleinen Unter-Säcken gleichſam angeordnet : ſie bilden Organe
in dir , die als kleinere Zellgenoſſenſchaften in dir ſo zu ſagen
erſt eine Anzahl kleinerer Separat-Leiber bilden . Wir haben
vorhin ſchon einmal davon geſprochen . Dein Magen , deine
Lunge , dein Herz , dein Geſchlechtsteil : das ſind ſolche Separat-
Leiblein in dir nochmals zwiſchen den Milliarden kleinſter
Zellen-Leiblein und deinem großen Geſamt-Leibe , den dein
Ich geſpiegelt ſieht , wenn es hier ins blaue Waſſer ſchaut .
Doch das iſt nur Nebenſächliches .
Nun aber zur Hauptſache : dein Leib exiſtiert thatſächlich
nicht bloß körperlich für dich als ſolches Spiegelbild im Waſſer
oder als greifbares , hörbares , ſichtbares , objektives Ding für
mich hier , — er iſt zugleich innerlich und ſeeliſch für dich dein
„ Ich “ ſelbſt , — er iſt deine geiſtige Individualität .
Magſt du dir vom Boden deiner Philoſophie aus den
Zuſammenhang nun denken wie du willſt . Im Sinne , daß
der körperliche Leib das Seeliſche „ bewirkt “ als eine Handlung
ſo , wie der Sandſack als Ganzes einen beſtimmten Druck auf
die Wage bewirkte und ſein „ Gewicht “ hervorbrachte . Oder
ſo , daß es überhaupt nur ein Ding bei dir giebt , das du je
nachdem als Leib oder Geiſt auffaſſeſt . Oder ſo , daß du
eigentlich nur Geiſt biſt und der Leib erſt durch eine Art
Subtraktionsexempel in dir , aber ſtets per Denkprozeß ,
entſteht . Dieſe dunklen Waſſer wollen wir hier nicht aufrühren .
Das Weſentliche bleibt : der leiblichen Individualität bei dir zu
deinen Lebzeiten entſpricht offenbar auch eine ſeeliſche .
Iſt nun die leibliche Individualität nach unten zuſammen¬
geſetzt aus kleineren , von ihr umſchloſſenen Individualitäten ,
— den Zellen und ſo weiter — ſo liegt mindeſtens eine hohe
Wahrſcheinlichkeit vor , das gleiche auch von der ſeeliſchen In¬
dividualität vorauszuſetzen . Alſo von deinem „ Ich “ . Die
Wahrſcheinlichkeit wird faſt zur Gewißheit im Moment , da
du dir jene öfter zwiſchen uns jetzt ſchon erwähnte That¬
ſache ins Gedächtnis rufſt : daß mindeſtens jede Zelle auch eine
ſeeliſche Individualität wirklich iſt .
Das klingt ja dem ungeübten Ohr immer wieder ſeltſam
genug : jedes mikroſkopiſch kleine Zellchen da in deiner Haut ,
deinem Darm , deiner Leber oder Niere ſoll ein Seelchen für
ſich in ſich tragen ſo gut wie es ein körperliches Einzel-Zellchen
in dem großen Zellverbande deines Leibes darſtellt ! Und doch
iſt die Sache ſehr wenig wunderbar , wenn du höchſt ſimple ,
alltägliche Thatſachen ins Auge faßt .
Da leben in Bazillen , Amöben , Moneren , Radiolarien
und ſo weiter und weiter allerorten auf Erden dir lebende
Weſen mit allen Zeichen ſelbſtändigen Lebens , die überhaupt
nie etwas anderes darſtellen als eine einzige derartige Zelle .
Sie ſind leiblich und ſeeliſch vollkommenes Individuum wie
du — und bilden doch nur eine Zelle , eines jener Körperchen ,
deren Milliarden deinen Leib aufbauen . Aus ſolchen Ein-
Zellern hat geſchichtlich ſich erſt der wunderbare Zellen-Staat
deines Leibes entwickelt , — allmählich , erſt als roher Zell¬
klumpen , dann , indem die Zellen dieſes Klumpens eine feinere
Arbeitsgenoſſenſchaft mit Arbeitsteilung bildeten , ſich in Organe
ſonderten , wie eine ſoziale Roh-Maſſe ſich in Zünfte zerteilt ,
von denen dieſe die Stiefel macht , dieſe die Röcke und jene die
Theaterſtücke . Sollten die Einzel-Zellen dieſes raffinierten
Staates , den du als „ Leib “ beſitzſt , in dir ſelbſt keine Zell-
Seele mehr beſitzen , ſo müßten ſie ſie mindeſtens nachträglich
noch wieder verloren haben ! Aber haben ſie das wirklich ?
Überlege dir nur eine einzige Thatſache , die aber ſo ein¬
dringlich ſpricht , daß eigentlich jeder Widerſpruch augenblicklich
verſtummen muß . Denke dir , hier ſtände ein Mikroſkop und
durch dieſes Mikroſkop ſchauteſt du in das tiefſte Wunder , das
dein eigener Leib dir gewähren kann . Ein Tröpflein deines
eigenen Samens ſoll in friſchem warmem Zuſtande im Licht¬
felde des Mikroſkops liegen .
Das iſt nun ein Teilchen , ein Tröpflein deines eigenſten
Leibes , ausgeſtreut , noch während deine leibliche und geiſtige
Individualität als Ganzes feſt beſteht , gleichſam ins „ Objektive “
hinein . Dir ſelber entgegentretend wie in geheimnißvoll ver¬
größertem Spiegelbild . Was ſiehſt du ? Dich durchdringt ein
dumpfer Schauer . Du ſtehſt in einem der ganz großen , ganz
weihevollen Momente . Du ſiehſt nicht in ferne Welten , in
Doppelſonnen und Milchſtraßen . Das hier iſt ein Tröpflein
von dir ſelbſt . Ein Stücklein deines Ich . Sieh raſch zu .
Es entſchwindet , trocknet dir ein unter der Hand , es ſtirbt ,
roh losgelöſt von dir . Aber noch lebt es . Ein weißer Fleck ,
ein kleines Meer . Und darin ſich regend eine Menge winziger
Körperchen . Sie zucken , bewegen ſich von der Stelle , wimmeln
ſtoßweiſe durcheinander . Jedes Körperchen iſt ein einzelnes
„ Samentierchen “ , eine einzelne losgelöſte , befreite Zelle deines
Leibes . An einer Stelle hat ſich dein Zellenverband gelockert ,
hat ſo und ſo viel Einzelzellchen lebend aus ſich entlaſſen .
Das war der vortretende Samen . Und hier ſiehſt du als
Ganzes jetzt ſelber dieſe Zellchen . Sie bewegen ſich , leben ,
jedes für ſich . Jedes entſpricht in ſeinen Lebensregungen auch
äußerlich einem jener Urweſen , die nie etwas anderes darſtellen
als eine Zelle überhaupt . Warum ſoll nicht jedes dieſer
Samenzellchen auch ein echtes ſeeliſches Individuum ſein
gleich dieſen ?
Du erhebſt aber den Blick vom Mikroſkop . Dein Auge
verliert das vergrößerte weiße Tröpflein , das aus deinem Leibe
ſtammt . Und die große Welt taucht dafür vor dir auf .
Sterne in unendlichen Weiten des Raumes . Und unendliche
Folge der Dinge nacheinander in der Zeit . Sie ſterben ja
jetzt unter deinem Mikroſkop hier , deine Samenzellen des
Experiments . Ihre uns erkennbare Bahn iſt vollendet mit dieſer
letzten That , daß ſie dich vor eine der größten Offenbarungen
über dich ſelbſt geſtellt , — daß ſie dich dir ſelber in deinen
individualiſierten Teilen zeigten . Aber laß ſolches Samen¬
tierchen den rechten Ort erreichen , für den es die Natur
beſtimmt hat . Tief im Schooße eines liebenden Weibes die
Ei-Zelle . Aus der Verſchmelzung beider erwächſt ein Kind .
Es lacht dich an mit ſeinen lichten neuen Augen und greift
nach dir mit ſeinen roſigen Händchen , — dieſem Kinde wirſt
du doch die Seele nicht abſprechen ?
Woher aber ſtammt ſie ?
Aus jenen zwei vereinigten Zellen , der Samenzelle und
Eizelle . Und du entdeckſt im Charakter , in der Seele des
Kindes Züge von dir . Es muß nicht bloß eine körperliche
Zelle , — es muß Seele von dir eingeſtrömt ſein in dieſes
Kind beim Zeugungsakt , — Seele mit jener einzelnen los¬
gelöſten Zelle deines Leibes , der Samenzelle . Eine Seele
mußte wohnen in dieſem Zellchen , eine „ Zell-Seele “ , die ,
obwohl nur ein unendliches Bruchteilchen deines großen
Mannes- Ich , doch eine Note trug von dir , ein geheimſtes
Erkennungszeichen , das der neuen Kindesſeele einen Zug gab
von „ dir “ .
Was aber die Samen-Zelle bei dir beſitzt , wenn du Mann
biſt , — die Ei-Zelle , wenn du Weib biſt , — — warum ſoll
es nicht jede Zelle deines Leibes beſitzen ? Jede auch eine
Zell-Seele , jede auch einen ſeeliſchen Orientierungspunkt , ein
„ Ich “ , eine echte geiſtige Individualität . Aus ſolchen Zell-
Seelen , ſolchen geiſtigen Individualitäten ſetzt ſich dann deine
ganze Seele , deine geiſtige Ganz-Individualität genau ſo
zuſammen wie dein ganzer Körper , deine körperliche Ganz-
Individualität aus den kleinen Zell-Leiblein . Dein „ Ich “ ,
ſubjektiv für dich die abſolute Einheit , iſt vom Standpunkt der
kleinen Zellen-Ichs nur eine Klammer , ein Zuſammenſchluß .
In der Klammer liegen die Zell-Seelen , vielleicht noch zu
Organ-Seelen vereint , als Millionen ſubjektiver „ Ichs “ . Die
Klammer aber iſt abermals ein neues , höheres Ich , — als
„ Ich “ nicht teilbar , ſo wenig die Klammer als ſolche teilbar
iſt , — aber objektiv teilbar in dem , was innerhalb der
Klammer ſteht .
Biſt du bis hierher dem Gedankengange gefolgt , ſo kann
es eigentlich nichts Überraſchendes mehr haben , wenn du dir
nun auch ſolche Individuenzuſammenſchlüſſe — ſeeliſch wie
körperlich — einmal noch oben über dich hinaus denkſt .
Ganze Menſchen-Individuen , ſich zuſammenſchließend zu In¬
dividuen nochmals höheren Grades ebenſo , wie die Zell-Indi¬
viduen ſich zu dir vereinigten !
I m Grunde iſt die Sache beinah eine Banalität . Im
Pflanzenreich wie Tierreich haſt du eine ganze Fülle von Prä¬
cedenzfällen , die dir den rechten Weg zeigen müſſen . Häckel
hat zuerſt klare Worte dafür geſchaffen .
Er nennt ein Individuum , wie du hier eines biſt , zur
Unterſcheidung von den Individuen deiner Milliarden Zellen ,
die dich zuſammenſetzen , „ Perſon “ .
Und eine Vereinigung ſolcher Perſonen zu nochmals
höherer Genoſſenſchafts-Einheit nennt er „ Stock “ .
Dieſe Unterſcheidung iſt eine ſehr wertvolle zur Ver¬
ſtändigung . Stock iſt natürlich nicht gemeint im Sinne eines
Spazierſtocks , ſondern ſo , wie man es etwa in dem Worte
„ Bienenſtock “ meint . Dieſer Bienenſtock iſt ja gleich ein
Exempel ſelbſt . Jede einzelne Biene iſt ein Individuum wie
du , alſo eine Perſon . So und ſo viele Bienen bilden aber
gleichzeitig zuſammen einen in ſich geſchloſſenen neuen Organis¬
mus , einen Bienenſtock oder Bienenſtaat oder kurzweg „ Bien “ .
Und das nicht bloß gleichſam philoſophiſch , ideal , platoniſch , —
ſondern völlig real . Die Bienengenoſſenſchaft , der „ Stock “ , hat
ſich zuſammengethan zu einem höheren Individuum thatſächlich
ſo , wie deine Zellen in deinem Leibe ſich zu deiner liebwerten
Perſon vereinigt haben und wie es in jeder einzelnen Bienen-
Perſon ebenfalls die betreffenden Zellen thun . Wie die Leibes¬
zellen unter ſich Arbeitsteilung haben eintreten laſſen und
Organe gebildet haben , ſo ſind auch die Bienen des Stockes
in jener Weiſe , von der ich dir früher ausführlich erzählt habe , in
eine gewiſſe Arbeitsteilung eingetreten , die ſich ſogar in äußer¬
licher körperlicher Zerſpaltung des Volkes in drei etwas ver¬
ſchiedene Arten von Bienen-Perſonen : eierlegende Königin , be¬
fruchtende Drohne und geſchlechtsverkümmerte , aber kinder¬
pflegende Arbeitsbiene , feſtgelegt hat .
Die Biene iſt als Beiſpiel ein verhältnismäßig ſchon
ziemlich hoch ſtehendes Tier . Bei einer großen Maſſe niedrigerer
lebender Weſen findet ſich dieſe Stock-Bildung mit Arbeitsteilung
der Genoſſen in einer noch viel durchgreifenderen Form , die
geradezu in jedem Zuge im großen noch einmal wiederholt ,
was die lieben Zellchen im kleinen bei Bildung der „ Perſon “
beſorgen . Blicke von deinem wohligen Graslager auf zu dem
ſonnenflimmernden Walde dort . Da ragen die roten Kiefern¬
ſtämme mit dem rauchigen , wolligen Nadelpilz darauf . Was
iſt ſo eine Kiefer in jener Sprechweiſe , Perſon oder Stock ?
Sieh dir die kurioſe da vorne an . Hier am offenen Wald¬
rande hört die ſtarre Uniformierung Stammſäule an Stamm¬
ſäule , wie ſie drinnen im Walde herrſcht , auf . Hier recken
ſich einzelne Pracht-Individuen von Kiefern frei gegen See¬
luft und Licht vor , alte Kämpen , die noch einzeln jeder für ſich
in offener Schlachtlinie mit der Welt ringen , anſtatt bloß
kerzengrades Kanonenfutter für den Holzfäller zu ſein . Dieſe
hier ſteht unten auf Stelzen wie ein Ungetüm , dann geht der
Stamm krumm vor wie eine Boa-Schlange und endlich hängt
der Nadelbaldachin in breiten Terraſſen gegen den Seeblick
vor gleich einer ſchwarzen Libanonceder .
Ein Kiefer-Individuum , ſagte ich . Aber wir haben ja
jetzt gehört , daß es eine Reihe von Individuums-Möglichkeiten
giebt . Die Zelle iſt eins , die Biene eins , der Bienenſtock eins .
Was für „ eins “ iſt dieſe knorrige Kiefer ? Es iſt ziemlich
evident , daß ſie ein „ Stock “ iſt . Unzählige Millionen von
Zellen bauen ſie . Aber dieſe Zellen vereinigen ſich zunächſt
zu Pflanzen-Individuen , die der Einzel-Biene und dir als
Einzel-Menſch entſprechen : zu den einzelnen Sproſſen . Der
Sproß iſt im Kiefern-Stock die „ Perſon “ . Erſt eine enge
Genoſſenſchaft ſolcher Sproß-Perſonen giebt den Kieferbaum .
In dieſem Falle iſt es auch dem Laien , der nie von dieſen
verwickelten Sachen gehört hat , eine ausgemachte , ja überhaupt
nicht mehr diskutable Sache , daß der ganze Stock trotzdem
abermals ein ſcharfes „ Individuum “ iſt . Der Kieferbaum iſt
eine Einheit , genau ſo gut wie die einzelne Biene oder wie
du ! In der Seelen-Theorie des Volksmundes hat nie ein
Zweifel beſtanden , daß der Einzel-Baum eine ſo perfekte Ein¬
heit ſei , daß ſogar eine einheitliche Seele ihm zugeſtanden
werden müſſe : die Dryas oder Baumfee , — der beſte Beweis ,
wie ſehr das Individuum anerkannt wurde , obwohl es ſich
thatſächlich für den Naturforſcher dabei um einen „ Stock “
handelt , alſo eine Genoſſenſchaft , die dem Bienenſtock oder
einer menſchlichen Sozialgenoſſenſchaft entſpricht .
Verwandte Fälle der Art kommen nun auch noch vielfach
im niederen Tierreich vor . Du gebrauchſt das Gerippe eines
ſolchen Falls tagtäglich ganz friedlich bei deiner Morgenwäſche :
den Schwamm . Das , was du als Badeſchwamm da verwerteſt ,
iſt das aus Hornfaſern gebildete Gerippe eines Tier-Stockes ,
deſſen Perſonen inſofern noch viel inniger als die Bienen zuſammen
halten , als ſie nämlich Zeit ihres Lebens körperlich aneinander
gewachſen bleiben und als Ganzes eine Art Tier-Baum bilden ,
der jetzt „ Schwamm “ genannt wird ſo , wie dort vom „ Bien “
die Rede war . Die Sache iſt in dieſem Falle ſo verwickelt ,
daß ſich ſeit langen Zeiten die Naturkundigen darüber in den
Haaren liegen , wo die Perſon im einzelnen aufhört und der
Stock anfängt , maßen deſſen auch hier der Stock eben ſchließlich
wieder zum Verwechſeln genau wie eine Perſon ausſieht und
ſich auch genau ſo benimmt . Daß ſie ſich in den Haaren liegen ,
iſt eben bloß Waſſer auf die Mühle unſerer Betrachtungsart .
Ein anderes Beiſpiel trägt deine Liebſte im Ohr . Die
roſenrote Kugel ihres Korallenohrringes iſt aus einer Kalkmaſſe
herausgeſchliffen , die urſprünglich ähnlich wie dein Bade¬
ſchwamm das Gerüſt oder Gerippe eines echten Tierſtocks bildete :
des Korallenſtocks . Der gangbare Name hat auch hier ſchon
das Wort Stock als das nächſtliegende vorweggenommen . Das
zierliche Korallenzweiglein , das den Stoff hergab , ſtellte in
lebendigem Zuſtande im blauen Mittelmeer eine Kolonie ge¬
ſellig hauſender Korallentiere ( alſo einer Art Polypen ) dar . Auch
dieſe Korallen ſind , obwohl jede eine echte Perſon iſt wie du ,
unter ſich verwachſen . Ihre Kalkgerippe , die ſie ſich bilden ,
hängen als geſchloſſene Maſſe zuſammen und durch dieſe ge¬
meinſame Knochenmaſſe fließt in Kanälen auch der Nahrungs¬
ſaft aller wie eine gemeinſame Suppe durch die ganze Kolonie .
Ungeheuerlich ſind die Mengen ſolcher Korallenperſönchen in
einzelnen großen Stöcken . Millionen einzelner Perſönchen
drängen ſich gelegentlich auf ein paar Kubikfuß Raum . Dabei
ſinkt die Einzelgröße natürlich oft bis ins „ Unſichtbare “ , ins
Mikroſkopiſche hinab . Um ſo rieſiger aber dehnen ſich wieder
in ihrer Geſamtmaſſe die Stöcke aus . Indem beſtändig neue
Kolonien ſich auf den Kalkgerippen älterer , abſterbender auf¬
thun , entſtehen in den warmen Meeren jene koloſſalen Korallen¬
riffe , deren größtes an der Nordküſte Auſtraliens zweihundert
Meilen an Länge mißt . Von jenem hübſchen Prinzip der
Arbeitsteilung iſt in dieſen Korallenſtöcken allerdings durchweg
nur wenig entwickelt . Höchſtens einmal kommen beſondere
„ Trink-Perſonen “ vor , alſo beſtimmte Einzelkorallchen im
Stock , die keine Nahrung mehr fangen und geſchlechtslos ſind ,
dafür aber für die ganze Kolonie mit beſtändig Waſſer ein¬
pumpen . Die Kolonie ſteht noch jenſeits vom Alkohol , —
alſo bloß ſtaatlich angeſtellte Waſſertrinker von Profeſſion .
Das tollſte Exempel endlich , das zugleich die Arbeits¬
teilung auf die Spitze treibt , bieten jene Siphonophorenquallen ,
von denen wir ſchon einmal ſehr ausführlich geredet haben .
Es ſind ſchwimmende Quallenſtöcke , in denen auch Hunderte
und mehr von Einzelquallen zuſammengewachſen ſind . Genau
wie in deiner Perſon die Zellen , ſo haben hier die Quallen-
Perſonen nochmals wieder ſich zu regelrechten Organen im Ge¬
ſamtſtock gegliedert : dieſe freſſen nur noch , jene rudern , jene pflanzen
ſich fort — alle aber für alle anderen in der Genoſſenſchaft mit .
Du ſiehſt : dieſe Neigung zur Stockbildung über die liebe
Einzelperſon hinaus iſt durch die ganze Lebewelt , Pflanzen wie
Tiere , von früh an verbreitet . Es hätte nicht mit rechten
Dingen zugehen müſſen , wenn der Menſch , dieſer Sprößling
des Tierreichs , nicht auch eine Tendenz dazu mitbekommen hätte .
Und kein Zweifel , er hat ſie wirklich in ſich , ſo lange er be¬
ſteht und deſto mehr , je länger er beſteht .
Allerdings : von einem „ Menſchenſtock “ zu reden , fällt für
gewöhnlich niemand ein , das Wort erſcheint fremdartig . Es iſt
aber nur eben das Wort . Alle die andern Worte , die wir
vorhin ſo gelegentlich dem Begriff als gleichbedeutend unter¬
geſchoben haben , — Genoſſenſchaft , Kolonie , Stamm , ſozialer
Verband — ſie ſind ja ſtreng alle gerade dem bewußten
Menſchentier entnommen , dir und deinesgleichen , nicht Quallen ,
Korallen oder Kieferbäumen .
Gleich dein oberſtes Wort iſt eine ſolche Stockbezeichnung :
Menſchheit . Das Wort iſt in dieſem Falle , wie ſo vieles , mit
dem du alle Tage heute ſchon hitzig operierſt , eigentlich ein
Idealbegriff . Es iſt wenigſtens im klar bewußten Sinn noch
nicht ſo , ſondern es ſoll ſich erſt erfüllen , daß alle Menſchen
auf Erden eine einzige Hilfsgenoſſenſchaft , einen Stock , ein
höheres Individuum wirklich bilden . Wir hoffen es , haben es
aber noch nicht . Immerhin kann die allgemeine Tendenz nach
einer Univerſal-Stockbildung des Menſchentiers auf Erden nicht
ſchärfer bezeichnet werden , als gerade mit dieſem äußerſten Ideal¬
wort . Was die Quallen und Korallen ſich wahrlich noch nicht
träumen ließen , darauf ſteuern wir in all unſeren beſten Mo¬
menten bereits bewußt hin : auf den Verſuch , ſämtliche fünfzehn¬
hundert Millionen Menſchen zu einem Stock , einem Baum , einem
unermeßlichen erdumſpannenden Riff zuſammenzukeilen , — zu
dem einen wahren Überindividuum , — dem Übermenſchen „ Menſch¬
heit “ . Chriſtus iſt gewiſſermaßen der große Markſtein , auf dem
dieſe oberſte Stockbildung zum erſten Mal als Wegweiſung bewußt
angeſchrieben ſtand . Das Gebot „ Liebe deinen Nächſten wie
dich ſelbſt “ war die allgewaltige Stockparole gegenüber der
alten Perſonenweisheit .
Aber laſſen wir dieſe äußerſte , immerhin ja doch auch
jetzt noch ideale und ſo zu ſagen hypothetiſche Sache . Auch
ganz abgeſehen von dem Menſchheits-Begriff iſt die geſamte
engere Geſchichtsüberlieferung des Menſchentiers eine einzige
große Folge von äußerſt anſchaulichen Stockbildungen . Alle
unſere Begriffe von Dörfern , Städten , Gemeinden , Innungen ,
Kaſten und Ständen , von Geſellſchaft und Geſellſchaftsſchichten ,
von Staaten , Geſchlechtern , Völkern , Nationen im modernſten
Sinne , von ſozialen Genoſſenſchaften und ſo weiter und weiter ,
— ſie fallen ſämtlich hierher .
Dabei mußt du allerdings gewiſſe charakteriſtiſche Unter¬
ſchiede gegen jene Pflanzen- , Korallen- und Siphonophoren-
Stöcke nicht außer Acht laſſen .
Du biſt eben beim Menſchen turmhoch über dieſen
niederen Lebeweſen . Der Zug zum Individualiſieren , zur
Individuen-Bildung , der aus geheimnisvoller Ur-Wurzel durch
die ganze Natur heraufkommt , hat aus dir ſchon auf der
Stufe der einzelnen Menſchen-Perſon etwas ſo Eigenartiges
geſchaffen , daß darüber hinaus auch nur ſehr eigenartige Wege
offen bleiben . Schließlich iſt es ja der Individualiſierungstrieb
der Natur ſelbſt , der überall und ſo alſo auch bei dir wieder
auf noch höheren Zuſammenſchluß drängt und die Perſonen
mit Gewalt wieder genau ſo zu höheren Stock-Individuen
vereinheitlichen will , wie er tiefer unten die Zellen zu Perſonen
9
geeint hat . Aber es fragt ſich im Einzelfall ſtets , wie weit
nun die Individualiſierung der betreffenden Teile an ſich ſchon
vorgeſchritten war . Und da liegt die Sache bei dem Menſchen¬
tier total anders als etwa bei einem Pflanzenſproß oder
einer Qualle . Jener ganze Weg des Werdens zum Menſchen ,
den dir dein eigener Leib vorhin erzählt hat , iſt ja im Grunde
nur eine fortgeſetzte Arbeit zur Befreiung , zur Verſtärkung
auch des Menſchen-Individuums . Wie du dich in Urtagen
von der unmittelbaren mineraliſchen Ernährung der Pflanzen¬
ſtufe losgerungen haſt . Wie du als Wurm dich dahinge¬
ſchlängelt haſt , dir Augen und Ohren ausbildend , um deines¬
gleichen zu ſehen und zu hören . Wie du aus dem immer
noch trägeren Element , dem Waſſer , aufgeſtiegen biſt ans Land ,
ins Luftreich hinauf , und dir dort frei bewegliche tragende
Gliedmaßen gebildet haſt , gleichzeitig deine Sinne wunder¬
bar ſchärfend und deine Kehle zur Lautäußerung einübend .
Wie du dich vom Klima emanzipiert haſt durch die Bewegung
und die innere Körperheizung . Wie du endlich Hand und
Fuß dir geformt haſt , dieſe wundervolle Doppelmöglichkeit , —
den Fuß , der dich trug , und die Hand , die dein Werkzeug
faßte ... Immer in all dieſen Stufen iſt ein Steigen ,
Wachſen , Sichfeſtigen auch deiner Individualität , deines Einzel¬
ſeins als Perſon mitgegangen ... Die wurzelnde Pflanze
war noch ans Erdreich an beſtimmtem Fleck gebunden ; der
Fiſch an ſeinen Waſſertümpel ; die Eidechſe an Sommer und
Winter ; der Affe an den Baumaſt , den ſeine vier Hände
umklammerten ; du erſt biſt bis zu gewiſſen Grenzen ganz
frei , ganz auf dich geſtellt . Denke dich als Robinſon mit der
Summe aller Menſchenweisheit auf eine einſame Inſel und
du biſt doch Herr der Inſel . Du bauſt dir Werkzeuge und
erzeugſt in ihnen ein ſonſt totes , aber in deiner Hand wie
von Gotteskraft belebtes Hilfsheer , wunderbarer als jene
Eiſenſtreiter , die dem Sagenhelden aus ſeinen Drachenzähnen
erwuchſen . Es iſt der höchſte Triumph der Individualiſierung ,
daß wir uns ſagen müſſen , daß wenigſtens in einem idealen
Sinne ein Einzelmenſch , der alle Weisheit der ganzen Menſch¬
heit in ſeinem Gehirn vereinigte , auch das ganze Werk dieſer
Menſchheit aus ſich allein wieder hervorgehen laſſen könnte .
Je größer uns in der Geſchichte ein Menſch erſcheint , deſto
näher ahnen wir ihn dieſem Ideal . Von den ganz großen
Genien , die den Wendepunkt für Jahrtauſende bezeichnen ,
meinen wir , daß ſie ihr Neues nicht hätten geben können ,
ohne das Alte wenigſtens in ſeinem Kerngehalt vollſtändig zu
beſitzen .
Ja , in dieſem Sinne kann man gar nicht hoch genug
davon denken , was die Individualiſierung in den Menſchen¬
perſonen erreicht hat . Wandern wir doch vergebens durch
Milchſtraßen und Nebelflecke , um für unſere Erkenntnis einen
gigantiſcheren Volltypus von geſchloſſener Individualität zu
finden als etwa Goethe ! Solche Goethe-Perſonen kannſt du
aber nicht aneinanderreihen zu nochmals höherer Individuen¬
bildung wie Kiefernſproſſen oder Korallen und Siphonophoren .
Aber deswegen bleibt ebenſo wahr , daß das tiefe heilige
Naturprinzip der immer entwickelteren Individualiſierung durch
immer neues Einſchmieden niederer Individuen in höhere auch
bei dieſen Goethe-Perſonen als ſolches nicht Halt machen kann .
Die Sache läuft bloß etwas anders , ſie läuft eben ſo , wie es
Goethe-Perſonen zukommt . Menſchen-Individuen konnten bei¬
ſpielsweiſe unmöglich wieder körperlich aneinander wachſen wie
Quallen . Dafür ergaben ſich aber gerade aus den großen
Freiheiten und Beweglichkeiten ihrer Einzel-Individualität
Mittel des genoſſenſchaftlichen Zuſammentretens , die wieder
die Quallen niemals beſaßen .
9*
Nimm ein einfaches Beiſpiel . Hier ſind zwei Quallen
von jenem Siphonophoren-Schlage . Zwei Perſonen , jede an
ſich dir gleichwertig . Sie gehen aber eine höhere Genoſſen¬
ſchaft ein , verſuchen ein neues höheres Individuum aus ſich
zu machen . Jede ſoll in dieſer Genoſſenſchaft nur ein Organ
gleichſam wieder vertreten . Sagen wir : die eine ſoll Nahrung
beſchaffen und verdauen . Und die andere ſoll ihre Augen und
Ohren anſpannen , ſoll auf Gefahr achten , den Weg weiſen und
ſo weiter . Was ſollen die beiden machen , um in ordentlichen
Austauſch ihrer Fähigkeiten zu kommen ? Sie wachſen mit
derbem Stiel aneinander . Durch dieſen Stiel fließt die Nähr¬
ſuppe , die Qualle Nr. Eins gebraut hat , in Qualle Nr. Zwei
über . Und gleichzeitig zieht die Seh- und Hör-Qualle Nr.
Zwei die Suppen-Qualle Nr. Eins an dem Stiel dahin und
dorthin , von der Gefahr fort , auf gute Orte zu wie ein
Sehender einen Blinden an der Hand führt . Genau ſo iſt
es bei den lebenden Siphonophoren-Quallen wirklich ge¬
worden .
Nun nimm zwei Kultur-Menſchen im zwanzigſten Jahr¬
hundert . Auch ſie wollen in eine höhere Intereſſen-Gemein¬
ſchaft eintreten , ihre beiden Perſonen-Individualitäten zur
Stock-Individualität vereinigen . Der eine ſoll Nahrung be¬
ſchaffen , die den andern mit ernährt . Der andere ſoll gleich¬
ſam Auge und Ohr für beide ſein . Sagen wir etwa : der
eine iſt der Beſitzer einer großen Zeitung in Amerika . Und
der andere iſt Reporter dieſer Zeitung . Zu ſehen und zu
hören ſoll etwas für die Zeitung beſonders Wichtiges in Europa
ſein , während der Brodherr , der Zeitungsbeſitzer , abſolut not¬
wendig ſeinen Sitz in Amerika wahren muß . Nun überdenke
raſch , wie die Sache ſich für dieſe Menſchenperſonen vollzieht .
Von körperlichem Aneinanderwachſen nach der Methode
der Quallen , alſo Verwachſen der realen Zellen-Leiber mit¬
einander , kein Gedanke ! Gewiſſe ſtoffliche Verbindungen werden
allerdings auch hier hergeſtellt , aber unendlich viel feinere und
— vor allem — immer nur momentane , die jeden nächſten
Augenblick beliebig wieder abgeſtellt werden können .
Zunächſt verſtändigen ſich die beiden Perſonen über einen
feſten Plan ihrer gemeinſamen Arbeit auf Gegenſeitigkeit .
Der eine ſoll für den andern etwas mit ſehen , und der wird
ihn ſo lange mit füttern . Dieſe Verſtändigung erfolgt ent¬
weder ſo , daß der eine beſtimmte Luftwellen erzeugt , die das
Ohr des anderen erreichen ; und umgekehrt . Oder ſo , daß der
eine mit der Hand auf Papier beſtimmte Figuren malt , die
beſtimmte Lichtreflexe ergeben und dieſe reflektierten Lichtwellen
treffen das Auge des zweiten ; und umgekehrt . Nötig iſt dazu
ein längſt vereinbartes Zeichenſyſtem ſowohl für die Schall¬
wellen wie für die Lichtwellen . Dieſes Syſtem giebt die
Sprache , eine ſchon alt überkommene Genoſſenſchafts-Ein¬
richtung der Menſchheit , die unſeren beiden Perſonen ſchon von
Kindheit auf durch eine Art ſozialer Vererbung übermittelt
worden iſt . Je nach Bedarf äußert dieſe Sprache ſich in
geſprochenem Wort ( durch Schallwellen ) oder als geſchriebenes
Wort ( durch Lichtwellen ) . Mindeſtens das geſchriebene Wort
hat dabei heute ſchon in vollem Maße die gute Eigenſchaft ,
daß es bei ihm auf die Länge der räumlichen Entfernung
zwiſchen den beiden Perſonen überhaupt nicht mehr ankommt .
Der eine Menſch kann ſchon während Abſchluß des Vertrages
in Chicago ſitzen und der andere in Berlin : Briefe kreuzen
glatt hin und her , wenn auch mit etwas Zeitaufwand . Selbſt
dieſer Zeitaufwand kann aber auf ein Minimum verkürzt
werden durch Einſchaltung elektriſcher Wellen : der Genoſſen¬
ſchaftsvertrag kann telegraphiert werden . Für dieſen Fall liegt
allerdings zwiſchen Amerika und Europa ein Ding , das einige
Ähnlichkeit mit einem ungeheuren Siphonophorenſtiel hat : das
transatlantiſche Telegraphenkabel . Aber unſere beiden Menſchen¬
perſonen müſſen keineswegs zeitlebens mit ihrem Zellkörper
an dieſes Kabel angewachſen bleiben , um es benutzen zu können .
Ein ſolcher real feſtgewachſener Siphonophorenſtiel zwiſchen
Verleger und Reporter von der guten Länge des transatlan¬
tiſchen Kabels dürfte eine etwas ungemütliche und nicht gerade
erleichternde Lebenszugabe ſein ! Jeder der Intereſſenten
benützt alſo das bewußte Kabel nur als ideales Leibesende
gerade ſo lange , als er dem andern etwas zu ſagen hat ,
genau ſo wie er Feder und Papier nur ſo lange benutzt .
Nach ihm mögen andere Menſchenperſonen zu ihren beſonderen
Genoſſenſchafts-Zwecken den langen Stiel verwerten oder er
mag auch zeitweiſe wieder ganz tot , ohne jede Vermenſchlichung
durch durchtelegraphierte Sprachzeichen in der Abgrundſchwärze
ſeines Ozeans liegen , wo die Tiefſee-Leuchtfiſche über ihn hin¬
huſchen und die Seelilien um ihn wogen .
Doch welches Mittel nun gewählt werde : der Vertrag iſt
fertig und die eigentliche ergänzende Genoſſenſchaftsleiſtung der
beiden beginnt . Jetzt erſt recht kein Zuſammenwachſen nach
Quallenart . Der Brodherr , der Verleger , bleibt in Amerika
ruhig ſitzen . Der Reporter aber eilt , als ſein Mit-Auge und
Mit-Ohr , in Europa an den vereinbarten Fleck . Nachdem er
mit den klaren Sinnen ſeines individuellen Zellleibes genug
geſehen und gehört , ohne ſo lange durch irgend einen Stiel
von ſo und ſo viel Meilen Ausdehnung und horrendem Metall¬
gewicht in ſeiner freien einzel-individuellen Beweglichkeit ge¬
hemmt zu ſein , — geht er dann abermals aufs Telegraphen¬
amt . Er ſetzt das Geſehene und das Gehörte wiederum in
jene allgemein vereinbarten Menſchheits-Zeichen , die Schrift¬
buchſtaben , um und läßt dieſe Schrift Wort für Wort durch
den ungeheuren Kabelſtiel als elektriſche Wellen nach Amerika
„ telegraphieren “ . Dort erhält ſie der andere annähernd ſo
gut , wie wenn das Kabel ein echter Nervenſtrang in einem
einheitlichen Individuum wäre , der vom Ohr und Auge des
einen unmittelbar zum Gehirn des andern leitete . Es iſt zwar
für den Leſer drüben noch ein gewiſſer Phantaſieakt nötig , der
das Wort wieder in innere Bilder umſetzt , aber darauf iſt das
Menſchengehirn eben ſchon geſchult und die Methoden werden
überdies alle Tage beſſer . Die Hör- und Seh-Perſon in
Europa hat jedenfalls innerhalb der Möglichkeit ihre Schuldig¬
keit gethan . Nun kommt umgekehrt die Magen-Perſon in
Amerika an die Reihe .
Das Kabel , das eben Nervenſtrang war , muß jetzt
Magenſchlauch werden . Natürlich auch das jetzt bei Leibe nicht
auf die unappetitliche Art , daß es ſich als eine transatlantiſche
Nabelſchnur von weit mehr als tauſend Kilometer Länge
zwiſchen dem Verdauungsdarm des Verlegers und dem Darm
des hungrigen Schriftſtellers aufthäte , worauf ſchon verarbeiteter
Nährſaft etwa von einer Auſternmahlzeit des einen in den
andern , der wie ein Bandwurm ſaugte , zum Überſtrömen käme .
Der Amerikaner berechnet vielmehr einfach den Wert , den das
Hör- und Seh-Telegramm in Worten für ihn hat . Und er
giebt den entſprechenden Nahrungswert zunächſt ebenfalls in
Worten zurück . Er telegraphiert auf demſelben Kabelwege an
ein Bankhaus in Berlin und weiſt dem Reporter eine ent¬
ſprechende Summe Geldes an . Dieſes Geld bedeutet aber
eine neue Sorte ſchon althergebrachter Sozialeinrichtung der
Kulturmenſchheit , abermals eine gewiſſe Zeichen-Vereinbarung
gleich der Sprache . Indem der Reporter bei der Bank ſeine
Geldſcheine erhebt , bekommt er eine ganz beſtimmte Marke in
die Hand , die ihm jeder europäiſche Reſtaurateur ſo und ſo
oft in ein gutes Diner umwechſelt , — er iſt „ gefüttert “ .
Betrachteſt du dir die Menſchheit um dich her im Lichte
dieſes Exempels , das erſt das eigentlich Menſchliche gegenüber
dem Pflanzlichen und Siphonophoriſchen feſtlegt , ſo kann dir
wohl vollends kein Zweifel bleiben , daß du allenthalben in
einer Welt höherer Individuenbildung auch bei deinen Menſchen
lebſt . Nicht bloß der Verleger und ſein Reporter im Exempel
bilden ein ſolches höheres Individuum mit Arbeitsteilung .
Du und ich , wie wir uns hier unterhalten , wir bilden eins .
Wie ich hier mit dir rede , habe ich den geheimnisvollen
Siphonophorenſtiel zwiſchen uns errichtet : Luftwellen , Licht¬
wellen , die von mir zu dir fließen . Gleich gehen wir aber
jeder für ſich nach Hauſe und der Stiel iſt wieder abgebrochen .
Das iſt das große Wunder auch hier wieder , das der Menſch
vollbracht hat : die ewige Abbreche- und Neubau-Möglichkeit
der Brücke von Individuum zu Individuum . Es iſt daſſelbe
heilige Prinzip , das in Wahrheit unſer helfender Prometheus
auf Erden geweſen iſt : angewachſene Organe überhaupt zu
erſetzen durch Werkzeuge . Du mußt dir eben bloß unter
ſolchem Werkzeug nicht nur Meſſer und Hebel vorſtellen . Auch
die Schallwellen der Luft , auf beſtimmte vereinbarte Zeichen
geordnet , ſind eines , auch die Lichtwellen eines , die vom
reflektierten weißen Blatt des Buches dein Auge berühren und
in deren Maſſe die anders oder gar nicht reflektierenden
Stellen , wo die Buchſtaben ſtehen , einen beſtimmten Einſchnitt
oder ſchwarzen Fleck bilden , der deinem Hirn ein ebenſo ver¬
einbartes Zeichen giebt .
Erſt durch dieſe Werkzeugs-Einſchaltung bei der höheren
Individualbildung , der „ Stockbildung “ des Menſchen , iſt jene
Perſonen-Freiheit , die ein ſo hohes Entwickelungsgut des
Menſchen war , recht eigentlich gekrönt und vollendet worden .
Eins bleibt ja natürlich auch hier „ vorbehaltlich “ . Wir
haben allenthalben heute da , wo wir ſoziale Einigungen der
Menſchen wahrnehmen , immerzu noch Vergewaltigungen , Unter¬
drückungen dieſer Perſonenfreiheit auch bei uns in Hülle und
Fülle . Wenn du jene Rubriken , die ich vorhin erwähnte ,
anſiehſt : Staat , Geſellſchaftsſtände , Kaſten und Gewerbezünfte ,
Parteien , — und ſo weiter und ſo weiter — ja du lieber
Gott ! Da ſiehſt du allenthalben ſo himmelſchreiende Verge¬
waltigungen des einzelnen Menſchen-Individuums , daß das
bischen Bewegungsunfreiheit bei den ſtielverwachſenen Siphono¬
phoren oft recht wie ein Kinderſpiel dagegen erſcheint . Denn
im ganzen iſt der Siphonophoren-Überleib darin wenigſtens
ein Abbild deines eigenen geſunden Zell-Leibes , daß unter
normalen Verhältniſſen niemand gröblich darin übervorteilt
wird . Bei uns aber ... ! Und doch darfſt du dich dadurch nicht
beirren laſſen . Ob uns das hiſtoriſche Wirrſal noch ſo ſehr um¬
ſtricke , dieſes Wirrſal der Pfuſchereien , Verſuche und Opfer : —
keinem Vernünftigen heute kann ſich als Ideal doch mehr ver¬
ſchleiern , daß der Weg der Menſchheit trotz alledem losgehe auf
immer mehr ſoziale Hilfsverbände , alſo ſtockartige Individuen
höheren Grades über die Perſon hinaus , — zugleich aber in dieſen
Hilfsverbänden auf immer größere Perſonenfreiheit nicht bloß
in dem ſo zu ſagen ſchon ſiphonophoriſch ſelbſtverſtändlichen
Sinne , daß jede Vergewaltigung und Übervorteilung ausbleibe ,
ſondern auch im Sinne höchſter Aktionsfreiheit des einzelnen ,
unendlich weit über das Siphonophoren-Prinzip hinaus . Ja
es bleibt jenes Robinſon-Ideal , das ich dir vorhin erwähnte ,
immer als ideale Grundlage : daß nämlich , bei noch ſo viel
Einſchachtelung in höhere Sozialverbände , höhere ſoziale In¬
dividualitäten mit weiteſter Arbeitsteilung , jeder Einzelmenſch
auf einſamer Inſel doch die ganze Kulturmaſchine wieder auf¬
bauen könnte , anſtatt bloß als verlaſſenes loſes Rädchen oder
Stiftchen elendiglich liegen zu bleiben . Jeder Einzelmenſch in
dieſem idealen Sinne würde in dem Rieſenindividuum der
Menſchheit jene Kraft beſitzen , die in ſeinem eigenen Zellen-
Leibe die Samenzelle oder Eizelle beſitzt : die Kraft aller
Kräfte , die aus einem mikroſkopiſch winzigen Teilchen des
Leibes den ganzen herrlichen Menſchenleib wieder zu erzeugen
vermag .
Geheimnisvoll wie ferne Duftinſeln erheben ſich über dem
Blau dieſer Menſchheitsdinge noch weitere Probleme . Ob Inſel ,
ob Fata Morgana .
Die Zellen deines Leibes haben Seelen und dieſe Zell¬
ſeelchen ſchließen ſich zuſammen auch zu dem höheren ſeeliſchen
Individuum in dir , wie die Zellleiblein ſich einen zu deinem
Leib . Nun trittſt du aber wieder in höhere Individuen¬
bildungen ein , bildeſt wieder eine Perſon im Stock , eine Zelle
in der Menſchheit und ſo und ſo viel engeren Verbänden
innerhalb dieſer Menſchheit . Entwickeln ſich da über deine
Perſon weg auch neue Genoſſenſchaftsſeelen , höhere pſychiſche
Zuſammenſchlüſſe , die den körperlichen Hand in Hand laufen ?
Würde jede gemeinſame Handlung von Menſchen-Perſonen der
Keim ſein auch zur Entſtehung einer Seele , die ſich über dieſen
Perſonen aufthäte , wie deine eigene Seele ſich über den ge¬
meinſam arbeitenden Zellſeelchen deines Leibes aufgethan hat ?
Die ſchlichte Phantaſie des Volkes hat vor Jahrtauſenden
ſchon dem Baum , der auch ein ſolcher Stock , eine ſolche höhere
Genoſſenſchaft aus ſo und ſo viel Einzelperſonen iſt , eine
Dryas , eine Baumſeele beigelegt , — und der materialiſtiſche
Naturforſcher von heute ſieht , von einer ganz verſchiedenen
Ecke aus , doch auch in dem Stock jener Siphonophoren-Quallen ,
der als ſolcher abſolut einheitliche Handlungen vollführt , wieder
eine einheitliche Seele thätig , eine echte Stock- oder Genoſſen¬
ſchaftsſeele . Bei uns Menſchen ſelber aber reden wir ſeit
Alters von Menſchheitsſeele , von Volksgeiſt , ja wir gebrauchen
wie in geheimem Zwang im Tagesleben dieſe ſeeliſchen Be¬
zeichnungen geradezu öfter , wenn von unſeren höheren Zu¬
ſammenſchlüſſen die Rede iſt , als die entſprechenden körperlichen .
Wenn wir uns beſinnen , pflegen wir allerdings hinzu zu
ſetzen , daß das alles nur „ ſymboliſch “ gemeint ſei . Ich meine
aber , es ließe ſich immerhin einmal darüber diskutieren , ob
die Sache nicht auch einmal eben nicht ſymboliſch gefaßt werden
könnte . Der ganze neuere Individualbegriff , der uns jetzt ſo
oft in unſerer Debatte beſchäftigt hat , ſcheint mir durchaus auf
einen Punkt zuzuſteuern , wo etwas derart mindeſtens möglich
würde . Es ließe ſich freilich der Ideengang kaum auf dieſem
Rocken weiterſpinnen , es ſei denn , daß die ganze Seelentheorie
erſt eine neue Grundlage erhielte auf dem Fleck , wo man bis¬
her Lebend und Tot , Organiſch und Unorganiſch , Mechaniſtiſch
und Pſychiſch , Bewußt und Unbewußt , „ lebendes “ Körperorgan
und „ totes Werkzeug “ im Sinne von Weltentrennungen aus¬
einander geſchnitten hat . Auch das liebe Wörtchen „ Symboliſch “
müßte eine ordentliche Reviſion dabei erleben , da es heute
etwas ſehr in unſeren Leichtſinn hineingeraten iſt . Wir thun
mit ihm ſo gern alles mögliche ab , als ſei es nun erledigt —
und überſehen total , wie verflucht einheitlich die Welt iſt , wie
unſer ſcheinbar ſpielendes Vergleichen immer und immer
wieder auf wirkliche Gleichheiten ſtößt , und wie wir echte Gleich¬
niſſe gerade für die tiefſten Dinge wie Ich , Seele , Individuum
gar nicht beſitzen , ſondern allemal dabei wieder auf ein gewiſſes
Urphänomen hinauslaufen , das uns aus tauſend Verkleidungen
der Welt mit denſelben glühenden Augen anblitzt .
Doch nicht in dieſes Zauberreich wollte ich dich weiter
und weiter verführen . Meinem Zweck zunächſt genügt , daß du
höhere Individuenbildung auch beim Menſchen zugiebſt einfach
im Grundſinne jenes ſchlichten Exempels vom Verleger und
Reporter . Individuenbildung , die mehrere individuelle Menſchen-
Perſonen durch einen neuen , höheren Ring wieder zu einer
neuen Einheit aneinanderfügt .
Im Rahmen einfach einer ſolchen Bildung bewegt ſich
dann auch der Menſch , der liebt .
Darum das große Wunder , daß bei der Liebe immer zwei
Menſchen-Perſonen in Betracht kommen . Daß du hier im
Graſe , obwohl ein ganzer „ Menſch “ und frei , einſam , auf
dich geſtellt als ſolcher , doch im Liebesſinne nur eine Hälfte
biſt .
Über dir hier und deiner ergänzenden zweiten Liebeshälfte
erhebt ſich als höhere Einheit , die ihr erſt beide zuſammen
verkörpert , das menſchliche Liebes-Individuum .
Wir wollen das Wort feſthalten , da es ein ſehr brauch¬
bares iſt . Denke dir am beſten immer ein feſtes Bild dabei :
etwa eines der alten meiſterhaften Adam- und Evabilder , —
oder die antike Amor- und Pſychegruppe . Dieſe beiden nackten
Geſtalten von verſchiedenem Geſchlecht bilden zuſammen das
typiſche menſchliche „ Liebes-Individuum “ und ſie ſind ſtets
beide gemeint , wenn das Wort erklingt .
Dieſes Liebes-Individuum iſt aber nun nicht bloß merk¬
würdig als höheres , überperſönliches Menſchen-Individuum
überhaupt , — ſondern es iſt auch von all dieſen Überindividuen
noch wieder im engern das allermerkwürdigſte . Auf der einen
Seite unterliegt es nämlich allem Wichtigſten , was wir eben
als das Charakteriſtiſch-Menſchliche bei dieſen Zuſammenſchlüſſen
nach oben feſtgeſtellt haben im Gegenſatz zu den anderen Tier¬
ſtöcken . Auf der anderen aber geht es doch auch noch ſeinen
Sonderweg und verwickelt alles noch einmal wieder für ſich .
D u brauchſt bloß jenes Beiſpiel vom Verleger und Re¬
porter auf eine Liebesvereinigung hin durchzudenken und der
ſpringende Punkt drängt augenblicklich heraus . Ein Liebes¬
paar , von dem der eine Teil in Amerika und der andere in
Europa ſitzt , iſt nur gerade bis zu einem gewiſſen Punkte
möglich , dann weicht es aber augenſcheinlich vom Exempel ab . Es
äußert ſich auch hier ja zunächſt ganz deutlich , daß die Liebenden
Kulturmenſchen mit allen Mitteln der Kultur ſind . Sie ſind
jedes für ſich vollſtändig auf eigenen Füßen ſtehendes Lebens¬
individuum . Kein Gedanke an irgend welchen zeitlebens ver¬
knüpfenden Siphonophorenſtiel . Der eine Partner kann ganz
ruhig bis dahin in Amerika aufgewachſen ſein und gewohnt
haben und der andere in Europa . Ja es mögen die ganzen
Prämiſſen der Liebe ſelbſt ſich noch genau auf dem Wege voll¬
ziehen , wie zwiſchen unſerm Verleger und Reporter . Durch
Schallwellen , Lichtwellen und elektriſche Wellen . Durch über¬
ſandte Photographien , durch Geſpräche in Form von Briefen ,
durch letzte Entſcheidungen in Telegrammen . Du mußt dieſe
Prämiſſen , da es ſich um Menſchen von höchſter Kultur handelt ,
nicht unterſchätzen . Du mußt dich erinnern , wie ſehr wir es
heute ſchon in der Hand haben , unſere tiefſte Seele in ge¬
ſchriebenes Wort zu ergießen . Denke dir unſere photographiſche
Technik noch etwas erweitert — und unſer Bild könnte weithin
verſchickt , vielleicht gar telegraphiert werden in einer Form ,
die dem unmittelbaren Anblick mindeſtens eine ſehr ernſte
Konkurrenz machen , ja ihn durch eine Reihenfolge bewegter
Momentbilder ſchließlich geradezu erſetzen könnte . Das ſteht ,
wenn nicht in der Erfüllung , ſo doch bereits in der Linie
unſerer Technik . Und doch begreifſt du , daß das alles ein
Ende hat in einem ganz beſtimmten Moment . Die Liebes¬
individualität bedarf zu ihrer vollen Gründung mindeſtens
eines einzigen Augenblicks , da es ſich faktiſch nicht mehr um
Kilometernähen handeln darf , ſondern nicht einmal mehr um Centi¬
meter . Der äußerſte Liebesakt fällt plötzlich auch beim höchſten
Kulturmenſchen heraus aus der ganzen Welt der zwiſchen ge¬
legten Werkzeuge , der Buchſtaben , Poſten , Telephone , Kabel , — er
lenkt für eine einzige Handlung in der Kette doch noch wieder
zurück auf jenes alte Siphonophoren-Prinzip . Allerdings nur
für einen Moment . In dieſem Moment aber ſiegt das Prinzip
des Aneinanderwachſens noch einmal wie in einer äußerſten
poſthumen Viſion , einem Aufleben eines Stückes Urnatur , Ur¬
welt , Kinderzeit vor einer Sekunde tiefſten Sichverſenkens in
das größte Myſterium des dunkeln Natur-Urgrundes , der keine
Zeit , kein Alt und Neu kennt , ſondern ewig wieder in uns
mit ſeiner Dämonenkraft auferſteht : der Zeugung . In dieſem
Moment muß auch das Liebesindividuum heim , ans Herz der
Urmutter , da hilft kein Sträuben . Es muß ſchöpfen aus dem
innerlichſten Jugendbrunnen , — muß gleichſam hinabſteigen
zu den Nornen wie Odhin , zu den Müttern wie Fauſt , —
und da verſinkt alle Kultur , da muß Zell-Leib zum Zell-Leibe ,
um in heißer Umarmung ſeinen Abſtand auf das Mindeſtmaß
zu reduzieren , das überhaupt ſo großen Körpern gegeben iſt .
Ja , der Akt geht in Wirklichkeit , jenſeits dieſer Mindeſt¬
nähe , noch tiefer . Gehen doch die losgelaſſene Samenzelle
und die entgegenwandernde Eizelle im Schoße des einen Liebes¬
partners eine letztliche wahre Miſchung Leibes und der Seele
ein , gegen die gehalten , ſelbſt die engſte Aneinanderfügung der
großen Hälften des Liebesindividuums das Ineinanderſchieben
zweier Attrappen bleibt . Erſt der Inhalt vollzieht das End¬
gültige , indem Samenzelle mit Eizelle verſchmilzt .
Gieb dich ſelbſt den kühnſten Phantaſiebildern hin und
male dir Vorgänge als möglich aus , wie ſie bei der heute ſo
bewährten künſtlichen Fiſchzucht angewandt werden . Da be¬
mächtigt ſich der Menſch der austretenden Samenzellen ( Milch )
und Eizellen ( Rogen ) von zeugungsreifen Fiſchen , füllt beide
Produkte in Flaſchen , die ſich mehrere Tage bequem aufbe¬
wahren laſſen , und vollzieht ſelber durch Zugießen des einen
Stoffs zum andern je nach Bedarf die Zeugung , — ſchließt
alſo gewiſſermaßen nachträglich und künſtlich noch den Ring
des Liebesindividuums . Denke dir kühnſter Weiſe ſelbſt ſo etwas
beim Menſchen möglich und denke dir , daß auch dieſe Produkte
noch verſandt werden könnten . Selbſt in dieſer äußerſten
Phantaſie-Möglichkeit bleibt die endliche Vermiſchung der Ei¬
zelle und Samenzelle einzige , aber abſolute Notwendigkeit .
Der Vorgang wäre ſo zu ſagen bis ins Mikroſkopiſche getrieben ,
hier unter dem Mikroſkop aber vollzöge ſich doch noch die letzte
Diſtance-Aufhebung , die Miſchung Leib in Leib .
Das menſchliche Liebesindividuum iſt alſo ſchlechterdings
ein ganz beſtimmter , mit nichts vergleichbarer Sonderfall inner¬
halb der allgemeinen Bildung menſchlicher Überindividuen .
Es hat eine einzige Stelle , wo es nicht denkbar ſcheint , daß
der Raum von der einen Perſon zur andern im genoſſenſchaft¬
lichen Individuum jemals durch künſtliche Werkzeuge überbrückt
werden könnte , die den Diſtance-Unterſchied gleichgültig machten .
Du kannſt dir denken , daß du bei vervollkommneter Technik
mit dem Mars durch Lichtſignale ſprechen könnteſt . . . aber
nicht , daß du eine echte Zeugung vollziehen könnteſt , bei der
zwiſchen der Samenzelle und der Eizelle auch nur die Diſtance
eines winzigen Millimeterbruchteils bliebe . Aus dieſer That¬
ſache ergeben ſich nun weitere Folgerungen ſofort . Auf das
Liebesindividuum findet jenes Robinſon-Ideal von vornherein
keine Anwendung . Jener ideale Robinſon auf Salas y Gomez
könnte , mit dem geſamten Wiſſen der Menſchheit im Kopf , wie
eine Samenzelle die ganze Kultur aus ſich allein wiedererzeugen .
Aber er allein könnte niemals einen zweiten lebendigen Menſchen
erzeugen und im Augenblik ſeines Todes ſtürbe mit ihm beides ,
Menſchheit und Kultur , jammervoll aus . Die Arbeitsteilung
in den beiden Hälften Mann und Weib iſt für dieſen Punkt
auch im Ideal nicht bloß eine freie Vereinbarung auf Kün¬
digung , ſondern ſie iſt eine abſolute mit vollem Zwang . Ohne
Einheit von Mann und Weib iſt jede Partei in der That nur
ein loſes Rad , das augenblicklich und für immer ſtehen bleibt ,
ſo lange die Maſchine auseinander genommen iſt .
Die ganze eigentliche Verwickelung der Dinge erſcheint
dir aber nun in dem Moment , da du dir ſagſt : dieſe gleichen
Liebeshälften , die hinſichtlich des einen äußerſten Aktes noch
ſo ganz ſiphonophoriſch aufs „ Verwachſen “ gebaut ſind , —
dieſe Liebeshälften laufen eben doch ſonſt und in allen Mo¬
menten außerhalb dieſes Aktes als regelrechte Ganz-Individuen
herum im Sinne anderer freier Perſonen in höheren menſch¬
lichen Verbänden . Sie beſitzen in allem übrigen die volle
Bewegungsfreiheit und Unabhängigkeit eben des Menſchen .
Alles , worin ſich ihre ideale Einheit , ihre höhere Individualität
als Liebesindividuum , abgeſehen von dem ſpeziellen körperlichen
Miſchakt , ſonſt noch bethätigt , geht entſprechend genau ſo vor
ſich , wie es bei Verbänden nach Art jenes Exempels Verleger
und Reporter ſonſt Brauch bei uns iſt . Lichtwellen vermitteln
auch hier den Anblick der gegenſeitigen Perſönlichkeit . Schall¬
wellen , auf beſtimmte vereinbarte Zeichen hin geordnet , ge¬
währen das ſchöne Menſchenmittel auch hier der Sprache , die
Gedanken von Gehirn zu Gehirn wie auf Elfenflügeln herüber
und hinüber treibt . Wir haben das eben ſchon beſprochen bei
der Frage , wie weit die Vorbereitungen zu dem Miſchakt per
Diſtance gingen . Das gemeinſame Leben innerhalb eines
Liebes-Individuums iſt aber keineswegs ſo eingeſchränkt , daß
es bloß die mehr oder minder grobe und deutliche Vorbereitung
zu jenem Miſchakt umſchlöſſe und weiter nichts .
Erinnere dich an die unendliche Goldwelle , die ſich
zwiſchen Liebenden über jede Handlung , jede Seelenregung
ausgießt . Denke bloß an das Aufblühen der Kunſt , vor allem
der Dichtung , unter dieſem Sonnenſchein . Denke an die Fülle
der ganz feinen Regungen , die im edelſten Sinne als keuſch zu
bezeichnen ſind , alſo mit jenem Miſchakt nach unſerem hergebrachten
Wortſinn unmittelbar überhaupt nicht mehr zuſammenhängen ,
dennoch aber ihre wahre Pflanzſtätte auf Erden , ihr unſchuldig
reines Paradies nirgendwo anders haben als innerhalb des Ringes
von Liebesindividualitäten . Und denke an den ungeheuren Reich¬
tum ganz allgemein , den jede höhere Individualität für beide
umſchloſſenen Teile überhaupt bietet , die enormen Schutzfolgen
und die moraliſchen Kräftigungen . Nicht umſonſt iſt unſer
höchſtes Moralwort „ Menſchenliebe “ ſelbſt im Wortlaut aus
dieſem Liebesring hervorgegangen . Alle und alle dieſe anderen
Werte jenſeits jenes einen Aktes unterſcheiden ſich aber gerade
darin grundlegend von ihm , daß ſie eben nicht auf Miſchung
hinauslaufen , ſondern daß bei noch ſo viel ſelig ſüßer Geiſtes-
und Leibeseinheit die Zweiheit der beiden Partner ihre
Diſtance wahrt .
Mag dieſe Diſtance groß oder gering ſein , — ſie bleibt
ſtets ſo groß , daß jeder ſiphonophoriſche Verwachſungszug
ſchlechterdings aus dem Spiele bleibt genau ſo , wie er es in
jenem Exempel bei dem Verleger und Reporter blieb . Und
der ganze rieſenhafte Reigen der Erſcheinungen im Liebes-Indi¬
viduum , — vom erſten rein lyriſchen Morgenrot-Stadium ,
das jenen Miſchakt noch gar nicht bewußt ahnt , bis auf jenes
weiteſte Feld hinaus , wo die bewußte Liebe als höchſtes
Geiſtesgut mit eigenen Adlerflügeln ſich hoch ins Blau über
jenen Akt hinaus erhebt , ſo hoch , daß auch ſie ihn ganz wieder
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aus ihrer Adler- und Sonnen-Perſpektive verliert — dieſer
ganze Reigen arbeitet mit ſolcher Diſtance .
Die verwickelte Sachlage im menſchlichen Liebes-Indivi¬
duum iſt aber ſelbſt damit noch nicht erſchöpft . Aus jenem
Miſchakt erwächſt eine neue Komplikation des Liebes-Individuums :
das Kind . Das Kind gehört ſeiner Entſtehung nach durchaus
nur dem Miſchakt an und würde niemals durch irgend einen
— und ſei es der großartigſte — jener Diſtanceakte zu ſtande
kommen können . Es erwächſt aus der verſchmolzenen Samen-
und Eizelle . Entſprechend dieſer ſeltſamen Herkunft unter¬
ſcheidet ſich das Kind denn auch weſentlich im weiteren Bunde
mit dem Liebesindividuum von beliebigen gewöhnlichen Er¬
gebniſſen eines menſchlichen Über-Individuums .
Nimm noch einmal unſer Ur-Beiſpiel . Jene ſchlichte ,
flüchtige Individuenbildung zwiſchen Verleger und Reporter .
Obwohl hier alles per Diſtance und ſogar durch eine unge¬
heuer große Diſtance ſich abwickelte , können oder müſſen doch
auch dort gewiſſe dritte Ergebniſſe herausgekommen ſein , die
ſich ſehr wohl äußerlich dem Kinde vergleichen laſſen . Sagen
wir zunächſt : der Zeitungsbericht , der fortan gedruckt vorliegt .
Das Wort „ geiſtiges Kind “ für ein ſolches Ergebnis iſt uns
ja täglich geläufig . Sagen wir meinetwegen auch eine Geld¬
ſumme , ein Reingewinn , der für eine der beiden Parteien
ſchließlich übrig geblieben iſt , auf Zinſen gelegt wird und
vielleicht für alle abſehbare Zeit ſo fort und fort eine be¬
ſtimmte Art dauernden „ Lebens “ für ſich weiter führt ſelbſt
über den Tod des eigenen Erzeugers hinaus . Als Diſtance¬
werte geſchaffen , bleiben aber Zeitungsblatt wie Kapital auch
in ihrem weiteren Daſein unabänderlich Diſtancewerte für
das höhere Individuum , aus deſſen Gemeinſchaft ſie hervor¬
gingen .
Ganz anders das Liebeskind . Es bleibt zunächſt neun
lange Monate echt ſiphonophoriſch verwachſen mit dem einen
Partner des Liebes-Individuums , der Mutter . Wenn du einer
Geburt beiwohnſt und den gewaltigen regelrechten Stiel ſiehſt ,
deſſen eines Ende am Nabel des Kindes feſthängt , während
das andere eben noch an der Mutter ſaß , ſo biſt du hier
genau auf dem , was wir oben bei dem Telegraphenkabel , durch
das der Verleger in Amerika ſeinen Reporter in Europa
„ nährte “ , als geradezu lächerliches Bild verworfen haben ,
— und zwar nicht lächerlich , ſondern ernſthaft . Durch dieſes
dicke Kabel der Nabelſchnur iſt wirklich Monate lang das
Nährblut der Mutter übergefloſſen in ihr Kind und das Kind
hat mit dem Bauche daran geſogen wie ein Bandwurm . Ja
noch nach der Geburt trinkt das Kind aus den Brüſten der
Mutter buchſtäblich mit dem Munde ſeine Nahrung ab .
Dieſe letztere Handlung ſteht allerdings ſchon , wie ſehr
gut zu merken iſt , auf der Grenze zu einem Diſtanceakt .
Schon ſind wir Kulturmenſchen maſſenhaft dazu übergegangen ,
aus dem Miſchakt hier einen regelrechten Diſtanceakt künſtlich
zu machen . An die Stelle der eigenen Mutter haben wir bald
die fremde geſetzt , bald ein milchendes Säugetier ganz anderer
Art eingeſchoben ; die Milch dieſes Tieres haben wir kondenſiert ,
ſteriliſiert , auf Flaſchen gezogen und mit der Poſt über Land
verſendbar gemacht . Daß das aber möglich war , verdanken
wir eben bloß dem Umſtande , daß mit dem Auſtritt des Kindes
aus dem Mutterleibe überhaupt die Grenze zwiſchen Miſchakt
und Diſtanceakt für dieſen Fall zu verſchwimmen beginnt .
Wenig ſpäter : und Mutter und Kind ſind ohnehin nur noch
in einem Diſtanceverhältnis . Sie ſehen ſich durch Lichtwellen ,
verſtändigen ſich nach und nach immer beſſer durch Schallwellen ,
kurz ſie treten trotz aller intenſivſten , unabänderlich fortbe¬
ſtehenden Liebesgenoſſenſchaft miteinander dauernd in jenes
einfache Genoſſenſchaftsweſen ein , das mit jeglicher ſiphono¬
phoriſchen Miſchung ſchlechterdings gar nichts mehr zu thun hat .
10*
Dieſes weitere Verhalten des einen Partners im Liebes-
Individuum , der Mutter , zum Erzeugnis , zum Kinde , macht
aber dann nur dasſelbe , was der andere Partner , der Vater ,
vom Zeitpunkt unmittelbar nach dem großen begründenden
Miſchakt an überhaupt nur gemacht hat . Dieſer Vater wartet
ja nicht einmal die wahre Vermiſchung von Samenzelle und
Eizelle ab . Im Moment , wo die Samenzelle ihn durch
einen letztlich rein automatiſchen Akt ſeiner Körperweisheit ver¬
laſſen hat und er ſich nur mehr als leere Attrappe fühlt ,
aus der der eigentliche Vermiſchungskernteil endgültig einmal
wieder ausgeſchieden iſt , — in demſelben Moment iſt auch
ſeine ganze Miſchrolle dem Kinde gegenüber ſchon ausgeſpielt .
Weibes-Miſchakt und Kindes-Miſchakt fällt für ihn in eins
zuſammen . Der geſamte Reſt all ſeiner Beziehungen zum
Kinde aber iſt fortan Diſtanceakt ! Auch hier mögen die Vater¬
liebe und Kindesliebe als ſolche ſo ſtark bleiben wie ſie wollen ,
ja ſich ſogar noch wachſend mit den Jahren vertiefen und
verſtärken : das Verhältnis bleibt Diſtanceverhältnis . Bleibt
doch ſogar jenes auf uralter Naturweisheit beruhende Wider¬
ſtreben des Vaters übrig , mit der eigenen Tochter ( und der
Mutter mit dem eigenen Sohne ) nachträglich noch einmal eine
echte neue Liebesindividualität im Sinne von Mann und
Weib einzugehen , da hier abermals dann echte Vermiſchung
zum Muß würde .
Auf alle Fälle ſiehſt du , daß in dieſem Verhältnis des
Liebes-Individuums zu ſeinen Kindern Miſchakte und Diſtance¬
akte im ſeltſamſten Durcheinander auftreten . Und wenn wir
ein charakteriſtiſches Unterſcheidungsmerkmal gegen jene erſte
reine Miſchrubrik und jene zweite reine Diſtancerubrik für
dieſes dritte Verhältnis finden wollen , ſo müſſen wir noch
einen anderen Umſtand dabei ins Auge faſſen .
Miſchung wie Diſtance bedeuten räumliche Verhältniſſe .
Für das Kind aber kommt in ganz beſonders aufdringlicher
Weiſe die Dauer in Betracht , alſo ein zeitliches Verhältnis .
Erinnere dich auf einen Moment an das , was wir ehe¬
mals über Unſterblichkeit geredet haben .
Das Kind iſt die ſichtbarſte Stelle , wo das Liebes-Indivi¬
duum die Möglichkeit einer Unſterblichkeit zeigt . Mag das
Liebes-Individuum ſich ſeeliſch und körperlich noch ſo feſt be¬
gründen . Mögen die Diſtancehandlungen den ganzen Reſt des
Lebens bei beiden Partnern erfüllen . Mag die körperliche
Miſchung , die ja an ſich immer nur einen Moment dauert ,
ſich in einer Kette von immer neuen Momenten wenigſtens ſo
lange fortſetzen , wie durch gewiſſe Altersgrenzen gewährt iſt .
Eines Tages läutet beiden Partnern dennoch unabänderlich das
Sterbeglöckchen . Darüber hinaus exiſtieren für den äußeren
Anblick nur mehr beſtimmte , nachgelaſſene Wirkungen , die
nach einem großen Erhaltungsgeſetz allerdings unabänderlich
weiter rollen . Ich laſſe hier ununterſucht , in wiefern du dir
auch den Ring dieſer weiter und weiter ſtrahlenden Wirkungen
immer noch philoſophiſch als weiterbeſtehende Individualität
definieren könnteſt . Sicher jedenfalls , ja eine der ſicherſten
Weltthatſachen überhaupt iſt : daß eine der großartigſten und
handgreiflichſten Wirkungen über den Tod hinaus das Kind
iſt . Im Kinde ſteckt die anſchaulichſte Zukunftswirkung , ja in
der Kette der Kinder und Kindeskinder die ſichtbarſte Unſterb¬
lichkeitsthat des Liebes-Individuums .
Das Kind und alles , was mit ihm im Liebes-Individuum
an beſonderen Handlungen über den erzeugenden Miſchakt noch
hinaus zuſammenhängt : Elternliebe , Kindespflege und ſo weiter
bis in das große hier anſpinnende ſoziale Netz hinein , — es
könnte alſo mit einem ſcharfen zeitlichen Wort als Gegenſtand
einer „ Dauerliebe “ bezeichnet werden , im Gegenſatz zu der
Miſchliebe und Diſtanceliebe der Eltern untereinander .
Mit dieſen drei Worten glaube ich dir eine gewiſſe grobe ,
aber praktiſche Terminologie an die Hand zu geben , die uns
im Labyrinth des menſchlichen Liebeszaubergartens unbedingt
gute Dienſte thun wird .
Grob iſt ſie , ganz gewiß .
Aber das ſchadet , hoffe ich , durchaus nichts . Du wirſt
mit ihr ein ganzes Stück vorwärts kommen , wenn du dir nur
von Beginn an klar darüber bleibſt , daß ſolche Trennungen
an ſich nur menſchliche Hilfsbegriffe ſind , während die wirk¬
lichen Dinge natürlich überall im Fluß ſind und tauſend
Übergänge zeigen . Die Übergänge liegen bei unſeren drei
Kraftwörtlein ja auf der Hand .
Die Dauerliebe beiſpielsweiſe iſt in ihrem äußerſten , aller¬
erſten Akt , der Erzeugung des Kindes , identiſch mit der echten
Miſchliebe . Die ganze weitere Vaterliebe innerhalb der Dauer¬
liebe , iſt , wie wir geſehen haben , im engeren Sinne wieder
eine Art der Diſtanceliebe . Die ganze echte Miſchliebe mit
ihrem ſiphonophoriſchen Akt der Körperverwachſung im Zeugungs¬
moment wäre im allgemeinen bei uns frei beweglichen und
ſonſt ſo völlig körperlich getrennten Weſen faſt ein Ding der
Unmöglichkeit , wenn die Möglichkeit der Liebeserregungen per
Diſtance , durch den Anblick ( alſo durch Lichtwellen ) , durch die
gedankenvermittelnde Sprache ( Schallwellen ) und ſo weiter und
weiter nicht beſtände ; die Diſtanceliebe iſt eben für uns Men¬
ſchen einfach die ſo gut wie unumgänglich nötige Voraus¬
ſetzung der Miſchliebe . Zwiſchen Miſchliebe und Diſtanceliebe
exiſtieren aber auch noch unmittelbare Übergänge . Ihr Haupt¬
ſpielplatz ſind alle die Vorgänge , die nicht die eigentlichen
Diſtanceſinne , Ohr , Auge , Naſe , und die Diſtancegedankenwelt
des Gehirns betreffen , ſondern den Haut-Taſtſinn . Eine der
merkwürdigſten Übergangsformen iſt hier zum Beiſpiel der Kuß .
In ſeinem urſprünglichſten Weſen gehört er offenbar
dicht an die Schwelle der Miſchliebe . Im Moment der körper¬
lichen Kußberührung iſt die Diſtance zwiſchen den Perſonen des
Liebesindividuums zweifellos dicht an der Minimalgrenze , —
die Diſtanceliebe ſteht alſo auf dem Punkte , Miſchliebe zu
werden . Andererſeits iſt der Kuß aber thatſächlich noch keine
Miſchliebe . Die Organe der Miſchliebe ſind bei ihm noch gar
nicht in Thätigkeit . Die Berührung iſt noch eine reine Taſt-
Berührung und zwar eine ſolche vom Kopf aus , alſo der am
meiſten auf Diſtanceliebe eingeſtellten Gegend des Geſamt¬
menſchen . Auf dieſer Meſſerſchneide können die beiden
Lieben noch ſcharf getrennt werden , wenn auch dicht vor Thor¬
ſchluß . Und ſo hat ſich um dieſen Kußakt ein wahrer Ratten¬
könig der allerverſchiedenſten Wertungen und Deutungen herum¬
geknäuelt .
Auf dieſen Schlußwert hat ſich gleichſam der ganze Ver¬
geiſtigungsprozeß der Diſtanceliebe wie mit äußerſter Kraft
konzentriert , — bis nahezu zum völligen Verlorengehen und
Vergeſſenwerden ſeiner alten eigentlichen Rolle als Umſchlag
zur Miſchliebe . Aus einer Introduktion der Miſchliebe iſt er
zuerſt zu einem Surrogat geworden da , wo die letzte Minimal¬
diſtance nicht mehr beſeitigt werden konnte , als Grenzwert
gleichſam des Kampfes und der Sehnſucht um die völlige
Miſchliebe .
Dann iſt aber aus dem Surrogat ein Symbol geworden ,
alſo ſchon eine rein geiſtige Sache : das denkende Gehirn war
nicht umſonſt ſo nahe . Und dieſes Symbols hat ſich jetzt
gerade die ausgeſprochenſte Diſtanceliebe bemächtigt . In ihren
Händen iſt der Kuß zum Symbol der Liebe geworden , die
ausgeſucht niemals körperliche Miſchliebe werden ſoll oder es
überhaupt nicht werden kann .
Die Dauerliebe , die jede ſpätere körperliche Neumiſchung
von Eltern und Kindern als die wahre Sünde wider den hei¬
ligen Geiſt perhorresziert , hat ſich gerade des Kuſſes als
Ausdruck der Eltern- und Kindesliebe in umfaſſendem Maß
bemächtigt .
Die „ keuſcheſte “ , alſo vergeiſtigtſte Unſchuldsliebe per
Diſtance , die den Miſchakt eventuell gar nicht als möglich
ahnt , mindeſtens ihn ignoriert als ihren Gegenpol , küßt
unentwegt .
Ja im erhabenſten Moment der Kulturgeſchichte , bei der
bewußten Einſetzung der Menſchenliebe als des fortan oberſten
Geſetzes im werdenden Menſchheitsindividuum , wird der Kuß
das Vertragſzeichen ! In dieſer höchſten Neugeburt des alten
Thürſtehers am körperlichen Miſchakt iſt nunmehr völlig evident ,
daß er nur noch ein Symbol des höchſten geiſtigen Einigungs¬
aktes der menſchlichen Diſtanceliebe iſt ! Wunderbare Pilger¬
fahrt . An dieſem Kuſſe ließe ſich die ganze Geſchichte der
menſchlichen Liebe allein aufreihen , er iſt wie ein koloſſaler
Knoten darin , der , wenn er allein gelöſt würde , alle Fäden
zugleich wieſe .
Die Erſchwerung der ſcharfen Trennung bei dieſen reinen
Taſtdingen wie dem Kuſſe iſt im Grunde aber noch bis tief
in den Miſchakt ſelbſt hinein gegeben . Und zwar aus dem
einfachen Grunde ( den ſich allerdings nicht jeder ſtets gegen¬
wärtig hält ) : weil ja dieſer Miſchakt für die beiden Beteiligten
als bewußte Weſen bis in ſeinen tiefſten Verlauf hinein immer
noch in gewiſſem Sinne Taſtakt mit Diſtance iſt und erſt
jenſeits jeglichen Bewußtſeins , ja jenſeits des Körperzuſammen¬
hanges der beiden großen Partner echter Miſchakt wird .
Dazu mußt du dir immer wieder folgendes haarſcharf klar
machen . Es miſchen ſich : die Samenzelle und die Eizelle .
Wo ? In oder wenigſtens mehr oder minder nahe der weib¬
lichen Gebärmutterhöhle . Wie ? Die weibliche Eizelle rollt
durch einen der Eileiter entgegen . Und die männlichen
Samentierchen klettern von der Scheide her aufwärts . Den
Vorgang der Begegnung habe ich dir ſeiner Zeit wohl ſo
weit anſchaulich dargelegt . Er iſt ſelber noch wieder eine
engere Begattung zweier Zellindividuen — und dieſer intimſte
Begattungsakt erſt führt zur eigentlichen wahren Miſchung :
die beiden Zellen „ freſſen “ ſich gewiſſermaßen gegenſeitig derart ,
daß jede lebendig in der anderen aufgeht , — nach dem
Prinzip , wie zwei Tropfen bei einer beſtimmten Höhe der
Annäherung blitzſchnell ineinander fließen und fortan einen
einheitlichen neuen Tropfen bilden . Die ganze Begattung der
beiden großen Liebesperſonen Mann und Weib iſt aber auch
bei höchſter und reinſter Vollendung noch nicht im ſtande , die
letzte Diſtance zwiſchen der Samenzelle und Eizelle zu über¬
winden , ſie verringert ſie nur auf das ihr erreichbare Mindeſt¬
maß ; das allerletzte Diſtanceteilchen im Inneren des Weibes
haben dann Eizelle und Samenzelle noch für ſich zu nehmen .
Aus dieſem äußerſten Sachverhalt erhellt alſo ſonnenklar ,
daß auf der feinſten Goldwage ſelbſt das , was wir Menſchen
ſeit Jahrtauſenden für die abſolute Geſchlechtsmiſchung halten :
der für unſer ſeeliſches und körperliches Erkennen vollendete
Geſchlechtsakt zwiſchen Manneskörper und Weibeskörper , als
ſolcher noch immer innerhalb der Diſtanceliebe iſt .
Es ergiebt ſich das ja noch beſonders gut aus den zahlloſen
Fällen , wo gerade jene Reſtdiſtance zwiſchen Samenzelle und
Eizelle trotz ſonſt vollendeten Aktes doch nicht mehr genommen
wird , alſo dieſes letzte Spannlein Diſtance die ganze Miſchung
wirklich noch vereitelt . Es tritt das ein , wenn die Samenzellen
abſterben , ehe ſie eine Eizelle erreicht haben , — ſei es nun ,
daß ſie ſie nicht früh genug finden konnten oder daß gerade
gar keine reife Eizelle vom Eierſtock her ihnen entgegen ge¬
wandert war . Und es iſt ebenſo mit der größten Leichtigkeit
abſichtlich hervorzurufen durch irgend eine beim Akt künſtlich ge¬
zogene Trennungsſchranke , die gerade auf jenem äußerſten Ge¬
biet noch die Samentierchen an ihrer wirklichen Wanderung zur
Eizelle hindert . Die dünne Scheidewand einer Fiſchblaſe genügt
bekanntlich vollkommen , um noch während des Geſchlechtsaktes
dieſe haarſcharfe Schranke vollgültig aufzurichten . Und du
begreifſt : beſonders in dieſem letzteren Falle bleibt der ganze
Akt alſo genau ſo Diſtanceliebe , wie wenn der Mann in
Amerika und das Weib in Europa ſäße .
Ich gebrauche dabei mit Abſicht doch das Wörtchen „ Liebe “ .
Denn der Akt bleibt für die beiden beteiligten großen Menſchen¬
perſonen in jedem Zuge ja doch ihr äußerſter , intimſter ,
ſeeliſch wie körperlich bedeutſamſter Liebesakt . Es iſt bloß
halt trotz aller Intimität typiſch echte Diſtanceliebe und noch
ganz und gar keine Miſchliebe .
Allerdings iſt nicht zu leugnen , daß dieſe extremen
Fälle nicht die eigentlich im großen Naturſinne vorgeſehenen
ſind . Im höchſten und allſeitig harmoniſchſten Sinne bleibt
der Gattungsakt zwiſchen Mann und Frau , obwohl auch er
noch ein letztes winzigſtes Diſtanceteilchen offen läßt , eben doch
der endgültige Schritt zur Miſchliebe . Unter dieſer und keiner
anderen Vorausſetzung iſt er von der Natur inſzeniert worden
als ein feſter Liebesbrauch . Und alle jene weiteren Möglich¬
keiten , zumal die letztgenannte einer künſtlichen Schranke noch
innerhalb des Aktes , ſind erſt Sachen zweiten Grades , die
den Anblick verwickeln , aber doch nicht die Grunddefinition
aufheben können .
Schließlich : magſt du dir die Übergänge ſo bunt aus¬
malen wie du willſt , — einen brauchbaren Sinn behalten
unſere drei Liebesrubriken auf jeden Fall für unſere weitere
Betrachtung .
Wenn du nur immer grob im Auge behalten willſt : die
Miſchliebe duldet kein winzigſtes Bruchteilchen mehr eines
Millimeters zwiſchen ihren Parteien ; die Diſtanceliebe kann
ihren einen Partner in Amerika haben und ihren anderen in
Europa ; und die Dauerliebe geht auf etwas , was zeitlich über
beide Parteien hinausläuft in die Millionenfolge der Jahre
hinein .
Zur Miſchliebe rechnen wir ( trotz jener feinen Neben¬
punkte ) ſummariſch alles , was mit Samenzelle und Eizelle und
mit dem Beſtreben , zwiſchen dieſen jeden Raum aufzuheben ,
zuſammenhängt , alſo Geſchlechtsſtoffe , Geſchlechtsteile und damit
ausgeführte Geſchlechtshandlungen . Zur Diſtanceliebe werfen
wir alle Liebesdinge , die bloß durch den Geiſt , durch vergeiſtigte
Werkzeuge , durch Schallwellen , Lichtwellen , Sprache , Schrift ,
äſthetiſches Empfinden und ſo weiter das Liebes-Individuum
bauen und zuſammenhalten . Und mit der Dauerliebe verknüpfen
wir alles , was die Linie Eltern und Kinder berührt .
In demſelben Moment , wo du dieſe ſchlichte Dreiheit in
der Liebe des Menſchen erfaßt , dieſe große Dreieinigkeit , aus
denen das Myſterium all unſeres Liebens ſich baut , — da iſt
es aber , als reiße gleich ein weiterer Schleier auseinander .
Eine ſchwere graue Wolke zieht ab . Und vor dir liegen
wieder Gefilde der Urwelt . Ein neues Stück des großen Plans ,
auf dem der Menſch heranſteigt .
In jener Dreiheit ſteckt etwas Geſchichtliches . Stufen des
Werdens .
Die Miſchliebe ist eine Urform . Die Diſtanceliebe und in
allen mit ihr verknüpften Teilen auch die Dauerliebe ſind
jünger , ſind neuer . Im Liebes-Individuum liegt es da wie
geologiſche Schichten aufeinander . Wie du im Bergwerk Schicht
auf Schicht ſiehſt , — hier Steinkohle , die einen verſteinerten
Sumpfwald aus menſchenferner Urwelt darſtellt ; hier wie eine
Brodſchnitte darüber einen Sandſtein , der ſich in jüngerer Zeit
aus dem Waſſer als Schlammgrund abgelagert hat ; und viel¬
leicht auf dem wieder eine Baſaltdecke , die in nochmals ſehr
viel jüngeren Tagen aus einem Vulkan hier darauf gefloſſen
iſt , und endlich ganz oben eine Deckſchicht Lehm und loſe Ge¬
ſteinsbrocken , die jetzt auch noch ein Gletſcher hierher geſchlittert
hat und zwiſchen denen ſchon Steinwerkzeuge des Menſchen
liegen , — ſo haſt du eine Schichtenfolge auch in dir als Mann
und Weib , als Liebes-Individuum .
Du kannſt ſchon etwas derart vermuten , wenn du dich an
eine uns allen geläufige Erſcheinung unſeres menſchlichen Liebes¬
lebens erinnerſt .
Bei uns Kulturmenſchen ſind die verſchiedenen Lieben viel¬
fach in eine Art Zwiſt miteinander geraten . Beſonders die
Diſtanceliebe iſt es , die immer wieder den Verſuch gemacht hat ,
ſich als die einzig echte , heilige , menſchenwürdige Liebe aufzu¬
ſpielen und die Miſchliebe für eine niedrige , häßliche , ver¬
bergenswerte Liebesabart oder -unart , gleichſam für das
Enfant terrible der Liebe , zu erklären . Alle jenen lieben
Wörtlein , die der bewußte ſogenannte Geiſt im Menſchen gegen
ſeinen eigenen Leib erfunden hat , ſind auch hier zur Anwendung
gebracht worden . Tieriſch , fleiſchlich , ſinnlich waren noch die
harmloſeren . In zweiter noch verbeſſerter Inſtanz kamen dann
unſittlich , ekelhaft , menſchenunwürdig , ſataniſch . Obwohl man
zugab , daß dieſe ſchauderöſe Miſchliebe doch zum Zweck überhaupt
der Fortſetzung des ſonſt gottlob ſo veredelten und vergeiſtigten
Menſchenvolkes nicht gänzlich aufgehoben werden könne , ſo haben
ſich doch Jahrtauſende der Sittengeſchichte eine immer größere
Mühe gegeben , die Miſchliebe wenigſtens in der Achtung ſo
weit herunterzuarbeiten gegenüber der Diſtanceliebe , wie nur
möglich . Auf gewiſſen Höhepunkten dieſes ungemein merk¬
würdigen kulturgeſchichtlichen Zwiſtes der „ zwei Seelen , ach “ ,
in unſerem Liebes-Individuum iſt ja gar verſucht worden , auch
noch die Dauerliebe von jedem Miſchreſt zu entkleiden und zu
erlöſen . Wie der Heilige nicht mehr in den Armen eines
Weibes gedacht werden konnte , ſo ſollte er ſchließlich auch nicht
mehr aus einem Miſchakt ſtammen . Du weißt , wie Buddha
ſowohl wie Chriſtus von der Legende aus myſtiſchen Diſtance¬
akten ohne „ Befleckung “ hergeleitet wurden .
Auch in all dieſen Dingen ſtecken ja nun große und ver¬
wickelte Wallfahrten des ſuchenden Menſchengeiſtes , dieſes neu
geborenen Bewußtſeinskindes , das auf ſeiner Suche nach
Fortentwickelung durch höhere Ideale tauſend Wege probiert
und letztlich aus allen , auch den wunderlichſten , etwas gelernt
hat . Unſer Geſpräch kehrt zu dieſen beſonderen Wertungen der
Diſtance- und Miſchliebe noch ausführlich zurück . Was uns
hier nur intereſſieren ſoll , iſt die einfache Thatſache eines
ſolchen Zwiſtes überhaupt .
Wo immer du in der Welt Rangzwiſte dieſer Art auftauchen
ſiehſt , da muß der Gedanke als erſter nahe liegen : es handle
ſich wohl um einen Zwiſt zwiſchen Älter und Neuer .
Verſchiedene Altersſchichten laſten wie in jenem Bergwerk
da aufeinander . Und zwiſchen ihnen ſchwanken die Wertungen .
So haſt du es in unſerem Völkerleben , im ſozialen Klaſſen¬
kampf , in den Meinungen der Religion wie der Naturforſchung
über die Dinge Himmels und der Erden . Du haſt es aber
noch in einem uns hier viel näheren Beiſpiel . Jene liebens¬
würdigen Wörtchen von „ fleiſchlich , ſinnlich , tieriſch “ , die die ganz
lilienweiß gewordene Diſtanceliebe der blutroten Miſchliebe
angehängt hat , weiſen dir den rechten Weg . Es ſind ja , wie
geſagt , die gleichen herzlichen Adjektiva , die von der Geiſtes¬
ſeite gelegentlich immer wieder überhaupt dem Leibe beigelegt
wurden .
Zwiſchen dem Teil deiner Individualität , den du für ge¬
wöhnlich Geiſt betitelſt und dem anderen , den du Leib nennſt ,
beſteht aber , das habe ich dir wohl genügend oben bewieſen —
ein ausgeſprochenes Verhältnis von Alt und Neu . Dein
„ Leib “ iſt die ältere Weisheit in dir , — der engere Fleck da¬
gegen , auf dem du deinen „ Geiſt “ regſam fühlſt , die jüngere .
Dein Leib beſitzt die Schrift von Äonen , dein Geiſt iſt deine
paar Jahre alt . Obwohl beide in deiner Individualität als
einem Höheren , Univerſaleren einbeſchloſſen , zeigen dieſe beiden
Stücke deswegen doch eine gewiſſe Gegenſätzlichkeit . Der Leib
hat gegen den Geiſt etwas Plumpes , Rieſiges , Erdrückendes .
Zugleich hat er aber etwas Automatiſches , etwas von einem
eingedrillten Rieſen , der Jahrmillionen auf dem Buckel ſchleppt ,
durch dieſe Laſt aber auch in der Beweglichkeit und Freiheit
ſeiner Handlungen ſtark eingeengt und gleichſam abgeſtumpft
iſt . Der Geiſt erſcheint daneben wie ein unruhiges Zwerglein ,
das auf einem kleinen weißen Felde , das ihm der brave
Handlangerrieſe Leib gewährt und ſchützt , unabläſſig Zukunfts¬
werte , Neuwerte in größter Haſt aufzubauen ſucht . Dieſem
Zwerglein leuchten keine Millionen von Jahren unmittelbar
voran in ſeinem Thun . Was es erfährt von der Welt , ja
vom eigenen Leibe , das muß es in ein paar Jahren ins reine
unbeſchriebene Feld ſich erſt haſtig hineinraffen . Aber mit
dieſen paar gerafften Stücken vollführt es nun ein ſolches freies
Jongleurſpiel in tauſend neue Möglichkeiten hinein , ſie zwingt
es in einen ſolchen neuen Tanz über alle Körperweisheit
hinaus , daß ſchließlich wirklich der ganze Fortſchritt der Ent¬
wickelung auf dieſem Erdplaneten durch die nervöſe Neuarbeit
dieſer Geiſteszwerglein läuft . Und da das Zwerglein mit ſeiner
bengaliſch hellen Bewußtſeinsfackel das ſelber ſehr genau ſieht ,
ſo iſts im Grunde kein allzu großes Wunder , daß es ſich für
das eigentlich Wichtige und den Leib etwa bloß für einen
wirklichen ganz kreuzdummen Handlanger , eine Art notwendigen
Übels , hält . Und ſo entſteht ein Konflikt im Innern des
Individuums ſelbſt , ein Konflikt in ſeinen Teilen , von denen
der eine den anderen mit Injurien bewirft . Der Geiſt macht
ſich luſtig über den dummen Leib .
In Wahrheit iſt 's ja bloß eine Dummheit . Dein Indivi¬
duum braucht den Leib ſowohl wie den Geiſt . Dein Leib iſt
die ungeheure Quaderfolge deiner Äonen-Vergangenheit . Dein
Geiſt iſt dagegen gleichſam die von allem Druck dieſer Quader¬
laſt frei gegebene Stelle , auf der ſich neues entwickeln , neues
anſetzen ſoll , — die ideale Oberfläche . Gewiß : dein „ Leib “
iſt das Tieriſche , denn er umfaßt eben noch das ganze Tier ,
das einmal „ Du “ war . Dein „ Geiſt “ dagegen iſt der nackte
Sonnenjüngling da oben , der immerfort nach Zukunft swerten
ausſchaut und in deſſen Geſichtsfeld allerdings nicht mehr das
überſtandene Beuteltier oder der überſtandene Affe ſteht , ſondern
ein Ideal-Menſch , auf den dein Individuum im Ganzen als
Menſchheitsglied hin ſtrebt . Du mußt aber nicht vergeſſen , daß
dieſer Ideal-Menſch dort eben nicht ſtände , wenn nicht der Leib
den Affen und das Beuteltier ſchon in ſich hätte .
Trotzdem aber : dieſer Gegenſatz gerade von alt und neu ,
von dem man ahnt , daß er eigentlich nur ein geniales prak¬
tiſches Hilfsmittel der großen umfaſſenden Individualität jedes
Einzelmenſchen iſt , um überhaupt immer wieder vorwärts
zu kommen , — dieſer ſcheinbare „ Gegenſatz “ hat eben den
Zwiſtpunkt auch hier hineingebracht wenigſtens als vorüber¬
gehende Erſcheinung der Menſchheits-Entwickelung .
Und wenn nun die Diſtanceliebe die Miſchliebe gerade
mit denſelben freundlichen Invektiven beehrt , wie der Geiſt
den Leib , ſo dürfte alſo wohl auch dort ſo etwas wie ein
Gegenſatz von alt und jung zu Grunde liegen . Und er liegt .
Ja er hat ſogar unmittelbare Beziehungen zu dem Gegen¬
ſatz in Geiſt und Leib . Setzt ſich ja doch das höhere , das
doppelmenſchliche Liebes-Individuum aus zwei echten Menſchen¬
individuen zuſammen , deren jedes ſeinen Leib und ſeinen Geiſt
hat , — die Sache liegt alſo nahe genug . Thatſache iſt , daß
die Miſchliebe ein engeres Verhältnis zum Körper hat , die
Diſtanceliebe ein engeres zum Geiſt , — dieſe Wörtchen Körper
und Geiſt natürlich immer wohlverſtanden als keinerlei abſolute
Gegenſätze gefaßt . Die Miſchliebe iſt ſo zu ſagen der Leib
des Liebesindividuums . Der Zeugungsakt mit wirklicher nach¬
folgender Zellmiſchung iſt der einzige wahre Moment , wo dieſer
Leib ernſtlich hergeſtellt iſt . Die Diſtanceliebe dagegen kann
recht gut als der Geiſt des Liebes-Individuums angeſehen
werden .
Blättern wir ein paar Seiten zurück im großen Ur- und
Hauptbuch der Liebe . Da haſt du am Anfang des ganzen
rieſigen Stammbaumes der Pflanzen und Tiere auf der alten
dicken Erde jene winzigen Rumpelſtilzchen , die Moneren ,
Amöben , Bazillen . Ihr ganzer Leib beſteht nur aus einer
einzigen Zelle und ihre ganze Liebe iſt urſprünglich Selbſt¬
teilung dieſer Zelle in zwei oder mehrere Stücke . Auf einer
unbedeutend höheren Stufe bei ihnen verſchmelzen zwei ſolcher
Teilſtücke von zwei verſchiedenen Individuen dann bei gelegent¬
licher Begegnung nochmals miteinander und erſt das ſo ge¬
bildete Neuweſen teilt ſich jetzt wieder . Hier denn haſt du
eine Art neutralen Urbodens der ganzen Liebe , die wahre
Mutterlauge , aus der alles werden mag .
In der Trennung der Zellenteile haſt du den Uranfang
aller Diſtance , in der Verſchmelzung den Uranfang aller
Miſchung . Beides , ſcheint es , kommt hier gleichermaßen ſchon
aus der Urwurzel herauf . Ja da iſt wirklich in der Zellen-
Verſchmelzung ſchon der ganze Fundamentalakt der Miſchliebe
gegeben . Zugleich aber iſt in der Nötigung , daß die beiden
Miſchzellen ſich erſt begegnen , erſt finden müſſen , daß ſie von
zwei Richtungen , zwei verſchiedenen älteren Individuen her¬
kommen , auch eine Fundamentalthatſache der Diſtanceliebe ge¬
geben . Und in der Spaltung ſelbſt , der Löſung eines Zell¬
bruchſtückes vom anderen haſt du endlich auch noch eine Fun¬
damentalſache der Dauerliebe , wenn ſchon in verſchleiertſter
Form : die Losſpaltung eines jüngeren , kleineren Individuums
von einem älteren , großen durch einen neuen Schnitt , eine
neue Diſtance . Vor dieſem Akt als Ganzem ließe ſich alſo
von irgend welchem geſchichtlichen Nacheinander der drei Liebes-
Arten kaum reden .
Aber wenn du genauer hinſchauſt , hellt ſich dir doch
folgendes Lichtſtreifchen weiter auf . Dieſer ganze Akt der Ur¬
liebe da wird heute noch von dir , dem hochgelobten weiſen
Menſchenkinde im zwanzigſten Jahrhundert , ganz genau ſo in
denſelben uralten Bräuchen vollzogen , gleich als hätte ſich da
überhaupt nichts verändert in den Jahrmillionen ſeit dem
erſten Tage , da im Urmeer eine erſte Liebe jener Rumpel¬
ſtilzchen ſich nach jenem Rezept abwickelte . Aber der ganze
Akt erſcheint bei dir gleichſam zuſammengerückt doch bloß in
eine Liebe recht eigentlich hinein : nämlich in die Miſchliebe .
Das , was in dieſem Akt als Diſtanceliebe erſcheint , das
umfaßt jetzt nur jenes erwähnte , kleine Wegreſtchen zwiſchen
Samenzelle und Eizelle , — das winzige Diſtanceteilchen inner¬
halb des Weibes zwiſchen deiner eingeſpritzten Samenzelle und
der entgegen wandernden Eizelle deiner Liebſten . Und ebenſo
umfaßt das , was in dem Urakt als Dauerliebe erſcheint , nur mehr
das kleine Wegreſtchen umgekehrt , das ein Menſchenkindlein im
Moment der Geburt von der Gebärmutter bis an die Scheide¬
öffnung zurücklegt . Jenes ganze Ur-Meer von Jahrmillionen , in
dem die erſten lebendigen Zellen ſich ſuchten , miſchten und wieder
zerſpalteten , iſt in Wahrheit eingegangen und aufgenommen in
den purpurnen Grund des Schoßes beim Menſchenweibe . Damit
aber tritt in Kraft , was wir eben uns ſelber begrenzt haben .
Der ganze Urakt , von uns Menſchen immer noch ſo treu
bis heute bewahrt , fällt weſentlich doch bei uns ganz in die
Miſchliebe . Alle unſere echte menſchliche Diſtanceliebe aber ,
die bei der Pforte des liebenden Weibes aufhört , und eben¬
ſo alle unſere echte menſchliche Dauerliebe , die bei derſelben
Pforte der gebärenden Mutter nach außen zu anfängt : ſie
berühren gar nicht jenen alten und im Weibesleibe immer noch
fortbeſtehenden Urakt der Liebe . Sie müſſen jünger ſein ,
müſſen Ergebnis ſein einer erſt nachfolgenden geſchichtlichen
Weiterentwickelung in der Liebe .
Und das ſind ſie allerdings . Denn ihre geſamten Voraus¬
ſetzungen liegen eingequadert in jüngere Entwickelungsdinge der
Lebeweſen überhaupt .
Da ſind ja beim Zeugungsakt ſelber bei euch beiden
Menſchen ſchon nicht bloß die Eizelle und Samenzelle , die ſich
11
ſuchen , ſich miſchen , ein Kind machen . Über deinen Samen¬
zellen ragt vielmehr ein ungeheurer Zellendom : dein männliches
Begattungsglied . Hinter dieſem Gliede aber wächſt in noch
viel gigantiſcheren Maſſen der Milliarden-Zellen-Komplex
deines geſamten Mannesleibes auf . Und entſprechend über
der winzigen Eizelle der Herkules des Weibeskörpers . Jeder
der beiden großen Liebespartner iſt in Wahrheit ein Zellen¬
ſtaat , und erſt durch Wunſch und im Schutz dieſer Staaten
wird der alte Monerenozean der Urwelt für kurze Zeit da im
innerſten Weibesleibe noch einmal hergeſtellt . Hinterher aber
gehen dieſe Staaten auseinander , weit fort , ſoweit mindeſtens ,
daß ſie nur durch Schallwellen oder Lichtwellen für gewöhnlich
noch miteinander verkehren können . Und auch das Kind , das
ſchließlich geboren wird , iſt ein ſolcher Zellenſtaat ſchon , ein
ganzes Reich mit Miniſterien und Werkſtätten aller Art . Und
es reißt ſich ebenfalls los von dem Mutterſchoße , von dem
alten Ozean , wächſt groß wie Vater und Mutter und verkehrt
mit beiden ebenfalls meiſt nur mehr durch Schallwellen und
Lichtwellen , höchſtens ab und zu noch durch einen Händedruck
oder durch jenes wunderliche Symbol , den Kuß .
Nun denn : dieſe ganze Vielzelligkeit , dieſe Staatenbildung
bei den Zellen iſt ja ſelber der erſte große Fortſchritt über jene
Urweſen hinaus geſchichtlich geweſen . Die Einzelzellen ſchloſſen
ſich ſchon in ſehr alten Tagen zu Zellklumpen zuſammen . In
dieſen erſten rohen Zellgenoſſenſchaften trat beſonders gegen
das Tierreich hin eine immer feinere Arbeitsteilung ein , es
entwickelten ſich die einzelnen Organe ... und ſo fort , —
das weißt du . Unter dieſen Organen waren aber mehrere ,
die der ganzen Lebenslage und Lebensmöglichkeit der Tiere
nach und nach völlig neue Bahnen öffneten .
Die Sinnesorgane Auge und Ohr riſſen die große
Diſtancewelt der Lichtwellen und Schallwellen auf . Mit der
Lunge kam das Organ der eigenen Erzeugung von Schallwellen
hinzu . Dieſe Diſtanceorgane wurden aber doppelt wichtig , da
gleichzeitig die Bewegungsorgane , Floſſen , Füße , Flügel , Hände ,
das Einzelindividuum , die „ Perſon “ , mehr und mehr vom
„Haften an der Scholle “ befreiten und wirklich auf Diſtancen
einſchulten . Nun zu allem das rapide Wachſen des Überlegens ,
des Denkens , des Schließens im Gehirn : die Schallwellen
werden zur Verſtändigungsſprache benutzt , die Hand formt
Werkzeuge ... aus dem Nebel taucht gerade auf dieſem Wege
das Tier der Tiere : der Menſch . Das äußerſte , höchſte
Diſtanceweſen der uns bekannten Welt iſt ausgeſucht dieſer
Menſch . Denke an ſein Auge , das , im Werkzeug zum Fernrohr
vervollkommnet , die Monde des Jupiter zählt , im Spektroſkop
die Chemie von Fixſternen analyſiert , die hundert Billionen
Meilen von uns entfernt ſind , und den Durchmeſſer unſerer
Erdbahn um die Sonne , vierzig Millionen Meilen , als Baſis
eines Dreiecks benutzt , um die Parallaxen und damit die
Entfernungen ſolcher Billionenmeilenſterne zu errechnen .
Du ſiehſt aber in derſelben Entwickelungsbahn noch anderes
hervortreten . Dieſe Tiere , die Zellſtaaten geworden ſind und alle
Sorten von Diſtancegaben räumlich entwickelt haben , legen ſich
auch mehr und mehr aufs Zeitliche . Das Erinnerungsvermögen
wächſt , und zugleich der Zukunftsblick . Alte Traditionen
geben einen geheimnisvollen Zuſammenſchluß . Die Generationen
kommen ſich geiſtig immer näher . Die nächſte wird ſchon ge¬
ſchaut , die letztvergangene noch erinnert . Jene höheren ſozialen
Zuſammenſchlüſſe , die über die Perſon hinausgehen , dehnen ſich
nicht bloß räumlich , ſondern auch zeitlich aus . Der Menſch
endlich hat eine Geſchichte , die über Jahrmillionen reicht , aber
er denkt zugleich Kinder und Enkel greifbar in eben ſolche
Millionen hinein .
Du begreifſt : das erſt iſt der goldene Boden , auf dem
die wahre Diſtance- und Dauerliebe allmählich blühen konnten .
Blühen Hand in Hand mit dieſer ganzen anſteigenden Ent¬
wickelungslinie der höheren Tierwelt , — als eine parallele
Entwickelung in der Liebe !
11*
Ganz langſam ſo erſt , Stück für Stück , iſt das Liebes-
Individuum , wie es heute in zwei liebenden Menſchen vor
dir ſteht , von der Natur zugeſponnen worden .
Ich ſagte dir , du ſollteſt dich von deinem Geſchlechtsteil
belehren laſſen . Gleich der erſte Schritt aber , der uns zum
Liebes-Individuum mit ſeinen drei Liebesarten geführt hat , giebt
dem ganzen Satze noch einen höheren Sinn . Dein eigentliches
Geſchlechtsorgan hier iſt nur das der Miſchliebe . Aber dein
Leib iſt noch voll anderer , gleichſam geheimer Geſchlechtsorgane .
Alle die , die zur Diſtanceliebe und Dauerliebe dienen . Ein
Geſchlechtsglied in dieſem höheren Sinne iſt deine Zunge ,
die Worte ausſendet von einem Teil des Liebes-Individuums
zum anderen . In ihrer Art iſt ſie ein aktives , ein männliches
Organ der Diſtanceliebe . Eine Art weiblichen empfangenden
Schoßes umgekehrt iſt dazu dein Ohr , das dieſe Worte in ſich
aufnimmt . Ein Geſchlechtsteil nicht minder iſt dein Auge , und
jede Lichtwelle , die von Mann zu Weib und Weib zu Mann
ſtrömt , iſt in ihrer Art eine ſtrömende Welle zeugenden Samens ,
den die Netzhaut in tiefem Schoße einſaugt . Ein denkender
Forſcher , der den Bau des Weibes ernſt durchdacht hatte , hat
einmal den Spruch gethan : an des Weibes ganzem Leibe ſei
eigentlich kein Fäſerchen , das nicht ſeine Abhängigkeit darthäte
von der Geſchlechtsbeſtimmung als Weib . Das trifft zu , — trifft
aber genau ſo auch zu auf den Mann . Wenn je ein Glaube
wahr war , ſo iſt es der alte naive : daß , wer liebt , mit Leib
und Seele bis in jedes Haar ſeines Hauptes und jedes Sonnen¬
ſtäubchen ſeines Geiſtes liebt . Kein Titelchen weder von dir
noch von deiner Liebſten kannſt du fortdenken , ohne auch in das
Liebes-Individuum , das ihr bildet , einen tiefen Riß zu reißen .
Gerade weil das ſo iſt , läßt ſich aber aus der geſchichtlichen
Betrachtung deines „ Menſchwerdens “ überhaupt nun im engeren
auch ſo unendlich viel gleich mitbegreifen von den heutigen
Thatſachen deiner Liebe . Eine ganze Kette der ſeltſamſten , der
quälendſten Erſcheinungen werden da faſt augenblicklich klar .
C redo , — quia absurdum !
Ich glaube es , weil es ſinnlos iſt !
Du kennſt den alten Glaubensſatz , in dem die Menſchheit
ſolange ihre uralte Wiegeninſchrift geſehen hat : der Menſch
iſt von Gott geſchaffen worden ſo , wie er iſt . Da ſtand er
eines Tages , nackt auf grünem Plan , — mit all ſeinen Vor¬
zügen und Fehlern in der nackten Seele und dem nackten Leib .
So lieblich gerade ob ihrer Schlichtheit dieſe Legende klingt , —
für mich hat ſie immer etwas Dämoniſches gehabt .
Wenn ich heute noch an ſie buchſtäblich glaubte , mit dem
naiven Sinn des Kindes , ſo läge für mich jetzt , als reifen
Mann im vierzigſten Lebensjahr , ein Zug , eine Stimmung
darin , die mich mahnen könnten , in die Wüſte zu ziehen . Als
Anachoret in die Sandöde und Steinöde . Wo die Sonne
glüht und glüht , ohne Schatten , ohne Quell . Und wo der
Einſiedler alles hinter ſich auslöſcht wie einen irren Traum .
Tauſende haben es ſo gemacht , als dieſer und verwandter Glaube
einſt wirklich lebendig die Menſchenherzen durchſchauerte und
nicht bloß von Glaubenſpapageien nachgeplappert wurde . Sie
glaubten — und reſignierten . Und zogen in die Wüſte . Und
ließen die unerbittliche Scheitelſonne ihr Gehirn dörren . Sie
hatten den Glauben , ſie wußten was die Welt war . Aber ſie
ſuchten als Symbol die Zelle des verſchmachtenden Einſiedlers
in der Wüſte . Als Symbol der Gedankenwüſte . Und der
verdorrte Mund betete mechaniſch : credo , credo , — credo
quia absurdum .....
Wenn ich mir ſagen ſollte , daß dieſer Menſch auch in
ſeiner Liebe alſo gleich ſo geſchaffen wurde . Als Mann und
Weib , mit all den uns gegebenen Notwendigkeiten . Und daß
dieſer Menſch die Krone der Schöpfung ſein ſollte , als er
geſchaffen wurde . Mich ergriffe eine dumpfe , lähmende Ver¬
zweiflung über die vollkommene , bleiſchwere Unbegreiflichkeit
dieſer Dinge . Ein Kind kann das nicht fühlen und darum
mag es von jenem Glauben nur das Liebliche empfinden .
Aber ein Mann von vierzig Jahren , der dieſes Menſchenleben
auch nur an der Küſte befahren hat , — er muß es fühlen .
Welche ungeheuerlichen Thatſachen der Liebe aus allen drei
Liebesgebieten werden ihm zugemutet , die er alſo ſchweigend
hinnehmen ſoll ohne eine andere Erklärung , als daß es ſo
die Abſicht Gottes war bei Erſchaffung ſeiner Krone alles
Weltenſeins !
Sagen wir , die Fortpflanzung des Menſchen ſei an ſich
etwas von Beginn an Eingeſetztes . Es ſoll die Menſchheit
nach Gottes Wille nur ſo beſtehen können , daß immer wieder
dieſe kleine männliche Samenzelle ſich miſcht mit der weiblichen
Eizelle und daß aus dieſer Miſchung das neue Menſchenkind
aufſproßt . Streng genommen hat ſelbſt das ſchon keine noch ſo
ſcharfſinnige Theodicee der Jahrtauſende logiſch erklären
können . Aber es mochte wenigſtens etwas Tröſtliches darin
ſein , das einer dunkeln Ahnung von Logik nahe kam . Der
einzelne Menſch , verantwortlich für ſeine Erdenthaten von Gott
gemacht , hatte genug Mühe mit ſeinem Gang auf der Schärfe
eines Meſſers zwiſchen Sünde und Heil in den Jahren ſeines
Lebens . Es war ihm zu gönnen , daß dieſe Jahre eng um¬
grenzt waren , daß dieſes Pilgerleben hier nicht ewig dauerte ,
ſondern daß ſehr ſchnell der Vorhang wieder darüber fiel und
eine neue Generation zum Experiment an die Reihe kam . Wir
zeugten dieſe Generation , — aber ſie duldete dann für ſich und
ging über unſern Gräbern ihren Weg mit nackten Füßen auf
dem Raſiermeſſer weiter . Mochte man ſich dabei beruhigen .
Aber du ſchauſt um dich und du ſiehſt , daß dieſer ein¬
fache Akt noch wieder umwickelt iſt mit einem ganzen Gewebe
von Abſurditäten .
Da iſt zunächſt die ungeheure Verſchwendung , die ihn um¬
giebt . Ein Vergeuden der Zeugungsſtoffe ohnegleichen .
Ein neuer Menſch ſoll ſtets nur entſtehen durch die
Miſchung einer Eizelle mit einer Samenzelle , und damit dieſe
Miſchung zu ſtande komme , iſt ein Geſchlechtsakt zwiſchen Mann
und Weib nötig . Gut . Das ſei die Grundlage . Die Menſch¬
heit ſoll erhalten bleiben . In den fünfzehnhundert Millionen
Menſchen auf Erden ſoll jeder Sterbefall ſtets wieder erſetzt
werden durch einen Geburtsakt . Zu dem Zweck ſind ganz
folgerichtig von dieſen fünfzehnhundert Millionen Menſchen die
Hälfte Weiber und die andere Männer . Die genaue Ver¬
teilungsziffer ſchwankt im einzelnen etwas , ſo weit ſie bekannt
iſt . Aber doch nicht ſo , daß man nicht im ganzen rund
halbieren könnte . Dieſe Männlein und Weiblein einigen ſich
und aus der Einigung erwachſen Kinder . Zwei geſunde , weiter
lebende Kinder , die Vater und Mutter bei deren Sterbefall
erſetzen , — und das Problem der Menſchheitserhaltung wäre
gelöſt . So überaus einfach .
Zu dieſen beiden Kindern wären aber ausgeſpart beim
Weibe gerade zwei Eizellen und beim Manne zwei Samen¬
zellen nötig . Jede Eizelle hat die Größe des Pünktchens , das
du mit einem ſehr hart zugeſpitzten Bleiſtift auf dem Papier
ſenkrecht eben noch erzeugen kannſt . Ein Fünftel eines Milli¬
meters in Länge wie Breite . Die beiden zuſammen ergeben
aneinander gelegt alſo einen etwas dickeren Punkt von noch
nicht ganz einem halben Millimeter Breite . Jedes männliche
Samentierchen iſt aber ſogar nur ein Zwanzigſtel eines ſolchen
Millimeters lang , alſo mit bloßem Auge überhaupt nicht mehr
ſichtbar . Zwei geben ein Zehntel Millimeter , alſo auch noch für
das bloße Auge ein Nichts . Dieſe vier Stäubchen nun in Summa
wären die ganze nötige Stoffmaſſe zur Erhaltung der Menſchheit .
Jetzt liegen die Dinge freilich ſo , daß nicht alle Menſchen¬
paare ſich finden . Auch ſterben kleine Kinder ſchon wieder in
Maſſe . Und ſo weiter . Es könnte ja auch vorgeſehen ſein ,
daß die Menſchheit nicht bloß ſich erhalten , ſondern allmählich
noch zunehmen ſoll . Alſo iſt es logiſch gut begreiflich , daß
jedem Weibe und Manne die Möglichkeit anerſchaffen wurde ,
eventuell auch noch mehr als zwei Kinder zu erzeugen .
Aber auch das findet in gewiſſen Umſtänden wieder ſeine
gegebene Schranke . Jedes Kind entwickelt ſich neun Monate
lang im Mutterleibe . Für dieſe ganze Zeit ſperrt es von ſelbſt
den Weg für eine neue Befruchtung . Da das Befruchtungs¬
vermögen auch nach der Geburt meiſt wenigſtens noch eine
kürzere oder längere Friſt unter geſunden Verhältniſſen pauſiert
ſo läßt ſich rund jedenfalls ein Jahr Pauſe auf jedes Kind
rechnen . Nun iſt die geſamte Lebensdauer auch des geſundeſten
Weibes aber in ihren Jahren bereits eine beſchränkte . Mehr
wie neunzig bis hundert hat kein Weib zu vergeben . Selbſt
von dieſen Jahren aber fällt mehr als die Hälfte ganz fort
auf die noch geſchlechtsunreife Jugend und das nicht mehr ge¬
ſchlechtsreife Alter . Die Zeugungszeit ſchränkt ſich in runder
Ziffer , die ſchon ſehr hoch gegriffen iſt , auf etwa dreißig Jahre
ein . Das gäbe alſo nur mehr Raum für dreißig Kinder .
Wir wiſſen aber alle , daß ſelbſt das noch eine Patriarchen¬
ziffer iſt , die nicht einmal ideal gelten darf . Sagen wir
zwanzig , und ſagen wir , daß es alſo einen logiſchen Sinn
hätte , wenn jedem Weibe die Fähigkeit wenigſtens für den
eventuellen Fall gegeben wäre , zwanzig Kinder in die Welt
zu ſetzen . Zwanzig Eizellen pro Perſon wären dazu nötig . Und
auch für den Mann wäre damit eine Maximalgrenze gegeben :
zwanzig Samenzellen . Zwanzig Eizellen würden ein Stückchen
lebendigen Stoffes darſtellen immer erſt von der Größe eines
beſcheidenſten Tintenklexchens , — zur Schnur gereiht überträfen
ſie nur unbedeutend die Länge dieſes Gedankenſtriches . Zwanzig
Samenzellen ſo der Länge nach aneinandergelegt erſchienen
daneben erſt gar wie ein feinſtes Spritzchen , ein Komma von
gerade einem Millimeter Ausdehnung .
Mit dieſen Mitteln alſo ließ ſich alles erreichen . Es brauchte
bloß noch der Geſchlechtsakt ſo feſtgeſtellt zu werden , daß er
unter allen Umſtänden , wenn er überhaupt zu ſtande kam ,
auch wirklich eine Samenzelle mit einer Eizelle zuſammenbrachte .
Vom Boden einer zweckmäßigen „ Erſchaffung “ hätte das wohl
am wenigſten Mühe machen ſollen . Wir Menſchen ſelber , die
wir doch überall erſt in den Kinderſchuhen des eigenen be¬
wußten Könnens ſtehen , wir vollziehen ja ſchon bei den ver¬
ſchiedenſten Gelegenheiten den Akt der Übertragung von
Körperzellen eines lebenden Weſens auf andere mit einer faſt
unfehlbaren Sicherheit . Wir okulieren und pfropfen als
Gärtner ein Edelreis auf einen Wildling , zwingen alſo den
Sproß einer beſſeren , feineren Obſtpflanze zu einer Ver¬
wachſung , einer Art äußerlicher und nachträglicher Zeugung
mit einer geringeren Sorte . Wir verpflanzen am Menſchen¬
körper als Arzt , der die Kunſt der Transplantation übt ,
lebende Hautſtücke , um Wunden zu decken oder gar eine neue
künſtliche Naſe zu bilden . Und bei unſeren Schützlingen aus
Tier- und Pflanzenreich nehmen wir mehrfach ſogar geradezu
den geſchlechtlichen Befruchtungsakt in die Hand : wir be¬
fruchten künſtlich Fiſcheier unſerer Züchtereien mit Fiſchſamen ,
und ſeit uralten Tagen wird die Dattelpalme von Menſchen¬
hand ganz gewohnheitsmäßig begattet , indem der Samen von
dem männlichen Blütenkolben in die offene weibliche Blüte
der Palme geſtopft wird ; Jahre lang kann dieſer Palmſamen
ſogar aufbewahrt werden wie Schnupftabak und genügt immer
noch , wenn der Gärtner ihn braucht . Wie viel mehr ſollte
der Schöpfer es verſtanden haben , den Menſchen ſo zu bauen ,
daß dem ſchlichten großen Zweck die größte Schlichtheit und
Sicherheit des Mittels entſprach .
Nun aber gegen alles das , welcher Kontraſt der
Thatſachen .
Du betrachteſt die Eierſtöcke eines jungen , reifenden
Mädchens . Es ging erſt auf das Morgenrot ſeiner Liebe zu ,
und ſo erwarteſt du die noch unberührte Anlage zu jenen
ganzen zwanzig Eiern , etwa zehn am rechten Eierſtock und
zehn am linken .
Und du findeſt ſtatt der zehn jederſeits ſechsunddreißig¬
tauſend , — alſo im ganzen zweiundſiebzigtauſend vor¬
bereitete Eier .
Selbſt bei einem Weibe , das zwanzig lebendige Kinder
in die Welt ſetzt , immer einundſiebzigtauſendneunhundertundachtzig
Eier zu viel ! Das Loos dieſer Überzähligen kann ſelbſt in
dieſem günſtigſten Falle kein anderes ſein als Vernichtung noch
im Mutterleibe . Und wir ſehen deutlich genug die Wege dieſer
Vernichtung . Weitaus die größte Maſſe verkümmert und zer¬
geht ſchon am Eierſtocke ſelbſt wie taube Beeren . Ein Teil aber
ſtirbt , obwohl ausgereift , noch gerade vor dem Hauptpunkt
durch jenen ſeltſamen Prozeß ab , der ſich äußerlich in der
Menſtruation des unbefruchteten Weibes vor Augen ſtellt . Ganz
unbekümmert darum , ob nun wirklich männliche Samenzellen
von der Geſchlechtspforte her eingeführt werden oder nicht ,
vollführt nämlich der Weibesleib jene oben ſchon einmal be¬
rührte automatiſche Handlung , daß er mindeſtens jeden Monat
einmal ein Ei am Eierſtock voll ausreifen und ſich loslöſen
läßt . Es geſchieht gleichſam auf den möglichen Fall einer
Befruchtung hin . Kommt jetzt gerade eine Samenzelle , ſo iſt
die Sache geglückt . Aber in unzähligen Fällen glückt ſie eben
nicht . Es tritt ſtatt einer Befruchtung und beginnenden
Schwangerſchaft das ein , was wir Menſtruation nennen . Und das
reife , losgelöſte Ei ſtirbt dabei ebenſo unbefriedigt ab , wie jene
anderen verkümmernden am Eierſtock ſelbſt . Die Menſtruation
tritt bekanntlich unter geſunden Verhältniſſen alle vier Wochen
ein und ſetzt erſt aus , wenn eine Schwangerſchaft begonnen
hat . Selbſt bei zwanzig Schwangerſchaften in dreißig Reife¬
jahren eines Weibes würde ein ziemlicher Spielraum bleiben
für Eiverluſte dieſer Art vorher , dazwiſchen und nachher . Aber
nun der ja unendlich häufigere Fall von weniger Schwanger¬
ſchaften bis zu gar keinen ! Denke an jene zwei Kinder , die
ſtreng genommen allein nötig wären . Hier blieben achtund¬
zwanzig Jahre frei , jedes zu zwölf Monaten . Und jeder dieſer
Monate bedeutete mindeſtens ein reifes , losgelöſtes , im weib¬
lichen Organ reifendes , wanderndes — und untergehendes Ei .
Es wären dreihundertſechsunddreißig Eizellen , die auch ſo in
ihrer Blüte noch elendiglich abſtürben , ohne zum Ziel zu
kommen . Bei einer alten Jungfer blieben gar dreihundertund¬
ſechzig als Opfer .
Du kannſt dir ein hübſches Anſchauungsbild der zweiund¬
ſiebzigtauſend Beeren an der weiblichen Traube machen , wenn
du dir einmal jedes Ei dabei zu der reifen Größe von einem
fünftel Millimeter Durchmeſſer entwickelt denkſt und dir dann
dieſe Eier hintereinander reihſt wie eine Perlenſchnur oder auch
wie eine jener Eierſchnüre , die von den Kröten dort in ihrem
Tümpel zur Frühlingszeit abgelegt werden . Du erhälſt eine
Schnur von rund vierzehn Meter Länge . Wenn ſie die
nötige Solidität hätte , könnteſt du dich daran aus den Fenſtern
des dritten Stocks einer turmhohen Berliner Mietskaſerne
herablaſſen . Und dieſe vierzehn Meter jetzt ſtehen gegen jenen
Gedankenſtrich von vier Millimetern , der für zwanzig Kinder
genügte .....
An und für ſich will ja ſolche Anhäufung von Zellen im
großen Zellenſtaate des menſchlichen Leibes nicht viel bedeuten .
In dieſem unermeßlichen Gewimmel der Zellen verſchwimmen
dieſe zweiundſiebzigtauſend noch mit wie eine Bagatelle . Die
wenigſten Menſchen machen ſich ja einen Begriff davon , welche
Längen herauskämen , wenn man ſich überhaupt das geſamte
Zellmaterial unſeres Körpers glatt nebeneinander aufgereiht
dächte . Die roten Blutkörperchen , die deinem Blute die rote
Farbe geben und von denen jedes wenigſtens eine verkümmerte
Zelle darſtellt , ſind noch viel kleiner als die einzelnen Eizellen ,
und mit bloßem Auge gewahrſt du bloß die rote Farbe am
Blut , erkennſt aber keines der Einzelkörperchen . Aber ihre
Zahl geht in dir allein bis auf fünfundzwanzig Milliarden .
Und denkſt du dir dieſe fünfundzwanzig Milliarden roter Blut¬
körperchen ebenſo als Perlenſchnur aneinander gereiht , ſo kommt
die ungeheuerliche Strecke jetzt heraus von rund zweihundert
Kilometern , alſo mehr als die Kilometerlänge etwa der direkten
Eiſenbahnlinie zwiſchen Berlin und Dresden .
Aber dieſe Maſſe der Blutkörperchen hat einen tiefen
Sinn . Ihre enorme Fläche in den Menſchenleib hinein auf¬
gewickelt und langſam immerzu wie an einer Walze durch die
Lunge gezogen , giebt das rieſige Saugfeld ab , das den dir
nötigen Sauerſtoff aus der Luft in ſich nimmt und damit dein
ganzes Leben nährt und erhält . Bei jenen zahllos verpulverten
Eiern iſt dagegen ein Zweck in dieſem Sinne nicht zu entdecken .
Wohl aber ſtellt ſich gerade hier der Gedanke ein , welch köſt¬
liches Gut an ſich gerade da verpulvert werde . In jeder dieſer
Eizellen ſteckt nicht nur ein Individuum , ein Zellſeelchen , —
es ſteckt darin jene konzentrierteſte Kraft des ganzen Eltern¬
daſeins und aller Ahnenvergangenheit , — jene myſteriöſe
Kraft , die gerade ſolche Eizelle befähigt , im günſtigen Falle
( nach ihrer Vermählung mit der Samenzelle ) einen ganzen
neuen Menſchen wieder auf den Plan zu ſtellen . Körper wie
Seele der Mutter , alles , was das Kind von der Mutter un¬
mittelbar mitbekommt , liegen in dieſem Zellchen ſchon wie der
Halm im Weizenkörnlein eingegraben . Ein winzigſtes Kryſtall¬
ſpiegelchen iſt dieſes lebendige Stäubchen Stoff , aber in dieſem
Spiegel ſteht noch einmal das ganze rieſige Körperbild , — als
wahrer Mikrokosmos enthält jedes dieſer Eiſtäubchen den ganzen
Makrokosmos der Mutter und all ihrer Ahnen noch einmal
neu . Und ſo viel tauſende und tauſende gerade dieſer köſt¬
lichen Zellen unentrinnbar dem Verderben geweiht !
Nimm die andere Seite , den männlichen Samen , und die
grauſige Phantasmagorie wächſt .
Jene Maximalziffer von zwanzig Samentierchen pro Mann
wirkt in Wahrheit wie ein ſchlechter Scherz gegenüber ſelbſt
der beſcheidenſten Leiſtungsfähigkeit eines geſunden Menſchen .
Laß deinen Geiſt noch einmal wandern . Zu jenem Bilde des
lebendigen Samentröpfleins unter dem Mikroſkop . In dem
einen Tröpfchen zieht eine Milchſtraße zuckender , wimmelnder
Samenzellchen dir vorüber . Das drängt ſich und wirbelt
und ſtößt , — was ſind deine angeſetzten zwanzig in dieſem
kleinen Hexenkeſſel der Homunkuli . Und nun : das Ver¬
größerungsfeld deines Mikroſkops faßt vom Tropfen , den du
mit bloßem Auge deutlich als ſolchen ſiehſt , blos erſt einen
Ausſchnitt , — giebt gleichſam eine Stichprobe . Durch den
ganzen großen Tropfen zittert das gleiche Leben . Dieſer Tropfen
aber iſt ſelbſt nur wieder ein geringer Teil der ganzen lebendigen
Welle , die bei einem einzigen Geſchlechtsakt einem reifen Manne
entſtrömt . Dieſe Welle durchwimmeln die Samenzellen in ent¬
ſprechender Fülle , viel enger gedrängt , als die jungen Fiſchlein
im grünen Kryſtall dieſer wohligen Bucht , auf der die Frühlings¬
ſonne brennt . Solcher Geſchlechtsakte aber iſt dieſer Mann
einer ſchier endloſen Kette fähig . Ja er iſt nicht bloß dazu
fähig . Sondern ſeine innerſte Natur treibt ihn , zwingt ihn dazu .
Ein winzigſter Bruchteil jenes einen Tröpfleins würde genügen ,
um die angenommene Rieſenzahl von zwanzig Kindern zu er¬
zeugen . In ihm aber hebt und hebt ſich dieſe ganze Welle immer
wieder neu . Gieb ihm nur dreißig Jahre der vollkommenen ,
der hochblühenden Reife meinetwegen wie dem Weibe . Aber
in dieſen dreißig Jahren regt ſich in ihm die Kraft nicht bloß
dreißigmal , ſie regt ſich allermindeſtens wöchentlich einmal darin .
Das giebt zweiundfünfzig Wochen in jedem Jahr , — im ganzen
alſo fünfzehnhundertundſechzigmal . Für ihn giebt es keine
Pauſen , auch wenn der Akt der wahren Zellmiſchung einmal
ſtattgefunden hat , denn die Dauerliebe berührt ihn in dieſem
Punkte nicht mehr . Er wandert fort von dem einen Weibe ,
wo der heilige Naturzweck ſich erfüllt hat , und die Kraft iſt faſt
augenblicklich von neuem da , mit ihrer ganzen Siegergewalt ,
ihrem allfortreißenden Zwang und ihrer Gewißheit neuer
Siege , ſobald nur die rechte Gelegenheit vom Weibe her ge¬
geben iſt .
In dieſem Falle iſt das Mißverhältnis zwiſchen Zwang
und Zweck ſo ungeheuerlich , daß es den Menſchen zum Denken
genötigt hat , ſo lange er überhaupt denken kann . Lange , ehe
man von dem Verſchwendungs-Myſterium beim Weibe auch
nur eine Ahnung beſaß . Beim Weibe vollzieht ſich das alles
ja geheimnisvoll innerlich . Man kannte weder die Eierſtöcke ,
noch das Ei ſelbſt . Und man ahnte nicht , was die Menſtruation
bedeutete . Aber in ſchlichteſter Praxis hatte man der Weisheit
des Leibes abgelernt , daß der Mannesſamen unbedingt nötig
ſei , um ein Kind zu erzeugen . Jahrtauſende lang glaubte
man ſogar , das Weib ſei bloß das ſchwarze nährende Erdreich ,
in das der Mann durch ſeine Kraft erſt die wahre göttliche Blume
pflanze . Im Samentierchen hat man noch vor zweihundert
Jahren ein ganzes Menſchlein , einen wahren Homunkulus ge¬
geſucht , der im Mutterleibe ſich nur auswickeln und wachſen
ſollte . Aber je höher man ſich dieſe Ahnung nun treiben
mochte und bis in was immer für Mißverſtändniſſe hinein :
um ſo furchtbarer mußte die Vergeudung jetzt gerade dieſes
koſtbaren Samens vor Augen treten .
Du kennſt das herrliche Bild aus dem indiſchen Evangelium :
wie Buddha der Königsſohn in der Fülle ſeines Lebensmaies ſich
aus den heißen braunen Armen ſeines ſchönen jungen Weibes
ringt und in ſeliger Läſſigkeit auf goldenem Wagen durch den
Blütenmorgen dahinfährt . Da ſitzt am heiligen Strom , in dem
die Sonne wie eine nackte Königin mit ſchimmerndem Goldhaar
badet und die roten Lotosblumen ſchwanken , ein blinder Greis
mit kahlem Schädel und gekrümmten Gliedern und bejammert
ſein Alter . Und im kühlen Märchenſchatten des rieſigen
Banyanenbaumes , von dem die Luftwurzeln wie ſchwarze
Tempelſäulen niederſteigen , liegt ein Todkranker und ſtöhnt
und ein Peſthauch geht von den Schwären ſeines Leibes aus .
Und wie der Wagenlenker die Roſſe eilig wegpeitſcht von dieſem
Ort des Grauens , da hemmt draußen im vollen Blütenzauber
und Himmelsglanz ein ſchweigender Zug den Königswagen :
ſie tragen einen Toten zum Begräbnisplatz . Da ſteigt Buddha
herab von ſeinem goldenen Wagen und wirft ſich in den
Staub , denn er hat das Elend der Welt erkannt . Und er ver¬
läßt Krone , Weib und Kind und zieht in die Wüſte , um
nachzuſinnen .... . Aber dieſer Königsſohn der Menſchheit
hätte das Lager ſeines jungen Weibes gar nicht zu verlaſſen
brauchen . An den Hekatomben ſeiner eigenen verſchwendeten
Samenzellen hätte er den furchtbaren Ernſt der Weltenfrage
ebenſo ſchon lernen können .
Tauſende von Akten mit dem Weibe , — und die ganze
Welle mit ihrer unendlichen Lebensfracht , in der jedes Stäub¬
chen die Bilder und Traditionen von Jahrmillionen trägt ,
tauſendmal ins Nichts verſchäumt , mit ihren tauſend uralten
Seelchen jede am unfruchtbaren Strande zerfloſſen gleich einem
Wellenſtoß der wirklichen Meeresflut , die ihre Muſcheltiere
und Quallen und Seeſterne hilflos auf dem Sande läßt , bis
die glühende Sonne ſie auftrocknet oder der herbe Seewind ſie
zum bleichen Gerippchen dörrt . Verſchmachtende , erblindende
Greiſennot , unerbittliche Todeskrankheit und ein nicht enden¬
der Leichenzug jeder einzelne treue , heiße , vom Licht und
Blütenduft eines Königslagers umſchmeichelte Liebesakt .... .
Und wenn von den tauſend und tauſend Wellen ſelbſt
eine die wahre Lotosblüte trifft , die heilige Blüte mit dem
Lebensei , — noch in dieſer höchſten Welle ſelber nur ein
Stäubchen , das die Blüte faßt , — ſelbſt hier noch eine letzte
Hekatombe anderer , die auf dem Berge ſtehen und die Stadt
des Lichtes blinken ſehen mit ihren Golddächern — und doch
noch der Ritter des Märchens werden , der hundert Drachen
erſchlug und doch noch vom hundertundeinten gefreſſen wurde ,
weil ſeine Urahne im zwanzigſten Gliede nicht Roſamunde hieß .
Buddah der Grübler müßte aber noch mehr denken .
Welch „ großer Aufwand , ſchmählich ! iſt verthan “ , mit
Mephiſtos Wort , um alle dieſe ſcheinbar ſinnloſen Ver¬
ſchwendungen dem Menſchen auch noch geradezu abzulocken
und abzutrotzen !
Mit dem Geſchlechtsakt verbindet ſich , dir wohlbekannt ,
eine ungeheure , geheimnisvolle Süße . Das Nervengewitter der
Wolluſt . Eine wilde , man möchte ſagen , faſt barbariſch wilde
Luſtempfindung ſchlägt in ſtürmiſcher Welle über dir zuſammen .
Wie ein hilfloſes Schiff , das der Strudel packt , ſchlingt dich
dieſes Gefühl in ſeinen Abgrund hinab . Du brauchſt bloß
daran zu denken und dich faßt es ſchon leiſe vibrierend wie
der lockende Schwindel ſolchen willenloſen Verſinkens . Die
Welt zerflattert wie Wolkenrauch da oben . Und all dein Sein
ſtürzt in trunkener Hingabe in die heilige Purpurtiefe ab .
Eine reine Naturempfindung . Fern deinem bewußten
Denken . Ein Plötzliches Aufleben deines phyſiſchen Unter¬
grundes , den du bisher nur merkteſt , wenn er dir Schmerzen
wie Kraken und Seeungeheuer auf deinen Geiſtesſtrand hinauf¬
trieb , der aber jetzt auf einmal dich in einer lavaheißen Luſt¬
welle gegen die Sterne drückt . Dieſes ganze Dunkelgebiet der
„ Natur “ tief unter deinem Bewußtſein jäh heraufſtoßend .
Und der Stoß iſt Luſt . Du hängſt machtlos und beſeligt zu¬
gleich darin wie ein Baumblatt , das nicht wandern und nicht
reden kann , zu dem ſich aber die goldene Sonne in tiefem
Weltverhängnis von ſelber hingefunden hat . Und das nun
glühend aufſchauert unter dem niederſtürzenden Regen von
Licht , Wärme , Himmelsblau .
Doch der Sturm verrauſcht . Du ſitzt wieder auf dem
dürren Strand . Dem Strande deines Denkens . Und du
denkſt . Buddah ſtützt die Stirn auf die Hand . Seltſamkeit
der Seltſamkeiten !
Dieſe glutheiße , blutrote Nervenprämie da unten zahlt
wohl der Geſchlechtsakt . Aber nicht , wohlverſtanden , der wahre
Zeugungsakt .
Es wäre in der Logik wieder ſo abſolut ſelbſtverſtändlich ,
daß die Dinge umgekehrt lägen . Die Zeugung war nötig .
Sagen wir : nach göttlichem Gebot . Damit der Baum der
Menſchheit wachſe , nachdem ſein Samenkorn einmal in die
Zeit geworfen war . Jetzt als Prämie dieſer Zeugung wurde
die Wolluſt erſchaffen . Als Prämie , die mit Siegergewalt
die Geſchlechter zu einander zwang , — ſtärker als all ihr
Denken . Wie einfach : der Moment der wahrhaft vollzogenen
Zeugung mußte auch die Wolluſtempfindungen bei Mann wie
Weib auslöſen . Alſo der Moment , da die Samenzelle ſich
mit der Eizelle miſchte , oder in jener Sprache , die wir uns
vorhin gebildet : die Wolluſt mußte regelmäßig zuſammenfallen
mit der echten Miſchliebe .
Seltſamkeit der Seltſamkeiten ! Es fällt der Wolluſt gar
nicht ein , ſich dieſer Logik zu fügen . Mit der tief verborgenen ,
nachträglichen Miſchung von Eizelle und Samenzelle hat ſie
überhaupt nichts zu thun . Gerade ſie macht nicht den geringſten
Unterſchied zwiſchen einem Geſchlechtsakt , der wirklich Miſchliebe
wird , und einem , der hoffnungslos in der Diſtanceliebe ſtecken
bleibt . Und ſie eben hat am meiſten dazu beigetragen , daß
die feine aber ſcharfe Grenzlinie zwiſchen Miſchakt und Diſtance¬
akt unſerem Erkennen ſich immer wieder verwiſcht hat . Genau
12
ſo gut iſt vor ihr ein Geſchlechtsakt , bei dem die letzte Diſtance
zwiſchen Eizelle und Samenzelle nie und nimmermehr ge¬
nommen werden kann , — wie einer , aus dem wirklich ein
neues Menſchlein entſprießt .
Der Königsſohn am Lotosufer eint ſich ſeiner jungen Ge¬
liebten . Über die beiden rinnt der Schauer jenes tiefſten
Seligkeitsempfindens . Als ſei das Individuum tot . Und dieſer
Tod ſei neues Leben . Leben in einer höheren Sonne , einem
neuen Licht .
Aber die Natur zahlt dieſe Prämie beim Manne auf die
körperliche Trennung einfach von ſeinen Samenzellen , — auf
die kleine Menſchenmilchſtraße , die ſich in wilder Strömung
von ihm reißt , als wolle ſie hinausſtürzen ins freie All . Ja
mag ſie hinausſtürzen ! Wohin ſie kommt , iſt dem Gefühl
ſelber ganz gleichgültig . Beim Weibe ſteht die Prämie , ſagen
wir immerhin einmal : auf dem Moment der erſten , gröbſten
Aufnahme dieſer Lebenswelle , — auf dem Moment , da die
fremde Milchſtraße mit ihren tauſend winzigen Sternpünktlein
das große Sternbild ſeiner Weibes-Individualität überhaupt
irgendwie ſchneidet . Streng genommen iſt ſelbſt das nicht ſcharf
zu behaupten . So dunkel liegen die Dinge hier . Der Zwiſt
der Meinungen bleibt möglich in noch viel loſerem Sinne . Aber
einerlei .
Sicher iſt : es kann gut und gern in dem gleichen Momente
hier ſo ſein , daß der geſamte Eierſtock des Weibes mit ſeiner
Rieſenzahl von Eiern überhaupt keine einzige befruchtungsfähige
Eizelle der Samenwelle von innen her entgegengeſandt hat .
Es kann ebenſogut ſein , daß in der Gebärmutter dieſes Weibes
zu derſelben Zeit längſt ein junges Menſchlein wie eine liebe
Lotosknoſpe auf den Waſſern ſchwimmt und mit dem behaglichen
Recht des Beſitzes alle Straßen zu einer Neuzeugung ſperrt .
Und was der Gründe mehr ſein mögen , die allen eindringenden
Samentierchen den Todesbrief mitgeben können , ob auch der
Mann ſie noch ſo ſorglos als heitere Wanderer entlaſſe und
das Weib ſie ebenſo ſorglos bei ſich aufnehme zu troſtloſer
Kerkerhaft und elendem Hungertod . Bis auf jene künſtliche
Wand einer Fiſchblaſe . Und doch die Prämie ausgezahlt in
tauſend und tauſend Fällen , mit voller Kraft , der Blitz des
Gefühls losſtürmend auf ſeiner Bahn , der Rauſch triumphierend ,
allgewaltig , Herr über zwei ganze Menſchen , daß ihr Denken
zerbricht und ihre Seelen hinſtrömen als ſeien ſie plötzlich
Sonne geworden , Licht , Naturkraft , Sphärenharmonie , das All
ſelber , das ſich in einem Höheren genießt , als bloß Seele und
Leib in Zeit und Raum .....
Credo , quia absurdum .
Und dann Buddha auf ſeinem Königslager , dann mag
er träumen , was an dieſen Dingen noch wieder hängt . Einmal
die Wolluſt ins Blaue hinaus befreit von dem echten Zeugungs¬
akt , ſetzt die ganze pedantiſche Folgerichtigkeit der Natur ja
auch hier ein , — die Logik , die , wenn ſchon einmal Berge
eine Maus gebären ſollen , jetzt auch einen Gauriſankar in
Mäuſen auszahlt . Ein unermeßliches Sehnen nach Wolluſt
rauſcht durch den großen grünen Blätterwald der Menſchheit ,
durch jeden Frühlingswald einer neuen Generation neu , durch
die Jahrtauſende ſo und die Jahrtauſende . Aber dieſe Wolluſt
peitſcht auch nun wirklich Milliarden und aber Milliarden von
Liebespaaren zu einander , bei denen jeder Gedanke an wahre
Zeugung Abſurdität iſt . Unfruchtbare , Schwangere , durch
Zufall der Stunde Verſagende bei den Weibern , über alle
rauſcht doch der Sturm . Sie alle reißt der Taumel der Sehn¬
ſucht allein nach jenem anderen hin , das auch ohne Zeugung
zu gewinnen iſt , nach der Wolluſt . Und in dieſen Wirbel
hinein entlädt ſich jetzt jene wahnſinnige Überproduktion der
12*
Samenzellen des Mannes , von der wir geredet haben . Hier
ſtürzen die Hekatomben hinab , die alle ohne jeden vagſten
Streifen von Hoffnungsrot dem ſicheren Verderben geweiht ſind .
Milliarden und Milliarden Akte , deren Sinn die Wolluſt iſt
und überhaupt nicht mehr die Zeugung . An dieſem neuen Sinn
aber ſterbend Milchſtraßen um Milchſtraßen ſehnenden Lebens ,
— in jedem verſchmachtenden Samentierchen eine Welt .
Und ein dumpfes Ahnen durchbebt die Menſchheit , daß
wirklich in dieſem neuen Sinn ein Unſinn ſei . Alle Schranken
verſchieben ſich . Nachdem die Wolluſt ſich im Akte ſelbſt von
der Miſchliebe losgeſagt und der Diſtanceliebe als einer gleich¬
berechtigten verſchworen hat , erhebt ſich dieſe Diſtanceliebe über
ſie zur Despotin in den wunderlichſten Akten eigenſter Erfindung ,
die nicht einmal mehr das äußere Bild wahren . Auf einſam
verſchlagener Lebensplanke entdecken arme Seelen , daß die
Wolluſt ſich ſogar finden läßt ohne ein zweites Weſen . Ganz
allein . Oder es wird ein wahrer Mummenſchanz erfunden
eines karikierten Miſchaktes mit einem zweiten Weſen gleichen
Geſchlechts . Zwiſchen Mann und Mann . Weib und Weib .
Es iſt im Grunde nur zu ſelbſtverſtändlich , daß es bis dahin
kommt . Wehe , wenn ſie losgelaſſen , — eine Zauberin von
ſolcher Kraft , wie die Wolluſt . Losgelaſſen vom goldenen
Anker eines Sinnes im Zeugungsleben . Du haſt gut ver¬
dammen in dieſer Linie . Das eine ſei die tiefſte moraliſche
Schande . Und das andere laufe gar gegen das Strafgeſetzbuch
im modernen Staate an . Mit ſolchen Reden kommſt du aber
in der Philoſophie nicht einen Schritt weiter . Du ſollſt be¬
greifen . Aus ſolchem Begreifen rinnt unendliches Mitleid .
Aber ſelbſt dieſes Mitleid giebt noch nicht die rechte Stellung .
Du ſollſt die Tragödie begreifen in ihrer ganzen Wucht , die
ſelbſt mit dem weichen Mitleid nicht mehr zu faſſen iſt . Den
Prometheus ſollſt du ſehen , den armen , nackten , blutenden
Prometheus Menſch , der hier angeſchmiedet liegt auf dem
meſſerſcharfen Felſen eines Widerſpruchs . Nicht der Menſch hat
das Abſurde geſchaffen , ſondern die Abſurdität hat ihn zwiſchen
ihre Geſpenſterſchenkel gepreßt wie der Währwolf der Sage
und den Keuchenden zu Schanden geritten . O , er hat gekämpft
dagegen , dieſer Menſch , — genug gekämpft für ſein Teil .
Schlage das ungeheure Buch auf , die wahre Bibel : die
Kulturgeſchichte . Da ſiehſt du grell genug den Moment , da
in dem Menſchen dunkel etwas aufſchauerte . Ein dumpfes
Ahnen von einem Zweierlei . Dem wahren heiligen Zeugungs¬
akt . Und der wilden Jagd nach einem noch beſonders vor¬
handenen Seligkeitsrauſch , der in Millionen Fällen die Lebens¬
welle ins Blaue , ins Nichts verthat . Das kam wie ein
furchtbares Erſchrecken . Sicher wohl iſt es zuerſt vor jenen
ganz ſinnloſen Akten der Onanie und Päderaſtie aufgeblitzt .
Dann aber wühlte es weiter . Umſpann mit ſeiner Frage auch
Mann und Weib . Hier geht die Schrift in blutigen Lettern
weiter .
Der Menſch im Meer des Widerſpruchs griff nach einer
Planke . Er ſchuf ſich einen Sinn . Die Wolluſt war ihm
auf einmal Satanswerk , eine Zuthat des Teufels , die Gottes
Lebenswerk umlagerte . Wolluſt hieß Sünde . Wo ſie ohne den
Zeugungsakt aufwallte , da reckte Satanas vor allem ſichtbar
die Klaue vor . Und wer ihr nachgab , wer ſie nur nannte
als etwas Seliges , — der ſtürzte in ſchwarzer Sünde von
Fall zu Fall , durch alle Stockwerke moraliſcher , ſozialer Ver¬
achtung . Die rote Hölle brannte in der roten Sinnenglut .
Von hier iſt es gekommen , daß der Leib , der nackte Leib als
Gefäß der Wolluſt ſchon zur Sünde , zum Sündenleibe wurde .
Und ſchließlich kam dann doch auch von hier der tiefſte Zweifel :
wenn die Wolluſt Sünde war überall da , wo ſie von der
Zeugung getrennt auftrat : war ſie dann nicht auch Sünde im
Zeugungsakte ſelbſt , — und war dieſer Akt nicht in ſich ver¬
derbt , von der Sünde angefreſſen bis ins Mark , weil er nicht
ohne ſie beſtehen konnte ? Immer blutigere Schrift . Die
Geißel des Asketen knattert , der ſein Fleiſch kaſteit . Arme
Menſchheit . Dieſe Moral mit ihrer Sündenlehre war erſt recht
der Geier , der dem Prometheus jetzt die Leber fraß .
Und was half das alles .
Buddha hat ſich kaſteit , daß das rote Blut zu den Wänden
aufgeſpritzt iſt . Fort mit dieſem heißen Blute ! Der klare be¬
wußte Geiſt verwirft die Wolluſt . Er will ſich nicht mehr
verſchlingen laſſen von der Welle ſeines rohen Naturgrundes .
Mag die Menſchheit lieber im ganzen inne halten , mag ſie
wieder fortgefegt werden von der Weltentafel wie ein Phantom .
Ein hoher Frieden naht . Die Sehnſucht nach Wolluſt iſt er¬
ſtorben . Und damit iſt alles hin , was an ſcheußlichen Kon¬
ſequenzen kam . Ein welkes Blatt liegt der gequälte Körper
zu Füßen dem Sieger , dem Geiſt ....
Aber auch durch dieſen Geiſt zittert Müdigkeit . Mag er den
Lohn einheimſen . Nach ſo viel Arbeit jetzt ſelber ruhen . Es
iſt ja der Schlaf des Siegers , der überwunden hat . Und
Buddha ſinkt auf ſein Büßerlager und ſchläft . Armer Thor !
Der Schlaf iſt ja ſelber nichts anderes als ein Einſinken in
jenen großen Untergrund des Individuums , dem auch die
Wolluſt entſtammt . Buddha ſchläft . Die Außenſinne ſchweigen ,
wie mit ſchwarzen Tüchern verhängt . Aber jetzt wird's von
innen hell . Der Traum tritt auf die verſchloſſene Bühne .
Und er zündet mit kühler Geiſterhand die Lampen an und
bringt alles zurück . Ein Zauberer , der alle Siegel löſt ,
Schlöſſer ſprengt , Ketten bricht . Da kommen die Befreiten .
Der Leib . Der nackte Leib . Das Weib . Liebend . Geliebt .
Schließlich vielleicht ſogar die äußerſten Geſpenſter ; der ver¬
wegene Troſt des Einſamen ; das andere Weſen gleichen Ge¬
ſchlechts . Und die Halluzination greift durch den Körper ein¬
fach hindurch , — mit einer Einheitsgewalt , die der wache
Geiſt nie erreichen könnte . Sie fragt nicht , ſie philoſophiert
nicht und moraliſiert nicht , — ſie handelt . Mit ſtrengem ,
geradem , zielſicheren Geiſterſchritt holt ſie den Körper . Eins ,
zwei , drei , hat ſie ihn da , wo ſie ihn haben will . Die
männliche Lebenswelle ſiedet auf — und entſtrömt . Und zu¬
gleich ſtürzt das ganze Individuum in die volle Rotglut der
ſtärkſten Wolluſtempfindung . Armer Asket , der mit einem
Dämon ringen wollte , der Orionſterne zu Kränzen windet .
Und er ſollte dir nicht ein paar Samenzellen abnehmen
können , die er vergeuden will ... ....
Ja , will . Und wenn wir die Wolluſt mit Stumpf und
Stiel ausgerottet , unter Mühlſteinen begraben und wie einen
Vampyr noch im Grabe gepfählt hätten : die Natur in uns
verſchwendete doch mit triumphierender Gewalt . Und Buddhas
letzter Gedanke müßte ſein , daß wir ſogar gar nicht in dieſer
Weiſe auf das Luſtgefühl losſchlagen dürfen , wenn uns an der
Zeugung ſelber liegt .
Denn ob das Gefühl auch von der unabhängig ſeine
Rolle noch ſo üppig ſpiele , in die wildeſten Irrgärten hinein :
es fragt ſich , ob überhaupt noch ein Geſchlechtsakt und damit
alſo auch die einfachſte Vorausſetzung irgend welcher echten
Zeugung irgendwo zu ſtande käme ohne die Wolluſt ? Vor des
Denkers Blick ſteigt in letzter , banger Viſion auf , was dieſen
Akt an Widerſtrebendem alles ſonſt umgiebt , an Dingen , die
nicht lockend , ſondern als wahre Schreckniſſe erſcheinen .
Der höchſte , heiligſte Akt im Fortleben der Menſchheit ,
dieſer Geſchlechtsakt . Alles Köſtlichſte , was der Menſch zu
bieten hat , ſollte von Rechtes wegen auf ihn gehäuft ſein .
Die Dichtung , die Kunſt hat es wohl ſo geträumt . In einer
Goldwelle , die wie Sonnenglaſt verklärend vom Himmel her
ihr ganzes Sein durchdringt , ſinkt Zeus in die Jungfrau .
Warum konnte es nicht ſein , daß der bannende Strahl des
liebenden Auges die Kraftwelle vom Manne zum Weibe trug ,
vom Auge ins Auge , — die Welle , die den letzten Energie¬
einſchlag gab zur Entwickelung eines neuen Menſchen ? Warum ,
wenn denn zwei Zellen dazu ſich körperlich miſchen ſollten ,
löſte ſich nicht im Drucke der Hand ein einzelnes Mannes¬
zellchen und wanderte über in den Zellverband des Weibes ?
Ein Blick in echter Liebe , ein Händedruck in ſtarker Empfindung ,
daß wir „ zwei “ ſein wollten und doch eins , ein Liebes-
Individuum , — und die Uhr wäre aufgezogen und arbeitete
leiſe tickend das Kind dieſer Liebe aus bis zum Stundenſchlage
der Geburt .... . Und dieſes Liebeskind , warum ſollte es
nicht reifen inmitten der reinſten Leibesſchöne der Mutter ?
Warum ſollte es nicht blühen aus ihr wie eine liebliche bunte
Blume , eine Roſe , die etwa zwiſchen ihren weißen Brüſten
keimte und ſich rötete ? Oder ſich von ihrer brennenden Lippe
löſen wie ein großes Segenswort , ein Heilſpruch der Menſch¬
heit , den ja ein ſolches neues Kindlein wirklich darſtellt ?
Immer , wenn der Menſch ſich eine kindlich reine Inſel der
Seligen ausgemalt hat , hat er geträumt , daß auch die
Schaffung , das Werden des neuen Menſchen irgendwie dort
ſo ſein müſſe . In einem blauen See lagen die Kleinen und ein
luſtiger Vogel trug ſie den Eltern zu . Oder eine rote Lotosblüte
öffnete ſich zu einem Kindergeſicht . Oder eine jungfräulich
ſchöne Göttin ſtieg an einem Jubelmorgen in nackter Reine
aus dem Schaum der See . Oder aus dem zerſpaltenen
Denkerhaupte eines weltgebietenden Mannes ſprang wie ein
Geiſteskind Pallas Athene hervor .
Nun der wirkliche Hergang .
Credo , quia absurdum !
Giebt es eine abſurdere , unglaublichere Thatſache , als daß
der höchſte , heiligſte Liebesakt des Menſchen gebunden iſt an
die Organe der Harnabſcheidung ? Organe , durch die all¬
täglich eine der häßlichen Kloaken des Leibes abfließt . Der
feinſte , höchſte , edelſte Extrakt alles Menſchentums der Jahr¬
tauſende ſtrömt ein und aus durch dieſelbe Pforte , die einen
übelriechenden Abfallsſtoff der Nahrung , den die Individualität
des Einzelmenſchen entrüſtet zurückgewieſen hat , gewohnheits¬
mäßig wieder hinausbefördert . Der Abgeſandte des fort¬
ſchaffenden Weltprinzips , der wahre große Dichter des ewigen Epos
„ Menſchheit “ , der Atlas , der uns alle auf ſeiner ſtolzen Schulter
trägt : — ein- und auskriechend in der Menſchheitsſtadt durch den
widerlichen Kanal einer Latrine in ein paar Zwiſchenmomenten ,
da die ekle Strömung , die gewohnheitsmäßig hierher gehört ,
knapp einmal pauſiert ..... Groteskes Spiel !
Was mit dieſen Ausfuhrſtoffen zuſammenhängt , das hat
ſchon das höhere Tier als verhüllenswert erkannt . Der Hund
verſcharrt ſeinen Abfall . Im Menſchen entwickelt ſich hier ein
beſonderer Moralkodex , deſſen natürliche Grundlagen ſo durch¬
ſichtig ſind . Jeder weiß dieſe Dinge als notwendig . Aber ſie
ſind das extremſte Gegenteil von Gemeinſchaftlichem . Wenn
etwas , ſo hat jeder das möglichſt mit ſich allein abzumachen .
Und nun die Forderung . Der höchſte Liebesakt ſoll zu zweien
gerade durch dieſe Harnwege gehen . Das Liebes-Individuum ſoll
ſich ſiphonophoriſch ſchließen gerade an dieſer ſcheußlichſten Stelle .
Wer hat in ſeiner Jugend , als er naiv auch in dieſe Dinge
hineinwuchs , nicht einmal den wirklich abſcheulichen Moment
gehabt , da ihm das zum erſtenmal aufging : die ganze Sonnen¬
herrlichkeit der Liebe ſoll ſich hindurchwürgen durch dieſen Akt
zwiſchen zwei Harnorganen ! Ausgeſpart gerade dieſen von
allen des Leibes . Die Seelen wollten verſchmelzen im höchſten ,
heiligſten Akt , dem Akt , da die große Sehnſucht des Individuums
endlich , endlich das All erreicht , das Höhere , die Menſchheit ,
die Folge der Generationen , den wahren Übermenſchen , der in
Kind und Enkel und Urenkel über Millionen Jahre lebt und
lebt , — und dieſes Verſchmelzen ſoll den Weg des Urins gehen .
In der unbegreiflichſten , dem freien Göttergange des Menſchen
widerſprechendſten Stellung . Unter allen möglichen mißlichen
bis zum Lächerlichſten geſteigerten Begleitumſtänden .
Dann die Geburt ! Die Schwangerſchaft ſchon eine Ent¬
ſtellung des Weibes zu monſtröſeſter Unform . Das auftauchende
Kind muß durch die gleiche häßliche Harnpforte wieder hinaus .
Aber dieſe Pforte iſt winzig zu ſeiner Größe . Schon das
Losreißen im Innern erzeugt wilde Blutungen . In einem
wahren Todeskampf , zwiſchen Blut und Wunden , ringt ſich das
Kind dann endlich durch den ſchmalſten Spalt vor . Die Mutter
liegt dabei wie eine Sterbende . Ihr Verzweiflungsſchrei iſt
vielleicht der grellſte Laut , den menſchliche Stimme überhaupt
hervorbringen kann . Was für ein liebliches Friedensbild iſt
dagegen das bunte Ei , das der Vogel in ein warmes Neſtlein
legt . Und das der kleine neue Geſelle wie ein Zuckerwerk von
innen anknabbert , bis es bricht .
Den ganzen Kontraſt aber fühlſt du in einem jener köſt¬
lichen Citronenhaine der Riviera . An den grünen Zweigen
hängen ſüße weiße Blüten mit berauſchendem Duft und zu¬
gleich , nach dem Brauch dieſer Wunderkinder , goldene Früchte .
In Blüte wie Frucht feiert der Baum den Sieg ſeiner Schön¬
heit . Und dieſer weiße Blütenſtern iſt doch das Geſchlechts¬
glied , dieſer Goldball doch die reifende Frucht . Du ſtarrſt
aus dem ſtillen Thal , durch das ſich Citronengarten um
Citronengarten landeinwärts zieht , hinaus auf die hohe , blaue
See , die wie ein ſanftes Auge im Ausſchnitt der Thalpforte
ſchwimmt . Und dich ergreift die volle verzweifelte Unbegreiflich¬
keit deines Menſchentums .
Warum hat Gott ſeinen Menſchen nicht geſchaffen wie
dieſe Citronenbäume hier ? Warum iſt die Wange des Weibes
nicht eine ſüße Blüte , auf der ein Kuß Leben zeugt ? Und
warum reift der König der Erde nicht auch in einem goldenen
Heſperidenapfel ? Credo ‚ quia absurdum .
Geh in die Wüſte , heiliger Antonius .
„ Blüh ' auf , gefrorner Chriſt !
Der Mai iſt vor der Thür :
Du bleibeſt ewig tot ,
Blühſt du nicht jetzt und hier . “
Angelus Sileſius
A ber wir haben nicht die geringſte Luſt , in die Wüſte zu
gehen . Wir wollen uns auf den Rücken legen und fröhlich
in das goldgrüne Laub hinaufträumen .
Es giebt ja gar nicht jenes Zweierlei : jenen Gott , der
den Menſchen ſo und ſo gut erſchaffen wollte ; und dieſen
armen Jammermenſchen , der nun gleichwohl ſo und ſo miſerabel
geworden iſt . Es giebt nur eine Menſchheit , die ein uralter
Kämpfer iſt . Was ſie hat , hat ſie aus ſich . Sie war einmal
Nebelfleck , Sonne , Urzelle , Wurm und Fiſch . Und jetzt iſt ſie
Menſch , nicht weil Gott ſie ſo geſchaffen hat , ſondern weil ihr
Rieſenarm immer weiteres umgriffen hat , zum Nebelfleck die
Sonne , zur Sonne die Urzelle , zur Urzelle den Wurm und
zum Wurm den Fiſch . Und endlich auch den äußerſten Jahres¬
ring , den grünſten und letzten , — den du Menſch nennſt .
Alles was da hinſtürmt über dich als wahnſinniger Liebes¬
widerſpruch , — in allem iſt , wenn du ſie nur zu finden weißt ,
eine tiefe , ernſte , feierliche Melodie . Eine Friedensmelodie .
Sie geht ganz in der Tiefe . Es rauſcht und rauſcht .
Geſchichte iſt es , was da unten rauſcht .
Deine Weltgeſchichte .
Mit dieſer Weltgeſchichte liegſt du auf deinem Liebeslager .
Du ſtarrſt deinen nackten Körper als Zweifler an . Starrſt
deine Geliebte an . Und du findeſt keine Antwort . Aber du
mußt hindurch ſehen durch die beiden . Sieh den weißen Leib
deiner Geliebten ſich leiſe , im Takte jener ſtill rauſchenden
Melodie , auflöſen zum bläulichen Nebelfleck , ſieh ihn auf¬
flammen als Sonne , abglühen zum roten Stern . Sieh ihn
mit tauſend weichen Protoplasmafüßchen ſich hinziehen am
Strande des älteſten Ozeans . Als vielgliederigen , braunen Wurm
ſich ringeln , als ſilberſchuppigen Fiſch dahinſchießen , als grüne
Eidechſe in der Sonne liegen . Und dann ſieh deine Liebe in
alle das hinein . Die Teufelsmaske des Abſurden fällt . Du
beteſt nicht mehr . Und fluchſt nicht mehr . Du begreifſt .
Jede jener „ Abſurditäten “ iſt als Thatſache richtig .
Aber jede dieſer Thatſachen iſt zugleich ein Wegweiſer zu
einem Stück Geſchichte . Die Geſchichte als ſolche iſt nun
niemals und nirgendwo eine Abſurdität . Sie liefert uns als
Ganzes den höchſten Wert unſeres Lebens , die Grundlage
aller Philoſophie : die große Hauptthatſache nämlich der fort¬
ſchreitenden Entwickelung . Ohne dieſe Geſchichtsbaſis wäre
unſere Exiſtenz eine Dummheit , eine Seifenblaſe , ein Spuk .
Wenn alſo etwas ſich in dieſe Geſchichte einordnet , ſo er¬
ſteht es uns ſogleich mit einem ganz anderen , einem ver¬
klärten Antlitz . Und zumal wenn es in unſerer eigenſten ,
engſten Menſchheitsgeſchichte uns auferſteht . Unter den heiligen
Banyanenbaum magſt du dich freilich hundert Jahre lang legen
und auf Antwort warten , er wird es dir ſo nicht ſagen . In
die ſchwarzen Urwaſſer mußt du dich werfen und durch Jahr¬
millionen tauchen . Bis Koralleninſeln ragen im blauen Meere
Schwabens und der Ichthyoſaurus dich umſchwimmt . Und
noch weiter zurück .
In jenen Tagen wurde der Grund gelegt zu dem , was
wir Menſchen heute als Miſchliebe noch vor uns , noch in uns
und durch uns haben . Und durchaus mit jener frühen
Fundamentlegung hängen noch jetzt alle die Dinge zuſammen ,
die dich weiſen Buddha wie Teufelsfratzen auf deinem Liebes¬
lager umſtarren .
Die erſte Abſurdität , die ſich äußerſt friedlich ſo löſt , iſt
die ungeheure Samen- und Eierverſchwendung . Du biſt nicht
als fertiges Kunſtwerk aus dem Atelier eines himmliſchen
Phidias hervorgegangen . Deine Jugend lag bei den Rumpel¬
ſtilzchen . Du erinnerſt dich , was ich dir von denen erzählt
habe . Jeder dieſer Ur-Rumpelſtilze , in denen während eines
gewiſſen erſten Aktes der Lebensgeſchichte auch der Menſch noch
reſtlos ſteckte , beſtand nur aus einer einzigen Zelle , ſtatt der
Milliarden , die jetzt deinen Leib bauen . Wollten zwei Rumpel¬
ſtilze ein echtes Liebes-Individuum mit Miſchliebe bilden , ſo
blieb ihnen keine andere Wahl , als ganz miteinander zu ver¬
ſchmelzen , Leib mit Leib . Wie wenn du und deine Liebſte
zuſammenſchmölzen und das Verſchmelzungsprodukt wäre jetzt
das Kind . Die beiden machten einfach , was in deinem Miſch¬
akt Samenzelle und Eizelle vollführen . Denn jedes Rumpel¬
ſtilzchen war ja eben nur eine einzige Zelle , das eine gleich
einer Samenzelle , das andere gleich einer Eizelle .
Erſt ſpäter kam der Zuſtand als weitere Entwickelungs¬
ſtufe auf , daß ſolche einzelligen Rumpelſtilze ſich gewohnheits¬
mäßig zu dicken Genoſſenſchaften zuſammenthaten . Es bildeten
ſich Zellklumpen , die nach und nach zu regelrechten höheren
Individuen auswuchſen . Und erſt bei dieſen Zellklumpen jetzt
trat der Brauch ein , das Liebes-Individuum nicht mehr ganz
durch Miſchung zu bilden , ſondern das Geſchäft der Miſchung
gewiſſen gleichſam damit beauftragten Zellen beider Verbände
zu überlaſſen . Es hing das wieder mit dem großen Prinzip
der Arbeitsteilung zuſammen , das in dieſen Zellgenoſſenſchaften
alsbald eine ſo große Rolle zu ſpielen begann . Die einen
Zellen der Genoſſenſchaft legten ſich ja bloß aufs Freſſen , die
anderen aufs Rudern oder Verteidigen und ſo fort , alle aber
ſo , daß die Genoſſenſchaft mit davon profitierte . Auf dieſem
Wege iſt auch dein verwickelter Menſchenleib ſchließlich ent¬
ſtanden mit all ſeinen Organen , — eine rieſige Zellgenoſſen¬
ſchaft , in der eine Zellgruppe hauptſächlich atmet ( die Lunge ) ,
eine verdaut ( der Darm ) , eine den äußerlichen ſchützenden
Abſchluß bildet ( die Haut ) , und ſo weiter . Sehr früh , und
noch zu einer Zeit , da du als Menſch vorläufig noch in ganz
niedrigen Tieren , Zellklumpen anfänglichſter Art , ſteckteſt , iſt im
Gefolge ſolcher Arbeitsteilung eine Gruppe von Zellen in
jeder Genoſſenſchaft zu beſonderen Miſchliebeszellen gleichſam
delegiert worden . Von Zeit zu Zeit wurden ſie einfach aus
dem Verbande mehr oder minder grob herausgeworfen , jede
einzeln für ſich , und mit dem ausgeſprochenen Sinn , daß ſie
ſich ebenſolche Ausgeſandte eines anderen Verbandes zur
Miſchliebe ſuchen ſollten . Einmal im Freien allein , unab¬
hängig , fühlte jede dieſer Externzellen ſich wirklich auf den
Urzuſtand des einſamen Rumpelſtilzchens zurückverſetzt . Sie
wanderte nach deren altem Brauch oder wartete , bis ſo oder
ſo eine fremde Genoſſenſchaftsdelegierte ſich zu ihr fand , —
mit der verſchmolz ſie dann , aus dem Schmelzprodukt aber
ging nunmehr wieder eine ganze neue , junge Genoſſenſchaft
hervor . Der Verſchmelzungsakt zweier Delegierten von ver¬
ſchiedenen Verbänden muß erſt die eigentliche Kraft gegeben
haben zu ſolcher neuen Hervorbringung . Schon die alten
Einzelrumpelſtilzchen hatten ſich zu dem Zweck in zwei Sorten
getrennt : kleine bewegliche , und größere , trägere , und es
hatten beim Miſchakt gerade dieſe Extreme ſich bevorzugt . Das
blieb auch jetzt in der Form , daß die großen Zellverbände
zweierlei Sorten von Delegierten auszuſchicken pflegten : kleinere ,
hurtigere und größere , faule . Die einen zogen ſofort nach der
Entlaſſung aus auf die Suche . Die anderen nahmen nur
ein Stücklein Weges , ſaßen dann feſt und harrten , daß wer
von drüben käme . Mit anderen Worten : es wurden ſchwän¬
zelnde Samenzellen und behäbige Eizellen entſandt .
Anfangs produzierte jeder Verband beide Sorten zu freier
Wahl . Nachher kam mehr und mehr als bequemer auf , daß
man in dieſem Verband bloß noch fechtendes Samenvolk auf
die Walze ſchickte und in jenem bloß noch harrende Eiprinzeßlein .
Es war rationeller ſo , damit keine Verwechslungen zwiſchen
Geſchwiſtern aus demſelben Stammverband einträten . Es
miſchten ſich ſtets nur Samenzelle und Eizelle , bei denen aber
war es dann gewiß , daß ſie nicht aus derſelben Burg
ſtammten , wenn jede Burg konſequent nur entweder Samen
oder Eier erzeugte .
Doch das haben wir früher alles ſchon durchgeſprochen
und ich rufe dir nur die große Linie ins Gedächtnis , — mit
dem hier hauptſächlichen Vermerk , daß es auch beim Menſchen
auf einer beſtimmten Vorfahrenſtufe genau ſo angefangen hat .
Nun aber zum wichtigſten weiteren Punkt als Konſequenz .
Wenn du dir die Vorfahren des Menſchen auf dieſer Stufe
angelangt denkſt , getrennt in männliche Zellverbände , die bloß
Samen ausſchickten , und weibliche , die bloß Eier entſandten , —
ſo wäre ſtreng genommen ſchon hier die Rechnung richtig ge¬
weſen : daß zum Zwecke der Arterhaltung jedes Weib bloß
juſt geſpart zwei Eier und jeder Mann zwei Samentierchen
auf die Walze zu ſchicken brauchte . Vorausgeſetzt , daß dieſe
beiden Samenzellen zwei fremde Eizellen wirklich abfaßten und
dieſe beiden Eizellen dito zwei fremde Samenzellen . Dieſe
Vorausſetzung aber unterlag hier ebenſo offenbar einer hart¬
näckigen Schwierigkeit , maßen deſſen nämlich Samenzellen wie
Eizellen einfach auf gut Glück ins Blaue geworfen wurden
mit der allgemeinen Parole „ Suchet und habt Erfolg — oder
auch nicht “ . Von einer „ Begattung “ zwiſchen männlichem und
weiblichem Tier war noch ſchlechterdings keine Rede . Die
Eier traten bei der einen Partei einfach automatiſch aus wie ,
na ſagen wir wenigſtens ungefähr ſo , wie ein Ei heute bei
einer unberührten Jungfrau . Auch ohne jede Begattung löſt
ſich da zu beſtimmter Zeit ja ein Ei vom Eierſtock und wandert
im Leibesinneren ein Stück weit , bei welcher Gelegenheit die
Menſtruation erfolgt . Du brauchſt dir bloß auszumalen , daß
das Ei dieſes Mädchens vollkommen lebensfähig nicht bloß
den Eileiter und die Gebärmutter paſſierte , wie es wirklich
der Fall iſt , ſondern auch noch die Scheide und die äußere
Scheidenpforte , und daß es ſchließlich ganz für ſich in ſeiner
faſt unſichtbaren Punktgeſtalt in die offene Welt hinaus¬
ſpazierte , — ſo haſt du den völlig ähnlichen Hergang . Bei der
anderen Partei aber traten ebenſo die Samen aus wie ſie
einen einſamen , vom Weibe fernen Mann heute verlaſſen , ſagen
wir , bei einem onaniſtiſchen Akt oder auch etwas naturgemäßer
durch eine jener vorhin beſprochenen Pollutionen infolge eines
erregten nächtlichen Traumes .
Nun male dir mit dieſen Bildern klar aus . Jene
älteren Vorfahren , in denen damals der Menſch von heute
noch ſteckte , lebten im Waſſer . Du erinnerſt dich : erſt in der
Gegend des Molchfiſches und Amphibiums ſind deine Ahnen
zum erſtenmal ans Land geſtiegen . Alles frühere atmete und
durchſchwamm oder durchkroch Waſſer , ſchönes helles grünes
Meerwaſſer . Das Meer iſt nun rieſig und flutet von Erdteil
zu Erdteil . Soweit wollen wir gewiß uns nicht die Männlein
und Weiblein des damaligen wurm- oder fiſchähnlichen Vor¬
menſchen voneinander getrennt denken . Mögen ſie ſich ſelbſt
ſo nahe geweſen ſein , wie etwa ein Mann und ein Weib , die
mit zwei Armbreiten Spielraum an einer gemeinſamen Bade¬
ſtelle nebeneinander ſchwimmen . Jetzt denke dir aber , es ſoll
mitten auch bei dieſem Schwimmen von dem Weibe ſich ein
einziges punktgroßes lebendes Eilein und von dem Manne ein
einziges , mikroſkopiſch kleines , nur ein zwanzigſtel eines Milli¬
meters langes Samentierchen frei ins rauſchende Waſſer hinein
löſen . Ei wie Samentierchen ſollen zwar die gute Eigenſchaft
vollauf beſitzen , daß ſie ſich im kalten Salzwaſſer fidel erhalten
können . Aber werden ſie jemals zuſammenkommen ? Die
Wahrſcheinlichkeit iſt ſicher noch viel geringer als die für zwei
Flöhe in einem Heuſchober . Viel geringer , denn das unab¬
läſſig bewegte Waſſer wird ſie auch noch auseinandertragen .
Die Wahrſcheinlichkeit würde indeſſen beträchtlich wachſen ,
wenn du dir dächteſt , es gingen nicht eins , ſondern hundert ,
oder tauſend oder zehntauſend Samentierchen ab . Oder es
vermehrte ſich auch die Zahl der Eier . Je mehr , je beſſer .
Wenn erſt die Zahl der beliebig ausgeſtrömten Geſchlechtszellen
anfinge , etwa den ganzen trennenden Kubikmeter Waſſer zwiſchen
den beiden Schwimmern mehr oder minder in dichter Wolke zu
erfüllen , wäre eine Art Gewißheit erreicht , daß nicht nur die
nötige einmalige Miſchung zweier Zellen ſtattfände , ſondern ſehr
wahrſcheinlich noch eine Maſſe Überproduktion an Zeugung .
Auch dieſe Überproduktion könnte aber ſehr erwünſcht ſein , im
Falle es ſich um ein ſtark verfolgtes Weſen handelt , deſſen
Sterbeziffer beſtändig rapid anwächſt , ſo daß die Zeugung auch
gleichſam im Quadrat nach muß .
Das jetzt iſt die Situation , wo die Natur zuerſt an¬
gefangen hat mit der „ Verſchwendung “ der Geſchlechtsſtoffe .
Aus der Logik der Situation heraus iſt es aber hier gar keine
13
Verſchwendung . Die geſchlechtliche Zeugung an ſich beſtand eben
ſchon . Samenzelle mußte zu Eizelle . Aber die körperliche Be¬
gattung war gleichzeitig noch nicht erfunden . Die Geſchlechtsſtoffe
gingen dem Manne wie Weibe jedem einzeln wie Pollutionen
oder Menſtruationsblut ab . Einziger Ausweg : die Maſſe dieſer
Ausſcheidungen mußte ſo vergrößert werden , daß die Ströme
draußen doch noch ziemlich ſicher zuſammenfloſſen . Oder mit
anderen Worten : die uralte Grundthatſache der Miſchliebe be¬
ſtand ſchon als Geſetz . Aber jener letzte , äußerſte , engſte Akt
der Diſtanceliebe , die Begattung , fehlte noch . Samentierchen
und Ei , ins Freie hinausgeworfen , hatten ein unvergleichlich
viel größeres Diſtanceſtück noch ſelbſtändig zu nehmen . So
wurde ihre Zahl ins gewaltige vergrößert , auf daß , wenn
tauſend Pioniere den Nordpol auf ihrer ſchweren Expedition
nicht erreichten , doch der tauſendunderſte wenigſtens hinkomme .
Es miſchten ſich zweifellos noch andere Motive ein , die
der Zahlvergrößerung ohnehin günſtig ſein mußten . So jenes
ſchon geſtreifte , das eine möglichſt große Zahl von wirklichen
Befruchtungen erwünſcht erſcheinen ließ . Die befruchteten Eier ,
die nicht im Mutterleibe , ſondern im freien Waſſer vom erſten
Tage an reiften , waren den vielfältigſten Gefahren ausgeſetzt .
Junge Tiere , ſchutzlos ſofort umherirrend ohne Elternpflege ,
gingen tauſend- und tauſendfach wieder ein , ehe ſie ſelber zur
Fortpflanzung kamen . So mußte jeder Akt möglichſt weit für
die Zukunft vorſorgen , wenigſtens das Ideal auch einer wirklichen
Maſſenzeugung hochhalten . Dieſer Geſichtspunkt mußte beſonders
dazu führen , daß nicht bloß die Samenzahl möglichſt üppig
vermehrt wurde , ſondern auch die der Eier .
Dann mag aber etwas ſehr Geheimes noch mitgeſpielt
haben , deſſen Geheimfächer wir freilich heute noch ſo gut wie
gar nicht durchſchauen . Iſt es bloß reiner Zufall , wenn von
tauſendundeinen Nordpolfahrern grade einer hinkommt ? Iſt
dieſer tauſendunderſte Glücksfahrer nicht am Ende doch das
größte Genie von allen , das ſpezielle Nordpolgenie ? Etwa der ,
der am beſten Strapazen beſtimmter Art vertragen konnte ?
Oder eine beſtimmte Sorte Geiſtesgegenwart gerade beſaß ?
Oder am ſchlaueſten voraus rechnete ? Wohl , es kann auch
Zufall ſein . Aber bei Nanſen zum Beiſpiel war der Erfolg
ganz gewiß keiner , ſondern es waltete eine Art gerechter Aus¬
leſe . Nanſen war ſchlauer und geſünder zugleich als ſeine Vor¬
gänger . So etwas kann nun auch für jene Samentierchen
zutreffen . Indem eine Maſſe hingeworfen wird , iſt immerhin
wenigſtens möglich , daß weſentlich die Beſten , das heißt die
Dauerhafteſten , Zählebigſten , Energiſchſten zum Ziel kommen .
Jedes ſo offen ausgeſtreute Sämlingchen iſt ja für die Zeit
ſeiner Eiſuche auf den Zuſtand eines freien Einzelweſens zurück¬
verſetzt und damit auf den freien Exiſtenzkampfboden als In¬
dividuum . In dieſem Exiſtenzkampf ſiegen aber nach Darwin
immer nur die Beſten und durch dieſe Ausleſe wird die Ge¬
ſamtart unabläſſig durchgeſiebt zu Gunſten der Stärke und
Geſundheit : alles Kränkliche , Schwächliche fällt unter den Tiſch ,
— die Raſſe wird emporgezüchtet . Und das brauchte man ſich
alſo bloß hier waltend zu denken , ſchon vor erfolgter Befruch¬
tung bei den Samenzellen . Es könnte wohl ſein , daß bei der
Maſſe der Samentierchen auch dem Ei eine Wahl bliebe . Wie
ein Ei keineswegs gleichgültig etwa ganz fremden , einer andern
Art ungehörigen Samen in ſich aufzunehmen pflegt , ſondern
ſehr wohl das Zugehörige unterſcheidet und wählt ( eine Eigen¬
ſchaft , die ſchließlich ja ſchon die Moleküle bei einfachen ,
chemiſchen Verbindungen — Wahlverwandſchaft ! — beſitzen ) ,
ſo ließe ſich ſehr gut auch an eine Wahl noch indivi¬
duellerer Art denken . Etwa , daß die Eizelle nur ein be¬
13*
ſonders kräftig ſich benehmendes Samentierchen überhaupt an¬
nähme und Schwächlinge zunächſt abwieſe , bis der „ Held “
kommt . Auch das führte zu einer Ausleſe in Darwins Sinn .
Daß ſozuſagen der „ klare Verſtand “ der Eizelle eine
wirkliche Rolle bei dem ganzen Aufnahmeakt ſpielt , zeigen
gewiſſe Experimente , die Oskar Hertwig angeſtellt hat , als er
1875 in Ajaccio auf Corſika zum erſtenmal den ganzen
Hergang der Befruchtung bei den Eiern der Seeigeltiere be¬
obachtete . Hertwig chloroformierte im regelrechteſten Sinne
eine lebendige Eizelle und ſah nun , wie ſie , bis zur Bewußt¬
loſigkeit trunken , anders als ſonſt und zwar ſinnlos handelte .
Sie nahm mehr als ein Samentierchen in ſich auf und brachte
damit den ganzen echten Akt in bodenloſe Verwirrung .
Nichts iſt vielleicht intereſſanter , als ſich zu vergegenwärtigen ,
daß ſolche Dinge ſelbſt heute in der Gebärmutter oder den Ei¬
leitern unſerer Menſchenweiber eine Rolle ſpielen könnten . Wer
ſagt uns , ob nicht jedesmal das Samentierchen , das die Eizelle
wirklich okkupiert , allemal das erſte , ſtärkſte , ſchnellſte ſeiner
Mitbrüder wenigſtens desſelben Manneserguſſes iſt ? Jedes
Kind , das aus Eizelle und Samenzelle entſpringt , hat ſeine
beſondere Eigenart . Alſo individualiſiert ſind dieſe Zellen
ſelber ſicherlich auch ſchon . Bei jeder Individualiſierung werden
aber Kraftunterſchiede , Geſundheitsunterſchiede eine Rolle ſpielen .
Daß es geradezu kranke Samenzellen geben muß , iſt ſogar
direkt nachweisbar . Denke an den durch Alkohol , durch Syphilis
vergifteten Samen !
Ein denkender Mediziner , Alfred Ploetz , hat gelegentlich
in einem geiſtvollen Buche darauf hingewieſen , daß dieſe „ Zucht¬
wahl unter den Samentierchen “ vielleicht einmal von höchſter
Bedeutung für die ganze Fortſchrittsfrage der Menſchheit werden
könnte , — wenn wir nämlich mit Bewußtſein uns darauf ver¬
legten , ſie auszunutzen und zu begünſtigen . In der That iſt
ja oft von neueren , darwiniſtiſch gefärbten Philoſophen erkannt
worden , daß vom reinen Boden jener Darwinſchen „ Ausleſe
der Paſſendſten “ angeſchaut unſere Kulturmenſchheit eine an¬
ſcheinend verhängnisvolle Schwenkung gemacht hat . Indem
wir auch ſchwächliche Kinder mühſam aufpäppeln , Kranke er¬
halten , alle möglichen degenerierten Elemente aus ethiſchen
Gründen immer wieder in unſeren lebendigen Geſellſchaftskörper
hineinziehen , ſcheinen wir mit unſerer Moral jenem Prinzip
der Ausmerzung des Schlechten zu Gunſten des Beſten direkt ent¬
gegen zu arbeiten . Anderſeits ſteckt aber gerade im allmählichen
Eingehen dieſer Mitleidsmoral in Fleiſch und Blut der Menſch¬
heit der höchſte Triumph und Fortſchritt aller Kultur .
Nun läßt ſich ja darüber ſtreiten , ob dieſes Dilemma
nicht doch einen Fehler in der Logik enthält , ſo daß es vor¬
läufig bloß Weisheit am grünen Tiſch , aber nicht am grünen
Baum des Lebens wäre . Es fragt ſich , ob das Mitleid nicht
in weit raſcherem Gange als Grundlage ſozialer Beſſerungen
ſelber ungezählte Möglichkeiten der Degeneration und Krank¬
heit beſeitigt und damit ein ſtrahlendes Plus giebt , gegen das
jenes Minus doppelt und dreifach verſchwindet . Und es fragt
ſich ferner , wie viel wir denn im ganzen ſchon wiſſen von
den tiefſten Geheimniſſen des Entwickelungsfortſchrittes über¬
haupt , trotz des an ſich zweifellos richtigen , aber erſt nach¬
träglichen Zuchtwahlprinzips . Nach Darwins Prinzip lieſt
der Daſeinskampf oder , allgemeiner , überhaupt die allgemeine
Lebenslage auf Erden aus ſo und ſo viel aufſteigenden Varie¬
täten einer Tier- oder Pflanzenart beſtändig die brauchbaren ,
fortſchrittlichen aus und wirft die unbrauchbaren unter den
Tiſch . Dieſes Prinzip iſt gewiß ein eiſern logiſches . Aber
bis heute ſind wir noch immer in voller Unkenntnis , welche
Urſache nun das urſprüngliche Prozentverhältnis der auftauchenden
brauchbaren und unbrauchbaren Löſungen unter den Varianten
an und für beſtimme . Wir wiſſen nicht , ob es ſelber wächſt
oder abnimmt und was in dieſer Zu- und Abnahme für ein
Entwickelungsurgeſetz ſteckt . Denn eine Urſache müſſen dieſe
Varianten , aus denen gewählt wird , ja doch ſämtlich für ſich
wieder haben , — fragt ſich bloß welche und was für eine in
was für einer noch um ein Stockwerk tieferen Kauſalkette der
Weltendinge . Das trifft aber nun auch auf den Menſchen zu .
Und hier haben wir beiſpielsweiſe , um nur das Gröbſte zu
erwähnen , vorläufig nicht die leiſeſte Ahnung , wie und nach
welchem Geſetz die köſtlichſte unſerer menſchlichen Varietäten ,
ja die wahre Fortſchrittsvarietät von Beruf : das Genie , ent¬
ſtehe . Daß es ſich behauptet , ſehen wir in Darwins Sinne ,
aufs Geiſtige übertragen , alle Tage , ja wir ſehen ſelbſt , wie
es , im kurzen Raum eines Menſchenlebens oft aufs härteſte
bedrängt und gar in Märtyrerflammen verbrannt , nach Jahr¬
hunderten , ja Jahrtauſenden noch ſich herausbeißt und ſchlie߬
lich die Köpfe doch noch zu ſich herum erzieht . Aber das Geſetz
ſeiner Enſtehung iſt vorläufig ganz dunkel . Wir ſehen es weder
abhängig von einer beſtimmten Kulturraſſe , noch etwa einem
beſonderen ſozialen Milieu , oder beſonderer Muskelſtärke ,
Bazillenfeſtigkeit oder Langlebigkeit , wir können es weder her¬
vorfüttern noch hervorfaſten und hervorprügeln . Es iſt eben
einfach ſo und ſo oft da , und wenn es da iſt , bricht es durch
und führt uns ſchließlich alle ein Stück weiter . Seine Kauſal¬
verknüpfung in tiefen Urſachen , die zweifellos im innerſten Ge¬
webe der Weltentwickelung eine ungeheure Rolle ſpielen , wird
es ganz gewiß haben . Bloß daß wir ſie vorläufig nicht ſehen .
So ſcheint mir alſo auch jenes Dilemma einſtweilen nicht
ſo ſehr wichtig . Deßwegen ließe ſich der Gedanke aber immer¬
hin wohl hören , daß der Fortſchritt der Menſchheit der Zucht¬
wahl auch noch an einigen Ecken unterliegen könnte , an die
ſich unſer Mitleid im allgemeinen noch gar nicht heranwagt .
So alſo beiſpielsweiſe bei der Konkurrenz der Samentierchen .
Und daß wir vielleicht einmal danach trachten könnten , hier der
Natur noch im fortſchrittlichen Sinne nachzuhelfen , — indem
wir dafür ſorgten , daß ſtets möglichſt viele kerngeſunde und
vollkräftige Samentierchen bei dem Akt zur Stelle wären .
Worauf dann der uns unſichtbare Konkurrenzzwiſt da drinnen
im Weibesſchoße aus dieſen nochmals ſtets den „ allerbeſten “
Helden auswählen würde und ſo die Raſſe immer prächtiger
entfaltete . Das Genie des Arztes müßte uns erſinnen , wann
und wie unſere Liebesfracht wohl jedesmal auf ihrer Qualitäts¬
höhe ſein könnte . Die Quantität gäbe dann bloß beſſere
Chancen zu jener letzten Ausleſe . Doch das mag immerhin
der Zukunft anheimgeſtellt bleiben und ſoll uns hier nicht
weiter von unſerem Faden abbringen .
Die Hauptſache iſt : jene Geſchlechtsverſchwendung hatte
jedenfalls einmal einen ganz beſtimmten , vor dem Richtſtuhl
der Logik diskutabeln Sinn . Die Nützlichkeit einmal gegeben ,
ließ die Natur aber nun auch alle Regiſter ihrer Üppigkeit
ſpielen . Hatte ſie die Weſen glücklich aus Einzelzellen zu Zell¬
koloſſen von Millionen und Milliarden und immer mehr Zellen
zuſammengeſchmiedet , — was lag ihr jetzt daran , aus dieſen
Koloſſen wieder der Einzelzellen ſtatt zwei oder drei gleich
tauſend , hunderttauſend , Millionen abzuſpalten zum Geſchlechts¬
zweck . Seine wildeſten Orgien feierte das bei allem Liebes¬
volk , das ſich eine ſitzende , feſt haftende oder wurzelnde Lebens¬
art angewöhnt hatte .
Da ſind die ſchier unglaublichſten Vergeuder auf dem Lande
die Pflanzen . Eine Unmaſſe unſerer bekannteſten Pflanzen ſind
einzig und allein darauf angewieſen , daß der Wind ihren männ¬
lichen Geſchlechtsſtoff mitnehme und zu fremden Weibesgliedern
verfrachte . Da gilt es aber nun dieſem Helfer Wind auch die
Schwingen ſo voll pruſten , wie nur irgend möglich . Du ſtellſt
dir einen Zweig mit Haſelkätzchen zwiſchen anderm Frühlings¬
zeug daheim ins Waſſer und über Nacht iſt der ganze Strauß
und das ganze Glas und in breitem Kreiſe auch noch die
Tiſchdecke darum herum überpulvert mit goldenem Staub , —
mit dem Haſelſamen . Wo immer du in ihrer Liebeszeit unter
den grünen Sonnenkindern wandelſt , da umſchwebt dich dieſer
Samengruß , aus Millionen und Millionen Köpfchen , Zäpfchen ,
Kätzchen auf gut Glück der rauſchenden Luftwelle anvertraut .
Vom Grasplan und vom Kornfeld ſchwillt es wie zarter , be¬
rauſchender Duft . Aus den Kiefernkronen des Waldes wogt
es nieder wie aphrodiſiſcher Rauch , jeder Zapfen da oben eine
Liebesflamme , von der ungezählte Pfeile ſtrahlen . Ja , un¬
gezählte , unzählbare . Um den Raum von fünf Metern zwiſchen
zwei Neſſelſtauden zu überbrücken , werden Milliarden von
Samenzellen verbraucht . Wo geſellige Pflanzen viele Quadrat¬
meilen des Erdbodens in geringem Abſtande voneinander be¬
decken , da wird jene höchſte Steigerung faſt wahr gemacht , daß
die ganze Luftſäule darüber ſich zeitweiſe mit Samenſtaub
durchſetze . Zeus , der auf einer befruchtenden Wolke über
ſeine ſchöne Nymphe kam , wird zur Wirklichkeit . Goldene
Wolken erheben ſich im Anſtoß des Windes vom Kiefernwald
und fallen weithin auf Laubgehölz und Wieſen ein . Der
Regen greift hindurch : da ballt es ſich im Gewitternaß zu
goldenen Strömen , die das Volk abergläubiſch als Schwefel¬
regen beſtaunt . Ja , vor Äonen muß das auf Erden ein
noch viel gigantiſcheres Schauſpiel geweſen ſein . Über Erdteile
weg dehnten ſich in der ſogenannten Steinkohlenperiode endloſe
einförmige Urwälder von Farrnkräutern , Schachtelhalmen und
Bärlappgewächſen . Du kennſt den Bärlappſamen , das Hexen¬
mehl , das weich wie ein Hauch dahinſchwillt . Denke dir Erd¬
teile überwuchert mit ſolchem Bärlappkraut in haushohen
Stämmen , und davon zur Sonne empordampfend jetzt den
Hexenrauch . Einem fernen Beſchauer vom Weltraume her
hätte es vielleicht wie ein zarter Goldſchimmer über der Erd¬
kugel geſchwebt . Und wenn die ungeheuren Platzregen einer
feuchten Sumpfzeit durch dieſes Liebesnetz brachen , riſſen ſich
ſchwefelgelbe Schlammſtröme ihre Bahn und im Flußdelta
färbte ſich weithin das Meeresblau gelblich um , — Ströme
von Liebesſamen , ein Ozean , den Eros geküßt , die Liebe , ihre
Kraft hinaufſpeiend in die höchſten Luftſchichten wie ein Vulkan ,
eine Erdkugel aufglimmernd unter ihrer Liebesfracht und ihre
Farbe , die Farbe vom Mannesſamen der Pflanze , hinaus¬
ſtrahlend in den Weltenraum .... .
Gegen dieſe haarſträubende Überproduktion erſcheint ſelbſt
die ärgſte Verſchwendung , die von Tieren je getrieben worden
iſt , als ein Kinderſpiel . Schon die höhere Pflanze , die bunte
Blüten trägt , hat ſich ja etwas eingeſchränkt , indem ſie die In¬
ſekten als Liebesboten benutzen lernte , wobei nicht mehr ſo
wüſte Zahlung verlangt wurde wie bei den unkontrollierbaren
Windſtößen . Beim Tiere aber nahm die ganze Leiſtung wohl
überhaupt nie Haſel- oder Kieferndimenſionen an , wenn ſchon
von eigentlichem Sparen auch hier keine Rede war . Schon
früh löſt ſich ja das Tier an ſeinen entwickelungsbeſten
Stellen ziemlich energiſch von der Hafterei und Wurzelei los .
Die Geſchlechter konnten zu einander ſchwimmen oder kriechen
und ſo die Diſtance wenigſtens vermindern auch damals ſchon ,
als Samen und Ei noch einfach ins Waſſer geworfen wurden
auf Gutglück des Findens . Schließlich aber ſind die Ziffern
auch des Tieres nicht übel , wenn man ſie hört . Der Band¬
wurm erzeugt , wie du dich erinnerſt , fünfzig Millionen Eier
und entſprechende Samenmaſſen rein auf das Lotterieſpiel hin ,
daß ein einziges befruchtetes Eilein davon den unendlich um¬
ſtändlichen Weg durch Menſchendarm , Abtritt , Schweinefleiſch
und abermals Menſchendarm wirklich zurücklege und wieder
die alte Bandwurmkolonie neu erzeuge . Die Auſter produ¬
ziert wenigſtens ihre Million an Eiern . Welche Samenflut
dazu gehörte , hat wohl noch nie einer zu berechnen gewagt .
Das Intereſſanteſte aber iſt , wie hoch gerade dieſe Ver¬
ſchwendungs-Methode überhaupt hier beim Tier noch bis in
deine menſchliche Ahnenverwandtſchaft hinaufreicht .
Rufe dir jenes groteske Bild von der Liebesorgie der
Heringe noch einmal vor Augen . Du ſtehſt beim Fiſch . Alſo
hoch über dem Wurm , mit beiden Beinen in der engeren
Reihe ſchon der Wirbeltiere . Schon ſind Magen und After ,
Rückenmark und Gehirn aufs ſchönſte vorhanden , ſchon iſt
jenes harte Brett , das Rückgrat , ſtützend in die Körperllänge
eingefügt , ſchon hat die Kapſel um das Gehirn ſich zum
Schädel gefeſtigt und an dieſem Schädel ſich der beißende
Kiefernapparat zur Schnauze geformt . Mit den Floſſen ſind
die Gliedmaßen angedeutet und die Schwimmblaſe enthält
gleichſam prophetiſch bereits die Möglichkeit einer Lunge .
Sicher : wenn du dich aufſuchſt in all deinen tieriſchen Ahnen¬
ſtufen , ſo warſt du als Fiſch dem Menſchen ſchon unvergleich¬
lich viel näher , als etwa die Urzelle es dem Fiſche geweſen
iſt . Dein Menſchenhaus , dort noch ein einſamer Grundſtein ,
ſtand hier im Rohbau ſchon völlig ausgezimmert . Und doch
ſiehſt du bei ſolchen Fiſchen noch die ganze alte offene Zeugungs¬
methode in fröhlichem Gange , und du ſiehſt im Gange auch
die üppigſte Verſchwendung der Geſchlechtsprodukte .
Sie ſind längſt nicht mehr angewachſen , dieſe Heringe
unſeres Bildes . Kein Wirbeltier iſt es mehr . Das letzte
Volk von in dieſem alten , pflanzenartigen Sinne ſeßhaften
Tieren , das deine Menſchenlinie berührt , ſind jene kurioſen
Ascidien , die gleichſam auf der Brücke zwiſchen Wurm und
Wirbeltier ſtehen , als junges Tierlein eine erſte Anlage zu
einem Rückgrat beſitzen , ſpäter aber wie faule Kartoffeln feſt¬
hocken und ſich ſo als ſtehen gebliebener Seitenzweig , als ge¬
fallene Engel gleichſam der Menſchheitsentwickelung , erweiſen .
Der Fiſch alſo mag für gewöhnlich frei in ſeines Elementes
weiteſten Provinzen hauſen , wo er will . Zur Reifezeit ſeiner
Geſchlechtsprodukte erſt mag er ſich dann näher zu ſeines
Gleichen geſellen , und wirklich ſiehſt du jetzt die fidelen Hering¬
lein aus allen Tiefen anſteigen zum heiligen Zeugungsfeſt .
Es iſt gewiſſermaßen der einzige große religiöſe Moment ihres
Lebens . Denn die Religion ſtellt diejenige Stimmung ja
jedweden Weſens dar , da es ſich am eigentlichſten über ſich
ſelbſt erhebt in ein Höheres , Umfaſſenderes hinein , in einen
Ring gleichſam einer höheren Individualität , die ſeine eigene
kleine bloß als ein Stäubchen mit umfaßt . Der Hering ,
wenn er ſich in dieſe Stimmung erheben ſoll , kann in ſeinem
kleinen Fiſchgehirn , das bloß erſt wie ein paar Knötchen in
einem dünnen Strang durch ſeinen Schädel liegt , noch nicht
bewußt ſich verſenken in die ewige Gottnatur des Meiſters
Goethe , die Nebelflecke umfaßt wie Menſchen und Heringe .
Der höchſte Überakt ſeines Individuums iſt die Zeugung ,
der Moment , da ſein kleines Daſein eingeht in den großen
Ring der Art , in den ewigen Hering gleichſam , der Jahr¬
hunderttauſende durch die fortgepflanzten Generationen ſich
erhält , in die platoniſche Idee des Herings , die etwas gewaltig
viel Höheres , Umfaſſenderes iſt als der Einzelhering in ſeinem
ſchnellen Lebensſtündlein .
Aber nun es zu dem großen Akte wirklich kommt , ſiehſt
du auch dieſe Heringe noch ganz nach der uralten , groben
Methode ihr Liebesſchifflein ſteuern . Vom Milchner , dem
Manneshering , geht der Samen ab durch eine regelrechte Art
Pollution , und vom Rogener , dem Heringsweibe , fallen die
Eier einfach wie ein Tropfen Menſtruationsblut , auf dem eine
jungfräuliche Eizelle ſelbſtändig an Tageslicht ſchwimmt . In¬
dem die Männlein meiſt unten ſchwänzeln und eine tiefere
Schicht Seewaſſers mit ihrer Pollutionsmilch erfüllen , während
die Weiblein von oben her ihre Eier durch dieſe Samenwolke
hindurchfallen laſſen , entſteht auf gut Glück die eigentliche Hoch¬
zeit von Samenzelle und Eizelle , — auf gut Glück und dank
einer braven Verſchwendung von beiden Seiten . Die Maſſe
thut 's ! Das einzelne Ei eines Herings iſt bloß ein Milli¬
meter groß und das einzelne Samentierchen natürlich noch
viel kleiner . Aber jeder weibliche Hering erzeugt dafür auch
ſeine dreißig- bis vierzigtauſend Eier . Und wenn du dir aus
deiner Heringstonne eine leckere Milchmaſſe herausfiſchſt ,
die ja nichts anderes iſt als das prall gefüllte Samenreſervoir
des Bräutigams , — und ſie mit der Größe des ganzen Tieres
vergleichſt — und dir ſagſt , daß jede Samenzelle einzeln
mikroſkopiſch klein iſt , — ſo mag dir das Entſprechende
zu jener Eierhekatombe klar werden .
Ein kurioſes Volk im Grunde , — wir Menſchen . Beim
Hering haben wir uns ganz behaglich daran gewöhnt , als ſei
es etwas Selbſtverſtändliches : die Samenmaſſe ſelbſt als feinſten
Leckerbiſſen zu verſpeiſen . Der Ekel vor irgend einer Koſt ,
hat Oskar Peſchel einmal gut geſagt , beruht nur auf Überein¬
kommen oder Grauen vor dem Unbekannten . Es klingt uns
ziemlich grauſig , wenn der Araber ſeinem Allah dankt , weil er
ihm ein Gericht Heuſchrecken beſcheert hat ; oder die hübſchen
Samoamädchen mit ihren geſunden Zähnen auf eine fette
Bockkäfermade beißen , daß es nur ſo knackt und der Wurm
ſich zwiſchen den Lippen windet wie eine lebendig gewordene
Zigarette ; oder wenn die ebenfalls recht nette ſüdamerikaniſche
Bakairimaid ihrem Liebſten ein paar beſonders wohlgenährte
Läuslein ihres ſchwarzen Straffhaars als Leckerbiſſen aufhebt .
Dabei ſchwelgen wir Kulturepikureer in ſauren Schweinsnieren ,
obwohl wir ganz gut wiſſen , daß es die Harnorgane dieſes
appetitlichſten aller Säugetiere ſind , und den thatſächlichen
Gipfel aller kulturfeinſten Zungenäſthetik bildet , wie unmöglich
zu leugnen iſt , der Schnepfendreck , deſſen eigentliches Kräutlein
Nießmitluſt die Exkremente und klein zerhackten Bandwürmer
des Darminhalts der Schnepfe ſind . In dieſer Linie hätte es
nicht mit rechten Dingen zugehen müſſen , wenn nicht auch jene
tolle tieriſche Samenproduktion irgendwo ins Lichtfeld unſerer
Tafelfreuden geraten wäre . Was müſſen dieſe kleinen Silber¬
fiſche aber in dieſer Sorte produzieren , wenn man bedenkt ,
daß ein großer ausgewachſener Menſch , an dem jeder Finger
halb ſo lang iſt wie der ganze Fiſch , an einer ganz beſchränkten
Zahl von ein paar ſolchen Milchnern ſich geradenwegens mit
eitel Fiſchſamen ſatt eſſen kann .
Das kühle Walpurgisbad hat dich hungrig gemacht und
da wir gerade von ſo leckeren Sachen reden , packſt du deine
Vorräte aus . Ein Kaviarbrödchen . Da ſind wir ja gleich
wieder auf einer anderen Ecke bei der koloſſalen Eierproduktion
der Fiſche .
Iſt dein Kaviar echt , alſo , ſind es nicht Sagokörner in
Heringsbrühe oder Zander- und Thunfiſcheier , ſo ſtammt er
vom Fiſche Stör , und zwar iſt jedes der kleinen ſchwarzen
Perlchen ein einzelnes Ei dieſes Stör . Der Stör iſt aber ein
höchſt ſeltſamer , altertümlicher Fiſch . Seine Vorfahren haben
jedenfalls deinem menſchlichen Stammbaum noch näher geſtanden
als der Hering . In der Gegend der Störe gerade hat ſich vom
Fiſchſtamm jene Gruppe der Molchfiſche abgeſondert , die ihre
Schwimmblaſe zur Lunge wirklich umformte und damit den Weg
aufs Land und den Weg auf den Menſchen zu endgültig eroberte .
Daraus macht ſich freilich der fertig entwickelte Menſch
heute verzweifelt wenig . Gerade an dieſer Fiſchecke ſeines
Stammbaums fällt er als Leckermaul über alle ſeine Altvordern
her . Der berühmte allerniedrigſte Fiſch , der Amphioxus , iſt
zwar meines Wiſſens bisher nur ein einziges Mal kulinariſch
gewürdigt worden , — nämlich bei dem Feſteſſen zu Ehren des
ſechzigſten Geburtstages des tapferen Stammbaumforſchers Ernſt
Häckel in Jena , wo Verehrer ein Fäßlein Amphioxi aus Neapel
bezogen und zu Sardellenbrödchen verarbeitet hatten ; der Ge¬
ſchmack ſoll , wie mir Häckel erzählt hat , die enge Verwandtſchaft
mit der nächſt höheren Fiſchgruppe , den Neunaugen , beſtätigt
haben . Dieſe Neunaugen gelten um ſo länger . Haifiſchfloſſe iſt ein
Leckerbiſſen in den ſüdlichen Gegenden . Der Molchfiſch Ceratodus
in Auſtralien hat rotes Fleiſch wie ein Lachs und wurde ſeinem
Erforſcher Semon unter der Hand von ſeinen ſchwarzen Leuten
eifriger weggegeſſen , als dem Zoologen lieb war . Beim Stör
aber iſt die äſthetiſche Verſchwendung des Menſchen auf einen
Gipfel gediehen , daß ſelbſt die großartigſte Geſchlechtsver¬
ſchwendung der Fiſchnatur dagegen zu erlahmen droht .
Nehmen wir an , daß jedes dieſer Schwarzperlchen hier auf
deiner geröſteten Brotſchnitte von der Störart ſtammt , die am
ergiebigſten für die Kaviarausfuhr iſt , — vom ſogenannten
Hauſen , der im Schwarzen Meer und ſeinen Zuflüſſen hauſt .
Aus jeglicher dieſer Perlen konnte , wenn ſie befruchtet wurde ,
ein wahrhaft dämoniſches Fiſchuntier hervorgehen , beſchildet
und bebuckelt wie ein dekorierter römiſcher Legionar , vorne mit
einer zahnloſen Mümmelſchnauze wie ein Rieſenſäugling , und
hinten in einer ungleichen Schwanzfloſſe wie einer Pflugſchar
endend . Wenn nichts dazwiſchen kam , konnte dieſer groteske
Herr auswachſen zu einem wahrhaften ſchwimmenden Baum¬
ſtamm von acht Metern Länge , alſo rund dem Fünffachen
deiner eigenen werten Leibesſpanne .
Rechne nun , daß auf deinem Kaviarbrötchen hier bloß
fünfhundert Stör-Eier ſind , — die Ziffer iſt gewiß ſehr klein
angeſetzt . So giebt das auf fünfhundert Störe , jeder ausge¬
wachſen zu acht Metern , eine ideale Strecke Fiſchfleiſch von
vier Kilometern . Und dieſe vier Kilometer ißt du gewiſſer¬
maßen auf einem Butterbrot . Wie viele ſolcher Butterbrote
aber außer von dir jährlich gegeſſen werden , das lehrt dich
eine allgemeine Schätzungsziffer , die den Verbrauch an Kaviar
auf rund zehn Milliarden Störeier pro Jahr annimmt . Da
man zur Gewinnung der Eier den ganzen weiblichen Fiſch zu
fangen , zu töten und aufzuſchneiden pflegt , müßten alſo zehn
Milliarden Störweiblein jährlich den Fiſchern ins Netz gehen ,
falls der Stör nur je ein Ei pro Jahr erzeugte . Bei ſolcher
Rechnung müßte das ſchwarze Meer etwa mit Stören erfüllt
ſein wie ein austrocknendes Frühlingstümpelchen mit Kaul¬
quappen oder noch ärger . Davon iſt aber keine Rede . Denn
thatſächlich ſetzt eben hier die enormſte Ziffer der Eierproduktion
jedes weiblichen Einzelſtörs wieder ein .
Es ſind einzelne Hauſenweiber gefangen worden , die bei
vierzehnhundert Kilogramm Geſamtgewicht eine Eiermaſſe von
vierhundert Kilogramm im Leibe trugen . Das macht mindeſtens
drei Millionen Eier in einem einzigen Fiſch auf einmal , —
Stoff genug für ſechstauſend von deinen Kaviarbrötchen hier .
Natürlich ſind es nicht immer ſo viele . Im ganzen aber
ſiehſt du doch hier in eine Eierfabrik , die mit Millionen rechnen
kann , — Millionen pro Weib . Dagegen ſind die dreißig
Tauſend des Herings ein armer Notbehelf . Die Forelle hat
gar nur windige tauſend , der Stichling noch nicht hundert .
Der Hecht erſt bringt es wenigſtens auf hunderttauſend , der
Karpfen nähert ſich ernſtlich der erſten Million . Der Kabel¬
jau allein geht wohl noch über den Stör hinweg , angeblich
bis neun Millionen . Aber der Begriff der Million genügt .
Ein Fiſch , der eine Million regelrechter Eier in ſich erzeugt !
Er verdient , daß mit ſeinen Eiern fernab vom Schwarzem Meer
mitten im Sande der Mark noch Butterbrote geſchmiert werden .
Aber er giebt uns zugleich auch eine tiefe Weisheit dabei mit ,
uns , die wir nicht bloß eſſen , ſondern auch denken wollen .
In dieſer Million ſchwarzer Kaviarperlchen ſteckt das
ganze Geheimnis deiner zweiundſiebzigtauſend Eier am Eier¬
ſtock des Menſchenweibes . In der rieſigen Samenwolke , die
dazu gehörte , um ſie nach Heringsart durch Herumrühren im
frei mit Mannespollutionen durchgeſetzten Waſſer zu befruchten ,
ſteckt das ganze Geheimnis deiner Millionen Samenzellen des
Menſchenmannes . Den Fiſch , der er einſt war , den uralten
Fiſch mußt du hineinſehen in den Menſchen , — und du begreifſt .
Wohl haben ſich die Dinge vom Fiſche an aufwärts hier
ganz ſtill mit der Entwickelung verſchoben . Noch beim Froſch ,
alſo dem Amphibium ſchon , das vier Beine hat und Luft durch
Lungen atmet , haſt du eine gewaltige Eiermaſſe , die wirklich
abgelegt wird , und immer noch gießt hier der Mann erſt nach¬
träglich auf die ſchon abgelegten Eier ſeinen Samen aus .
Dann aber ändert ſich manches . Allmählich wird die äußerliche
Freibefruchtung unmöglich . Schließlich zieht ſich die ganze
Entwickelung auch des befruchteten Eies in den Mutterleib
zurück . Es wird ein Ding der abſoluten Undenkbarkeit , Kinder
durch männliche Pollutionen zu erzeugen . Und die lange , enge
Verknüpfung von Mutter und Kind , die Größe und Reife , in
der das Kind geboren wird , das Aufhören jeglicher weiblichen
Eierlegerei beſchränken die Zahl der Eier , die überhaupt zur
Befruchtung und Reife kommen können , auf jenes Minimum ,
das wir auch beim Menſchen zuletzt gewahren . Immer aber
iſt es , als wolle die Natur ſich einen Schatten des Alten ,
Älteſten doch wie eine ſorgliche Unterſchicht bewahren . Als
wenn ſie jene Fiſchverhältniſſe latent noch hinter dem Menſchen
halten müſſe , für irgend einen nötigen Fall . So wahrt ſich
der Eierſtock wenigſtens die Anlage zu einer Stör- oder
Karpfenproduktion en gros . So verfügt der Mannesſamen
über eine Flut , als ſollten die Samentierchen immer noch eine
freie Waſſerfahrt zurücklegen .
Erſt ſo wird auch der Sinn , der hiſtoriſche Sinn gewiſſer
automatiſcher Handlungen des Leibes klar . Wenn tief im
Weibesleibe zu jeder Menſtruation ein Ei ſich ſelbſthätig auf
die Wanderſchaft nach der Gebärmutter begiebt , ſo iſt das eigent¬
lich immer noch ein verſtecktes Eierlegen , ein Loslaſſen und
Fallenlaſſen gleichſam des unbefruchteten Eies ins Offene hinein ,
auf gut Glück , daß es Samen finde . Allerdings darf das Ei
nicht mehr ganz hinaus ans Licht , ſonſt ſtirbt es . Aber der
Eileiter und die Gebärmutter ſind gleichſam in Vertretung das
Waſſer geworden , in das der Hering ſein Ei wirklich hinaus¬
wirft . Erfolgt keine Befruchtung , ſo iſt das Ei doch auch hier
gleichſam expediert , es iſt wegbefördert und für neue Sendung
Raum . Die Möglichkeit der Befruchtung ſelbſt , alſo die An¬
weſenheit grade von Mannesſamen in dieſem Geheimraum zur
rechten Zeit , gehört freilich in ein anderes , ſpäter erworbenes
Reſſort , das mit der gleich zu beſprechenden „ Entdeckung “ der
Begattung zuſammenhängt . Aber der automatiſche Akt thut
ſeine Schuldigkeit im alten Fiſchſinne für ſich , ſoweit er es eben
verſteht , — der Fiſch im Menſchen legt noch jene zweiundſiebzig¬
tauſend Eier am Eierſtocke brav an und entläßt ſoviel es geht
davon in periodiſcher Folge ebenſo brav gegen die Gebärmutter
hin , — mag dort von einer höheren Inſtanz aus weiter
geſorgt werden .
Und ganz ähnlich ſo beim Manne . Auch da ein Ur¬
ſtadium , eine Fiſchheit gleichſam als Grundſtock hinter allem .
Der Samen ſich abſpaltend in enormen Maſſen , als ſollte er
wie Citronenſaft frei über weite Kaviarflächen fließen und
nicht bloß tief drinnen im Weibe in engſter Klauſur eine
einzige Eizelle erobern , die wie Kleopatra dem Antonius
offenen Armes auf engem Nil entgegenſchwimmt . Auch hier
liegt die wahre Begattung in der Hand gleichſam eines oberen
Stockwerks des Organismus . Sie iſt etwas ſpäter Erworbenes ,
das in einem anderen Reſſort auch hier verwaltet wird . Aber
wenn dieſes Reſſort nicht eingreift , wenn dauernd überhaupt
keine Direktive von da kommt : dann geht der Leib auch hier
ſelbſthandelnd nach altem Fiſchbrauch vor . In nächtlicher
Pollution , während ſie da oben im Gehirndepartement ſchlafen ,
wirft das Samenorgan ſeine Zellen einfach auch ohne Weibes¬
nähe aus , nach Heringsmethode . Bloß daß dieſe hier den
ſicheren Tod der Zellen bedeutet . Aber das iſt einerlei .
Wenn das neue , jüngere Geſetz ſich nicht erfüllen will , ſo tritt
einfach das ältere in Kraft . Auch dieſen Samenzellen iſt an
und für ſich das Weib im Moment des Ausſtrömens noch
ganz nebenſächlich , ganz und gar ein Diſtancewert . Sie
ſtreben einfach ins Freie , ins „ Waſſer “ draußen . Iſt dieſes
Freie die Weibesſcheide , ſo mag es zur Befruchtung , zur
Miſchung im günſtigſten Falle kommen . Aber wenn nicht ,
dann nicht . Ja kommen aus dem oberen Reſſort ſelber die
ſinnloſeſten Direktiven , wie bei onaniſtiſchen und päderaſtiſchen
Akten , ſo ſchwillt die Lebenswelle unentwegt auch ſo vor .
Nichts vielleicht iſt wunderbarer als ſich zu ſagen , daß ſelbſt
dieſe Abnormitäten nicht möglich wären , wenn unſer Leib nicht
ein ungeheures Flötz aus ſo und ſo viel zoologiſchen Ent¬
wickelungsſchichten wäre . Der Onaniſt , der ſeine Samenzellen
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ins Blaue verſtreut , ſteigt in ſeinem eigenen Menſchenbau
gleichſam noch einmal nachträglich um ſo und ſo viel Stock¬
werke wieder herab und ſchlägt eine Schicht an , die normaler
Weiſe längſt durch dicke Quadermaſſen der Entwickelung zwiſchen
Fiſch und Menſch überdeckt iſt .
Die erſte ungeheure Quader , die ſich da für die Miſch¬
liebe darauf gelegt hat , war die Begattung . Die körper¬
liche Begattung zwiſchen den beiden großen Hälften des Liebes-
Individuums . Ich ſprach dir von einem oberen Reſſort , einer
ſpäteren Inſtanz . Das geht hier herüber .
Die Sache ſieht als Fortſchritt ja auf den erſten An¬
blick furchtbar einfach aus . Die Heringe wiſſen es offenbar
ſchon ganz genau : die Geſchichte geht bei aller Offenheit des
vagen Samen- und Eier-Ausſtreuens doch unmöglich ſo , daß
der Bräutigam an der Küſte von Nordamerika ſeine Samen¬
milch fahren läßt und die Braut ihren Rogen etwa an der
Küſte von Norwegen . Das gäbe die Geſchichte von den
Königskindern , die konnten zuſammen nicht kommen , das
Waſſer war viel zu tief . Und das edle Volk der Heringe
würde dabei ausſterben . Die Liebenden kommen alſo immerhin
auf eine gewiſſe Diſtance zuſammen und produzieren ſo .
Nun mußte aber bei etwas fortſchreitender Logik der
Dinge unweigerlich eine Tendenz ſich geltend machen , die
dieſe Diſtance auch dann immer noch verringern wollte .
Je näher , deſto ſicherer . Deſto unnötiger die ganz himmel¬
blaue Verſchwendung . Bis endlich Leib an Leib rührte , Quelle
des Lebensſtroms an Quelle .
Es unterliegt gar keinem Zweifel , daß die Urgeſchichte
deſſen , was du Begattung nennſt , wirklich in dieſer einfachen
„ Logik “ liegt . Aber die Verwirklichung ſtieß nun doch auf
den ſeltſamſten Knäuel beſonderer Umſtände . Und die Folge
war abermals , daß ſich für dich weiſes Endmenſchenkind Dinge
ergaben , die du mit einem freundlichen Wort jetzt als „ Abſurdi¬
täten “ brandmarken möchteſt . Obwohl es äußerſt brave hiſtoriſche
Schachzüge ſind , ohne die du wieder überhaupt nicht wärſt , —
ſintemalen dich nicht ein Philoſoph a posteriori , ſondern die
liebe Mutter Entwickelung ſehr a priori herausgedacht hat .
Auch aus allem ſcheinbar Abſurden deines Begattungsaktes
ſingt ein leiſes Stimmchen hervor . Ein Kinderſtimmchen .
Das Stimmchen des werdenden Homunkulus . Ja du biſt es
noch immer : der Homunkulus der Natur . Erſt vor dir , in
Herkules-Fernen , ſteht der wahre Homo , — der Menſch . Noch
ſingt es aus dir allerorten etwas gläſern . Aber es iſt die Gu߬
form . Und eines Tages wirſt du ehern klingen , die Glocke
iſt fertig , die vielleicht dann ſchon durch die Planetenräume
läutet .
Menſchenweib und Menſchenmann alſo ſtecken in einem
Fiſchrogener und Fiſchmilchner . Irgendwo in ganz grauen
Tagen , noch weit jenſeits der Ichthyoſaurier in irgend einem
verſchollenen Meer , auf deſſen verſteinerten Schlammbänken
heute Kegel geſchoben werden oder eine Arbeiterverſammlung
die ſoziale Frage erörtert oder eine Prozeſſion geht .
Dieſer Rogener und Milchner werden mehr und mehr
dazu gedrängt , ihre Liebeserzeugniſſe möglichſt nah bei einander
auszulaſſen , damit die Kleinen ſich doch nur ja finden . Wie
werden ſie es anſtellen ? Es liegt unendlich nah , daß ſie auf
eine ganz einfache Praxis kommen , die aber doch einen koloſſalen
Schritt weiter bedeutet . Sie legen ſich Leib an Leib . Eirogen
wie Samenmilch ergießen ſich ja aus beſtimmten Öffnungen
dieſes Leibes . Alſo legen ſie ſich möglichſt Öffnung gegen
Öffnung . Auf daß Strom alſogleich rinne zu Strom . Die
männliche Samenpollution zu den frei auswandernden Weibes¬
eiern gleich im Moment des jederſeitigen Austritts . Ich habe
dir früher erzählt , was ſolche körperliche Annäherung für die
14*
Tiere bedeutete , die wilde Räuber waren . Wie da der Kon¬
flikt zwiſchen Liebe und Freſſen akut wurde . Erinnere dich an
die wunderſame Spinnenhiſtorie . Aber bleiben wir jetzt einmal
bei dem mehr mechaniſchen Problem , das damit auch in der
Geſchichte der Menſchheit zum erſten Mal ordentlich gegeben
war . Dem ich möchte faſt ſagen , rein gymnaſtiſchen Kunſtſtück :
Leib zu Leib , Geſchlechtserguß möglichſt dicht zu Geſchlechts¬
erguß einzuſtellen .
Alle möglichen Sorten der luſtigen Waſſerſchwänzler , der
Fiſche , machen dir heute noch die ganze äußere Steigerung
aufs hübſcheſte vor .
I ch gedenke eines köſtlichen Wandertages in den Schweizer
Alpen . Nach langen heißen Marſchſtunden eine wilde Pa߬
höhe . Jenſeits der Tannengrenze . Nur noch ein Teppich¬
kranz Alpenroſen und dann ganz wildes , rohes , gelb¬
braunes Geſtein mit harten Silhouetten zum milchig weißen
Himmel . Nahe an zweitauſend Meter . Ganz hier oben aber
uoch noch in den letzten Fleck Alpenroſen und Genzianen eingeſenkt
wie zwei blaue Äuglein ein paar kleine Seen . Der abſtrömende
Bach fiel wenig darunter in die nächſt oberſte Thalterraſſe mit
einem prachtvollen weiß zerſchäumten Waſſerfall ein und ging
dann Stunde um Stunde langſam rauſchend , zuletzt durch den
großen dunklen Tann , in einen märchenhaft ſmaragdenen , ab¬
grundtiefen See , in dem rieſige Hechte und dämoniſche ſchwarze
Welſe hauſten und über dem jenſeits eine ſchroffe Gebirgsmauer
mit wahren Ruinenzinnen ſo ſenkrecht ſtand , daß kaum ein
Baum oder ein Fleckchen Ziegenmatte hier und da in einer
Ritze kleben konnten . Hier oben in dieſen Blauäugleinstümpeln
jenſeits der Baumgrenze aber habe ich einen Fiſch in ſeiner
Herrlichkeit kennen gelernt : die Forelle .
Irgendwo wer in den Kantonsgründen da unten , aus
denen ab und zu eine bleiern weiße Wolke wie ein Pilz auf¬
dampfte , hatte die Fiſcherei hier im Olymp gepachtet nnd und einen
Wächter dazu geſetzt . Er hauſte in einer Almhütte , um die
das luſtige Volk der Murmeltiere pfiff uud und zu dem ab und zu
die Gemſen äugten , die echten , nicht bloß die gefütterten
aus dem Tartarin . Der Alte ein Original , halb noch
Menſch und halb ſchon Murmeltier . Er ſchnauzte auf die
Weiber , wie Buſch's alter Kräkel , er hatte , ich weiß nicht
wie viele in der Reihenfolge der Zeit unten im Thal gehabt
und geheiratet und ich glaube , eine lebte ſogar da unten noch .
Im übrigen aber war ſein Herz mitfühlend mit den Sünden
und Begehrlichkeiten der Welt . Es gab keinerlei Reſtaurant
hier oben und die Forellen waren für Geld nicht feil . Aber
wer eindrücklich zu machen wußte , daß er fünf Stunden ge¬
klettert ſei und den elenden Hungertod gewärtige , vor dem
regte ſich in dem alten Murmelvater das Gebot chriſtlicher
Nächſtenliebe , das da lehrt , es ſolle der Nackende gekleidet und
der Hungernde getröſtet werden um höheren Lohn als Goldes¬
wert . Brot und Käſe hatte er nicht und ſein Enzianſchnaps
fiel in den hungernden Magen wie feurige Kohlen . So bat
er denn endlich , mit einer Forelle vorlieb zu nehmen , wie ſie
Robinſon dem Schiffbrüchigen giebt . Er nahm die Zappelnde
aus dem Fiſchkaſten und in prähiſtoriſch primitiver Kaffeekaſſerolle
wurde ſie gekocht . Als Teller diente mir ein Zeitungsblatt ,
ein Berner „ Bund “ mit einem Aufſatz Widmanns , als Gabel
ein treuer Pfropfenzieher . Und der ehrwürdige Greis erzählte ,
derweil ich aß , wie er den Finger des unmittelbaren Schickſals
allemal über die bloß traditionelle Lehre ſetze . So ſchieße er
niemals Gemſen , da das durchaus verboten ſei . Aber zum un¬
ſchuldigen Spiel , dem kein Menſch wehren dürfe , ſtelle er auf
fernen Steinzacken , die gerade ſein ungetrübtes Adlerauge noch
erreiche , eine friedliche Selterswaſſerflaſche auf und übe die Kraft
ſeines Alters mit Schüſſen nach dieſem Ziel . Geſchehe es nun
allerdings , daß eine Gemſe grade im Moment ſolchen Tellſchuſſes
zwiſchen ihn und die Flaſche trete , ſo achte er das als den
höheren Finger , dem der Weiſe ſich zu beugen habe . Wenn ich
wieder heraufkäme , meinte er , ſo wollten wir wohl einen guten
Gemſenbraten zuſammen ſchmauſen . Denn ſo wunderbar es
ſcheine : in dieſen weltfremden Ureinſamkeiten walte das Schickſal
gar eigenartig und gewaltſam zur Erprobung der Philoſophen .
In dieſem romantiſchen Milieu alſo lernte ich zunächſt die
Forelle kennen , wie ſie der Feinſchmecker träumt , aber meiſt in
ſeinem engen Erdenthal da unten nicht kennt . Mandelſüß das
Fleiſch , mit einer Blume der Hummerſchere , und goldig ziegel¬
rot von Farbe . Es war die Bergforelle in ihrer kühnſten
Entfaltung , der Fiſch , der aus dem großen unſichtbaren See
tief da unten , von dem die Wolkenpilze durch den Thalſchrund
zu mir dampften , ſich verſtiegen hatte in Adlers- und Lämmer¬
geierhöhen , zu Teichen , in deren Blau die Alpenroſe rote
Reflexe zeugt und aus denen die Gemſe trinkt . Vor meinen
Gedanken tauchte dann an dieſem Ort zum Träumen aber das
ganze Wundervolk dieſer forellen- und lachsartigen Fiſche auf ,
das dem Zoologen unzählige Rätſel aufgiebt , zu deren Löſung
er den Erdenglobus wälzen möchte wie ein Buch .....
Dieſe Forellen ſelbſt haben noch eine gleichſam ſimple
Liebesgeſchichte. Nah verwandt jener alten Stichlingshiſtoria ,
wenn ſchon nicht ganz ſo epigrammatiſch . Aber gerade in
ihrer Nähe rührt es ſich ſchon zu jener Wende , die ich meine .
Im kleinen Silberbächlein oder im blauen Bergſee , wo
die Forellen hauſen , braucht es keine wüſte Liebeskirmeß wie
in der Heringsbucht . Alles vollzieht ſich feiner , intimer hier .
Jedes einzelne Forellenbräutchen ſondert ſich von den anderen ,
wenn ihm der Rogen im zierlichen Leiblein ſchwillt . Wohl
folgen ihm meiſt mehrere männliche Werber . Aber es begünſtigt
nur einen , den älteſten wohl und ernſthafteſten , deſſen echte
Abſichten ihm eine gewiſſe lebhaftere Körperfarbe andeutet , —
gleichſam den Liebhaber mit den liebesroteſten Backen . Viele
Köche , zumal junge , weiß es , verderben den Brei . Herrſcht
doch hier wie vielfach bei Fiſchen , der böſe Brauch , daß noch
unreife Männchen mit Liebhaberei die abgelegten Eier verſpeiſen ,
anſtatt ſie zu beſamen . Freſſen contra Liebe — das alte
Lied ! Iſt ſich die Forellenmaid aber eines Gewiſſenhaften im
Gefolge ſicher , der zugleich ſtark genug iſt , das faule Volk
fortzutreiben , wenn der kritiſche Punkt kommt , ſo geht ſie flugs
ans Werk zum Zweck . Mit dem netten gefleckten Schwänzchen
fächelt ſie im weichen Grundſande eine kleine Vertiefung aus .
Da hinein läßt ſie Eier fallen und räumt , ſo bald es geſchehen ,
wieder den Platz . Alsbald nimmt ihn der Bräutigam ein
und wirft ſeine Samenpollutionen auf die Eier . Dann
ſchwänzeln beide noch ſo lange daran herum , bis der Sand
die kleine Liebesfracht loſe wieder bedeckt hat , — und das
Werk iſt für diesmal vollendet . Weitere Elternſorge um die
Jungen findet nicht ſtatt , die Kleinen kommen ſchon , wenn
ihre Zeit da iſt , von ſelbſt aus dem Sande hoch . Ganz
ſchlicht alles noch . Noch iſt das äußere Waſſer das Feld der
Miſchliebe . Freilich nicht mehr ſchrankenlos .
Jene kleine Grube im Sandboden , die das Weiblein her¬
ſtellt , iſt ja eine Art äußerlicher Gebärmutter . Wie der Ei¬
leiter im Menſchenleibe die Weibeseier in die echte Gebärmutter
entläßt , ſo die Forelle ihren Rogen in die äußere Grube . Und
wie der Menſchenmann ſeinen Samen in der Richtung auf dieſe
Gebärmutter an ergießt , ſo der Forellenmann in jene Grube .
Selbſt darin wird die Grube zur Gebärmutter , daß ſich in ihr ,
wie dort das Menſchenkind , wohlumhegt hier die Jungen ent¬
wickeln . Ein einziger Schritt weiter : und die Grube im Teich¬
ſande wird nicht mehr äußerlich hergeſtellt , ſondern legt ſich
als körperliches Organ an . Sie wird zu einer Grube im Leibe
des Weibchens . Zu dieſer Grube ſteigen vom Eierſtock innerlich
die Eier herab . Und in dieſe Grube wirft das Männchen von
außen ſeinen Samen . Und das Kind reift weiterhin in ihr .
Du haſt monatliche Ei-Wanderung , echte Begattung , eine in der
Gebärmutter reifende Frucht . Das wäre : aus dem Fiſch der
Menſch . Aber wie viel Stationen lagen da noch dazwiſchen .
Wie viel Ringen des Tieres , das Menſch werden wollte . Von
der Grube im Teichſand zu der Grube im Weibesinnern , —
das war der Weg . Aber wie ?
Recke die liebe kleine Forelle aus zur Länge eines Meters .
Laß ſie ſchwer werden bis zu ſechzehn Kilo . Und du haſt
den Lachs . Unſere Dichter wiſſen wenig von Zoologie . Sonſt
wäre nicht zu begreifen , daß nicht längſt einer das Epos vom
Lachs gedichtet hat . Eine Odyſſee aus dem Fiſchleben . Und
dazu eine Liebes-Odyſſee , deren Leiterin Aphrodite die Liebes¬
nackte iſt und nicht die ſtreng gepanzerte Pallas Athene .
Das Epos hat einen Vorgeſang , ein Schickſalsmärchen
aus Urtagen , das gleichſam den Geheimſchlüſſel aller Ver¬
zauberungen giebt .
In einem ſchönen kühlen Meer lebten voreinſt Forellen¬
fiſche . Sie hatten Nahrung im Überfluß und fraßen ſich zu
Rieſen heran , zu Lachſen . Aber wenn ihre Liebeszeit kam ,
ging 's ihnen wie den Heringen . Sie ſuchten ſtille , ſeichte Ufer¬
ſtellen , wo die Liebenden ſich haſchen und finden mochten und
das Weib ſeine Sandgrube nach Forellenart höhlen konnte .
Zu dieſem Liebesſpiel wie zum Gedeihen der Jungen war hier
ganz anders gut der Ort als draußen auf der wilden See .
Einmal am Rande ſo eines Landes angelangt , boten ſich den
Suchenden aber noch viel geſchütztere Schlupfwinkel dar als
bloß landgedeckte ſeichte Buchten . Von dem Lande herab rannen
luſtige kryſtallhelle Wäſſerlein , kleine Flußadern , die durch grüne
Wieſen daherkamen . Sie führten allerdings Süßwaſſer , und
die leckere Tafel der Seekrebſe , Heringe und ſo weiter , die den
Lachſen in ihrem Ozean ſo üppig gedeckt ſtand , hörte hier auf .
Aber was verſchlug's , für die ſonſt ſo heiter bewegte Liebes¬
zeit etwas zu hungern !
Die Hochzeiter gingen alſo tief in die Waſſeradern hinein ,
ſchaufelten dort ihre Liebesgruben und freuten ſich des unge¬
ſtörten Glücks . Nachher ins Salzelement zurückgekehrt , holten
ſie dann raſch an der Futterkrippe nach , was ſie dort entbehrt ,
und mäſteten ſich zur nächſten Liebesfreite . Die Jungen aber
krochen im Süßwaſſer zunächſt aus , lebten dort von dem kleinen
Geziefer , ſo gut es ging , und kamen langſam mit dem Flüßlein
abwärts treibend ſchließlich doch auch in den Ozean zu ihren
Alten und deren beſſerem Mittagstiſch .
So ging das lange Zeit , als könnte es nie anders
werden . Gewiſſe Stellen der Flüſſe , die beſonders hübſch ge¬
ſchützt lagen und alle Vorteile vereint boten , wurden Jahr¬
tauſende lang immer und immer wieder bevorzugt , und ſchlie߬
lich wußte das neue Liebesvolk jedesmal gar nicht mehr
anders , als daß man ausſchließlich da und da , an dem und
dem beſtimmten Fleck , liebe und ſeine Grube grabe . Jeder
Stamm hatte da ſeine beſondere Tradition , die unverbrüchlich
in den kleinen Lachsgehirnen von Generation zu Generation
feſt ſtand wie irgend ein Gewiſſensgeſetz und Moralkodex bei
einem Menſchenſtamm .
Aber was die Menſchen ſo oft haben erfahren müſſen ,
das blieb auch dieſem treuen Fiſchvolk nicht erſpart . Wir
ſtellen ewige Moraltafeln auf und die Natur , die ewig wan¬
delnde , zieht uns eines Tages lächelnd den Boden darunter
fort ; der Baum , in deſſen Zweigen Gottes Gebot rauſchen
ſoll , wird eines Jahres morſch und purzelt um ; der Stern ,
den unſer Stamm ſich zum Wahrzeichen gewählt , bleibt eines
Abends aus , weil es da hinten irgendwo an der Milchſtraße
kosmiſchen Krach gegeben hat ; und von dem Hügel , da du
anbeten ſollteſt , ſchwemmt nach Jahrtauſenden ein Regentröpfchen
das letzte Quarzkörnlein fort . Die Lachſe erlebten , daß das
Ufer immer mehr verſandete , das Meer beſtändig zurückwich
und der Lauf ihres geliebten Fluſſes ſich ſtreckte und ſtreckte
zwiſchen dem Ozean , wo die leckere Krebstafel den Schlemmern
winkte , und dem geſchützten Flußſtellchen tief in den Wieſen
da drinnen , wo man hungerte , aber dafür liebte . Was thun ?
Man ſchwamm eben das eingeſchobene Flußſtück mehr ab ,
hungerte etwas länger , liebte etwas ſtrapaziöſer . Aber ſchlie߬
lich eroberte die alte Moral das geologiſche Hemmnis , — wie
ſo mancher Menſchenglaube ſchließlich ſich auch mit einem
neuen Gottesbaum und einem zwei Kilometer vom alten Heils¬
ort entfernten anderen Gotteshügel beruhigt hat .
Aber ein neues Hemmnis . Jetzt fing auch noch gerade
in der Gegend , wo tief und tiefer im Lande die alten
Aphroditeheiligtümer der Lachſe lagen , der Boden an , ſich nach
oben zu erheben . Das Flachland reckte ſich zum Hügel , die
ſanften Hügelein zum wilden Gebirge mit Eiszinken . Die
Flüſſe im Wieſenplan wurden Gebirgsbäche , die allmählich in
reißendem Stoß , ja mit Waſſerfällen zu Thal rauſchten .
Aber ſo ein zäher Traditions-Lachs kam mit ſeiner Liebe zum
Hergebrachten auch noch über dieſe weitere Geologie . Er
gewöhnte ſich an kühne Schwimmtouren bergauf . Und wo ihm
keine allzu großen Waſſerſtürze entgegen rauſchten , da machte
er ſich , wohl genährt , wie er von der See heraufkam , und
nervenſtraff , wie er in ſeinem noch ungeſchwächten Liebes¬
verlangen war , zum Gymnaſtiker . Er ſchnellte ſich empor , ſprang
von Stufe zu Stufe die Stromſchnellen hinauf — und trium¬
phierte . Denn der alte Liebesfleck ſelber lag dafür da oben
im Gebirge jetzt geſchützter als je und lohnte reichlich alle
Beſchwerde des Kletterſchwimmens .
Man darf vom Vater Homer nicht zu viel verlangen ,
auch wenn er als Zoologe kommt . Es iſt heute noch nicht
möglich , dieſe Lachsgeſchichte in eine beſtimmte geologiſche
Epoche mit genauem Namen einzuordnen , — wie denn über¬
haupt noch manches einzelne dabei zu fragen bleibt . Aber im
groben Umriß muß irgendwann einmal etwas der Art ſich zu¬
getragen haben , denn ſonſt iſt das Myſterium der Lachsliebe
von heute ſchlechterdings unbegreiflich .
Der liebesreife Lachs führt Jahr aus Jahr ein ein geo¬
graphiſch geradezu ungeheuerliches Doppelleben . Heute findeſt
du ihn beiſpielsweiſe als faulen Geſellen , der Seekrebſe und
Heringe frißt , jenſeits der Rheinmündung im Salzwaſſer der
Nordſee . Und etwas ſpäter begegneſt du genau demſelben
Exemplar hoch oben in der Gotthardgruppe der Schneealpen ,
wie es als wahrhafter Akrobat in der wild ſchäumenden Reuß
von Klippe zu Klippe aufwärts ſpringt , — dreizehnhundert
Meter über dem Spiegel jener Nordſee . Jener erſte Lachs iſt
eben der „ Freßlachs “ , — und dieſer letztere dasſelbe Indivi¬
duum in ſeiner Eigenſchaft als „ Liebeslachs . “ Du haſt eine neue
Variante zu dem Thema „ Freſſen und Lieben “ . Hier mit
ſchönſter Arbeitsteilung , — nach dem Muſter : wer liebt , wird
von der Liebe allein ſatt . Aber der Liebeslachs iſt in dieſem
Falle zugleich der Akrobatenlachs , der Lachsgymnaſtiker . Der
Faden des Epos iſt nun folgender . Bleiben wir als Beiſpiel
bei den Rheinlachſen .
Die offene Nordſee rauſcht draußen jenſeits der Rhein¬
mündung . Da ſchwimmen Lachſe , Männlein wie Weiblein .
Jeder hauſt für ſich und frißt , frißt unaufhörlich , bis ſein
Ränzchen ſo gemäſtet iſt , daß in dem Zellenſtaat ſeines Leibes
jene tiefſinnige Überproduktion entſteht , die ſich in Abſpaltung
von Eizellen und Samenzellen , Rogen und Milch , zu erkennen
giebt . Auf einmal kommt ein neuer Beruf über Herrn und
Frau Lachs . Sie ſammeln ſich zu Scharen von einem halben
hundert Stück . Das Freſſen wird ihnen Nebenſache . Sie er¬
ſcheinen mit der Flut an der Flußmündung . Ein Trinkproblem
beſchäftigt ſie zunächſt ganz . In langſamer Schulung gewöhnen
ſie ſich ans Süßwaſſer . Eines Tages ſcheint die Sache glück¬
lich wieder angelernt und jetzt beginnt eine geheimnisvoll feier¬
liche Auffahrt . Aufzug der Graalsritter . Zuerſt die Rogener ,
alſo die trefflichen Jungfrauen , ſteigen in den Fluß . Sehr
gemeſſen , wie ein Pilgerzug nach uraltem Brauch . Es liegt
eine komiſche Gravität über all dieſen Fiſchen , die ſteife Weihe
einer Brüderſchaft aus antediluvialer Zeit , deren Moralkodex
mit ungeheurer Verachtung auf die paar tauſend Jahre menſch¬
licher Sittenlehren herabblickt . Eine alte dicke Pilgerin ſchwimmt
voran und der Reſt geht zweizeilig in Keilarmen , wie die
Wildgänſe , hinterdrein . Erſt ſpäter kommen in gleichem Zere¬
moniell die Ritter , die Milchner .
In unabläſſig geradem Tempo geht es rheinaufwärts .
An den holländiſchen Lehmufern lang , am heiligen Köln mit
ſeinen hundert Bimmelglocken und Heiligenknochen vorbei , im
Bogen um Nonnenwerth , durch das gelbgrün geſtreifte Spiegel¬
bild der Weinberge , eng gedrängt um den Mäuſeturm . Überall
Verluſte . Hier wird im wilden Anſturm ein Netz geſprengt .
Aber dort hält eins aus . Grimme Läſtrygonen fiſchen von
oben her nach den Genoſſen des Dulders Odyſſeus . Es
giebt da oben nicht bloß Heiligkeit . Der Lachs hungert im
Süßwaſſer um der Liebe willen . Aber der böſe Menſch
hungert nach dem köſtlichen Lachsfleiſch , das jetzt gerade , bei
dieſen aufwärts ſchwimmenden Pilgern , die ganze Maſt des
Meeres mitbringt und das königliche Rot zeigt , dieſes Rot
eines alten Bücherſchnittes , wenn der rieſige Leib zerteilt liegt .
Ein koſtbares Buch , gut zu leſen in ſtillem Kloſterſtübli bei
goldenem Rheinwein in grünen Römern .....
Aber die Glücklichen entrinnen auch dem . Sie drängen
ſich zwiſchen den flachen Weideninſeln das mittleren Stromes
durch . Unter der alten Baſeler Brücke mit dem bunten
Harlekinstürmchen geht 's durch ein tiefgrünes Waſſerthor ins
Schweizerland . Fern die weißen Alpen wie Zuckerhütchen
am Horizont . Aber ein letzter Anſturm . Gegen den Boden¬
ſee hemmt ein zu gewaltiger Waſſerfall , der Schaffhauſener .
Der geht über die Kraft . Wohl ſpringen Pilgerin und
Pilgersmann mit all ihrer ſüßen Liebesfracht vor kleinerem
Hemmnis wie die geſchulten Cirkusfiſche . Den Schwanz gegen
einen Stein aufgeſtützt — und ritſch empor , — ſechs Meter
Bogen und drei Meter hoch , wie die Würmer eines Limburger
Käſes , die den Tellerrand nehmen , im großen , — und da
ſind wir . Geht 's nicht über Schaffhauſen weiter , dann ſüd¬
wärts die Aar und Limmat . Vorüber am alten Zürich mit
ſeinen ſtarren Kirchen und ſeinen verträumten Schwänen ,
durch den langen blauen Züricherſee um Hutten-Ufenau im
melancholiſchen Mondenſchimmer , in den tiefen , böſen , menſchen¬
freſſenden , grünen , grünen Walenſee , — und bis zum oberſten
Rhein . Oder unter der braunen , bilderbunten Holzbrücke von
Luzern dahin , quer durch das goldgrüne Feigenblatt des Vier¬
waldſtätter Sees , bei den klaſſiſchen Tellſtätten vorüber und
endlich kletternd von Strudel zu Strudel die kochende weiße
Reuß hinan bis zu den erſten blutroten Alpenroſenſträußchen
am granitenen Hochgebirgsbuſen . Die uralten Liebesſtätten ſind
hier oben . Älter vielleicht als die Hebung dieſer Alpenrieſen .
Älter jedenfalls als die ungeheure Abſenkung des Rheinſtroms
ins endlos zurückgeflohene Meer .
Und jetzt endlich , bei den Urväter-Penaten , kommt das
Liebeswerk , — der Lohn dieſer ganzen Kreuzfahrt durch halb
Europa .
Dem ausgewachſenen , voll reifen Lachsritter ſchwillt auch
wieder einmal ſo zu ſagen der Kamm vor Liebesluſt , ſein Bauch
wird glutrot und auf dem Kopf fließen die gewöhnlichen roten
Flecken zu Purpurzacken zuſammen . Alsbald ſind Ritter und
Dame genau wie bei den Forellen einig , um die Liebesgrube
zu graben . Die Dame gräbt ſie im Sande aus , der Ritter
wacht . Sind die erſten Eier gelegt , ſo beſamt er ſie , alles auch
hier nach Forellenart . Zwar wird von manchem luſtigen Inter¬
mezzo gemeldet , daß einem Nibelungen-Epiker endloſen Stoff
böte . Es giebt da Scherze ganz ähnlich wie bei den Hirſchen .
Junges liebesgrünes , aber ſchon liebestolles Mannesvolk ſchlägt
ſich wohl herzu , während alles im ernſthafteſten Gange iſt .
Mit ritterlichem Zorn ſtürzt ſich der ſtattliche Herr im Recht
auf jeden Zudringlichen . Aber derweil er die Ehre der ehe¬
lichen Sandgrube gegen einen Böſen verteidigt , legt das Weib
ſtill ſeine Eier weiter und wehrt gelegentlich dabei einem
anderen jungen Don Juan durchaus nicht , wenn er die Hitze
des Gefechts da drüben ſchlau zu benutzen und die gerade
herrenloſe Eierſchicht mit einem Hausfreundsſegen zu bedenken
weiß . Iſt es wirklich dahin gekommen , ſo ſchwänzelt vielmehr
die Friedliche auch über dieſe Fracht raſch ein paar ſchützende
Sandkörnlein und geht weiter im Text . Nur wenn ihr der
eigentliche treue Galan im Hochzeitsrock ganz verdrängt oder
irgendwie genommen wird , wird ſie ſelber unwirſch , kümmert
ſich nicht um die jungen Herrn und holt ſich ein neues
älteres und erfahreneres Verhältnis . Die Eier geben ſpäter
Junge , ohne daß die Alten noch zu ſorgen haben . Wie die
Alten ſelbſt , kehren dieſe Jungen zur rechten Zeit ins Meer
zurück , freſſen ſich dort rund und beginnen das alte Spiel ,
die alte Pilgerfahrt neu .
Unendliche Komik liegt über dieſer Liebeskomödie der
Lachſe , vor allem dieſem Kampf — noch nicht um des
Weibes Leib , ſondern um die Grube im Sand , die einſtweilen
die Scheide und Gebärmutter der Lächſin ſymboliſch-äußerlich
verkörpert . Wie altfränkiſche Ritter im Tournier bloß um ein
Kränzlein vom Haupt der Geliebten fechten , das mitten im
Plan liegt , während die Geliebte ſelber hoch auf dem Altan ,
unnahbar für alle , ſitzt !
Und doch : wie nahe liegt es gerade vor ſolcher Sachlage ,
daß der Akt ſelber noch viel intimer wird !
Wie nahe lag es , daß dieſer Lachsritter , Gymnaſtiker
ohne gleichen , wie er war , der Waſſerfälle überſprungen hatte ,
— daß er ſich nicht mehr begnügte , nach dem Weibe die Grube
einzunehmen , — — ſondern daß er eine noch weit zärtlichere
Stellung ſuchte und Gewicht darauf legte , im Moment des
Eieraustritts auf alle Fälle immer dabei zu ſein und ſein
Teil zu der Sache zu geben in dem gleichen Moment , da von
dort das Nötige kam , — daß der Akt alſo vertieft wurde
zu einem engen Aneinanderdrängen der Leiber über der
Grube .
Ein drittes Volk forellenartiger Fiſche macht dir auch
dieſen Schritt wunderhübſch vor . Die Blaufelchen lieben in
der That ſchon in ſolcher Weiſe intim . Vor langen Jahren
ſchon hat Karl Vogt ihnen zugeſehen . Es war im Neuen¬
burger See . Winterszeit . Mondſchein . Da kamen die Blau¬
felchen an , kleine Lachſe von fünfundſiebzig und weniger
Zentimeter . Große Scharen . Aber aus der Maſſe einte ſich
je ein Paar . Und war ſolch ein Paar wirklich einig , dann
kam es jäh heraufgeſchoſſen aus dem mondbeglänzten Spiegel ,
zwei ringende Silberſtreifen . Bauch ſtand gegen Bauch .
Meterhoch übers Waſſer , in die kalte Winterluft hinein blitzte
der Sprung . Und während dieſes Sprunges ſpritzte aus des
Ritters Leib die Milch , aus der Dame Leib der Rogen ab .
Kein Sprung zur Überwindung eines Waſſerfalles . Sondern
ein Hochſprung in die Liebe hinein . Die Gaben dieſer Liebe
aber dabei ſelber entſtrömend wie ein Waſſerfall . Der Triumph
der Gymnaſtik , — auf Wanderungen erworben , zum Liebes¬
ſpiel ſelber jetzt bewährt . Denke dir ſolchen Hochzeitsſprung
über der Neſtgrube , die das befruchtete Ei aufnehmen ſoll , —
und du biſt abermals ein ganzes Stück weiter . Ein Stück
weiter auf der Bahn zu dir .
Laß deinen Blick einmal wieder fliegen , weit fort vom
alten Fiſchſee , tief ins Menſchentreiben von heute hinein .
Tanzmuſik . Luſtige Paare ſchwingen ſich loſe verſchränkt im
Reigen dahin . Männlein und Weiblein . Heiße Backen , heiße
Augen . Aber ſonſt nur ein naives , treues Spiel , harmlos ,
geweiht durch den Rhythmus der Muſik und ganz herauf ge¬
hoben ſcheinbar durch ihn in ein höheres , vergeiſtigteres Stock¬
werk des Menſchentums .
Und doch , wie das Auge des Philoſophen dieſe hübſchen
Tänzerpaare durchdringt , durchſinkt gleichſam , — auch hier
uralte Anklänge . Anklänge erotiſcher Art . Vom Erotiſchen
der Muſik wird ja noch beſonders zwiſchen uns zu reden ſein .
Hier meine ich nur die körperliche Stellung jetzt .
In dieſem halben Umſchlingen bloß mit den Armen ,
wobei Leib zu Leib ſich nur ganz loſe ſchwebend hält und
doch die Annäherung ſo ſtark iſt , daß die warme Athemwelle
der einen jungen Menſchenbruſt die der anderen ſtreift , — in
dieſem Tanz-Individuum der beiden taucht noch einmal etwas
von der einfachſten , urſprünglichſten Liebesſtellung des Wirbel¬
tiers auf . Dieſe Arme , die ſich bei Hand und Hüfte halten ,
ſind die alten Bruſtfloſſen des Fiſchleins im See , mit denen
die zwei Schuppenleiber ſich loſe zueinander balancierten .
Dieſe Beine , die ſich tanzend von der Erde hochheben , ſind
die alten Meluſinenſchwänzlein der ſpringenden Lachſe im
Liebesſprung . Wenn mit dem Atem des lieben Mädchens
dort jetzt ein Eilein ausflöge , unmerkbar klein verloren unter
den goldenen Stäubchen , die ſonſt der Tanz ſelber wirbelnd
erregt ; und wenn mit dem Atem zugleich des Tänzers ganz
unſichtbare Elfchen von Samentierchen dahin flatterten ; und
dieſe Atemzüge kreuzend dieſes geheime Leben einten , daß ein
befruchtetes Ei zum Boden ſänke ; und dieſer Parkettboden
da unten die gute Liebesgrube im Sande wäre , aus der dieſer
Lebenskeim wirklich aufblühen ſoll ..... das alte Bild der
Forellenliebe wäre ganz noch einmal zurückgebracht .
So weit geht 's nun freilich nicht . Ja der ganze Tanz
hat ſich in unſerm heutigen Kulturleben unverkennbar einem
jener höchſt ſeltſamen Grenzprodukte angenähert , wie der Kuß
15
auch eins darſtellt . Wie über dieſem Kuß , ſo ſchwebt auch
über ihm eine Art äußerſten Engelsideals , eine letzte Ablöſung
ganz in höhere Harmonieakte der reinen blütenweißen Diſtance¬
liebe fern ab von aller blutroten Miſchliebe . Aber in hohem
Grade intereſſant iſt , wie nun gerade in ihm die Reſte und
Reminiscenzen der urſprünglich auch hier herrſchenden Miſch¬
liebe in wahren Foſſilformen auftreten , als Verſteinerungen
urälteſter Stationen der Begattungsentwickelung . Schwänzelnde
Fiſchlein im See , die ohne ſpezifiſches Gewicht in ihrem Waſſer
ſich luſtig mit einem graziöſen Ruderſchlag der Schwanzfloſſe
zu einander treiben , ſich tändelnd halten und wohl gar noch
über das Waſſer zuſammen hoch hinausſpringen , — das iſt
der Urpunkt , der Urbrennpunkt auch deiner Tanzſtellung noch
im eleganteſten Salon . Bloß daß dieſe Fiſche dabei noch ein
Stück weiter gingen im realen Sinne des Ganzen ....
Drei Wege tauchen auf zwiſchen einem Fiſch , der nach
Blaufelchenart liebt , und dir , wenn du nicht bloß tanzen ,
ſondern deinen heiligen Akt in ganzer Größe vollziehen ſollſt .
Drei weitere Stationen .
Drei Lichtſtrahlen kannſt du auch ſagen , die vom Ge¬
ſchlechtsleben aus in deine Fiſch-Menſchwerdung fallen .
Die erſte Station war , daß nicht mehr bloß Leib zu
Leib parallel eingeſtellt wurde in einer Tänzerſtellung .
Sondern daß an dieſen beiden Liebesleibern die Stellen un¬
mittelbar aufeinander gepreßt wurden , an denen die Milch und
der Rogen vordrängten . Indem innerhalb dieſes Verſchluſſes
Milch und Rogen ſich miſchten , alſo der wahre Miſchakt
zwiſchen Samenzelle und Eizelle ſich vollzog , geriet die äußere
Liebesgrube im Sande in das Liebes-Individuum ſelber
hinein .
Jene beiden Stellen waren aber zwei beſondere Leibes¬
öffnungen , zwei Pforten der Körper , durch die der Rogen und
die Milch aus dem Innern jener Körper herausgelangen .
Der Verſchluß war alſo eigentlich ein Aufeinanderdrücken
zweier Öffnungen . Und ſo mußte für dieſe Station die Frage
nach Art und Lage gerade dieſer Öffnungen , dieſer Leibeslöcher
oder Pforten , entſcheidende Bedeutung gewinnen . Das Weſen
dieſer Station wäre alſo grob etwa zu bezeichnen als die Loch¬
frage oder Thürfrage .
Aus dieſer Problemſtellung jetzt ergaben ſich aber die
beiden weiteren Stationen mit zwingender Logik als Folgerung .
Ein noch vertiefteres Stellungsproblem . Und ein ſeeliſches
Hilfsproblem .
Das vertieftere gymnaſtiſche Problem beſtand darin ,
daß das Aufeinanderpreſſen der beiden Leibeslöcher immer
raffinierter umgeſtaltet wurde . Es wurde ein wahres Inein¬
anderwurzeln der Hälften verſucht . Der eine Lochrand ent¬
wickelte buchſtäblich eine Hand , um ſich in den anderen einzu¬
klammern , ein Glied , das ſchließlich röhrenartig eingepreßt
wurde . Eine wahre Liebesſchraube enſtand , mit der die großen
Körper ſich an dieſer Stelle für die Dauer des Aktes regel¬
recht aneinander ſchraubten . Dieſes Problem kann alſo als das
Problem des Begattungsgliedes oder kurzweg als die Glied¬
frage bezeichnet werden .
Das ſeeliſche Hilfsproblem aber gipfelte darin , daß die
beiden Liebeshälften durch einen ganz beſtimmten Nervenreiz
gedrängt wurden , ihre Geſchlechtslöcher überhaupt zu einander
zu drücken und , ſpäter , auch jenes Scharnier ſo feſt wie
möglich einzuſchrauben . Dieſer Nervenreiz , der ſich ausdrück¬
lich an den Lochrändern feſtſetzte , iſt nichts anderes als die
Wolluſt . So erhältſt du als Inbegriff der dritten Station
eine Luſtfrage .
Jede dieſer drei Fragen umſchließt indeſſen nun im
engeren wieder ihren wahren Rattenkönig geſchichtlicher Ver¬
15*
wickelungen . Jede hat ihren ſpannenden Roman auf der
hiſtoriſchen Linie zwiſchen Fiſch und Menſch . Davon laß uns
dann alſo jetzt Etzliches weiter reden .
Ich beginne mit der Thürfrage , — allein einer Hiſtorie ,
die an Kühnheit der Um- und Um-Wurſtelung durch das
prachtvoll aufwärtsringende , zugleich aber in tauſend alte
Traditionsſchranken eingeengte Entwickelungsprinzip ihres¬
gleichen ſucht . Es ſoll dir nicht bange werden : der Menſch
kommt doch heraus . Und zwar der echte , unverfälſchte Menſch
„ Du “ . Der ſo iſt , wie er iſt , nicht „ quia absurdum “ , ſondern
eben weil er in ſeinem Aufwärtsſchwimmen ganz beſtimmte
Bedingungen in ſich trug , weil er „ determiniert “ war in ſich
ſelbſt , — Bedingungen , die eben zugleich ſein eigenſtes Weſen
ausmachten . Dieſe Bedingungen ermöglichten ihm wohl , vor¬
wärts zu ſchreiten , weil in ihnen ſelber ein Motiv war , das
unaufhaltſam bergan ſteigerte . Aber ſie gaben ihm niemals
eine Kraft , die eigene Geſchichte , die eigene Vergangenheit
als Prinz vom Himmel hinter ſich abzuſchneiden . Hätte er
ſie je abgeſchnitten : ſo war ſeine Zukunftsentwickelung augen¬
blicklich mit tot und er ſtürzte vorwärts ins Nichts , weil das
Nichts plötzlich hinter ihm war .
Alſo zur Thürfrage .
„ Ehe wir hierher gekommen ,
Haben wir's zu Sinn genommen ,
Schweſtern , Brüder , jetzt geſchwind !
Heut' bedarf's der kleinſten Reiſe ,
Zum vollgültigſten Beweiſe ,
Daß wir mehr als Fiſche ſind . “
Goethe ( Aus der klaſſiſchen Walpurgisnacht . )
D ie Thürfrage beim Begattungsakt löſt dir gleich wieder
eine „ Abſurdität “ reinlich auf . Sie giebt dir nämlich einen
Schlüſſel dafür , warum in deinem hochbelobten Menſchenleibe
von heute zwei ſo grundverſchiedene Dinge wie der dreckige
Urin und die ehrwürdig köſtlichen Zeugungsſtoffe bei ihrer
Ausfahrt aus dem tiefen Purpurſchachte dieſelbe Pforte benutzen .
Du weißt , wir haben ſchon einmal von den Thürverhält¬
niſſen deines Körpers geſprochen . Ich laſſe dabei die „ Fenſter “
beiſeite , die ich nicht als rechte Thüren rechne , alſo Augen
und Ohren . Dann hatten wir zunächſt bei dir in deinen ur¬
alten tieriſchen Ahnenformen nur ein regelrechtes Leibesthor :
das war der Mund . Du erinnerſt dich : du warſt einmal
ganz auf der Schwelle deiner Tierwerdung ein roher Zellen¬
klumpen , eine Art hohler Blaſe aus gleichartigen Zellen . Dann
trat eine erſte klare Arbeitsteilung ein . Die eine Abteilung
der Zellen etablierte ſich als ſchützende und empfindende Haut .
Die andere als verdauender Magen . Das Tier dieſer Stufe
nahm die Geſtalt eines Bechers an ſtatt der Blaſe , es hatte
außen eine Haut und innen eine Magenwand und oben ließ
dieſe Haut ein Loch : einen Mund , durch den die nötige Nahrung
in den Magen hineingelangen konnte . Aus dieſem becherförmigen
Geſchöpf jetzt wurde durch mancherlei Umwandlungen eine dritte
Form , deren Grundriß nicht mehr die Blaſe ohne Loch und
auch nicht mehr der Becher mit einem Mundloch , ſondern der
geſtreckte Schlauch war , der ſowohl vorne wie hinten ein Loch
hatte , — vorne einen Mund und hinten einen After . Erſt
jenſeits dieſer doppelt durchlochten Schlauchform beginnt die
Stufe des Fiſches , bei der wir eben Halt gemacht haben .
Nun haben wir oben bei Betrachtung dieſer Lochver¬
hältniſſe immer nur vom Freſſen und Verdauen gehandelt ,
garnichts aber danach gefragt , wie und wo denn nun bei
beſagten Blaſen , Bechern und Schläuchen deiner vorfiſchlichen
Ahnenſchaft die Geſchlechtsſtoffe , Samen und Eilein , angeſetzt
und aus dem Leibe heraus verfrachtet wurden .
Bei der ganz anfänglich lochloſen Blaſe iſt die Geſchichte
ſchlechterdings ſelbſtverſtändlich . Wenn aus dem Verbande
ſolcher Zellenblaſe ſich einzelne Zellen als Samenzellen und
Eizellen ablöſen und frei ins Waſſer hineinplumpſen ſollten ,
ſo kann das nicht nach innen , in den geſchloſſenen , thürloſen
Blaſenhohlraum hinein geſchehen ſein , ſondern es erfolgte von
der Blaſenhaut her nach außen . Von der Haut ſchilferten ſich
einfach jene Wanderzellchen , die zu neuen Koloniegründungen
auszogen , herunter , wie dir da und dort ein Nagelwurzelchen
oder Hautpickelchen gelegentlich abblättert . Und wenn du dir
zwei ſolcher ſchlichteſten Zellblaſen ſchon zu einem wahren Be¬
gattungsakt gleich jenen tanzenden Blaufelchen aneinander ge¬
preßt denken wollteſt , ſo ginge denn hier heiligen Ernſtes die
Zeugung vor ſich von Haut zu Haut , — beim einfachen An¬
einanderdrücken eines Tanzpaares . „ Lehn ' deine Wang' an
meine Wang ' “ ..... und ein roſiges Hautſchilferchen der
einen Wange dient als Samenzelle und zeugt mit einem Pickel¬
chen der anderen Wange regelrecht ein Kind .
Dieſe naivſte Methode „ mit der Haut zu zeugen “ hat
zweifellos lange Zeit bei deinen Urahnen ganz unbeſtritten
und unſtreitbar geherrſcht . Ich habe dir ſchon ſo oft jetzt von
dem luſtigen kleinen Süßwaſſerpolypen erzählt . Er iſt ſchon
ein Kapitel weiter . Auf die Blaſe ohne Loch ſieht er mit
Verachtung . Er hat ſchon die regelrechte Becherform mit
Haut , Magen und Mundloch . Ja ſelbſt über die in ihrer
einfachſten Urform hat er ſich um ein Weniges hinaus ſpe¬
zialiſiert . Gleichwohl : dieſer Polyp iſt noch ausgeſprochenſter
Hautliebler . Noch immer ſchilfern ſich ihm von der äußeren
Leibeshaut Samen wie Eizellen pickelhaft ab , die Liebe ſchwillt
ihm ſozuſagen in Hühneraugen heraus , die einfach zu ihrer Zeit
herunterfallen und je nachdem bald Samen , bald Eier ſind .
Indeſſen : wenig jenſeits dieſes Polypen zeigt ſich dann
doch eine Wandlung , die , wie unſchwer zu erkennen , jetzt dem
Vorhandenſein eines erſten Körperloches , des Mundes , Rechnung
trägt . Die äußere Haut iſt in der Arbeitsteilung der Zellen
ſozuſagen zum Außenfort der Leibesfeſtung geworden , ſeit¬
dem die Becherform klar erreicht iſt . Sie ſtellt den äußeren
und exponierteren Körperteil fortan dar , dient allerhand
Verteidigungs- und Orientierungszwecken , wird hart , panzerig ,
kalkig , mindeſtens borſtig , gleichſam der ruppige , mit Krethi und
Plethi ſich prügelnde Außenreſſort des kunſtvollen Geſchäfts .
Es ſcheint nicht gerade ſehr praktiſch , aus dieſer Brandmauer
fortan noch eben die zarteſten , ſchutzloſeſten und zugleich doch
köſtlichſten Gebilde der ganzen Fabrik , die Zeugungsſtoffe , zu
rekrutieren . Da iſt aber ja nun gleichzeitig die Innenhöhle des
Leibes jetzt ſehr viel brauchbarer , ſcheint's , geworden . Sie iſt
nicht mehr die hermetiſch verſchloſſene Blaſenhöhle , ſondern ein
hübſches Magenkeſſelchen mit offenem Mund . Wo die Nahrungs¬
ſtoffe hereinſpazieren , warum ſollen da nicht die Zeugungsſtoffe
ebenſo gut herausſpazieren ? Rekrutieren ſie ſich alſo aus den
Zellen der Magenwand . An Stelle der Hautliebe fortan die
Magenliebe !
In der That ſiehſt du dieſes Stadium prächtig entwickelt
bei einer großen Anzahl jener ſchönen Quallen oder Meduſen ,
deren Leibesglocke ja eigentlich nichts iſt als ein umgeſtülpter ,
ſchwimmender Polyp . Ganz folgerichtig ſondern ſich hier in
beſtimmten Winkeln des Magens die Samenzellen und Eizellen
ab und gewinnen durch den offenen Mund des Erzeugers das
Weite . Eine Begattung nach Blaufelchenart hätte hier nicht
mehr im Hühneraugenſinne , ſondern allen Ernſtes auf dem
Wege des Kuſſes zu geſchehen . Zunächſt ſtrenggenommen
noch gröber : durch Erbrechen . Der Mund des einen Liebes¬
partners eruptierte Samen , der des anderen Eier . Und die
Liebesthür wäre einfach die einzige hier vorhandene Leibesthür
mit : der Mund . Es ſcheint aber , als habe ſich die Geſchichte
früh ſchon etwas wirklich bloß Kußartigem angenähert aus
guten Gründen .
Auch das Innere des Magens erwies ſich nämlich auf
die Dauer als ein ebenſo ſchlechter Venuswinkel wie die äußere
Haut .
Je mehr und verbeſſerter dieſer Magen ſich als reiner
Freßapparat ausgeſtaltete , deſto mißlicher mußte der Aufent¬
halt in ihm für alle Dinge werden , die ſelber nicht verdaut
werden wollten . Sie gerieten in ein Gedränge von aller¬
hand eingepumptem Stoff , der auf die Verdauung hin unter¬
ſucht , hin und her gewurſtelt , mit ſcharfen Saucen übergoſſen
und ausgeſaugt wurde , — und die Gefahr war eine hoch¬
gradige , wenn nicht im Schwall erdrückt , ſo doch einfach
nolens volens mitverarbeitet zu werden . Das wäre denn
der Konflikt von Liebe und Freſſen auf ſeinem Gipfel ge¬
weſen : ein Selbſtfreſſen , Selbſtverdauen der eigenen Geſchlechts¬
ſtoffe . So etwas ging aber einfach nicht an .
Als der Magen auf der Wurmſtufe Schlauch wurde ,
alſo auch hinten eine Öffnung , einen After , bekam , wäre
das Problem , aus dem Magen zur rechten Zeit herauszu¬
kommen , ja an ſich immer bequemer geworden : die Samen¬
zellen und Eier brauchten jetzt nicht mehr auf dem Wege des
Erbrechens durch den Mund zu gehen , ſondern konnten auch
mit den Exkrementen durch den After ins Freie , und durch
eine wahre Art Afterliebe hätten ſie ſich zueinander bringen
laſſen . Indeſſen ehe das nun wieder überhaupt ſtark und
allgemein in Frage kam , ſcheinen deine wurmartigen Ahnen
ſchon ſich aus jenem Hauptgrunde energiſch gegen die ganze
Magenzeugerei überhaupt erklärt zu haben , ſo daß es zu dieſer
unmittelbaren Afterliebe vorerſt gar nicht mehr gedieh und
auch die Mundliebe ſich weſentlich abſtellte zu Gunſten einer
ganz neuen Methode .
Bei den Würmern bildet ſich nämlich im Gegenſatz zu
den Polypen , Quallen und ſo weiter zum erſtenmal etwas
im Leibe aus , das bei den einfach aus Haut und Magen be¬
ſtehenden Tieren noch ganz unbekannt iſt . Zwiſchen der äußeren
Haut und der Magenwand ſackt ſich ein Zwiſchenraum aus ,
eine neue Höhle des Leibes , die den Magen innerlich noch
einmal wie ein weiterer Leibesſchlauch umfaßt . Man nennt ſie
die Leibeshöhle und in deinem heutigen menſchlichen Leibe iſt
es noch jene Höhle , auf die du zunächſt ſtößt , wenn du deinen
Leib öffneſt . Denke dir , du ſollteſt dir nach chineſiſch-ſcheußlicher
Weiſe ſelber den Bauch aufſchlitzen . Da durchſchlitzteſt du zunächſt
die ſolide Bauchwand aus Haut und Muskeln bis auf einen
Innenraum . Du ſchnitteſt nicht gleich in den Darm ( alſo den
verlängerten Magen ) ein , ſondern erſt aus der offenen Höhle
drängten jetzt die Gedärme als in ſich noch feſt geſchloſſene
Röhre vor . Du hätteſt eben bloß die Bauchhöhle oder Leibes¬
höhle mit deinem Schnitt geöffnet , alſo den Raum , in dem
erſt Magen und Darm als beſonderer Schlauch , der gegen Mund
und After natürlich aufgeht , eingebettet liegen . Bei dem
Polypen iſt das noch nicht ſo , — da würdeſt du beim Einſchnitt
in die Haut gleich in die direkt dagegen anliegende Darmwand
mit hineinſchneiden , ohne noch zwiſchen Haut und Darm eine
beſondere Leibeshöhle anzubohren . Erſt bei den Würmern hat
ſich , wie geſagt , eine ſolche Leibeshöhle nach und nach wirklich
gebildet und von da haſt auch du ſie mitbekommen . Der Her¬
gang war dabei , mindeſtens in der zu dir gehenden Linie , wie
es ſcheint , nicht ſo ganz einfach , daß etwa bloß Haut und Darm
innerlich auseinander gerückt wären und ſo einen leeren Raum
zwiſchen ſich gelaſſen hätten . Sondern es ſcheinen ſich Zellen¬
maſſen von der Mundecke des Magens her jederſeits taſchenartig
zwiſchen Hautwand und Magenwand hineingeſchoben zu haben
wie ein hohler Handſchuhfinger , der zwiſchen zwei aufeinander¬
gelegte Servietten eindringt . Schließlich ſchloß ſich der Finger
oben wieder und lag nun ganz wie eine hohle Wurſt zwiſchen
Haut und Magen , wobei aber die inneren Wände ſeines Hohl¬
raums jetzt nicht unmittelbar von Magen und Haut , ſondern
von den eingeſtülpten neuen Zellmaſſen der Handſchuhwand mit
gebildet wurden .
Die Details des Vorganges ſtehen hier noch keineswegs
feſt und du kannſt dich damit tröſten , daß , wenn das harm¬
loſe Wörtchen „ Leibeshöhle “ heute in der Zoologie erklingt ,
die Parteien auf dich losfahren wie Spinnen auf eine Fliege :
jede wickelt dich in ein anderes Netz von Theorien , und volks¬
tümlich darzuſtellen iſt die ganze Geſchichte in ihrem eigentlichen
Umfange überhaupt noch nicht . Wenn ich ſie dir hausbacken
hier zuſchneide , ſo mußt du dir immer dabei klar bleiben , daß
du nur einen gewiſſen Annäherungswert an die Wahrheit er¬
hältſt , — wenn nur dabei ein annähernd in ſich logiſches
Bild herauskommt .
Halte alſo für dich bloß einmal an der ganz groben
Vorſtellung des Handſchuhfingers feſt , der jederſeits ſich von
der Mundecke her einſenkte und , indem die Finger verſchmolzen ,
ſchließlich einen neuen , innerlichſten Schlauch um den Magen¬
ſchlauch herum bildete : eben die bewußte Leibeshöhle . Es lag
nun wirklich nahe , daß die Stellen des Tieres , wo ſich ge¬
wohnheitsmäßig Samen oder Eier abſpalteten , ſich dieſe neu
eingeſackte Höhle gerade zu Nutzen machten . Die Cyklopen¬
höhle des verdauenden Magens , wo ihre koſtbaren Zellen
immerfort der Gefahr unterlagen , von Polyphem als einfaches
Ernährungsſchaf mitgeſchlachtet und mitgefreſſen zu werden ,
war ihnen verleidet . So hatten ſie ſich nach Kräften ſchon
nächſt dem Höhleneingange , alſo am Munde , feſtgeſetzt . Aber
auch hier war noch ein windiger Fleck .
Denke dir bloß einmal , bei dir heute ſollten die Hoden¬
ſäcke oder Eierſtöcke etwa da liegen , wo die Mandeln jeder¬
ſeits vom Schlunde ſitzen . Ich rede jetzt nicht davon , wie ſich
der eigentliche Begattungsakt ſo vollziehen ſollte , — wir halten
ja einſtweilen für den bloß erſt das Bild jener Leib zu Leib
tanzenden Blaufelchen feſt . Aber überlege , welche mit Arbeit
jeder Art überlaſtete Stelle dieſer Schlund ſo wie ſo ſchon iſt .
Hinab fließt und würgt ſich der Strom flüſſiger und feſter
Nahrung . Hinab und hinauf weht die Luft für die ebenfalls
hier einmündende atmende Lunge , noch kompliziert durch
die Rolle der Kehle als Sprachorgan . Weiter vorne im
Munde liegt in Geſtalt der Zunge ein feines chemiſches Sinnes¬
organ , das bei der Auswahl der Nahrung eine hochwichtige
Rolle ſpielt . Dann liegen aber da auch ſchon gleichſam Vor¬
poſten des Magens ſelbſt , die ſchon hier die Verdauung ein¬
leiten : die Zähne zerkleinern als gröbſte erſte Handlanger die
Nahrung , die Speicheldrüſen ſchütten die erſte löſende Sauce
darauf . Jetzt in dieſe wahrhaft ſchwindelnde Überlaſtung nun
noch die Zeugungsſtoffe ! Welche ſchier unvermeidliche Gefahr ,
daß ſie rein unwillkürlich hier zerbiſſen , vom Speichel ange¬
griffen , in den Magen mit hinabgeſchluckt anſtatt ausgeſtoßen
würden ; oder daß ſie dort ins „ falſche Hälschen “ gerieten ,
Erſtickung und höchſte Nöte der Sprachwege erzeugten . So
verwickelt wie bei dir heute war ja nun die Sachlage bei den
alten Wurmahnen noch nicht . Aber gewiſſe Gefahren wie das
Verſchlucktwerden waren zweifellos ſchon genau ſo da .
Hier war es denn wahrlich kein Wunder , daß jene neu
ſich einſackenden Höhlen zwiſchen Magenwand und Hautwand
gleichſam einen willkommenen Schlupfwinkel für den Samen-
und Eierreſſort der großen Leibesfabrik darboten .
Denke dir , die Mandeln am Halſe wären etwa eine
Zeitlang deine wirklichen Geſchlechtsteile geweſen , und dieſen
Mandeln hätte ſich nun eine Gelegenheit geboten , jederſeits bis
in die Bauchhöhle zwiſchen Darm und Außenwand des Leibes
hinabzurutſchen . Kein Zweifel , daß tief da drinnen ein ſehr
viel behaglicherer , bequemerer , weniger gefährdeter Ort zur
Ablöſung dieſer köſtlichſten , ja heiligſten Produkte des geſamten
Geſchäftsbetriebes dargeboten war . Dem Allerheiligſten des
Individuums war jederſeits neben der Cyklopenhöhle des
Magens ſo eine beſondere Kapelle reſerviert , wo ſich das höchſte
Myſterium : die Verknüpfung von Individuum und Art und
damit die eine ſichtbare Form der Unſterblichwerdung des In¬
dividuums durch die Samenzelle und Eizelle , in unnahbarer
Herrlichkeit und Heimlichkeit zugleich vollziehen konnte . Der
heilige Graal gleichſam des ganzen Organismus ſank in zwei
Niſchen oder Heiligenſchreine , wo es keinerlei Gefahr fortan
mehr gab , daß dieſes koſtbarſte Gefäß jemals zu profaner
Mahlzeit in Gebrauch genommen werden könnte .
Und die Sache wäre wirklich wunderſchön geweſen , wenn
ſie nicht einen einzigen Haken gehabt hätte .
Die Leibeshöhle hatte ſich gebildet , und tief drinnen in
dieſer Höhle zwiſchen Magenwand und Außenwand des Leibes
lagen im ſchönſten Tabernakel fortan die Stellen , wo Samen oder
Eier abgeſpalten wurden . In ihrer guten Schutzlage geſtalteten
ſie ſich allmählich zu feſten Organen aus , die zur rechten Zeit je
ihren Samen oder ihre Eier von ſich gaben . Von ſich gaben
aber jetzt — wohin ? Eier wie Samen fielen ja jetzt nicht
in den offenen Schlund , ſondern zunächſt in die rings ge¬
ſchloſſene Leibeshöhle . Es hatte zweifellos ſeinen guten Zweck
gehabt , daß die Handſchuhfinger dieſer Höhle hübſch zugewachſen
waren , damit ja die Dinge , die ſich in ihnen als intimſtes
inneres Körperleben zutragen und ausgeſtalten ſollten , von
außen nicht geſtört würden . Aber damit wären die Geſchlechts¬
ſtoffe der Gefahr ausgeliefert worden , wie Münchhauſens Schiff
in des Walfiſches Bauch geſperrt zu werden . Fröhlich iſt es
hineingefahren durch einen offenen Rachen , — plötzlich macht
das Ungeheuer aber das Maul zu und nun ſind Schiff und
Menſchen im Bauche eingekerkert . Die Samen- und Eier¬
produktion mußte verſuchen , nachdem ſie ihren heiligen Graal
glücklich im innerſten Heiligenſchrein hatte , nun doch wenigſtens
durch ein Mauſeloch wieder herauszugelangen aus dieſem Schrein ,
wenn ihre Zeit da war , ſich öffentlich zu produzieren .
Hier ergab ſich nun eigentlich ein ſehr ſimpler Weg .
Die Bauchhöhle mußte eben , ſei es nun wo es ſei , irgendwo
doch ein ganz kleines Loch wieder erhalten , gerade ſo groß ,
daß die Samen- und Eizellen hindurchflitſchen konnten .
Nimm ein Neunauge zur Hand . Du weißt , dieſe leckeren
Tierchen ſtehen deinem Stammbaum ſehr nahe und zeigen dir im
Umriß wenigſtens noch die Stelle , wo deine Ahnen ſtanden , als
ſie zuerſt ſich einen Schädel um ihr kleines Gehirnchen bildeten .
Beim Neunauge alſo iſt die Sache wirklich ſo . Samen und
Eier bilden ſich offen im Hohlraume des Leibes zwiſchen Darm¬
wand und Körperdecke . Sind ſie reif , ſo fallen ſie in die
Bauchhöhle und nun gilt's herauszukommen . Es verhilft aber
dazu ein einfaches Loch der Körperwand , das ſich hinter dem
After aufthut , — ein wahres und echteſtes Geſchlechtsloch , be¬
ſonders vorhanden eben für den Geſchlechtszweck . Und das
wäre dann ſozuſagen das Urbild , der Urtypus der weiteren
Löſung des Thürproblems : eine beſondere Geſchlechtsthür am
Bauch , die mit Mund ſo wenig wie mit After etwas zu thun
hat . Du findeſt dieſes Urbild auch noch bei einzelnen höheren
Fiſchen ebenſo klar entwickelt .
Sehr leicht läßt ſich von hier dann noch ein kleiner , aber
wichtiger Fortſchritt in gerader Linie denken . Die Geſchlechts¬
pforte brauchte garnicht die ganze Leibeshöhle nachträglich
wieder anzubohren . Die Geſchlechtsorgane im Leibesinneren
konnten allein eine Röhre bilden , deren Spitze irgendwo die
Bauchwand bloß für ſich durchbohrte . Statt in die Leibeshöhle ,
rutſchten Milch und Rogen gleich in dieſe Röhre . Und mit
der Öffnung der Röhre entrannen ſie aus des Walfiſches Bauch
wie Jonas und Münchhauſen .
Genau hier aber iſt nun von einem höchſt amüſanten Wege
der entwickelnden Natur zu ſprechen , der erſt des Myſteriums
Schlüſſel für dich als Menſchen und deine heutigen Geſchlechts¬
thürverhältniſſe giebt .
Mit dem eben genannten Fortſchritt ſind wir ja an¬
ſcheinend deiner menſchlichen Situation ſchon kurzweg auf dem
Hals . Eine Röhre kommt aus der Leibeshöhle , hinten an
ihrem Grunde hängt der Apparat zur Erzeugung von Samen
und Eiern — ja iſt 's denn bei dir viel anders ? Mindeſtens
beim Weibe ſcheint 's genau ſo .
Des Weibes Leib hat ja in vielen Zügen ein altertümlicheres
Gepräge bewahrt als der des Mannes . Er iſt konſervativer
ſozuſagen . Wenn du ein nacktes Weib mit ſinnendem Philoſophen¬
blick anſchauſt , ſo haſt du ein zäheres Stück Urwelt oder Urwelts¬
erinnerung als bei dir vor Augen . Im Weibe haſt du intenſiver
auf den erſten Blick das Säugetier vor dir . Das Weib weiſt , wie
genaueſte wiſſenſchaftliche Meſſungen ergeben , in allen feinen
Maßen ſeines Körperbaues ſtärkere Anklänge an das Kind auf ,
als der Mann , — das Kind aber wieder iſt , in einem Zu¬
ſammenhang offenbar mit jenem früher beſprochenen bio¬
genetiſchen Grundgeſetz , allemal dem Stammtypus , dem Ahnen¬
haften , Vorhergehenden noch weit ähnlicher als das erwachſene
Weſen . Du wirſt aus dieſen ungemein feinen und ſinnigen
Schriftunterſchieden der Natur bei ihrem Geſamtworte Menſch
natürlich nicht gewiſſe alberne Folgerungen ziehen , als wenn
das Weib nun etwa noch kurzweg das Tier wäre und der
Mann etwa ſchon der Herrgott , und vollends wirſt du das
nicht hinauslügen bis auf mannesfreundliche Theorien über eine
geiſtige Minderwertigkeit der Frauen . Solche Schlüſſe wären
etwa eben ſo albern wie wenn du ſagen wollteſt , der Menſch
ſtehe in der Linie vom Fiſch zum Gott unter dem Pferde , —
ſintemalen die Hand des Menſchen mit ihren fünf Fingern
thatſächlich im Vergleich zu dem Vorderfuß des Pferdes mit
ſeiner einen Rieſenzehe einen „ altertümlicheren “ Zug hat , der
vielmehr noch an die Eidechſe erinnert , bei der die Hand¬
entwickelung mit jener Fünfzahl einſetzte . Gerade an der Hand
kannſt du aber recht ſehen : es kommt darauf an , was damit ge¬
macht und inwiefern ein Ding vergeiſtigt wird , mag die Grund¬
form nun an ſich altertümlich oder jung ausſchauen . Nur zu oft
in der Natur iſt gerade das Altertümlichere , Kindlichere vor dem
Fortſchritt wieder das Biegſamere , das Brauchbarere geweſen ,
während das einſeitig hoch Spezialiſierte abfiel . Von ſolchem
Abfallen wollen wir ja auch beim Manne bei uns nun nicht
reden . In Wahrheit ſind dieſe Alt- und Jungunterſchiede der
Menſchenkörper überhaupt nicht ſo groß , um ernſtlich in der
Fortſchrittsdebatte mitzuſprechen . Ich erwähne ſie hier nur
für unſeren ſpeziellen Fall .
Alſo beim Weibe liegen jene beſagten Dinge , wie es ſcheint ,
thatſächlich noch im uralten Sinne . Am nackten Körper haſt du
zwiſchen den Schenkeln eine Öffnung , die nicht mit Mund noch
After , alſo überhaupt dem Verdauungskanal , ſchlechterdings
etwas zu thun hat . Sie geht in die zwiſchen Darmwand und
Leibeswand liegende Bauchhöhle . Doch nicht mehr nach der
Neunaugenweiſe in den Hohlraum dieſes Bauches geradezu hinein .
Sondern vielmehr durch eine Röhre in ein Organ , das die Eier
von gewiſſen innerlichſten Erzeugungsſtellen her aufnimmt . Es
ſcheint alſo jene unbedeutend höhere Stufe bereits vollauf
erreicht — aber weiter auch dann kein Unterſchied . Beim
Manne iſt die Sache unverkennbar durch irgend eine Speziali¬
ſierung verwickelter gemacht , — der Erzeugungsapparat des
Samens erſcheint in Geſtalt des Hodenſackes ſozuſagen aus der
Leibeshöhle bruchartig vorgedrängt und entſprechend iſt die
zugehörige Röhre denn auch ganz äußerlich als „ Glied “ ſichtbar
geworden . Doch das hängt erſt wieder mit den Begattungs¬
ſachen zuſammen , die wir als Gliedfrage uns beſonders reſerviert
haben , kommt alſo hier , wo ſich's einfach um die Thür als
ſolche handelt , noch nicht in Betracht .
Aber du ſchauſt genauer hin und dir fällt doch eins auf .
Eben das nämlich , was wir oben mit einigem Pathos unter
die Schreckniſſe der menſchlichen Liebe vom Boden einer über¬
natürlichen Erſchaffungstheorie gezählt haben . Dieſe Leibes¬
pforte dient beim Menſchen nicht bloß den Geſchlechtsſtoffen ,
ſondern noch einer höchſt widerwärtigen Sache , dem Urin .
Wir wollen die Sache jetzt nun nicht pathetiſch anſchauen ,
ſondern einmal recht friedlich naturgeſchichtlich .
Schließlich kommt 's ja mit dem „ Unappetitlichen “ auch ſo
auf den Standpunkt an .
Da hinten am Seeufer lag eine tote Katze angeſpült .
Ich glaube wir ſind uns darüber einig , daß eine ſolche
vom Fäulnisgas prall aufgetriebene , von giftigen Fliegen
umſchwärmte , die ſchöne Frühlingsluft weithin verpeſtende
Waſſerleiche ſo ziemlich den unterſten Abgrund alles äſthetiſch
Scheußlichen für uns darſtellt . Und doch wette ich , wenn ich
dich jetzt zur Größe eines Fäulnisbazillus herabzaubern könnte
und dich dann in dieſe Waſſerleiche verſetzte , ohne dir zu
ſagen , wo du ſeieſt , — ich wette , du würdeſt dich auf einem
Böcklinſchen Gefilde der Seligen voller Farbenwunder glauben .
Da wölbte ſich über dir eine ſmaragdgrüne , vom durchglühenden
Lichtäther wunderbar magiſch erhellte Himmelskuppel , und in
ihrem Glanze ſchauteſt du in eine Landſchaft , wie ſie ein
modernes Malerherz träumt : blutrote Berge , himmelblaue
Wälder und ein ockergelbes Meer . Ein blauſchwarzes Rieſen¬
nilpferd wandelte mitten im Feld , und aus dem Meer ſchnellten
ſich ſilberweiße Delphine in der Größe von Walfiſchen . Der
Himmel wäre nämlich die verweſungsgrün aufgetriebene Bauch¬
decke der Waſſerkatze und die ſämtlichen anderen Böcklinfarben
gehörten den unterſchiedlichen faulenden Eingeweiden und
Flüſſigkeiten an , zwiſchen die ein Miſtkäfer eingedrungen iſt
und in denen die Maden wühlen . Es liegt eben alles an
der Stellung . Wenn du umgekehrt als ein ungeheurer Licht¬
geiſt vom Sirius herabſtiegeſt , ſo könnte es recht wohl geſchehen ,
daß dir dieſe ganze Erde wie eine ſchmutzige Waſſerleiche vor¬
käme , ausgeſpuckt vom großen Lichtſee der lebendigen Feuer¬
welten . Der heilige azurblaue Himmel mit ſeinen keuſchen
Waſſerbläschen , der da oben über dir ſtrahlt , erſchiene dir
wie eine ekle Verweſungshaut auf dieſem armſeligen , nicht
mehr ſelbſtleuchtenden Erdenexkrement , und unter dieſer ſcheu߬
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lichen Blaſe wimmelten die Menſchen als Maden und Miſtkäfer ,
die ihre Löcher in den Moder treiben .
Sehr viel anders iſt es nun von der nötigen Perſpektive
aus mit dem Urin zunächſt auch nicht .
Ich denke , daß du eine ungefähre Vorſtellung haſt , was
dein Urin jenſeits von Gut und Böſe iſt .
Lebendes Weſen , wie du als Menſch es biſt , haſt du als
Geſetz deines Daſeins in dir : Du mußt dich unabläſſig durch
dieſe Welt durchfreſſen , ſolange du lebſt . Wohl behauptet ſich
geheimnisvoll eine ſelbſtändige Individualität in dir . Aber
dieſe Individualität iſt gleichzeitig in eine Art Schraube ge¬
ſperrt : ſie muß ſich zeitlich ſo vorwärts bewegen , daß ſie ſich
fort und fort durchſchrauben muß durch ſoundſoviel Beſtandteile
anderer , fremder Individualitäten . Sie nimmt dieſe Beſtand¬
teile in ſich , ſie gehen räumlich durch ſie hindurch . Gewiſſe
Teile paſſen ihr in ihren Bau , bleiben bei ihr , werden „ ſie
ſelbſt “ , — die anderen gehen ganz durch , fallen nachträglich
wieder ab , ſchwinden hinter ihr wieder hinaus . Vom erſten
Tage deines Lebens an geht das ſo . Du ſtopfſt und ſtopfſt
fremde Welt in dich . Alle Sorten ſolcher Welt . Luft , Waſſer ,
Tieriſches , Pflanzliches . Die Atmoſphäre , in der du ſchwimmſt ;
die flüſſige Ehe von Sauerſtoff und Waſſerſtoff ; uralte Onkel
von dir , die Pflanzen ; deine Ahnen und Vettern , die Tiere .
Wie eine unabläſſig wühlende Made , vor dir der Käſeberg ,
in den du eine Breſche gräbſt , — und hinter dir eine endloſe
Spur von Durchgewürgtem , Wiederabgeſtoßenem , Verdautem .
In drei Formen nimmſt du das Fremde auf : feſt , flüſſig ,
luftförmig . In den drei Formen reißt es ſich auch wieder
von dir . Ein ſchwindelndes Bild , welche Mengen . Denke
dir : du bekämſt plötzlich einen Überblick über die ganze
Lebensarbeit deiner Individualität in dieſem Sinne . Vor
dir die ganze Nahrung deines Lebens : vom Mutterblut , das
dich als Embryo ſpeiſte , bis zu dem letzten Zuge Luft in die
welke Lunge des ſterbenden Greiſes . Und hinter dir die
endloſe Abfallſtätte . Ein wahres Grauſen würde dich faſſen
vor der Rieſengröße eigentlich deines Individuums , der Maſſe
der Dinge , die du in deinen Lebensjahren umſpannt , durch¬
drungen haſt . Hügel und Teiche von Nahrung ; und hinter
dir Hügel und Teiche von ſchon wieder Ausgelöſtem . Und
die Menſchheit im ganzen wie ein ungeheuerlicher Regenwurm ,
der , wie dieſer unabläſſig ſein kleines Feld , ſo die ganze Erd¬
rinde durch die Jahrtauſende hindurch immerzu in ſich hinein¬
ſchlingt und wieder von ſich gibt . Die Pflanzen kauen ihr
die Mineralſtoffe vor , ſie verſchlingt dann die grüne Pflanzen¬
decke , verſchlingt das Tier , das ſelber ſchon von Pflanzen
genährt iſt . Und im höchſten Sinne , da doch Pflanze , Tier
und Menſch alle nur wieder Teile der Erde ſind , iſt es dieſe
Erdkugel ſelbſt , die an ihrer Oberfläche ſich wie ein enormer
Magen immer neu verdaut , ihre eigenen Stoffe um und um
kreiſen läßt .
In dieſes große Bild gehört nun auch dein Urin , auch
er ein unabläſſig rauſchender Strom in dieſem gigantiſchen
Panorama , ein beſtändiger Platzregen , der von der Tier- und
Menſchheit niederrinnt , um wieder in den großen Kreislauf
zurückzukehren .
Nahrung iſt in dich eingetreten , du haſt dich wieder ſo
und ſo viel Kubikzoll weiter in deine Umgebung , in das
Erdreich , in dem du als Regenwurm ſteckſt , eingefreſſen . Der
Darmſchlauch und ſein Anhängſel , die Lunge ( du erinnerſt dich :
ſie iſt urſprünglich nur ein Blindſack ſeiner Schlundſeite )
haben die Nahrung zunächſt grob umfaßt . Das Blut zahlt
ſie dann erſt verfeinert den ganzen Körpergeweben aus , pumpt
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ſie bis in jede fernſte Ecke . Das Blut nimmt in der Lunge
die Luftnahrung ein , ſaugt von den Darmwänden die feſt¬
flüſſige Nahrung ab und Iäßt die Nährſtoffe nun treiben bis
zu jeder millionſten und abermillionſten Zelle im äußerſten
Gehirnfäſerchen oben oder in der letzten Zehenſpitze unten .
Aber nun gilt es , auch ſo und ſo viel Abfallsſtoffe der
großen Küche wieder hinauszubefördern , die feinen Exkremente
des ganzen Organismus aus jeder Einzelzelle . Große un¬
verdauliche Maſſen der Darmnahrung wirft ja der Darm
ſelber wieder aus . Aber das iſt nur das überhaupt Über¬
zähligſte , gleichſam die harte Schale nur der nährenden Nuß .
Die viel feinere , engere Abfuhr deſſen , was in jeder Zelle
des ganzen Leibes überflüſſig wird , muß ebenfalls das Blut
beſorgen . Und da gibt es denn nun zwei Wege . Das Luft¬
förmige , das wieder fort ſoll , pumpt es als Kohlenſäure in
der Lunge ſelber wieder aus . Für das Wäſſerige und in
Flüſſigkeit Gelöſte dagegen paſſiert es in dir zwei famoſe
Reinigungsſtellen , die Nieren .
Jede deiner beiden Nieren iſt nichts anderes als ein
vorzüglicher Filtrierapparat . Feſt geſchloſſen in ihrem engen
Röhrenſyſtem kommt die Blutwelle daher gerauſcht . Da plötzlich
paſſiert ſie die Niere . Sie ſchwebt auf der Filter , auf dem
Sieb wie die Schmutzwaſſer einer Goſſe über der durchlöcherten
Platte der Kanaliſation . Aber das Nierenſieb hat die treff¬
liche Konſtruktion , daß es nur ganz beſtimmte Teile dieſer
Blutwelle durch ſeine Löcher läßt . Das flüſſige Blut iſt im
Moment , da es die Niere paſſiert , zuſammengeſetzt weſentlich
aus drei ganz verſchiedenen Dingen . Erſtens klarem Waſſer ,
von dem gut und gern ein ordentliches Teil als überflüſſig
abgezapft werden kann . Zweitens den wirklichen Dreck- und
Giftſtoffen , die ſo ſchnell wieder hinaus müſſen , wie nur
möglich . Drittens aber der eben erſt gewonnenen guten
Nährbouillon , den kreiſenden Eiweißſtoffen , die abſolut hier
nicht mit in die Senke gehen dürfen . Entſprechend filtriert
denn das Nierenſieb auch nur das überzählige Waſſer und
den Exkrementſtoff abwärts und hält die Eiweißteile zurück .
Wenigſtens in geſundem Zuſtand . Erkrankt in beſtimmter
Weiſe , lockert ſich die Filterplatte ſo , daß auch das Eiweiß
mitgeht , alſo des Leibes heiligſte Nährbouillon abfließt , —
und dann ſieht's faul um den ganzen Menſchen aus .
Das „ Abwärts “ aber bedeutet : dieſe Abfallsflüſſigkeit
geht in regelrechter Unterkanaliſation anſtatt im Blutkanal
weiter jetzt durch eine Separatröhre von jeder Niere aus in
ein großes gemeinſames Latrinenreſervoir , die Harnblaſe .
Und von dieſer Harnblaſe rauſcht ſie durch eine letzte Rieſel¬
röhre unmittelbar — aus dem ganzen Körper heraus . Da
die Nieren ganz genau wie die Eierſtöcke im Innern der
Bauchhöhle liegen , kann das logiſcher Weiſe auch nur durch
ein Loch geſchehen , das in die Bauchwand geſchlagen iſt .
Und jetzt denn ſeltſam genug : die innere Urinröhre
mündet beim Weibe in daſſelbe Thor zwiſchen den Schenkeln
ein , durch das die Geſchlechtsſtoffe gehen . Auf ein letztes
kurzes Stück , ſo zu ſagen ſchon im Thorbogen ſelbſt , ver¬
einigen ſich beide Röhren ſogar geradezu . Und beim Manne
iſt 's noch weit intimer . Da laufen Urin und Samen das
ganze große Kanalende , das man Mannesglied heißt , durchaus
gemeinſam , als wären ſie von Haus aus die verträglichſten
Freunde von der Welt .
Ich glaube , ein Gedanke liegt hier nahe genug . Die
Natur hat , wie ſo oft , geſpart . Sie hat nur eine Durch¬
bohrung der geſchloſſenen Leibeshöhle haben wollen . Da nun
zwei Röhrenſyſteme aus dem Innenraum herauswollten , der
Abfluß der Nierenfilter und der Abfluß der Geſchlechtsorgane ,
ſo hat ſie eben einfach dieſe Röhrenöffnungen ſo weit zu¬
ſammengeſchoben wie es ging .
Sie hat ja ſchon ſonſt offenbar vereinfacht . Du er¬
innerſt dich : das Leibeshaus deiner Ahnen vom Wurm an
nahm eine Geſtalt an etwa wie ein Wagen . In der Mitte
der eine Darm als Grundſtock . Rechts und links aber die
weiteren Organe doppelt : zwei Augen , zwei Ohren , zweimal
je zwei Arme und Beine , ſogar zwei Gehirnhalbkugeln und
zwei Lungen . In dieſer allgemeinen Zweiheit aller ſpäter
entſtehenden Organe konnten nun auch die Geſchlechtsorgane
nicht zurückſtehen . So hat deine Liebſte heute noch zwei
Eierſtöcke , rechts einen und links einen . Es ginge ja auch
mit einem . Bei den Vögeln zum Beiſpiel iſt der eine ( der
rechte ) faſt immer völlig verkümmert , ſo daß du in einem
Huhn , das du aufſchneideſt , allemal ſcheinbar nur einen ein¬
zigen echten Eierſtock vorfindeſt . Aber die alte Doppel-Symme¬
trie hat ſich trotzdem in den meiſten Fällen und ſo auch bis zum
Menſchenweibe in der altertümlichen Weiſe treu erhalten . Auch
beim Menſchenmanne haſt du ja noch ( trotz ſonſt ſo auffälliger
Wandlungen ) zwei Samenorgane in dem gemeinſamen Hoden¬
ſack , — jene beiden feſten Körper , die der Volksmund „ Eier “
nennt , obwohl ſie gerade das Umgekehrte von echten Eiern ,
nämlich die Erzeugungsſtätten des männlichen Samens ſind .
Trotzdem iſt aber darin wenigſtens ein konſequenter Weg
ſichtbar , daß nun ſchon früh durchweg nicht mehr jeder Eier¬
ſtock ſein beſonderes Loch ſich nach außen gebohrt hat , —
ſondern beide Eierkanäle in ein einziges gemeinſames Loch
mündeten . Schon bei den Fiſchen iſt dieſe Vereinfachung der
Lochfrage ganz allgemein verbreitet und von da an aufwärts
kennt man es nicht anders .
Dasſelbe Prinzip waltete nun für ſich auch wieder bei
den Nieren . Auch ſie ſind paarig , das heißt in jeder Körper¬
ſeite je eine , entſtanden und haben ſich bis zu dir ſo erhalten .
Einige Vögel , z.B. die Reiher , habens freilich hier nachträg¬
lich noch wieder bis zur Verwachſung in eine Geſamtniere ge¬
bracht . Unverkennbar aber bleibt auch dort wenigſtens das
vereinfachende Prinzip , nicht zwei Urinlöcher zu ſchaffen , ſondern
nur eines . Bei den Tieren , wo ſich eine Harnblaſe als ge¬
meinſchaftliches Reſervoir für beide Nierenfilter entwickelte ,
blieb ja überhaupt ein Kanal als Schlußſtück übrig , war alſo
auch nur ein Loch nötig , und gerade du ſelbſt gehörſt als
Säugetier hierher .
In dieſem Sinne hat es nun an ſich wohl nichts Über¬
raſchendes , ſich zu denken , daß eines Tages auch das Urinloch
und das Geſchlechtsloch noch zuſammenſchmolzen in eines .
Diesmal war thatſächlich aber die Entwickelung von vorne
herein noch ein ganzes Stockwerk ſparſamer , als die logiſche
Linie ergibt .
Jene Ausbildung eines beſonderen Geſchlechtsloches , das
erſt nachträglich wieder mit dem Urinloch hätte verſchmelzen
können , hat in der Hauptlinie deiner Ahnen überhaupt , wie
es ſcheint , nicht ſtattgefunden , — ſie hat gar nicht mehr ſtatt¬
zufinden brauchen . Denn ſchon in ſehr frühen Zeiten hatte
ſich da die Sache ſo eingeſtellt , daß die Urinröhre ſamt ihrem
Urinloch einfach die Hinausbeförderung der Geſchlechtsſtoffe mit
übernahm .
Das klingt nun recht ſeltſam . Aber denke dich durch
folgenden Hergang einmal durch .
Hier iſt ein Wurm . Bei ihm hat ſich eine geſchloſſene
Leibeshöhle entwickelt und in dieſer Höhle liegen wie im
ſchönſten Tabernakel die Geſchlechtsorgane . Samen und Eier
wollen heraus . Wie ? Der eine Weg war jenes durchbrechende
Geſchlechtsloch . Aber wenn es deſſen gar nicht beſonders be¬
durfte ? Die Eier oder Samentierchen treiben ſich an der
inneren Bauchwand herum wie Jonas im Walfiſch . Da plötz¬
lich ein Lichtblick . Durch die Leibeswand öffnen ſich feine
kleine Luken . Schmale Schachte wie Fuchslöcher ziehen ſich
durch die Leibeswand nach außen . Dieſe feinen Schachte ſind
aber nichts anderes , als die erſte Anlage deſſen , was bei uns
heute „ Nieren “ heißt .
Ihre Wände dienen als erſte , noch recht ſchlichte Filter ,
durch die die unbrauchbaren Säfte des Wurmleibes ablaufen .
Aber da ſie thatſächlich regelrechte , wenn auch ganz feine
Öffnungen in der Walfiſchhöhle darſtellen , ſo wagen unſere
kleinen Jonas und Münchhauſen ſich kühnlich hinein , klettern
durch , — und das Problem iſt auch ohne Geſchlechtsloch ge¬
löſt : Samen und Eier ſind im Freien , einfach auf dem
Wege des Urins . Es giebt eine ganze Menge Würmer , bei
denen der geſamte Sachverhalt heute noch genau ſo iſt .
Bei anderen Würmern hat ſich dann früh der Nierenapparat
ſo geregelt , daß nicht mehr viele kleine Nierenkanälchen alle
beſonders nach außen mündeten . Die einzelnen Urinfilter
ergoſſen vielmehr ihren Inhalt in einen größeren Schlauch ,
der jederſeits im Leibe des Wurmes lag . Dieſer ganze
Schlauch öffnete ſich aber ſelber jetzt wie ein einiges Filter¬
kanälchen der vorigen Art einerſeits offen in die Leibeshöhle
und andererſeits offen nach außen ins Freie .
In der Hauptſachlage war alſo nichts geändert : Samen
und Eier konnten einfach jederſeits auch dieſen großen Urin¬
ſchlauch ſtatt der vielen kleinen als Pforte aus dem Leibes¬
kerker in die Außenwelt benutzen . Auch dieſe Stufe findeſt
du bei heute lebenden Würmern ſehr gut noch entwickelt und
zwar gerade bei ſolchen , die auch ſonſt unverkennbar deinem
menſchlichen Stammbaum nahe ſtehen .
Und ſo und nicht anders , ſcheint es , hat die Geſchichte
bei den älteſten Wirbeltieren ( alſo deiner engeren Sippe ) , bei
den einfachſten Urfiſchen auch noch eingeſetzt . Wenn gerade
die Neunaugen es heute juſt nicht mehr ſo machen , ſo müſſen
dieſe wohl hier etwa einen Seitenweg für ſich gegangen
ſein . Sie haben ja an und für ſich genommen , wie du ge¬
ſehen haſt , auch eine völlig logiſche Straße mit ihrer beſonderen
Geſchlechtspforte eingeſchlagen . Aber deine echte Ahnenlinie
brauchte die gar nicht , — ſintemalen Eier und Samen ſich
längſt im Ganzen reſolut bequemt hatten , den Urinkanal als
ſolchen , ja die Niere ſelber , deren größten Teil der ja aus¬
machte , für ihre Außenweltsreiſe einfach mit zu benutzen . Milch
wie Rogen fiel in die Niere und ſchwammen mit den Filter¬
wäſſern heraus . Eine wahre und regelrechte Urinliebe konnte
hier feſtgeſtellt werden , und wenn Männlein und Weiblein ſich
begatteten nach Blaufelchenart , ſo ſpritzten Ei und Samen
thatſächlich im verwegenſten Sinne dabei wie ſchmutziges Nieren¬
waſſer , wie Urin hervor .
In dieſer äußerſten Weiſe der Miſchung von zwei ſo
grundverſchiedenen Dingen bloß aus Raumerſparnis hat ſich
nun aber die Sache doch mit wachſender Entwickelung auch
nicht endgültig halten laſſen .
Schon in der Gegend deines Stammbaums , wo der Fiſch
über den Molchfiſch zum Amphibium , alſo zum Froſch und
Molch , anſteigt , zeigt ſich ein deutliches Beſtreben , den großen
innerlichen Urinſchlauch wenigſtens in zwei Fachwerke gleichſam
zu teilen . Ein Fachwerk für die Geſchlechtsſtoffe , — und
eines für den Urin .
Der große Kanal ſpaltet ſich . Durch die eine Abteilung
floß der Urin nach wie vor ab . Die andere reſerviert ſich
dagegen den Geſchlechtsſachen . Unten kommen beide Schläuche
freilich wieder zuſammen und münden natürlich doch ins gleiche
Loch der Leibeswand endgültig hinaus . Dabei machte ſich
jedoch folgendes geltend als beſondere Fügung .
Bis an dieſe Stufe der Entwickelung heran iſt der
Sachverhalt vielfältig , ja urſprünglich vielleicht ganz allgemein ,
ſo geweſen , daß deine Ahnen Hermaphroditen waren .
Das heißt : jedes Einzeltier erzeugte ſowohl Samen wie
Eier in ſich .
Erinnere dich an das , was ich dir früher von den
Schnecken und den Blutegeln erzählt habe . Dieſe Zwitter-
Anlage bedeutet nicht , daß jedes Weſen nun nach Begehr ſich
ſelber begatten konnte . Immer auch ſo mußten zwei Einzel¬
weſen zuſammen . Bloß daß ſtrenggenommen keines ganz
Männchen , keines ganz Weibchen war . Jedes gab dem
anderen Samen für deſſen Eier und erhielt umgekehrt für
ſeine eigenen Eier auch wieder Samen von dort . Jedes war
zeitlebens ein „ Hermaphroditos . “ Du kennſt die hübſche Ge¬
ſchichte aus der griechiſchen Mythologie ? Dieſer Mythologie
eines Volkes von Weiſen , das alles dumpfe Grübeln des
Orients in liebliche Kunſtbilder umgeſchaffen hat . Der brave
Hermaphroditos iſt ein Sohn des Hermes und der — mytho¬
logiſch ſtets bereiten , obwohl anderweitig verheirateten , Aphrodite .
Er badet in einer Quelle , die Quellnymphe , deren Waſſerleib
ſeine ſchönen Jünglingsglieder berühren , verliebt ſich in ihn ,
und auf ihr Gebet laſſen die Götter der Beiden Leiber zu
einem einzigen Weſen zuſamenſchmelzen , das nun Weib zu¬
gleich iſt und Mann .
So hübſch kann die Zoologie es ja nicht erzählen . Sie
berichtet dir von Schnecken und Regenwürmern . Aber als
Thatſache jenſeits von aller luftigen Mythologie ſtellt ſie
jedenfalls feſt , daß auch ziemlich hoch in deinen Menſchen¬
ſtammbaum hinauf noch eine ganz naive , uralthergebrachte
Hermaphroditerei geherrſcht hat .
Bei deinen Wurmvätern war ſie einfach gang und gebe .
Jene kartoffelartig ſcheußlichen Ascidien an der Schwelle des
Wirbeltiers , Onkels wohl mindeſtens von dir , wiſſen es noch
nicht anders als ſo . Aber ſelbſt echte Fiſche „ zwittern “ ganz
fidel . Eine Sorte Neunaugen entwickelt , wie die Auſter ,
nacheinander im gleichen Leibe reifen Samen und reife Eier .
Echte Fiſche aus der Gruppe der Barſche ( die ſogenannten
Sägebarſche ) und der Braſſen ( die Goldbraſſen ) ſind Herm¬
aphroditen vom reinſten Waſſer , die „ übers Kreuz “ doppelt
miteinander zeugen . Kein Göttergebot hätte bei dir einzu¬
greifen brauchen , als du noch in dieſer Region ſteckteſt . Und
Ariſtophanes hätte hier eher Rat gewußt , der die Götter
eines Tages die doppelgeſchlechtigen Menſchen erſt in zwei
Hälften , Mann und Weib , nachträglich auseinanderſpalten läßt .
Nun alſo : dieſe Zwitterei hat offenbar eine Weile noch
in jene Urinfrage hineingeſpielt .
Längere Zeit muß das Ausfuhr-Problem eigentlich ein
dreifaches geweſen ſein . In einem und demſelben Individuum
handelte es ſich erſtens um den Urin , zweitens um den
Samen und drittens um die Eier . Wenn Samen und Eier
zu verſchiedenen Zeiten erzeugt wurden , wie bei den heutigen
Inger-Neunaugen , ſo war es ja wohl ſehr gleichgültig , ob
ſie jedes für ſich denſelben Ausgangskanal paſſierten : in die
Gefahr einer inneren Miſchung und Selbſtbefruchtung kamen
ſie ja doch nicht . Aber ſobald jene gleichzeitige Erzeugung
beider Stoffe in jedem Individuum , wie wir ſie noch bei den
Barſchen und Braſſen haben , einmal eintrat , mußte ein Be¬
dürfnis nach Trennung der Kanäle auch für dieſe verſchiedenen
und gegenſätzlichen Geſchlechtsſtoffe noch wieder unter ſich ſtark
werden , ganz abgeſehen vom Urin . Hier ſcheint jetzt früh
der folgende Ausweg eingetreten zu ſein .
Der jederſeitige Urinkanal hatte ſich allmählich in je
zwei Kanäle vollſtändig bis zum Ausgang geteilt , der eine
ausgeſprochen als Urinkanal geſpeiſt von den Nierenfiltern ,
der andere als Geſchlechtskanal von den Geſchlechtsorganen
befrachtet . Jetzt regelte ſich die Sache aber ſo , daß die
beiden Geſchlechtsorgane ſich voneinander ſeparierten hinſichtlich
ihres Frachtweges . Das weibliche Organ , das Eier erzeugte ,
warf ſeine lebendige Poſt in den für Geſchlechtsſtoffe reſer¬
vierten Teil der Urinröhre ; — das männliche Organ dagegen
benutzte , um nicht mit den Eiern in Kolliſion zu kommen , für
ſeinen Samen lieber nach wie vor den echten Urinkanal
ſelbſt , — gleichſam als das kleinere Übel .
Und wie das nun einmal lange Zeit zäh ſo Brauch
geweſen war , blieb es auch traditionell beſtehen , als ſchließlich
jene Zwitterei als ſolche ganz aufhörte . Von den Amphibien ,
alſo den Molchen und Fröſchen an , giebt es im höheren
Wirbeltierbereich bis zu dir hinauf normaler Weiſe keinen
Hermaphroditismus mehr . Bei jedem Einzelmolch , jeder
Einzeleidechſe , jedem Einzelvogel und jedem Einzelſäugetier
wird in jedem Einzeltier nur mehr eine Sorte von Geſchlechts¬
organ arbeitsfähig entwickelt : entweder Eierſtöcke oder Mannes¬
hoden , — das Tier iſt alſo entweder ganz Mann oder ganz
Weib .
Wenn aber ſo ein Mannesmolch etwa fortan nur mehr
Samen produzierte und ſelber gar keine Eier mehr , ſo war
völlig verſtändlich , daß bei ihm die Separatabteilung der
Urinröhre , die von der Eierausfuhr bisher zäh einſeitig be¬
legt worden war , wertlos wurde und abkümmerte . Seine
ganze Geſchlechtspoſt , die ja nur noch in Samen beſtand , blieb
dem Brauche nach wie vor treu , durch die Niere ſo zu ſagen
ſelber hinauszugehen und den echten Urinweg nicht zu ſcheuen .
Und ſo war bei ihm eigentlich die Sache wieder auf den
urſprünglichſten Stand zurückgebracht : ſein ganzer Geſchlechts¬
erguß lief wieder im echten Urinrohr .
Umgekehrt der weibliche Molch , der bei der Eierproduktion
blieb , hielt feſt an dem Separat-Kanal für dieſe Eier und
konnte ihn in keiner Weiſe entbehren . Dagegen war ihm
vom Moment an , da er keinen Samen mehr produzierte , der
echte Urin-Abflußteil für die Geſchlechtspoſt ganz gleichgültig
Sintemalen aber hier doch eben der Urin ſelber nach wie vor
floß , durfte dieſer Kanalteil nun doch auch hier nicht ver¬
kümmern , — und ſo behielt Frau Molchin hübſch beide
Kanäle nebeneinander in voller Kraft , dieſen bloß für die
reinlichen Eier , jenen bloß für das dreckige Filterwaſſer der
Niere .
Jeder der kleinen bunten Teichmolche , den du dir aus
dem Krötentümpel dort holen magſt , zeigt dir dieſe ganze
Stufe aufs hübſcheſte noch jetzt in ſeinem Leibe : die Eierfracht
ſchon emanzipiert vom Urin , obwohl noch in einer von der
Urinröhre urſprünglich abgeſpaltenen Röhre , — die Samen¬
fracht im Männlein dagegen noch geradezu durch die Niere
in den Urinkanal fallend und dort hinausgeſchwemmt , — alſo
immerhin noch halbſeitige Urin-Liebe .
Oberhalb des Molchs , auf der Linie von der Eidechſe
zum Menſchen , iſt dann die Sache allerdings nochmals recht
umgeknetet worden . Die Niere ſelber war diesmal daran
ſchuld . Indem die Natur dieſe köſtlichen Blutfilter immer
praktiſcher ausgeſtaltete , ſchuf ſie ſie gemach zu einem eigent¬
lich ganz neuen Organ um .
Am unteren Ende des alten Nierenapparats bildete ſich ſo zu
ſagen ein großer Auswuchs oder Sproß , der ſich in ganz
anderer Lage in die Leibeshöhle einſchob und fortan die eigent¬
liche Niere darſtellte , der die ganze Filtriererei jetzt in einer
noch viel kunſtvolleren Art , als es früher geſchehen , oblag .
Dieſe neue Niere bildete ſich alsbald auch einen eigenen
neuen Urinkanal , und bei den Säugetieren entſtand da , wo
dieſe Kanäle beider neuen Nieren von rechts und links des
Leibes ſich einten , zunächſt ein großes gemeinſames Urin-
Reſervoir , ein innerer Nachttopf gleichſam : die Harnblaſe .
Erſt aus dieſem Topf führte ein letztes Kanalſtück dann ganz
ins Freie und ließ den Urin äußerlich abfließen . Und damit
war denn auch beim Manne der alte Urinkanal ganz entlaſtet ,
der Samen brauchte nicht mehr durch die Niere und neben
dem Urin in ihn einzufallen : die alte Röhre wurde auch hier
gänzlich für die Geſchlechtsfracht frei , — ſie wurde ausſchlie߬
lich „ Samenleiter “ ohne Urin . Beim Weibe konnte der
betreffende Kanal jetzt überhaupt einſchrumpfen , da er , ſobald
der Urin nicht mehr durchging , hier ſofort ganz arbeits¬
los war .
Und ſo blieb ſchließlich bis zu dir ſelber herauf nur
zweierlei von der ſchönen Odyſſee der Eier , Samen und
Urin übrig .
Erſtlich die Thatſache , daß deine ſowie deiner Liebſten
Ausfuhrkanäle für Samen ſowohl wie Eier auch heute eigent¬
lich und von Rechtswegen immer noch urſprüngliche Urinkanale
ſind , die bloß allmählich okkupiert und endlich dauernd ein¬
genommen wurden von den Geſchlechtsſtoffen . Und zweitens
eine Folgerung , die nahe genug lag : die alte Gemeinſchaft ,
ja Identität von Urinkanal und Geſchlechtskanal äußerte ſich
immerzu wenigſtens noch in der ganz oder nahezu gleichen
Mündungsſtelle der beiden großen Leibeskanaliſationen . Beim
Menſchenweibe mündet der Urinkanal noch immer mit dem
Geſchlechtskanal gleichſam in der Pfortenwölbung einer und
derſelben Öffnung zwiſchen den Schenkeln zuſammen aus .
Und beim Menſchenmanne geht der Samenkanal ſogar ſchon
dicht unter der Blaſe immer noch in den Urinkanal ſelber ein ,
und das ganze äußere Mannesglied durch fließen Urin und
Samen doch noch immer einträchtiglich zuſammen derſelben
Mündung zu . Wobei freilich dieſes Mannesglied erſt noch
wieder eine beſondere Bildung als ſolches darſtellt , von der
wir gleich noch zu reden haben .
Du aber erkennſt : was dir als Inbegriff ſchon des
Greulichſten erſchienen iſt — die Urinkanal-Liebe , — die Mit¬
benutzung der gleichen Öffnung gerade durch dieſe beiden
wie Himmel und Hölle verſchiedenen Körperſyſteme , — das
iſt in Wahrheit ſchon die äußerſte Verdünnung der Schemen
und das Geſpenſt nur noch alter , unendlich viel gröberer Sach¬
lagen . In millionenjahrelanger Arbeit hat die Entwickelung
dir erſt die Eierſtöcke , dann auch die Samenhoden herausge¬
fiſcht und herausgemeißelt aus der Niere , dem Urinapparat
ſelber , in den ſie ſich eingeniſtet hatten einfach weil er ihren
Lebensſtoffen überhaupt einen Ausweg „ aus des Walfiſchs
Bauch “ bot . Bis dicht an die Pforte ſelbſt hat ſie dir die
Stränge bereits wieder voneinander geflochten , die ein geſchicht¬
liches Verhängnis verknotet . Willſt du die natürliche Ent¬
wickelung Gott nennen , gut , ſo iſt Gott ſeit der Devon-Zeit ,
da die erſte Eidechſe auftauchte , mindeſtens unabläſſig dabei
geweſen , deine Geſchlechtsſtoffe vom Urin wieder zu trennen .
Und nun die Sache beinah auf eines Fingers Länge , und
beim Weibe noch weniger , gelungen iſt , — nun kommſt du
mit deinem ſpäten Lichtfeldchen im Gehirn , leuchteſt heran
und brichſt in Deklamationen aus über die Schauderhaftigkeit
der Welt , die den heiligen Graal der Zeugung abwechſelnd
auch als Nachttopf benutze .... .
Ich will dich aber noch etwas ſtärker beſchwören .
Wir haben von der Vereinfachung geſprochen . Wie die
Natur ſparen wollte mit Leibespforten als ein kluger Architekt ,
der da weiß , daß allzu viel Thüren Diebe machen . Zwei Eier¬
ſtöcke mit zwei Eileitern gingen ſchließlich in eine Öffnung
aus ; zwei Manneshoden in ein Mannesglied ; zwei Nieren in
eine Blaſe und ſchließlich in ein Loch . Und dieſes Nierenloch
fiel auch noch beim Manne zuſammen mit der Öffnung des
Gliedes , beim Weibe mit der Mundhöhle gleichſam des großen
Gebärloches . Aber warum iſt da nicht noch eine letzte Ver¬
einfachung eingetreten ?
Eine winzige Spanne an deinem nackten Menſchenleibe
nur fort von dem Urin-Geſchlechtsloch — und du biſt an der
anderen Pforte des unteren Rumpfendes : dem Afterloch .
Beim Weibe zumal engen ſich die Verhältniſſe ſo ein ,
daß die Öffnungen bei einander ſitzen wie die Gläſer einer
Brille . Warum iſt das nicht auch noch überwunden worden ?
Zuſammengeſchmolzen .
Du merkſt , wir ſind jetzt recht in einer anderen Art des
Fragens . Welche Deklamationen , wenn 's bei uns Menſchen ſo
wäre , nach jener anderen Methode ! Der heilige Graal der
Zeugung nicht bloß mit dem Nachttopf in Kolliſion , ſonder
auch noch mit dem Stuhl . Zeugen , Gebären , Urinlaſſen und
nun gar noch Kotentleeren in derſelben Thür ! Gemach , es
iſt ' ja nicht ſo . Wir haben uns nur jetzt von einer Seite
in die Dinge eingebohrt , daß uns geradezu die Frage auf¬
kommt : warum iſt 's denn nicht ſo ? Das Prinzip der Ver¬
einfachung giebt uns zur Frage das Recht .
Und hier iſt denn zu ſagen : es iſt einfach bloß deßwegen
nicht ſo , weil wir Menſchen es diesmal ſchon in unſern
Ahnenformen ausgeprobt und wieder verworfen haben .
Da war 's wirklich herzhaft genug .
Du erinnerſt dich , wie uns oben die Möglichkeit einer
Afterliebe , einer echten Liebe durchs Afterloch , flüchtig auftauchte .
Wo die Geſchlechtsſtoffe ſich noch von der Magenwand
abſpalteten — und wo dann dieſer Magen zum Schlauch mit
einer vorderen und einer hinteren Öffnung geworden war , —
da konnte der After natürlich an und für ſich genau ſo gut
zur Samen- und Eientleerung benutzt werden wie der Mund .
Du weißt aber : dieſe Magenliebe ſpielt in deinem Stamm¬
baum ſchon früh überhaupt keine Rolle mehr , denn die Ge¬
ſchlechtsorgane etablieren ſich ja in der Leibeshöhle und be¬
nutzen hier durchweg die Niere als Ausgang . Bei den
Würmern fängt das ſchon an und geht von da ins Reich
deiner engeren Ahnen , der Wirbeltiere , hinauf . Genau auf
dieſer Straße nach oben zeigt ſich dir jetzt aber auch ein Be¬
ſtreben , das nun doch den Darmkanal wenigſtens nachträglich
wieder mit der Liebe in Verbindung bringt .
Da macht zunächſt das niedrigſte aller Wirbeltiere , jener
famoſe Amphioxusfiſch , der noch ſo gut wie auf der Grenze
zwiſchen Wurm und Fiſch ſteht , ein ganz beſonderes Kunſtſtück .
Bei ihm münden Niere wie Geſchlechtsſtoffe ſchon ganz regel¬
recht in einen gemeinſamen Raum , der , obwohl er noch an¬
dere Zwecke außerdem hat , doch auch als Urinkanal bezeichnet
werden kann . Dieſer gemeinſame Kanal aber öffnet ſich durch
Spalten in den vorderſten Teil des Darmes und durch die
ſchwimmen die Eier des Weibleins wie die Samentierchen des
Männchens ſchließlich doch noch ganz luſtig dem Amphioxustier
zum echten Munde heraus . Hätte ſich das weiter eingebürgert ,
ſo wäre auch aus dieſer Urinliebe zuguterletzt doch noch wieder
eine Mundliebe geworden und du müßteſt heute durch den
Schlund außer Luft und Darmnahrung auch noch Urin , Samen
und Kinder befördern . Jene vielfältigen Gründe , die über¬
haupt gegen jede Mundliebe ſprachen , haben aber hier offenbar
doppelt ſich in den Weg geſtellt , nachdem auch noch Liebe und
Urin beiſammen waren , — und ſo iſt Herr Amphioxus das erſte
und zugleich auch das letzte Wirbeltier , das mit dem Munde liebt .
Die Sache wurde um ſo unthunlicher , als die Urin¬
mündung bei den Wirbeltieren fortan mit größter Energie in
der hinteren Körpergegend ſich hielt . Damit kam ſie nun not¬
wendig mit dem anderen Darmende , dem Afterloch , in eine
gewiſſe Beziehung . An den Lippenrändern dieſes Loches ſaßen
keine ſcharfen Zähne , es bahnte ſich hier keine Verdauung an ,
noch beſtand die Gefahr einer wieder einwärts ſchlingenden
17
Bewegung wie beim Munde . Es war ſchließlich bloß eine
Abfallsöffnung ſo gut wie der Urinausgang ſelbſt , durchaus
aufs Hinaustreiben gebaut und alſo in vieler Hinſicht ent¬
ſchieden brauchbar ſowohl für den Urin , als auch für die
( nun doch einmal durch ihn an Abfallsſtoffe gewöhnten ) Ge¬
ſchlechtsſachen .
Und ſo erleben wir 's denn wirklich ! Schon bei einer
großen Maſſe von Fiſchen fließen Eier , Samen , Urin und
feſte Exkremente alle miteinander durch ein und dasſelbe
Loch ſchließlich heraus . So insbeſondere bei deinen engeren
Ahnen , den Haifiſchen . Das Amphibium , alſo Froſch und
Molch , weiß es nur noch ſo . Alle Kanäle des Leibes , die
nach hinten heraus wollen , ſtrahlen in einen und denſelben
Punkt ein : der dicke Maſtdarm , der jederſeitige Urinkanal des
Männleins , der zugleich Samenkanal iſt , der entſprechende
echte Urinkanal des Weibleins und das abgeſpaltene Urinkanal¬
ſtück , das die Weibeseier ſeparat verfrachtet .
Willſt du eine Bezeichnung finden für dieſe noch wieder
neue Sache , ſo müßteſt du eine bilden , die Urinliebe und
Afterliebe unter denſelben Decktitel brächte . Der Naturforſcher
bietet dir nun ein Wort gerade hier , wenn ſchon keines von
den beſten . Er nennt ſolche Vereinigung von Urinausgang
und After überall , wo ſie bei Tieren ihm entgegentritt , kurz¬
weg „ Kloake “ . Und ſo ſtänden wir im Text alſo jetzt bei
der Kloaken-Liebe . Tiere auf dieſer Stufe , die ſich nach
Blaufelchen-Art durch möglichſt nahes Zueinanderbringen ihrer
Ausfuhrlöcher für Samen und Eier lieben , mußten bei dieſer
Sachlage einfach ihre „ Kloaken “ einander zukehren im
Liebesakt .
Vom Molch herauf hat dieſe Kloakenliebe thatſächlich
noch lange Zeit eine entſcheidende Rolle geſpielt . Von ihm
bekamen ſie ſämtliche Reptilien mit , alſo die Eidechſen , Schlangen ,
Krokodile und Schildkröten , jedenfalls auch die ausgeſtorbenen
reptiliſchen Ungetüme , die Ichthyoſaurier , Flatterechſen , Schreckens¬
drachen und wie ſie ſonſt alle heißen . Bloß eine hochent¬
wickelte , warmblütige , federnbedeckende Flugeidechſe iſt aber der
Vogel . Und ſo findeſt du bei Huhn und Strauß , Adler und
Nachtigall und all den tauſend anderen Schwingenträgern in
Feld , Wald , Meer und Luft unabänderlich auch die echteſte
Kloake entwickelt , — immer das harte Ei und der flüſſige
Samen , das Exkrement des Darmes und der ( hier breiartige )
Urin der Nieren austretend durch ein und dasſelbe große
hintere Leibesthor .
Und erſt beim Säugetier kommt wieder nachträglich ein
großes Halt . So hoch der Triumph der Sparſamkeit war ,
der glücklich alle Löcher in eins verſchmolzen hatte : — ganz
durchhalten bis ins Höchſte der Entwickelung hinein ließ ſich
die Sache doch nicht ſo .
Noch heute lebt in Auſtralien das Tier , das den Um¬
ſchwung zum ſtrahlendſten Gipfel der ganzen lebendigen Natur
auf Erden verkörpert : das Schnabeltier . Das Schnabeltier
legt noch Eier in einer ſehr ähnlichen Weiſe wie ein Vogel
oder beſſer noch , wie eine Eidechſe . Und das Schnabeltier
hat heiligen Ernſtes auch noch eine Kloake , — es allein von
ſämtlichen Säugetieren . Denn ein Säugetier , das ſeine Jungen
mit Milch ſpeiſt , iſt es unbedingt ſchon . Aber die Kloake
hat 's doch noch . Man nennt zoologiſch die Schnabeltiere
vielfach geradezu „ Kloakentiere “ , woraus der Laie wohl den
ſchlechten Schluß zieht , dieſe kleinen Schnabler hauſten wie die
Ratten unſerer Großſtädte in den Abzugskanälen der auſtraliſchen
Farmen , — was ihnen aber gar nicht einfällt . Der Miſſe¬
thäter , der durch die Kloake ſchwimmt , ſind vielmehr ihre
eigenen Eier und Samentierchen in ihnen ſelbſt , und die Kloake
iſt das konföderierte After- und Urinloch ihres eigenen Leibes .
Dann kommt aber das Beuteltier , — die Beutelratte
und das Känguruh — und da hat's mit der Kloake jäh ein
Ende . Auf einmal ſteht zwiſchen der Urin- und Geſchlechts¬
öffnung und der Afteröffnung doch wieder ein feſter Riegel ,
17*
eine Scheidewand . Fortan gibt 's doch wieder zwei Löcher .
Und das jetzt bleibt bis zu dir herauf . Du haſt's ſchließlich
ſo vom Affen geerbt . Die Kloakenliebe kennſt du an dir nicht
mehr , — es ſei denn im Falle eines höchſt mißlichen Gewalt¬
aktes , wenn nämlich bei der Geburt die Wand gegen den
After noch nachträglich einreißt ; das iſt aber nichts normales
mehr , ſondern ein krankhafter Einzelfall .
Ganz umſonſt wäre jedenfalls der Verſuch , den Zeugungs¬
akt ſelber noch einmal durch den After zu leiten . Niemals
mehr iſt vom Schnabeltier an aufwärts eine Samenzelle eines
Säugetiers durch das hintere Darmende zu einem Weibesei
gelangt . Und es läßt ſich höchſtens noch ein ſpaßhaftes
Schattenbild des äußerlichen Verſuches wiederfinden in dem
päderaſtiſchen Akte .
Indem der Päderaſt den Darmweg noch einmal als
Geſchlechtsweg ſucht , kehrt er gewiſſermaßen zurück zum
Schnabeltier , — bloß daß ihm zum Unſinn ſich verkehrt , was
dort den vollen und heiligen Naturſinn beſaß . Der gleich¬
zeitige Verſuch , aus Mann und Mann ein Liebes-Individuum
zu bauen , geht bei ihm freilich noch weiter zurück . Er greift
herab bis auf jene hermaphroditiſchen Fiſche und Würmer , bei
denen jede Geſchlechtshälfte noch Mann und Weib zugleich
war , alſo ein Mannesteil befruchten konnte in einem Leibe ,
der ſelber auch Mannesteile beſaß .
Die zähen Wurzeln der Päderaſtie im großen Aufwärts¬
ringen der Menſchheit ſind im Übrigen ja noch weit über
dieſe alten Reminiscenzen hinaus verwickelt , und nur ein ganz
oberflächlicher Beobachter wird ſie mit einem einzelnen An¬
klang abthun wollen . Wenn auf einſamem Schiff im Ozean
fernab von aller Weibergemeinſchaft der Matroſe zur Päder¬
aſtie greift , ſo erſcheint hier unzweideutig eine andere Wurzel¬
faſer , die den päderaſtiſchen Akt nur als eine Variante des
onaniſtiſchen erſcheinen läßt , als einen Akt der Notwehr , wo
das Weib fehlte . Von hier aus iſt er zweifellos in ſtrenger
Logik ſeit Alters immer wieder neu erzeugt worden . Wenn
du dann in der höchſten Kunſt , in der künſtleriſch durchhauchten
Ideenwelt von Alt-Hellas , im Antinous-Ideal , in der orien¬
taliſchen Poeſie , und immer und immer ſo wieder durch
Renaiſſance und Neuzeit päderaſtiſche Motive findeſt , ſo wirſt
du auf ein Wurzelende noch ganz anderer Art geführt .
Das Päderaſtiſche entwickelt ſich hier aus einer an ſich abſolut
ſittlichen That zunächſt der Diſtanceliebe . Das Auge erfreut
ſich der Schönheit des Manneskörpers ſo gut wie der des
Weibesleibes , und genießt aus dieſer Schönheit heraus die
höhere , vergeiſtigte Sinnlichkeit der Diſtanceliebe . In einer
Verwirrung der Motive wird dann dieſe Diſtanceliebe aber
als Miſchliebe verſucht , womit allerdings die ideale Höhe zu
einer Situation herabſinkt , deren herbſte Strafe zweifellos in
ihrer Lächerlichkeit beſteht . Und ſo laſſen ſich der Wege noch
mehr aufweiſen . Intereſſant bleibt aber auf alle Fälle auch
in jenem Fiſch- und Schnabeltier-Sinne der „ zoologiſche Reak¬
tionär “ , der im Päderaſten allemal ſo gut ſteckt wie im
Onaniſten . Den tragikomiſchen Zug teilt er dabei mit allen
Reaktionären .
Warum übrigens die Kloake wieder verſchwunden iſt ?
Wir haben ſicherlich gleich einen guten Fingerzeig . Das
letzte Tier in deinem Stammbaum , das noch Kloaken-Liebe
pflegt , das Schnabeltier , iſt zugleich auch das letzte , das noch
Eier legt . Das Gebären lebendiger Jungen in dem Zuſtande
wie es beim Säuger vom Känguruh an aufwärts feſter Brauch
wurde , ſcheint dem Afterausgang widerſprochen zu haben . Der
ganze Geſchlechtsapparat des Weibes wurde durch das immer
längere und innerlichere Ausreifen des jungen Tieres im
Mutterleibe mehr und mehr belaſtet , bekam alſo wohl auch
ein intenſives Anrecht auf eine möglichſt eigene Thür . Um¬
gekehrt beim Manne führte ein ganz anderer Weg ebenſo ſicher
zur Notwendigkeit einer Trennung : die immer kunſtvollere
Ausgeſtaltung nämlich des Begattungsgliedes .
Doch damit berühren wir eine neue Rubrik .
Bisher iſt nur von der Pforte die Rede geweſen . Immer
nahmen wir als Urbild der Begattung ſtillſchweigend noch
jene Blaufelchenart an : Pforte bloß zu Pforte gekehrt . Der
Reihe nach ſahen wir dieſe Pforten wechſeln . Mundpforte ,
Bauchpforte , Urinpforte , Kloake und nochmals Urinpforte .
Aber während die Pforten als ſolche ſich wandelten , hatte
auch der ganze Akt ſelber ſeine Fortſchrittsbahn ſich geſucht .
Aus dem Stadium der einfachen Lochpforte war er übergetreten
in das der Schraube , des Scharniers . Die Gliedfrage iſt es ,
die ſich da vor uns erhebt .
Ein derbes Wort kann Huri nicht verdrießen ;
Wir fühlen , was vom Herzen ſpricht ,
Und was aus friſcher Quelle bricht ,
Das darf im Paradieſe fließen .
Goethe ( Im Buch des Paradieſes )
W allfahrt nach Italien . Was war der große Magnet ,
der dich hinzog ? Der noch heute dein Herz klopfen läßt ,
wenn das Wort erklingt ? Landſchaft , lebendige Menſchen und
ihre Sitten . Ja das iſt ſchließlich auch anderswo . Die Natur
iſt allerorten ein ewiges Jeruſalem und jeder Schritt nach
Süd oder Nord in ſie iſt ein Kreuzzug . Über der Wallfahrt
gerade nach Italien liegt aber noch etwas beſonderes .
Du gehſt in die Geſellſchaft gewiſſer Männer und
Weiber , die nie gelebt haben und doch unſterblicher ſind als
Millionen lebendiger . In die Geſellſchaft des Menſchen auf
einem höheren Stockwerk . Zum Menſchen gehſt du zu Gaſt ,
wie ihn die Kunſt geſehen hat . Herrliche Menſchenleiber , von
Malern , von Bildhauern geſchaffen .
Ja verachte du nur den Menſchenleib . Die alle von der
großen Griechenzeit bis auf Michelangelo , — ſie wußten doch
in Marmor und Farbe nichts anderes feſtzuhalten als dieſen
Leib . Dich aber ſtrahlt er an mit mehr Geiſt , als deine
ganze lebendige Mitmenſchheit noch hat .
Nackte Leiber ſchauen dich an . Du biſt wie in einer ge¬
reinigten Welt , die das Gewand nicht mehr braucht . Und
doch : ſeltſame Erfahrung .
Groteske blecherne Feigenblätter gewahrſt du ; grobe Farb¬
flecken , aufgepinſelt auf die ewige Herrlichkeit einer begnadeten
Künſtlerphantaſie .
Du lächelſt . Wunderliche Menſchheit . So reich ſchon
und noch ſo arm . Weißt du noch die alte liebe Sage von
Meluſine ? An Schönheit und Kraft war ſie edler als jedes
Menſchenweib . Aber in ihren Sternen ſtand mit unerbittlicher
Schrift , daß ſie einmal in jedem Monat den alten Fiſchſchwanz
eines niederen Weltzuſammenhanges an ſich fühlen ſollte . Und
dann barg ſie ſich wie eine zerknirſchte Sünderin im ver¬
riegelten Turm .
Es iſt der verriegelte Turm der Menſchheit , dieſes blecherne
Feigenblatt auf dem Mannesgliede einer Schöpfung Michelangelos .
Und dieſes Glied ſelber iſt Meluſinens Fiſchſchweif noch für unſere
grobe Auffaſſung . Der Künſtler hätte auch Meluſine in der halben
Fiſchheit ihrer böſen Stunde harmlos nachgebildet . Aber ſie
ſelber ſchämte ſich . Und ſo fühlt der Sinn , der dieſe Feigen¬
blätter geſchaffen hat , ſich heute noch gekreuzigt gerade an dieſem
einen Punkte auf ſeine Tierheit , ſeine angebliche Niedrigkeit .
Sonderbare Dämmerungswanderung . Das Organ ſeines
ewigen Lichtgangs ſeit Jahrmillionen will der Menſch noch
nicht gelten laſſen . Seinen Anblick ſcheut er ſelbſt in der
Idealgeſtalt des größten Meiſters wie ein Gorgonenhaupt .
An dieſem Stückchen Marmor , das hier als Symbol warm¬
lebendiger Menſchlichkeit ragt , hat die Menſchheit ſich in Wahr¬
heit heraufgeklettert durch den unendlichen Strom der Zeiten .
Hier lag die Unſterblichkeit , die Tier auf Tier ſchob und
immer wieder abſchob in immer ſtärkeren Beſchwörungen , bis
endlich der Pudel und das Nilpferd hinter dem Ofen des
Weltenfauſtus platzten und der Menſch hervorſprang . Hier
warf und verſchlang ſich immer wieder das goldene Parzenſeil ,
in dem jeder Knoten eine Seele iſt . Und Seele um Seele
giebt ſich die errungene Entwickelung weiter , die Übertierheit
zuerſt , die Menſchheit ſelbſt , — dann in dieſer Menſchheit die
Traditionen der Kultur , des Weltwiſſens , der Technik , der
Kunſt . Ja dieſer Meluſinenſchweif war die Erde in Wahrheit ,
zu der Antäus ewig zurückkehrte , die zähe Wurzel , die ſich
immer und immer wieder mit jedem Individuum hinabbohrte
in den heiligen Grund , wo Urdas Quell ſie umrauſchte .
Gewiß , es liegt Vergangenheit in dieſem Gliede . Es
iſt ein Meluſinenglied . Der Menſch lenkt hier hinab an
den Fiſch , von dem er in purpurnen Tagen gekommen iſt .
Der ewige Nix ſtreckt ſich hier auf zu ihm . Aber es liegt
mehr darin . Es ſteckt auch der ganze Weg empor zur
Menſchenkrone darin . Und ſelbſt in dem blechernen Feigen¬
blatt liegt ein ungeheurer Weg Kulturgeſchichte . Ein Weg
des Erwachens zugleich und des Zweifelns , Irrens , Verfluchens .
Am Tage , da dieſes Feigenblatt fallen wird , wird noch wieder
eine neue Lichtbahn offen ſein . Ein freies Auge wird eine
ſolche Marmorgeſtalt eines nackten Mannesleibes dann gerade
auf zwei Punkte hin bewundernd wie auf ihre Brennpunkte
beſchauen . Auf die Stirn mit ihren Himmelslampen , den
Augen , hinter denen der ewig fortzeugende Geiſt des Welt¬
alls wohnt . Und auf das Mannesglied , hinter dem die Aeonen-
Perſpektive der ewigen Generationen ſich ins uferloſe Blau der
zeitlichen Weltenfolge verliert . Goethes Augen etwa . Und
das Mannesglied eines geſunden Menſchen , auf dem die Kraft
weiter wandert , in Goethes Namen zu ſiegen , an Goethes Werk
weiterzubauen und eines Tages ſelbſt Goethe zu überbieten , ſo
daß die Augen noch von abermals höheren Sternen ſtrahlen .
Es klingt heute vielleicht noch wie eine recht paradoxe
Prophezeihung : aber ich glaube , daß die Abſchätzung dieſer
Feigenblatt-Dinge ſich in einer höchſt überraſchenden Kurve be¬
wegt . Eines Tages muß der große Umſchwung kommen , der
uns die Schuppen vor den Geſchlechtsdingen von den Augen
wirft . Gewiſſe Schutzzwecke geringerer Art werden ſich von
ſelbſt erledigen und plötzlich wird eine Wahrheit ſein , was ſo lange
öffentliches Geheimnis war : daß Meluſine nicht ein Tier¬
menſch iſt , ſondern ein Halbgott .
Nicht als ob das Myſterium der Zeugung ſelbſt hinaus¬
gezerrt werden ſollte auf die Gaſſe . So wenig das Myſterium
einer Beethovenſchen Symphonie anders ausgeteilt und genoſſen
werden kann , als von Wenigen in abgeſchloſſener Weihe der
Stimmung und des Orts , — ſo wenig wird dieſes allertiefſte
Myſterium der Menſchheit jemals ſeine heilige Einſamkeit ver¬
lieren , die Einſamkeit des Doppelmenſchen , der zum Liebes¬
individuum verſchmilzt und dabei jede Gegenwart eines Dritten
als profanſte Störung empfindet , weil er in dem Augenblick
ſich als die ganze Menſchheit fühlt und keine fremden Einzel¬
menſchen noch abgelöſt neben ſich dulden kann .
Aber was wir uns zurück erringen müſſen , das iſt die
tiefe ſittliche Überzeugung , daß dieſe Einſamkeit nicht die Iſo¬
lierung der Schlechtigkeit , der Unanſtändigkeit , ſondern die
heilige Einſamkeit des Opfernden auf dem Altar der Menſch¬
heit bedente . Verhängnisvolle Kette der Irrtümer . Vor das
Heilige , das übermenſchlich Große wurde ein Schleier gezogen ,
um es vor Profanierung zu wahren . Und in der profanen
Maſſe wohnte ſich der Glanbe ein , der Schleier ſei gezogen ,
um etwas ewig Unanſtändiges zu verdecken ! Was auch nur
als äußeres Symbol daran erinnerte , was als einzelner Licht¬
ſtrahl hier und da doch durch den Spalt des Vorhangs drang ,
das verfiel dem Bann der entfeſſelten Unanſtändigkeit . Der
heilige Tempelvorhang des Aktes wurde zum Kerker , in dem
der unſaubere Geiſt an Ketten lag , um die unſchuldige Welt
nicht zu vergiften . Der Zug kehrt in der wirklichen Religions¬
geſchichte öfter wieder . Geheimkulte von höchſter Reinheit
werden in der Meinung ſchließlich zu ſchauderhaften Teufels¬
orgien verkehrt . Das keuſche Frühlingsopfer im geheimnis¬
vollen nachtverhangenen Maienwalde wird zum Hexenſpuk , der
das Taglicht ob ſeiner Unſauberkeit ſcheut . Mit dieſem hiſtoriſch
begreiflichen , aber darum niemals vor der Logik gerechtfertigten
Mißverſtändnis müſſen wir endlich einmal aufräumen .
Das Mene Tekel flammt wahrlich hell genug , wenn dieſes
Mißverſtehen uns den Anblick unſeres eigenen herrlichen Körpers
verkürzen , die Kerkerwand gleichſam ſchon über ihn hinweg¬
ziehen will ; und wenn vollends gar die ideale Auferſtehung
dieſes Körpers in der Kunſt Ketten und Narrenmützen er¬
halten ſoll , Fluchmale des Hexenſpuks und der Unanſtändig¬
keit . Wenn das marmorne Mannesglied einer ewigen Schöpfung
Michelangelos nicht mehr mit reinem Auge geſehen werden
darf , ſo frage ich mich , ob man nicht auch das liebliche Kind¬
lein auf dem Arm der Mutter als unſittlich verbergen und
auf tauſend unſterblichen Werken übermalen müßte . Denn
das Symbol des Liebesaktes ſteckt in ihm genau ſo gut wie
in dem Mannesgliede . Wenn du aber das Kind bedeckt und
die Mutter bis über die Brüſte in formloſe Gewandung ver¬
hüllt haſt , ſo mußt du endlich auch über ihr Antlitz , ihr Haupt
einen letzten Schleier ziehen . Denn auch das Auge iſt , wie
wir früher beſprochen , in ſeiner Art ein Geſchlechtsglied . Das
Frauenhaar hat tiefe Geſchlechtszuſammenhänge , von denen wir
noch reden werden . Verhüllen mußt du die Blumen , die auf
Botticellis liebliche Göttin niederregnen , weil ſie Zeugungs¬
glieder ſind . Auslöſchen mußt du die goldene Sonne , denn ſie
iſt ohne jede Frage das allgewaltige Mannesglied unſeres
Planetenſyſtems , das mit der Feuchte des Erdenballes dich
und alles Leben ſeit Urbeginn der Tage gezeugt hat . Sollen
die Symbole fallen , ſo fällt zuletzt die Welt .
Aber das wird ſelber einſtürzen wie der Koloß auf
thönernen Füßen , und wenn nicht alle Zeichen trügen , ſo leben
wir ſchon mitten im Anfang des Endes .
Ich glaube an eine Zukunftsepoche einer idealen Reha¬
bilitierung des heute ſogenannten geſchlechtlich Unanſtändigen
überhaupt . Ja ich erwarte dieſe Epoche inmitten aller Kriſen
eines Feigenblatts-Fanatismus mit immer ſtärkerer Zuverſicht
als eine einfach logiſche Vollziehung , deren Keim ſchon jetzt
im Herzen gerade jedes echt reinen und keuſchen Menſchen
lebt und leben muß , weil ſich gewiſſe ganz ſchlichte , ganz
bettelwahre Thatſachen der Erkenntnis weder mit Schlafrock¬
fetzen noch mit Roſenkränzen mehr dauernd verhängen laſſen .
Dieſe Rehabilitierung eines Unanſtändigen in etwas Heiliges
wird eine ganz andere Waffe gegen alle wirkliche „ Unſittlich¬
keit “ darſtellen , ja die erſte überhaupt brauchbare . Indem ſie
von dem an ſich Heiligen des Aktes ſelber ausgeht wie von
einer feſten Burg und von da die groben Profanierungen
mißt und verwirft . Während unſer heutiger Kampf gegen das
Unſittliche zumeiſt noch bloß ein verſteckter Kampf wider die
Sache ſelber iſt , die man nicht als das höchſte und reinſte
Myſterium des ganzen Menſchenlebens , ſondern als eine ver¬
hüllenswerte Schwäche , Niedrigkeit , ja als eine Art leidig
notwendiger Teufelei anzuſehen gelernt hat .
Inzwiſchen wird die geſchichtliche Auffaſſung von der
Entſtehung der Dinge aber auch hier ein Stück Weges zur
Verſtändigung ſein auf alle Fälle .
Wenn es auf ihn regnet , ſo wird der Berliner ſo gut
naß wie der Südſee-Inſulaner . Deßwegen braucht weder
die Regenwolke über den beiden die gleiche zu ſein , noch
muß der Berliner etwa deßwegen ein Samoaner ſein . Ganz
im Sinne dieſes ſchlichten Satzes ſind zu ganz verſchiedenen
Zeiten am ganz verſchiedenen Ort von höchſt unterſchiedlichen
Tieren doch gleiche Organe gebildet worden . Dieſelbe körper¬
liche Erfindung iſt ſo und ſo oft gemacht worden , je nachdem
der Regen äußerer Nötigung fiel . Die Schnecke , das Inſekt ,
der Fiſch ſind an drei grundlegend verſchiedenen Ecken der
Tierheit aus dem Waſſer ans Land gekrochen und haben im
Zwang der „ Luft “ dabei alle drei lungenartig luftathmende
Organe entwickelt . Der Flügel iſt vom Vogel ſelbſtändig
erfunden worden , aber ebenſo von der Fledermaus , von der
Flugeidechſe Pterodactylus und in etwas veränderter Form
bei gleicher Leiſtung auch vom Schmetterling . Bei ſo und
ſo viel himmelweit getrennten Tiergruppen hat das Licht¬
bedürfnis regelrechte Augen geſchaffen . Und ſo fort .
In dieſem Sinne iſt auch das Begattungsglied ein
Kollektivprodukt . Wo immer bei den ſtreng geſonderten großen
Tierſtämmen das Bedürfnis auftauchte , die Begattung mög¬
lichſt eng zu geſtalten , da trat auch die ähnliche Bildung
einer eingebohrten Liebesſchraube auf . Die Geſchlechter ver¬
nagelten ſich momentweiſe ineinander und das Glied mußte
den Nagel hergeben . Ein letztes Stück Diſtance noch in den
Weibeskörper hinein wurde zum Miſchakt abgekürzt und
gleichzeitig ein mechaniſcher Halt während des Aktes für die
großen Zellleiber der zeugenden Hälften des Liebes-Individuums
geſchaffen .
Dieſe Grundmechanik war zu ſimpel , um nicht hundert¬
mal genau ſo ſich zu ergeben wie die Regennäſſe auf der
Haut jener beiden weit getrennten Menſchenkinder . Und ſo
findeſt du ein männliches Glied bei allerhand wirbelloſen
Tieren bereits . Du erinnerſt dich an die Schnecken , von
denen wir früher geſprochen haben , an die Inſekten , an ge¬
wiſſe Würmer . Beim Tintenfiſch , der den Schnecken zunächſt
ſteht , war ein Arm , alſo im buchſtäblichen Sinne ein Glied ,
dazu umgeformt . Und die Spinne machte die Sache gar mit
den Kiefern . Alle dieſe ſeparaten Methoden aber intereſſieren
uns jetzt nicht weiter . Wir ſuchen ſpeziell nur noch in der
menſchlichen Linie vom Fiſch etwa an aufwärts . Wie die
Sache hier erfunden wurde , das trifft auf uns und erklärt
uns ſelber unmittelbar . Erklärt unſere menſchlichen „ Liebes¬
abſurditäten “ . Aber ich denke , du biſt ſchon nicht mehr ſo
kühn , von ſolchen Abſurditäten ernſtlich zu ſprechen .
Die Geſchichte mußte bei den Wirbeltieren vom Fiſch an
aufwärts , — den Menſchentieren , wie man im geſchichtlichen
Sinne geradezu ſagen könnte — thatſächlich erſt noch einmal
ganz von Anfang an neu erfunden werden .
Der wunderbare Amphioxusfiſch , dieſer Thorhüter der
Wirbeltiere , zeigt dir noch keine Spur eines Begattungsgliedes .
Da er Samen und Eier durch den Mund herausſpuckt , müßte
auch geradezu der Mund bei ihm dazu umgebildet ſein , ſollte
er eins haben .
Aber auch beim Neunauge , wo du doch zuerſt echte Ge¬
ſchlechtslöcher am hinteren Körperende haſt , iſt noch keinerlei
leiſeſtes Mittel da , dieſe Geſchlechtsſtellen als ſolche nun mit¬
einander zu verknüpfen . Und das bleibt ſo bei einer Unmaſſe
auch noch von höheren Fiſchen . Wozu auch ein Glied , wenn
die Begattung noch in zwei ganz geſonderten Akten vor der
Liebesgrube beſteht wie bei jenen Forellen und Lachſen ? Das
Weib legt ja unbefruchtete Eier in die Grube — und der
Mann ſchüttet dann erſt Samen darauf . Aber bei jenen
Blaufelchen , die Leib gegen Leib ihren Liebesſprung machen
und gleichzeitig Beides fahren laſſen , verſtände man ſchon den
Zweck . Wenn das Glied nur zunächſt einmal eine Stütze gäbe ,
eine erſte Senkrechte von den beiden Parallelen bloß als
erſten Anhaltepunkt .
Da ſiehſt du denn , wie die Natur anfangs noch wieder
ſparſam mit dem experimentiert , was ſie bereits hat . Ehe ein
neues Glied , ein beſonderes „ Geſchlechtsglied “ , entwickelt wird ,
wird verſucht , ob 's nicht mit den ſchon vorhandenen Gliedern
allein gehe .
Hier zunächſt wird der Mund noch einmal wichtig . Der
Fiſchmund war vom Neunauge an ein ſehr energiſches Organ ,
— zum Packen , Feſthalten , Beißen immer prächtiger gebaut .
Schon das Neunauge hat wenigſtens Zähne . Der Haifiſch
trägt dieſe Zähne dann bereits als Säge in einheitlichen
Kiefern , und wir wiſſen ja , wie er damit zufaſſen kann .
Warum dieſe Klammerfähigkeit des Beißens nicht für den
Liebesakt verwerten ? Skrupellos wird einmal wieder eine
Freßſache für die Liebe mit benutzt .
Das Neunauge , das noch keine eigentlichen Beißkiefern
im Maule hat , verſteht unter Zupacken mit dem Munde noch
nicht eigentlich Beißen , ſondern Anſaugen . Wie zu einem
Kuſſe glühender Art preßt es ſein Mäulchen auf den Gegenſtand ,
an dem es haften möchte . Für gewöhnlich iſt dieſer Kuß
allerdings das Gegenteil von Liebe . Als ſcheußlichſte Plage
ſchlängelt ſich ſo ein kleines wurmartiges Vieh unter den Bauch
eines viel größeren Fiſches . Schwapp hat es geküßt , das
heißt ſich angeſaugt . An einer Stelle , die der Fiſch ſelber
nicht erreichen kann gleich jenem berühmten Fleck in Siegfrieds
Nacken , den er ſich nicht mit Drachenblut ſalben konnte und
der ſein Tod wurde . Ein bitterer Kuß . Wie ſpröde kleine
Mädchen , die noch nicht liebesweich zu küſſen verſtehen , ſondern
die ſpitzen Zähnchen mitbohren , ſo fühlt der arme Fiſch als¬
bald hinter dem Küßmunde des Neunauges etwas wie eine
Raſpel , die ſeine Haut angreift . Es ſind die Zähne des lieben
Neunäugeleins , denn es will ja freſſen und nicht küſſen . Die
Raſpel raſpelt denn auch ganz gemächlich die Schuppendecke
durch , die Haut , das Muskelfleiſch . Immer tiefer taucht der
Küßmund in den Leib des unglückſeligen Fiſches , das Neun¬
auge frißt ſich regelrecht einen Tunnel in den fremden Leib ,
bis der ganze Berg zu Tode gequält abſtirbt .
Es liegt wahrlich nahe , daß ein Tier , das ſich ſo elegant
und ſchlechterdings unabſchüttelbar an ſeinen Feind anzuküſſen
wußte , ſich auch Rat fand zum Aneinanderküſſen des Liebes-
Individuums . Du weißt , daß Berlin außer der Spree noch
einen geheimnisvollen , ſo zu ſagen unterirdiſchen Fluß hat ,
der ſich unter Straßen und Häuſern des Koloſſes herwindet
wie eines der ſchwarzen Grottenwaſſer von Adelsberg : die
Panke . In der Panke iſt zuerſt das Liebesſpiel der Neun¬
augen beobachtet worden . Auch die Neunaugen bauen eine
Liebesgrube . Unfähig den Sand nach Forellenart mit den
Floſſen herbeizufächeln , heben ſie Kieſel aus , indem ſie ſich
daran feſtküſſen , und bilden ſo tiefe Höhlungen im Grund .
In der Grube aber vollziehen ſie dann eine viel regelrechtere
Begattung als jene ſonſt höher ſtehenden Fiſche . Das Männ¬
lein ſaugt ſich am Nacken der Jungfrau feſt , — natürlich jetzt
bloß im echten Kuß ohne die bedrohliche Raſpelei . Wie ein
geſchwenktes Strumpfpaar am Bändel umwickeln ſich dann die
aalartigen Leiber und die Samenmilch ſpritzt auf die Eier im
Moment , da ſie aus dem weiblichen Geſchlechtsloch fallen .
Als deine Ahnen jenſeits dieſer unheimlichen Panken-
Küſſer echte Kiefern erhielten , hörte die Saugerei von ſelbſt
auf . Aber nun wurde es mit den Kiefern verſucht . Aus dem
Saugekuß wurde ein ſtumpfer Biß als Begattungsſtütze .
Bei den prachtvollen chineſiſchen Großfloſſern , die in
den letzten zwanzig Jahren eine Zier unſerer Aquarien trotz
allen altberühmten Goldfiſchen geworden ſind , packen ſich die
Liebespartner im Geſchlechtsſpiel aufs niedlichſte mit den
Kiefern bei der Lippe und gaukeln und tollen ſo lange
herum , bis der Bauch des Weibes nach oben die Eier aus¬
geſpritzt und der Mann nach unten den Samen darauf pollu¬
tioniert hat . Obwohl der Liebesbiß gewiß ſtumpf ſein ſoll ,
geht doch manche Lippe dabei in Fetzen , ein Beweis , daß
ſolche ſcharfen Meſſer , wie die Zähne , für leidenſchaftliche
Spiele der Art denn doch nicht das rechte Stützmittel
waren .
Intereſſant bleibt aber , daß in gewiſſem Sinne das Ver¬
ankern und Verklammern der Sichgattenden gerade durch
Beißen bis hoch in die Welt der Wirbeltiere immer noch
gelegentlich wiederkehrt .
Der allbekannteſte Fall iſt bei den Vögeln . Hier iſt
das eigentliche Begattungsglied durchweg unvollkommen geblieben
oder fehlt vielfach ganz . Dafür aber packt der Hahn die
Henne im kritiſchen Moment wie ein Raſender mit dem
Schnabel über den Hals , daß man meint , er wolle ſie ver¬
ſchlingen , und wirklich wenigſtens mit einer Wucht , daß faſt
allemal ein paar Federn fliegen .
Und bei uns Menſchen ſogar kann es keinem Zweifel
unterliegen , daß gewiſſe Reminiszenzen an jenes Liebesſaugen
und Liebesverbeißen noch klar vorhanden ſind . Du kennſt
das wundervolle Gedicht Heines : „ Schlachtfeld bei Haſtings “ .
Die nackte Leiche des gefallenen Königs Harald kann zwiſchen
Blut und Toten nicht mehr herausgefunden werden . Da ruft
man die ſchöne Edith Schwanenhals , die ſeine Geliebte ge¬
weſen . Und ſie erkennt den König .... .
„ Auf ſeiner Schulter erblickt ſie auch
Und ſie bedeckt ſie mit Küſſen —
Drei kleine Narben , Denkmäler der Luſt ,
Die ſie einſt hineingebiſſen . “
Und du brauchſt dich nur an jene kleinen violetten Liebes¬
abzeichen eines weißen Hälschens zu erinnern , die der Volks¬
mund als Lutſchflecke bezeichnet , um das Neunauge im
Menſchen wiederzufinden . Eine der einfachen geſchichtlichen
Wurzeln des Kuſſes überhaupt wird hierher zurückreichen , ob¬
wohl gerade der Mundkuß in dem früher erwähnten Sinne
ſich bei uns mit zu vielem verknüpft hat , um noch irgend eine
beſtimmte Altertümlichkeit rein zu ſpiegeln .
Einerlei indeſſen , wie hoch dieſe Rückklänge an die
Mundklammerei reichen mögen , — jedenfalls bekam der
Körper des Wirbeltiers ſchon auf der Fiſchſtufe zu dem einen
und erſten Klammerorgan , dem Munde , ſehr bald energiſche
weitere Klammermöglichkeiten durch die erſte Anlage der eigent¬
18
lichen Gliedmaßen . Sie tauchen beim Haifiſch zuerſt auf als
mindeſtens zwei paar Floſſen an Bruſt und Bauch , — die
Urſtufe der ſpäteren vier Reptil- und Säugetier-Beine und
auch noch unſerer zwei menſchlichen Arme und Beine .
Indem das verwertet wird , entſteht jene Tanz-Stellung .
Die Fiſchlein faſſen ſich mit den Floſſen . Auch dieſe Linie
kannſt du noch glatt bis zu dir ſelber herauf als äußerliches
Hilfsprinzip verfolgen . Die Floſſen wurden zu Bewegungs¬
gliedmaßen des Landlebens , zu entwickelten Beinen , Pfoten ,
Klauen , Zehen , Fingern , kurz einem ganzen Arſenal allent¬
halben von Klammerorganen , die dem Liebesakt geradezu von
ſelbſt zu gute kommen mußten .
Beim Amphibium , alſo bei Fröſchen und Kröten , die
durchweg ſchon ſehr gut ausgebildete Landbeine und Füße
ſtatt der Floſſen beſitzen , dagegen ein beſonderes Begattungs¬
glied noch nicht haben , ſiehſt du die glänzendſten Verſuche
nach dieſer Seite . Deine Krötlein mit den weißen Kehlchen
da drüben im Tümpel ſind ſchon wahre Meiſter darin , ſich
zum Geſchlechtszweck mit den Beinen feſtzuhalten . Oder , beſſer
geſagt , mit den Armen . Denn die kurzen Vorderbeine arbeiten
genau wie ſolche . Froſch wie Kröte haben keinen Schwanz
hinten , ſie können alſo nicht bloß Bauch gegen Bauch eng
aneinander , ſondern es glückt auch , wenn das Männchen ſich
auf das Weibchen ſetzt . Die Eier fahren nach hinten aus
und der ebenfalls hinterwärts nachſchießende Samen fällt von
oben darauf . Aber dabei nun gerade dienen zum Feſthalten
die Arme des Froſchprinzen . Huckepack auf der Prinzeſſin ,
packt er mit beiden Vorderpfoten die Jungfrau unter die
Achſeln oder um den runden Leib in die Leiſten und bildet
ſo viele Stunden , Tage , ja gelegentlich länger als eine Woche
lang das ſolideſte Liebes-Individuum im Zweck der Miſchliebe .
Die ſtarken Arme des Mannes beſorgen dabei gleich noch
ein zweites Werk , an das ein Mann bei uns ja nicht eben
denken würde bei ſolcher Beſchäftigung , auch wenn ſie noch
ſo lange ſich dehnen ſollte : ſie thun nämlich den Dienſt einer
derben Hebamme . Prall voll von Eiern , wie das Weiblein
iſt , bedarf ſein Leib nur dieſes Achſel- oder Leiſtendruckes
der Manneshände , um ſeine dicken Eiergallerte oder langen
Schnüre von Eiern aufs Glatteſte hintennach von ſich zu
gebären . Sobald der Prinz aber merkt , daß ſie kommen , läßt er ,
ohne vorne loszulaſſen , hinten ebenfalls ſeinen Samen darauf .
Zu leugnen iſt nicht , daß dieſe Methode bei allem
hübſchen Feſtpacken doch ihre Gewaltſamkeit ſich wahrt . Gar
manche arme Froſch- und Krötenprinzeſſin wird im langen
Akte durch die Umarmung und gleichzeitige Maſſage ſeitens
ihres Galans und Geburtshelfers jämmerlich totgequetſcht .
Immerhin iſt aber das Feſtklammern mit den Armen auch noch
oberhalb des Froſches zäh immer wiedergekehrt , wenn es
irgend nötig war , ſelbſt nachdem die eigentliche Aneinander¬
nagelung der beiden Körper durch das wirkliche Begattungs¬
glied längſt erfunden war . Gebrauchſt du doch noch bei dir ſelber
die „ Umarmung “ geradezu als ein mildes Wort für den Be¬
gattungsakt . Und als ſich beim Menſchen der ganze Begriff
Gliedmaßen nochmals verdichtete und aufs Herrlichſte vergeiſtigte
in der „ Hand “ , dieſem wahren Premierminiſter des Gehirns , —
da bekam dieſe Hand ſogar wieder eine ſtarke Rolle im höchſten
Akt , indem ſie dazu half , das Glied in die Pforte einzuführen ,
— eine erſte Spur gleichſam von geiſtiger Beherrſchung des
Aktes ſelber vom Gehirn , vom Bewußtſein aus , denen ſonſt
noch bei uns kein Gebiet des eigenen Leibes unabhängiger
und ſelbſtherrlicher gegenüberſteht , als gerade die Vorgänge
der Begattung .
18*
Indeſſen alle dieſe Befeſtigungsarten , ſo ſinnreich ſie ſein
mochten , gingen ſchließlich doch ſämtlich nur wie die Katze um
den heißen Brei herum .
Wenn ich auf ſchwankendem Schiff aus einer Flaſche in
ein Glas gießen will , ſo iſt ja eine erſte Grundbedingung ge¬
wiß , daß ich Flaſche und Glas mit Hilfe meiner Hände
möglichſt nahe nebeneinander bringe . Aber im entſcheidenden
Moment iſt doch noch mehr nötig : ich muß ſie „ ineinander “
bringen , ſo weit , daß der Flaſchenhals wenigſtens den Glas¬
mund berührt und etwas in ihn eintritt . Nur ſo kann ich
vermeiden , daß jeder Schwankungsſtoß das Naß außerhalb
verſpritzt .
Und ſo mußte der Haupttrumpf endlich doch noch ein¬
ſetzen : ein eigenes Glied ausdrücklich für den Geſchlechtszweck .
Ein Begattungsglied . Folgendes war der ſinnreiche
Weg dazu .
Zuerſt wurde es wieder mit dem Sparprinzip verſucht .
Die Natur knüpfte ans Vorhandene an . Der Fiſch hatte ſeine
Bewegungsglieder , die Floſſen . Konnte da nicht einfach eins
in den Dienſt des Geſchlechtsaktes noch viel enger treten als
durch äußere Tanzſtellung des Leibes ?
Denke dir 's einmal wieder an dir ſelbſt . Eines deiner
echten Glieder ſoll Mannesglied ſpielen . Der Samenöffnung
immerhin am nächſten ſind die Beine . Alſo denke dir , die
Samenröhre ginge innerlich in deinen Schenkel hinein bis ans
Knie . Am Knie erſt öffnete ſie ſich nach außen . Jetzt ſollteſt
du zum Begattungsakt das Bein im Knie einknicken und dann
mit der Knieecke voran in die Weibespforte preſſen . In dieſem
Augenblick ſpritzte der Samen dir aus und in die Pforte
hinein . Nach ſolcher Methode haben nun manche Fiſche un¬
gefähr die Sache wirklich verſucht . Einige Zahnkarpfen haben
eine überzählige Bewegungsfloſſe , die ſogenannte Afterfloſſe am
Bauch , ſehr nett in ein ſolches „ Begattungsbein “ verwandelt .
Der Samenkanal kommt aus dem Leibe heraus , geht in den
vorderſten Ruderſtrahl der Floſſe ein und mündet erſt an der
Floſſenſpitze . Wird dieſe Floſſe beim Liebestanz dicht an die
Weibesöffnung genötigt , ſo dient ſie heiligen Ernſtes wie ein
Mannesglied . Haifiſche und Seekatzen haben ſogar die echten
Bauchfloſſen , alſo die Urformen unſerer wirklichen zwei Beine ,
ähnlich verwertet und zeugen alſo regelrecht mit den Beinen
wie du in jener Kniephantaſie thun würdeſt .
Dieſe Geſchichte hat ſich aber einmal wieder ganz und
gar ſo nicht halten laſſen und du ahnſt weshalb . Aus den
loſen Fiſchfloſſen wurden allmählich ſolide Rumpfglieder mit
einem dicken Knochenapparat im Innern , auf den der Körper
ſich bei ſeiner Einbürgerung auf dem Lande ſtützen konnte .
Als allgemeine Klammerorgane wurden dieſe Gliedmaßen ja
immer famoſer , wie dir der Froſch zeigt . Aber ſo ſubtile
Innenſyſteme wie die ganze Samenleitung dauernd in dieſe
ſtrammen Säulen und Haken einzuführen , war je weiter je
weniger thunlich . Jene Afterfloſſe des Fiſchs war ohnehin bei
der Beſchränkung auf bloß vier echte Glieder ganz unter den
Tiſch gefallen . Und ſo iſt es eine lange Zeit geweſen , als
ſei jener alte Fiſchverſuch gar nicht da geweſen . Der Froſch ,
der Molch wiſſen ſchlechterdings nichts mehr davon . Und
wenn ſie oder ihre Nachfolger doch wieder erneut Bedürfnis
nach einem beſonderen Begattungsglied bekamen , ſo mußte die
ganze Hiſtoria nochmals neu anfangen , — diesmal ohne jede
Anknüpfung an die ältere Gliederfrage .
Du mußt dich inzwiſchen an etwas höchſt Wichtiges erinnern .
Deine Ahnenſchaft kriecht aufs Land und wird aus einem
Fiſch zum vierbeinigen Landtier auf jener Stufe , da konſequent
Urin , Kot , Eier und Samen durch ein und dieſelbe Öffnung ,
nämlich die als „ Kloake “ bezeichnete Aftermündung , das Licht
der Welt erblickten . Ein Begattungsglied bauen , hieß alſo auf
dieſer Stufe deiner Menſchwerdung : irgend etwas bauen , das
vom Afterloch des Mannes ausging und ins Afterloch des
Weibes wollte .
Ein „ Afterglied “ war die Preisaufgabe der Entwickelung ,
die der ganzen Sachlage nach zunächſt nur geſtellt und gelöſt
werden konnte .
Bei Froſch und Kröte haſt du , wie erzählt , noch rein
nichts . Die Eier fallen aus dem After und der Samen fällt
aus dem After . Aber ſie treffen ſich äußerlich . Hingegen
beim eng verwandten Molch , alſo auf der geſchwänzten Seite
des Amphibiums , fangen mit beſagtem After ſchon gewiſſe be¬
lehrende Experimente an , als wollte da etwas werden . Zuerſt
haſt du da Molchweiblein , die mit ihrem After eine Art Saug¬
bewegung vollführen . Sie haben ihre Eier noch drinnen im
Leibe . Aber der Molcher hat außen dicht vor dem Thore
ſchon ſeinen Samen ausgelaſſen und das Waſſer damit erfüllt .
Jetzt alſo pumpt die Molchin ſolches ſamengeſchwängerte Waſſer
in ihr Afterloch ſaugend ein und befruchtet ſo ihre Eier noch
vor dem Austritt innerlich .
Der nächſte Akt darüber hinaus geſtaltet ſich toll genug .
Sperrte das Weiblein ſchon ſo ſaugend ihr nehmendes After¬
loch weit auf , wie ein freſſendes Maul , ſo ſperren nun ihrer¬
ſeits gewiſſe Molchmännlein auch ihren gebenden After noch
gewaltiger auseinander , bis er den Weibesafter geradezu um¬
faßt . Die Geſchichte ſcheint hier auf dem Wege , ſchnur¬
ſtracks das Gegenteil von dem zu erreichen , was du heute in
deiner menſchlichen Veranlagung für ſelbſtverſtändlich hältſt .
Anſtatt nämlich , daß das Glied in die Scheide eintritt und
von dieſer umfaßt wird , ſtülpt ſich hier der Mannesteil um
die vorgeſchobene weibliche Öffnung wie eine Kaffeetaſſe herum .
Aber es iſt nur ein Seitenſprung ohne Belang im Feuer des
Experimentierens .
Da haſt du eine kleine Geſellſchaft dritter amphibienähn¬
licher Tiere , die weder Froſch noch Molch ſind . Sie leben
unſcheinbar in den Tropenländern , wühlen ſich ins feuchte
Erdreich ein wie die Regenwürmer und haben bei ſolcher
Lebensart im ſchwarzen Grunde ihre Augen ſo verkümmern
laſſen , daß man ſie geradezu die „ Blindwühlen “ heißt . Die
Blindwühle ſteht zum Molch wie die Blindſchleiche zur Eidechſe :
ſie hat ihre Beine vollſtändig aufgeſteckt , ringelt ſich dahin wie
eine Schlange und iſt überhaupt ein ſolches Sonderweſen , daß
die Beziehung zu Molch wie Froſch nahe am Rande des
ganz Problematiſchen iſt . Möglicherweiſe ſteckt in ihr der
arme Nachzügler eines uralten Geſchlechts rieſiger Panzer¬
drachen , die an der Grenze von Amphibium und Eidechſe
ſtanden und Labyrinthodonten genannt werden , maßen ihre
Zähne im Querſchnitt ein Labyrinth innerer Falten aufwieſen .
Beſagte Blindwühlen nun haben trotz ihrer Schlangen¬
form keinerlei Schwanz , ſondern der After ſitzt genau auf der
hinteren Leibesſpitze . Sintemalen dieſer After aber auch hier
noch zugleich echtes Liebesloch iſt , ſo ſtülpt der Blindwühlerich
die Wand dieſes ſeines Afters als langen ſpitzen Kegel heraus
bis der After ſelber wie ein echtes Begattungsglied ausſchaut .
Und das ſtößt er jetzt der Wühle tief in ihren Weibesafter als
ein wirklich ſinnvoller Päderaſt , bei dem die Sache noch ihren
echten Zweck vollführt .
Hübſch erdacht , — aber doch eben auch nur ein Ex¬
periment . Und weiter hat es das Amphibium überhaupt nicht
mehr gebracht . Wie es in deiner Ahnenreihe vom Reptil
abgelöſt wird , ſo iſt es denn auch erſt dieſes Reptil , das ein
neues Kapital der Gliedfrage aufthut .
Zum Reptil gehören von bekannten Größen die Eidechſe ,
die Schlange , das Krokodil und die Schildkröte .
Das Reptil hat als Grundlöſung vom Molch und der
Blindwühle übernommen : es muß unbedingt vom After her
etwas vorgetrieben und ineinander gepreßt werden . Aber
das Umfaſſen oder Heraustreiben des ganzen Afters will ihm
nicht gefallen . So experimentieren die Eidechſe und die
Schlange zunächſt weiter . Der Eidechſerich ſtülpt nicht mehr
die ganze Afterwand heraus und in den Weibesafter hinein .
Sondern er treibt innerhalb ſeiner Afterhöhle bloß zwei Stülp¬
ſtellen gewiſſermaßen ſeparatim vor , zwei , die ſo liegen , daß
in jede gerade eine der beiden Samenmündungen den Samen
eintrichtern kann . Es wächſt alſo im Erregungsmoment der
höchſten Liebe hier ſo zu ſagen ein kleiner Operngucker aus
dem großen Mannesafter heraus . Indem aber im Weibes¬
after ebenfalls die beiden Eiermündungen vorſchwellen und im
Akt Operngucker ſich in Operngucker geradezu einſchraubt ,
entſteht ein ſchon ganz famoſes Zeugungs-Scharnier .
Ja die beiden männlichen Röhren entwickeln gar noch
an ihrer vorgeſtülpten Seite Stacheln und Warzen , die den
Verſchluß vorübergehend reinweg unlösbar machen . Wie die
Kletten hängen die guten Freunde , ſo lange ſie aufgeregt ſind ,
ineinander . Manche Eidechſen , wie beiſpielsweiſe die blind¬
ſchleichenähnlichen Scheltopuſiks , würdeſt du in Stücke reißen ,
wollteſt du ſie gewaltſam trennen , da ſie gerade ihren Opern¬
gucker ineinander haben . Kreuzottern liegen vom Abend bis
zum Morgen verknäuelt ſo da , und wenn du ſie aufſtörſt , daß
ſie fortkriechen wollen , ſchleppt die größere die kleinere am
doppelt vernagelten After mit .
So wäre , ſcheint es , das große Problem hier gelöſt .
Aber wenn du genauer hinſchauſt , iſt es das mindeſtens doch
noch nicht für dich als hochbelobtes Schlußprodukt der Linie .
Hier kommen zwei Mannesglieder , beſtachelt und bewehrt wie
die Igel , auf Verlangen aus dem Grunde des Afterloches vor .
Aber das biſt du doch wahrlich nicht , wenn 's auch noch ſo
feſt ſchon ſchließt .
Das Experiment ſtand eben auch hier noch nicht ſtill .
Machte die Eidechſe es ſo , immer ſchon im Fortſchritt , ſo
glückte es — und iſt es vielleicht ſogar vor ihr ſchon geglückt
— einem andern Reptil noch wieder anders , nämlich dem
guten Krokodil .
Das Krokodil entwickelte ſich ſchlicht am Afterrande zu¬
nächſt bloß eine Art Warze oder einen kleinen Fleiſchfortſatz .
Unaufgeregt , lag er ſtill da wie ein Hämorrhoidalknötlein .
Wenn aber dem Krokodil im Liebeseifer ſo zu ſagen das Blut
zu After ſtieg , ſo ſchwoll das Wärzlein zum ſtraffen Kegel ,
gleich als ſäße es an eines kollernden Truthahns Hals . Das
Krokodil iſt ein wilder Geſelle im Liebeskoller . Es ſchmeißt
ſein Weib derb auf den Rücken und preßt Bauch zu Bauch .
Prall wie er ſtand , geriet der vollblütige Zapfen des Mannes¬
afters in den Weibesafter hinein . Und wie jetzt innen im
After von beiden Samenſtellen her die Samenflut heranſchwoll ,
zeigte ſich , daß der derbe Zapfen zwar innen keinen Kanal
beſaß zum Ausſpritzen dieſer vereinigten Samenwelle , aber er
hatte doch äußerlich gerade eine hübſche Rinne , — und wie
an einer ſchrägen Dachfirſt ſchoß durch dieſe vertiefte Regen¬
rinne das treffliche Lebenswäſſerlein zielgerecht abwärts in die
Afterkloake der Frau Krokodilin hinab und der Mündung dort
der Eierkanäle entgegen .
Unleugbar : die Sache war nicht ſo hermetiſch ſcharf , wie
bei dem Operngucker des Herrn Eidechs . Aber ſie hatte einen
Vorteil : ſie war vereinfacht . Statt der zwei Glieder bloß
eines . Und die innere Afterwand war noch mehr entlaſtet .
Das alte Fiſchprinzip mit der Floſſe , an der die Samenwelle
entlang ſtoß , war gewiſſermaßen noch einmal aufgenommen .
Die aufrichtbare Warze hing loſe am Aſterrande wie eine
kleine , beliebig einziehbare Floſſe oder , beſſer noch , fortent¬
wickelt wie ein bald dünnes , bald dickes Fingerchen , deſſen
Leiſte den Samen abgoß wie die Holzplanken das Waſſer
über einem Mühlrad .
Du haſt dir ſchon ſo manche ſeltſame Ahnenſchaft ge¬
fallen laſſen müſſen . Bald das Neunauge , das du ißt , bald
den Haifiſch , der dich eſſen möchte . So laß dir auch das
ungeſchlachte Krokodil einmal in deiner Lichtbahn zum Halb¬
gott willkommen ſein . Dieſer einfache Rinnenzapfen des
Krokodilafters iſt die echte Urform deines eigenen Gliedes
jetzt wirklich . Die Schildkröte nebenbei gemerkt , hat ſie gerade
ſo wie das Krokodil . Dieſer Afterzapfen weiſt zum erſten Mal
in ſtreng gerader Magnetweiſung auf dich als Pol .
Freilich : vergegenwärtige dir immer noch den Unterſchied .
Ein im Erregungsrauſch durch Blutzufuhr aufrichtbarer ſolider
Fleiſchzapfen hängt am Afterrande . An ihm ſtrömt in einer
äußerlichen Rinne der Samen beim Akte ab . Der Zapfen iſt
keineswegs innen durchbohrt wie deiner . Es ſtießt nur der
Samen an ihm ab , keineswegs aber auch der Urin . Der
paſſiert vielmehr nach wie vor die große Afterpforte vollſtändig
unbekümmert um das Puterzäpfchen da vorne .
Da gibt es offenbar noch gute Stationen zwiſchen dem
Krokodil und dem Doktor Fauſtus .
Zunächſt iſt hier einzuſchalten , daß die Vögel ein Seitenaſt
der Reptilien in der Gegend von Krokodil und Schild¬
kröte ſind .
Die meiſten Vögel haben allerdings , wie es ſcheint nach¬
träglich noch wieder , auf jedes Begattungsglied überhaupt ver¬
zichtet . Vielleicht war es ein Triumph der Gymnaſtik bei
ihnen . Leicht , ſchwebend , an kühnſte Stellungen gewöhnt durch
ihre Luftſchifferei , temperamentvoll zugleich und förmlich epi¬
grammatiſch raſch in allen ihren Bewegungen , mag ihnen
jeder ſolidere Scharnierverſchluß beim Akt überflüſſig erſchienen
ſein . Ein Odyſſeus ſchließlich treibt ſeinen Pfeil durch die
Öſen von zwölf Äxten rein durch die voraus rechnende Viel¬
gewandtheit ſeines Adlerblicks . Wenn man zwei Vöglein bei
ihrem blitzſchnellen , virtuos gewandten Gebahren zuſieht , ſo
ahnt man : die brauchen gar kein Glied . Da fliegt die Lebens¬
welle ein wie Odyſſeus Axt .
In der Mark liegt ein guter Ort . Rings Waſſerwieſen ,
ſmaragdgrün , wenn das Schilf hoch wallt , golden , wenn die
Caltha blüht . Über dem Dorf ein Sandberg , mit leiſe ſummen¬
den , lerchenüberſchwirrten Roggenwänden hier , dort kahl aus¬
gehöhlt wie ein Mondkrater , — der ſchönſte Ausſichtspunkt
fernhin . Der Flecken heißt Goſen . Eine Seidenkolonie des
alten Fritz . Hier iſt wirklich gut ſein , wenn auch nicht Milch
und Honig fließt . Noch keine Bahn , bloß eine alte Rumpelpoſt
von Erkner her . Grüne Moosdächer mit Wendenkreuzen auf
allen Häuſern . Ein verwunſchener uralter Kirchhof , zuge¬
ſponnen von einem Dornröschenwalde dicker , ſchwer duftender
Fliederbüſche . Und Blumen , Blumen überall , vor jedem Hauſe ,
hinter dem moosgrünen Staket , auf das nach treuem Brauch
des Hauſes Nachttopf geſtülpt iſt . Die Dorfſtraße ſauſen die
ſtahlblauen Schwalben lang und zwitſchern aus der Jugendzeit .
Auf dem Dachfirſt aber niſtet , ſelbſtverſtändlich , der Storch .
In dieſem Goſen habe ich das Liebesſpiel der Störche
mir angeſehen . Und Reſpekt bekommen vor ihrer Balancier¬
kunſt . Auf dem ehrwürdig ſtruppigen Dach , das wie ein Auer¬
ſtier da lag , der ſich im grünen Algenſumpf geſiehlt , kühn das
Neſt . Im Neſt , ſchwindelnd aufrecht , Frau Adebar . Und auf
ihrem Rücken , ins Blau zwiſchen den Lämmerwölkchen hinein ,
Er , — jetzt einknickend in dieſer Eiffelturmſtellung , von hinten
gegen ſie anſchlagend nach Hahnesart , — und gleich wieder
aufrecht , lebhaft klappernd , mit der ſpaßhaften Gravität dieſer
Vögel , denen der Akt die höchſte Würde umſchließt . Sie ſind
unbewußt klüger als wir ! Aber wer ſo überhaupt die Sache
abmachen kann , der braucht kein Eidechſen-Scharnier .
Gerade die Störche ſelbſt haben ja noch eine Art Remi¬
niszenz vom Krokodil , — eine Warze als verwiſchten Reſt des
krokrodiliſchen Rinnenzapfens . Andere Vögel , die Enten , die
Gänſe , die Schwäne zeigen ſogar den Zapfen noch ſammt der
Rinne . Und die altertümlichſten , in vielfältiger Hinſicht den
Reptilien noch ähnlichſten Vögel von heute , die Strauße , haben
ihn trotz dem beſten Krokodil . Aber in der Maſſe der Fieder¬
welt ſind das gleichwohl Ausnahmen . Hinzuentwickelt zur
Reptilſtufe hat in der Gliedfrage der Vogel auf alle Fälle
nichts . Der Weg zu dir lief ja auch gar nicht über ihn , ſondern
unmittelbar zum Säugetier . Und da rollt die Kugel jetzt
unaufhaltſam zum Ziel .
Drei Akte vollzieht das Säugetier — und es iſt bei dir .
Den erſten Akt zeigt dir das vielgenannte Schnabeltier ,
dieſer unentwegte Lehrer über alte Vormenſchheits-Verhältniſſe
in Auſtralien . Es hat noch Urin , Koth , Samen und Eier ,
wie du weißt , im gleichen Afterloch , — das erſte und letzte
Säugetier , das es ſo hat . Entſprechend wächſt ihm denn
auch noch der alte , nur etwas veränderte Krokodilzapfen direkt
aus dieſem After heraus . Aber doch ein gewaltiger Fortſchritt .
Aus dem Mühlradsbrett mit einer Rinne iſt eine hohle Röhre
geworden . Die Ränder der Zapfenrinne ſind oben ſo mitein¬
ander verwachſen , daß ein Kanal im Zapfen geblieben iſt .
Statt einer Glitſchfläche , an der er beim Krokodil abwärts
rann , hat der Samen jetzt im Erregungsfall ein Puſterohr
im After herausſtehen , durch das er hervorſpritzen kann .
Den nächſten Akt inſzeniert das Beuteltier , — alſo etwa
das Känguruh . Im einheitlichen After bildet ſich jene Scheide¬
wand , die fortan das echte Maſtdarmende von der Ausfuhr¬
ſtelle für Urin und Samen oder Eier trennt . Jetzt hat der
kanaliſierte Samenzapfen natürlich auch nichts mehr im Darm¬
ende , dem fortan echten After , zu ſuchen . Er gehört zur
anderen Seite hinüber .
Sobald die Natur aber hier wieder Samenzapfen und
Urinloch allein nur noch nebeneinander hat , beides Flüſſigkeiten ,
die auszuſpritzen ſind , geht ſie wieder nach dem Prinzip der
Vereinfachung vor . Die Samenröhre wird auch als Urin¬
röhre unmittelbar benutzt . Prall mit Blut gefüllt , im Zu¬
ſtand der puterhaften Aufrichtung , dient ſie dem Samen nach
wie vor . In ſchlaffem Zuſtande aber läßt ſie den Urin
einfach abfließen .
In dieſem Moment , beim Känguruh , iſt das Begattungs¬
glied in allem weſentlichen dein Glied ! Ein vorſpringender
Fleiſchzapfen außer Zuſammenhang mit dem Afterloch , —
innen von einem Kanal durchbohrt — und in dieſem Kanal
abſtrömend je nach Bedarf der Samen und der Urin .
Nur ein einziger , dritter und letzter Akt noch iſt nötig ,
um etwas Äußerſtes beizufügen , das direkt aber mit dem
Begattungsgliede ſelbſt nicht viel mehr zu thun hat ; auch er
beginnt ſchon beim Känguruh .
Die eigentlichen männlichen Geſchlechtsfabriken , in denen
der Samen bereitet wird , die beiden Hoden , rutſchen aus dem
inneren Leibesverband abwärts , — ſo tief abwärts , daß ſie
ſchließlich unter dem Mannesgliede wie in einem Bruchſack frei
herauskommen . Es iſt , als wenn dieſes Glied , immer größer ,
freier , entwickelter geworden und als gewaltiger Zapfen am
Unterleibe ſchließlich ſo zu ſagen offen vortretend , dieſes ihm ſo
eng zugehörige Bereich zu ſich heranzitiert , herab- und heraus¬
beſchworen habe . Jedenfalls wird vom Beuteltier an aufwärts
in ganz allmählicher Folge , Stufe um Stufe , dieſe Umlagerung ,
dieſes Abſteigen der großen Fabrik ſelber ſichtbar . Bis endlich
das ganze Samenorgan wie eine dicke Kürbisflaſche außen
unter dem Spritzzapfen hängt : der Hodenſack mit den „ Eiern “ .
Bei einer Reihe ſehr bekannter Säugetiere iſt die Sache
noch ſo gut wie ganz unklar . Der Walfiſch , das Faultier und
der Elefant beiſpielsweiſe haben ihre Samenfabrik noch voll¬
kommen tief im Leibe wie das Schnabeltier . Bei den uralten
Igeln , bei Nagetieren und Fledermäuſen iſt die Geſchichte
noch heute im Fluß : die Hoden rutſchen hin und her ,
kommen zur Liebeszeit herab in eine Sackfalte und flitſchen in
den Ruhepauſen wieder in den Bauch zurück . Schließlich klärt
und feſtigt ſich aber alles doch . Schon der Halbaffe und vollends
der Affe haben ihren Sack am rechten Fleck auf Lebenszeit .
Und ſo iſt's zu dir gekommen , als könnte es nie mehr anders
ſein . Urahn Affe hat 's dir beigebracht , und wenn die weiſen
Zellchen deines werdenden Leibes heute ihren Bauplan „ Menſch “
durchführen , ſo bauen ſie folgerichtig hier den After ſeparat ,
hier das Mannesglied für Urin und Samen , und unter das
Mannesglied hängen ſie das hochkoſtbare Beutelchen , das die
Samenfabrik ſelber umſchließt .
Ein gewiſſer kleiner Kampf iſt auch im Säugetier geführt
worden um die äußerliche freie Lage und die innere Solidität
des Mannesgliedes . Beim vierbeinig laufenden Tier wird das
Glied von vorne herein möglichſt an den Bauch angelegt . Erſt
die aufrecht flatternde Fledermaus läßt es im ruhenden Zu¬
ſtand ſenkrecht abwärts hängen . Das macht dann der Affe
nach , deſſen Leib ſich beim Klettern ebenfalls aufſtellt . Und
endlich auch der gehende Menſch , bei dem dieſe Befreiung des
Gliedes auf dem Gipfel iſt . Vielfach iſt bei jenen Vierfüßlern
noch probiert worden , dem Gliede eine innere Solidierung zu
geben durch eine beſondere Knocheneinlage . Du kennſt den
tragikomiſchen Fall , wenn zwei Hunde ineinander ſtecken und
nicht mehr los können . Der häufige Fall mag hier einerſeits
auf das Konto kommen , daß unſere Hunderaſſen ſo extrem in
der Größe verſchieden ſind und doch nicht laſſen können , alle¬
male wieder „ Dachsmopswindſpielpudel “ gründen zu wollen .
Aber wichtig iſt auch dabei , das gerade ſolcher Hund im Gliede
einen ſtarken Knochen ſtecken hat , einen ſogenannten „ Penis¬
knochen “ . Auch Nager , Raubtiere und andere mehr beſitzen
dieſes ſeltſame Brett im Gliede . Und ſelbſt bei Fledermäuſen
und Affen findeſt du es noch . Aber auch das hat der Menſch
völlig wieder abgeworfen als eine Sicherung , die ſchließlich doch
die Freiheit im Akt nur wieder hemmte .
Es läßt ſich an deinem Mannesgliede wie an all deinen
anderen Gliedern wundervoll jenes Prinzip der „ Gliederlöſung “
ſtudieren , dem der Menſch zweifellos ſeine überlegene nervöſe
Gewandtheit verdankt . In deinem ganzen Gliederbau triumphiert
die vergeiſtigte Beweglichkeit , und das ſo übermächtig , daß ſelbſt
das flinkſte Tier im Grunde daneben wie ein aus Latten
roh zuſammengenagelter Hampelmann erſcheint .
Denke nur an den Bau deiner Hand , denke an die Zunge ,
denke an die Art , wie deine Wirbelſäule auf den aufrechten
Gang eingeſtellt iſt . Auf dieſer allgemeinen Gliedervergeiſtigung
zum Zweck eines wunderbar einheitlichen und zugleich wunder¬
bar verfeinerten , durchgearbeiteten Handelns beruht weſentlich
auch die äußerliche Harmonie , die der nackte Menſchenkörper
für den Anblick gewährte , — die Schönheit des nackten Menſchen .
Zu dieſer harmoniſchen Schönheit gehört nun durchaus
auch das Mannesorgan in ſeiner charakteriſtiſchen Winkellage
zwiſchen den Kapitälen gewiſſermaſſen der Schenkelſäulen , die
den Leibestempel tragen . Und ſchon aus rein äſthetiſchem
Grunde iſt es alſo eine profanierende Albernheit , an der
nackten Marmorſtatue eines Kunſtmeiſters dieſen notwendigen
Teil der Harmonie durch einen abſolut unzugehörigen Gegen¬
ſtand wie das Blatt einer Pflanze , durch ein „ Feigenblatt “ , zu
verſtümmeln .
Rein ornamental bildet das Mannesorgan , Glied und
gedoppelter Hodenſack auf der Grenze gerade , wo die Einheit
des Rumpfes durch die Zweiheit der Beinſäulen abgelöſt wird ,
das ſchönſte Form-Intermezzo durch ſeine kleine feine zwiſchen¬
geſchobene Dreiteilung . Durch das Organ gerade an dieſer
Stelle verliert der Leib das von unten her Aufgeſpaltene , die
Spaltſtelle wird verdeckt , ein harmoniſcher Linienſtrom vom
Unterleib in die Beinſäulen hinein erzeugt . Dem ganzen
ſchweren , maſſigen Rumpf-Schenkelſtück aber verleiht das ſcharf
individualiſierte , ſelbſtändig bewegliche Glied zugleich eine Art
vergeiſtigten Mittelpunktes , es bildet gleichſam einen Finger ,
eine kleine dritte Hand an ihm , die mit den Händen rechts
und links in eine rhythmiſche Beziehung für das Auge tritt .
Wenn du dir dazu nun aus der Kette der Bilder , die
ich dir vorgeführt habe , vergegenwärtigſt , welche unendliche
Feinarbeit der Natur nötig geweſen iſt , um gerade dieſen
Leibespunkt ſo herauszubringen , wie er da iſt , — wie der Menſch
auch in dieſem Organ unaufhaltſam ſich herauf- und heraus¬
gegipfelt hat , dieſer innere , treibende Menſch , der über Nebel¬
flecke und Sterne , Planet und Lebensformen tauſendfältiger
Art durch die Natur heran- und immer herangeſchwommen iſt
ſeit Äonen der Zeit , — — wirſt du nicht ſelber erröten
müſſen über dein klägliches Wörtlein „ Unanſtändig “ ?
Nun iſt bloß noch ein kurzes Wörtlein vom weiblichen
Begattungsteil zu ſagen .
Zu ſeiner gleichzeitigen Ahnentafel .
Die Hauptſache iſt ja klar . Je deutlicher beim Manne
der Keil , der Flaſchenhals , — deſto ſelbſtverſtändlicher beim
Weibe die einfache Öffnung , der Becher . Auch das Weib
machte natürlich den Sprung mit beim Schnabeltier : daß
nicht mehr ein und daſſelbe Kloakenloch Koth , Urin und Eier
ausgab und Samen einnahm . Es ſonderten ſich die Pforten :
der After nur noch für den Koth — und ein zweites Thor
fortan für Urin- und Eier-Export und Samen-Import . Dieſe
letztere Öffnung war jetzt ausſchließlich der Becher , der für
den Akt in Frage kam .
Schauſt du indeſſen heute in dieſen geheimnisvoll ehr¬
würdigen Becher der Natur genauer hinein , ſo merkſt du , daß
doch auch hier mancherlei kleine Kreuz- und Querwege der
Entwickelung ganz in der Stille ſtattgefunden haben müſſen ,
die noch heute in ſichtbarlicher Schrift da drinnen verewigt
ſtehen wie in einem alten Stammbuch .
Denke jene Bilderreihe raſch noch einmal durch , aber
beachte jetzt das Weib mehr als den Mann . Du biſt noch
einmal jenſeits der Loſtrennung des Afters vom Liebesthor .
Zuälteſt haſt du da die Außenzeugung der Fröſche und Kröten :
das Weib läßt die Eier aus dem After ſchießen und der Mann
gießt außen erſt den Samen auf . Dann haſt du die Molche ,
wo ſich After um After preßt , — das Weib behält die Eier
noch drinnen , der Mann ſpritzt den Samen zu ihnen hinein ,
innen findet die Befruchtung ſtatt und dann erſt legt die
Frau die Eier .
Aber die Aftervorhalle beider Liebenden iſt gar groß und
hat verſchiedene Separatpforten in ſich . Es gilt , daß nun
gerade der Erguß der männlichen Liebespforten genau auch
an die engeren weiblichen Liebesthüren innerhalb der anein¬
ander gepreßten Vorhallen gelange . So ſiehſt du das weiſe
19
Krokodil gleichſam ein Brettchen oder Falltrepplein aus ſeinem
After hervorſchieben , an dem gerade der Samen eine engere
Direktive in den Orkus drüben hinunter erhält , — jenen be¬
wußten Fleiſchzapfen , mit dem dein Mannesglied beim aller¬
erſten echten Morgenrot eins war .
An dieſer Stelle kann es abſolut nichts wunderbares für
dich haben , wenn auch das Weib ſeinerſeits innerhalb ſeiner
Aftervorhalle ein Stückchen weit mit einem ſolchen Brett ent¬
gegengekommen wäre zur Aufnahme des Samens an die
rechte Stelle , — wenn es der Samenleitung des männlichen
Zapfens ſozuſagen eine Art Handhabe oder Kelle entgegen¬
geſtreckt hätte in Geſtalt eines ebenſolchen , wenn auch kleineren
weiblichen Fleiſchzapfens an ſeinem After .
Und in der That jetzt : etwas dieſer Art muß bei deinen
Vorfahren in der Gegend der Reptilſtufe wirklich wohl beſtanden
haben . Auch das Weib entwickelte ein kleines Glied , ein
Fingerchen , das im aufgeregten Moment anſchwoll und ſich
vorreckte , auf daß das Mannesglied ſich daran füge und nun
eine vollkommene Rinne für den Samenſtrom von den Samen¬
pforten im Mannesafter zu den Eierpforten im Weibeſafter
auf die Dauer des Aktes hergeſtellt werde .
Es muß eine ganze Weile lang den Anſchein bei deinen
tieriſchen Ahnen gehabt haben , als ſollten Mann ſowohl wie
Weib jedes ein ſolides Geſchlechtsglied erhalten , — ein Mannes¬
glied und ein Weibesglied , die erſt aneinander geſetzt das
wahre Begattungsglied im Ganzen ergaben .
Nachher bei den Säugetieren iſt aber dieſes Doppelent¬
gegenkommen von den beiden Seiten her doch wieder mehr und
mehr eingeſchränkt worden . Die Sache hat ſich einmal wieder
vereinfacht .
Auch beim Weibe trennte ſich , wie geſagt , der After end¬
gültig von der Pforte für Urin-Ausfuhr und Samen-Einfuhr .
Aber bei der Mehrzahl der Säugetiere ging es jetzt auf der
weiblichen Seite keineswegs ſo weiter , daß nun auch die Rinne
am Weibeszäpflein zum Kanal wurde , dieſer Kanal die ge¬
ſamte Ein- wie Ausfuhr allein übernahm und das ganze
übrige Loch hermetiſch zuwuchs .
Im Gegenteil .
Das weibliche Gliedzäpfchen blieb ein einfaches ſolides
Fleiſchſpitzchen ohne Kanaldurchbohrung . Es ſchmolz aber
gleichzeitig auf ein Minimum zuſammen zu gunſten der großen
Geſamtpforte .
Dieſe Pforte blieb in ganzer Größe offen .
Alles disponible Material in der Nähe des alten Glied¬
fingerchens und auch dieſes ſelbſt wurde gleichſam zu Por¬
tieren dieſer Generalpforte verarbeitet . Ein Teil des alten
Fingerchens zu einem Paar kleinerer , innerer Portieren . Ein
paar nebenliegende Falten ( die beim Manne den Hodenſack
ſchließen helfen ) zu zwei großen dicken Außenportieren . Der
letzte Reſt des Fingerchens , das Spitzchen gerade noch , blieb
bloß mehr wie eine Art oberer Dekorationsknoten in dem
inneren Portierenpaar ſchweben . Erſt jenſeits aller dieſer
Portieren aber zeigten ſich im innerſten Heiligtum nach wie
vor die zwei echten Einzelpforten : oben der Waſſerhahn des
Urin-Apparats , durch den der von den Nieren geſpeiſte Topf
der Harnblaſe von Zeit zu Zeit regelmäßig umgeſtülpt wurde ;
und darunter das bedeutſame Thörlein zu dem eigentlichen
weiblichen Geſchlechtsapparat , durch das der Mannesſamen hin¬
ein mußte , dem Ei entgegen , — und durch das dann ſpäter
dieſes Ei , zum Kinde gereift , ſelber heraus mußte . Kam jetzt
nunmehr das ſtraff geſpannte und mit Samen geladene Mannes¬
glied heran , ſo ging es zunächſt zwiſchen allen Portieren glatt
hindurch , trat dann ſelbſt in den innerſten Raum mit den zwei
Pforten ein und drängte ſich in die untere , wichtigſte Thür tief
genug ein , um endlich ſeine koſtbare Samenkolonie genau da
abzuſetzen , wo der Weg ſchlechterdings nicht mehr zu verfehlen
war . Einen unwichtigen kleinen Portierenanſatz auch dieſer
entſcheidendſten Pforte noch , das ſogenannte Jungfernhäutchen ,
19*
pflegte das Glied beim erſtmaligen Eindringen mehr oder minder
gewaltſam einzureißen , ohne ſich dadurch irgendwie in ſeiner
geraden Abſicht zum heiligen Naturzweck ſtören zu laſſen und
ohne daß auch das Weib irgend einen ernſthaften Schaden davon
gehabt hätte .
Wir ſind beim Menſchen .
Die äußeren Portieren ſind die großen Schamlippen .
Die inneren Portieren ſind die kleinen Schamlippen .
Das Reſtchen des alten weiblichen Zeugungsfingers aber
iſt die ſogenannte Klitoris oder der Kitzler , wie er aus einem
ganz beſonderen Grunde heißt .
Nichts iſt erfüllt , ſcheint es , an dieſem Kitzler von ſeiner
uralten Miſſion . Nicht er bildet den Becher , in den der
Flaſchenhals ſeinen Unſterblichkeitstropfen gießt . Nicht einmal
das Abflußrohr des Urins tritt in ihn ein . Und ſo ſcheint er
wirklich bloß ein überflüſſiges Stammbuchblatt dieſes viel¬
bewegten Entwickelungsſchauplatzes zu ſein , — ein Stammbuch¬
blatt höchſtens für die paar vorgeſchrittenen Menſchheitsgehirne ,
die anfangen , auch die halb verwiſchte Runenſchrift der wahren
Weltgeſchichte mit Intereſſe zu leſen ; aber ein Nichts für die
Millionen , die ihren Leibesbeſitz nur nach der praktiſchen
Leiſtung meſſen .
So einfach liegen die Dinge indeſſen doch nicht . Mit
dem derben Worte „ Kitzler “ wird eine ganz neue Melodie
unſeres merkwürdigen Liebesepos angeſchlagen . Die dritte
jener großen Fragen der Miſchliebe , von denen wir ausgegangen
ſind : die Luſtfrage .
Davon wäre alſo noch beſonders zu reden .
Geheimniſſe ſind noch keine Wunder.
Goethe ( Sprüche in Proſa )
D ie ganze Naturgeſchichte der Liebe , wie wir ſie hier
beſprechen , iſt alles in allem genommen nur erſt eine An¬
deutung . Eine Kette von Lichtpünktchen , von denen gar manches
erſt noch wieder verglimmen mag , ehe die Funkenreihe ein
echter Sonnenſtreifen wird .
Die Naturgeſchichte der Wolluſt iſt aber noch einmal wieder
nur das Surrogat eines ſolchen Pünktchens . Sie ſtreift in das
vorläufig dunkelſte Feld unſerer ganzen Weisheit : in das Feld
nämlich der Empfindungen .
Mit dem „ Empfinden “ geht es uns Menſchenkindern ja
höchſt drollig .
Es iſt ein Gebiet , wo jeder von uns die volle Ehre ge¬
nießt , Fachmann zu ſein . Wir haben das nicht von Hören¬
ſagen : wie es iſt , wenn etwas uns gut thut und etwas an¬
deres ſchlecht , wenn 's uns wohl iſt und wenn's uns übel
iſt , wenn eine Roſe uns duftet oder ein Dorn uns ſticht . Der
Dümmſte kennt das als Thatſache ſo gut wie der Philoſoph .
Das Kind bringt es mit und alle Erziehung durch Lehre und
Leben ſtützt ſich auf dieſe ſeine Grundweisheit .
Aber dieſe ſtolze Fachmannſchaft erkaufen wir nun durch
das gegenſätzlich Mißliche , daß wir ſtreng genommen auch bloß
unſere eigene Empfindung in der Welt als Maßſtab kennen .
Die Empfindungen aller übrigen Menſchen und Weſen um uns
her erraten wir ſtets nur auf Grund eines Analogie-Schluſſes .
Ins Herz ſeiner Empfindungen ſelbſt ſehen wir keinem
anderen hinein . Immer iſt ein Umweg über einen Schluß
nötig . Dich pikt einer mit einer Nadel und du ſchreiſt vor
Schmerz auf . Du pikſt einen anderen Menſchen und er ſchreit
auch . Schluß : er wird wohl auch Schmerz empfunden haben .
Aber die Empfindung ſelber gewahrſt du niemals , es iſt eben
nur ein Schluß , bei dem das wichtigſte Glied ergänzt wird .
Wenn ich eine Sprechmaſchine erfinde , die auf einen
Nadelſtich hin Au ! ſchreit , ſo iſt der Schluß in dieſer Nackt¬
heit ſchon bedenklich . Wenn ich fröhlichen Herzens und ver¬
liebt bin , ſinge ich . Wenn der Kuckuck im Sommerwalde
Kuckuck ruft , ſo ſchließe ich , daß er auch luſtig und der Liebe
voll iſt . Aber auch meine Kuckucksuhr zu Hauſe ruft zwölf¬
mal Kuckuck , wenn der Zeiger ihrer Maſchine die Ziffer Zwölf
berührt . Ich muß offenbar für meinen Empfindungsſchluß noch
anderes zu Hilfe nehmen .
Ich betrachte mich alſo im Spiegel und ſchaue dann die
anderen Menſchen an . Und die Ähnlichkeit iſt ſo frappant ,
daß ich einen engeren Beweis zu haben glaube . Ich ſehe doch
total anders aus als eine Kuckucksuhr , und du und der und
jener Menſch ebenſo . Nur wer auch wie ich annähernd
wenigſtens dreinſchaut , der wird alſo wohl zwiſchen dem
Nadelpiken und der Luftwelle „ Au ! “ eine Empfindung haben .
Aber der Kuckuck ſchaut ja ſchon keineswegs wie ein Menſch
aus . Nun ſo brauche ich eben noch eine Hilfe .
Ich habe erkannt , daß das Piken und das Au bei
den anderen Menſchen in einem entſchiedenen Zuſammenhang
ſtehen mit einer gewiſſen grauen Zellmaſſe , die als Nerven¬
gerank , Rückenmark und Hirn im Körper dieſer Menſchen ſteckt .
Ich erkenne aber die ſicherſten Anzeichen dafür , daß ſolche
kurioſen Sächelchen auch in meinem eigenen liebwerten Körper
enthalten ſind und daß ſie hier gerade mit meiner Empfindung
zu thun haben . Sind meine Armnerven durchſchnitten , ſo
kann ich in die Hand piken ſoviel ich will : es kommt keine
Schmerzempfindung bei mir mehr zuſtande . Ich ſchließe alſo
abermals , daß nun auch dieſe Nervenſubſtanz überall , wo ſie
beſteht , einen Wahrſcheinlichkeitsſchluß auf Empfindung zuläßt .
Solche Nervenſubſtanz hat aber die Kuckucksuhr ganz und gar
nicht , — wohl aber hat ſie der Kuckuck .
Jetzt dieſer Kuckuck jedoch iſt immer noch ein ſehr hohes ,
mir nahe ſtehendes Tier . Ich will aber tiefer hinab mit
meiner Empfindungsfrage in die Welt des Lebendigen . Und
abermals häufen ſich Schwierigkeiten . Ich komme zu niedrigen
Tieren herab , wo der Nervenapparat ſich mehr und mehr auf¬
löſt im Geſamtleibe , bis er endlich völlig darin verſchwindet .
Zugleich werden die Symptome des Au-Schreiens immer dünner
und zweifelhafter . Bei der Pflanze vollends fangen die letzten
Analogieſchlüſſe dieſer Art an ganz ins Blau zu geraten . Ich
mag aber hier noch eine Hilfe nehmen und die Empfindung
jetzt ganz allgemein an die lebendige Subſtanz , an das Leben
überhaupt knüpfen . Ich empfinde , weil ich lebe , ſage ich mir ,
und alſo wird alles , was lebt , auch empfinden .
Indeſſen das Leben wandert ſelber hinab in das Grenz¬
violett zum ſogenannten Anorganiſchen , wenn wir ſtreng bei
der Stange bleiben wollen . In einem gewiſſen Moment
meines Zuendedenkens und Zuendeanalogiſierens ſage ich mir ,
ob Empfindung nicht vielleicht eine Grundeigenſchaft aller
Materie ſein könne . Das ganze „ Sein “ erſcheint mir nur
als ein anderer Ausdruck für „ Selbſterleben “ . Ein Selbſt¬
erlebnis ſetzt aber allemal eine Empfindung voraus . Das
Ding , das nichts empfindet , kann auch nichts erleben .
Es fragt ſich jetzt nur noch , ob ich dieſe Empfindungs¬
fähigkeit bloß jedem winzigſten Teilchen einer atomiſtiſch zer¬
ſplitterten Materie zuerkennen will . Oder auch verwickelteren ,
aus ſolchen Atomen aufgebauten Syſtemen . Ich ſehe wieder
auf mich , und es kann mir wahrſcheinlich vorkommen , daß in
mir ein Syſtem empfindet und nicht bloß ein einzelnes monaden¬
artiges Atom . Damit iſt aber nun vollends eine ungeheure
Analogie offen . Überall in der Natur , wo geſchloſſene Syſteme
auftreten , tritt auch die Denkbarkeit , ja Wahrſcheinlichkeit auf ,
daß hier nicht bloß ein atomiſtiſches Empfinden aller Teilchen ,
ſondern auch eine Geſamtempfindung höherer Ordnung durch
das ganze Syſtem ſtattfinde .
Schon mit dieſen beiden letzten Analogieen bin ich alſo
der Kuckucksuhr nun doch noch ſeeliſch auf den Hals gerückt .
Sei es , daß ich bloß ihre winzigſten Teilchen empfinden laſſe ;
ſei es , daß ich ſie als Syſtem gelten laſſe und ſo ſogar
weiter ſchließe .
Inzwiſchen reckt ſich aber vom Moment an , da das An¬
organiſche überhaupt berührt worden iſt , von dort unten her
eine ganz andere Auffaſſung vor , die uns gern wieder aus
allen früheren Poſitionen herauswerfen möchte . Da wird dir
geſagt : wenn ein ſogenannter anorganiſcher Körper fällt , —
alſo ein Stein oder auch das Gewicht der Kuckucksuhr , ſo iſt
das einfach ein „ mechaniſcher Vorgang “ . Das Geſetz von der
Erhaltung der Energie kommt da in Betracht und die Em¬
pfindung ſpielt in dieſem überhaupt keine Rolle . Und nach
dieſer Analogie von unten her ſollen wir nun aufſteigen auch
ins Organiſche hinein . Da iſt das Bakterium , — faſſen wir
es doch einmal rein als fallenden Stein oder mechaniſch ab¬
rollendes Räderwerk , ob nicht ſo auch alles genau klappt , ja
der exakten Rechnung ſchließlich zugänglich wird , die auf jenem
Geſetz fußt . Da iſt die Pflanze — treiben wir die Analogie
weiter . Die Pflanze eine Maſchine . Iſt uns das aber ſo
weit gelungen , ſo ſei nun endlich das Tier wieder erklärt nach
Analogie dieſer mechaniſchen Pflanze . Wo ein Nervenſyſtem
auftritt , da wird es lediglich beſchrieben als ein Apparat , den
beſtimmte Kräfte nach den Regeln des Energiegeſetzes durchlaufen .
Auch das Gehirn des Kuckucks wird ſo beſchrieben . Und in
das Tier , das mit der Nadel gepikt wird und Au ſchreit , wird
eine einfache Kraftverbindung gelegt , bei der der Nadelſtich in
verwickelter Wirkung rein mechaniſch das Au auslöſen muß .
Im nächſten Schritt hat dieſe Welle der Analogie von
unten nach oben dich ſelber erreicht und umfaßt .
War vorher die Kuckucksuhr auf dem Wege der Vermenſch¬
lichung , ſo ſtehſt du jetzt umgekehrt auf dem Satz : der Menſch
iſt eigentlich bloß eine Kuckucksuhr .
Im Augenblick , da ſich das vollzieht , hat ſich aber nun
doch auch hier etwas höchſt Seltſames vollzogen . Anſcheinend
hat dieſe zweite Beweisführung dir von unten her anſteigend
deine früheren Analogie-Schlüſſe einen nach dem anderen zer¬
ſetzt und vernichtet . Selbſt die graue Gehirnmaſſe iſt nichts
anderes als ein Beweis für mechaniſche Kraftvorgänge , ja ſie
iſt ſozuſagen bloß ein einiger ineinander verwurſtelter Strang
Kraft . Genau in dem Moment aber , da du auch von hier
aus im Menſchen dich ſelber berührſt , iſt es , als ſei das alles
neuerdings wieder wie fortgeblaſen und als klappe alles von
ſich aus nochmals um .
Denn nun biſt du ſelber alſo der Typus einer echten und
rechten Maſchine . Du ſelber aber bleibſt doch , mit Verlaub ,
derſelbe , der du auch vorher warſt . Wenn die Nadel dich pikt ,
empfindeſt du das als Schmerz und weil du Schmerz haſt ,
ſchreiſt du Au . Es bleibt nichts anderes übrig , als um deinet¬
willen in die Definition der Maſchine noch etwas einzuſchalten :
nämlich eben dieſe Thatſache der Empfindung . Wie du das
machen willſt , iſt ja wieder eine Hiſtoria für ſich .
Der Materialiſt von der extremen Sorte wird dir ſagen :
dieſe deine Empfindung iſt eben bloß ein Vorgang innerhalb
des Mechanismus . Etwa ſo : von außen kommt eine mechaniſche
Kraftwelle bei jenem Nadelſtich , dieſe Welle geht in dich ein ,
in deinem Gehirn ſetzt ſie ſich nach demſelben Äquivalenz¬
verhältnis , wie Bewegung in Wärme übergeht , in Empfindung
um und dieſe Empfindung wird dann wieder Ausgangspunkt für
gewöhnliche Kraftwirkungen , deren letztes Ergebnis das Au iſt
Oder die Kraftwelle , die Mayeriſch und Helmholtziſch ein¬
heitlich von dem Nadelſtich bis zum Au deinen Leib durch¬
quert , giebt auf irgend einer Teilſtrecke innerhalb des Gehirns
ſo und ſo viel Prozent Kraft ab zur Entwickelung der kurioſen
Nebenerſcheinung , die wir Empfindung nennen .
Du kannſt aber auch mit Dubois Reymond ( es hatten's
andere vordem ſchon ſchärfer gethan ! ) jedes Durcheinander¬
ſchmeißen und Auseinanderentwickeln von mechaniſcher Kraft
und Empfindung für ein logiſches Unding erklären . Und
du kannſt im Sinne eines ſogenannten Parallelismus die
mechaniſche Kette auch durch dein Gehirn vom Piken bis zum
Au für eine in ſich geſchloſſene halten , über der aber gleich¬
zeitig die Empfindungslinie wie ein geheimnisvoller Regenbogen
parallel erglänzt , ohne „ erzeugt “ vom Mechaniſchen aus zu ſein .
Willſt du konſequent ſein nach dieſer Seite , ſo wirſt du
dieſen ſeeliſchen Regenbogen aber wohl noch viel weiter ſpannen
müſſen : du wirſt ſagen , daß ſchon jede ins Gehirn eintretende
Kraftwelle eine ſeeliſche Parallele mitbringt . Alſo auch das
Piken der Nadel . Und das dieſes Piken alſo ſeeliſch ebenſo
empfunden , als „ Schmerz “ empfunden wird , wie mechaniſch
ſein Stoß als Kraftwelle eine Rolle in dem Mechanismus
ſpielt . Und daß mit dem Au eine ſeeliſche Parallele zum
mechaniſchen Abſtrömen dich auch ebenſo wieder verläßt .
Die Luſt mag dich an dieſer Ecke anwandeln , dieſe
wunderliche Parallelerei nochmals nachträglich zu vereinfachen .
Zuerſt wirſt du fragen , ob ſie nicht bloß ein Anſchauen
desſelben Dings von zwei Seiten bedeute : nämlich erſtens von
einer innerlichen ſubjektiven und zweitens von einer veräußer¬
lichten , gewaltſam objektiven . Die Empfindung wäre der ſub¬
jektive , die mechaniſche Kraftwelle der objektive Anblick desſelben
Dinges . Das Ding ſelber alſo wäre nicht mehr dualiſtiſch ,
ſondern die Zweiheit , der Dualismus ſteckte bloß noch in deiner
Anſchauungsweiſe .
Hier denn endlich könnte dich ſehr gut die Luſt anwandeln ,
auch noch über dieſen Anſchauungs-Dualismus zu einem wenig¬
ſtens grundlegenden Monismus , einer Einheitslehre hinſichtlich
deiner geſamten Erfahrungswelt überzugehen .
Du könnteſt dich nämlich auf die einfache Thatſache be¬
ſinnen , daß zunächſt alle deine Erfahrung Empfindungserfahrung
und alſo ſeeliſcher Natur iſt , — während die ganzen Begriffe
der Kraft und des Mechanismus erſt innerhalb dieſer grund¬
legend ſeeliſchen Erfahrung geſchaffene Abſtraktionen deines
Denkens ſelber ſind , die dir zur Ordnung des Weltbildes un¬
ſchätzbare Dienſte thun , aber mit keinem Finger und dicken Zeh
irgendwo aus deinem ſeeliſchen Welterlebnis poſitiv heraus¬
ragen können .
Es wäre alſo ſchließlich die mechaniſtiſche Anſchauungsart
doch nur eine Loge ſozuſagen innerhalb des umfaſſenden pſychiſchen
oder ſeeliſchen Theaters , und damit wäre die Einheit auch von
hier aus erreicht , die am anderen Pol der Materialismus er¬
rungen zu haben glaubte .
Doch das mache nun mit dir ab wie du willſt .
Sei es nun ſo oder ſo oder noch ſo damit : in jenem
entſcheidenden Moment iſt eben auf alle Fälle alles wieder
beim Alten . Ich ſelber bin von neuem das Maß aller Ana¬
logien . Ich bin konſequente Maſchine , — zur Definition gerade
meiner Maſchine gehört aber irgendwie auch die Empfindung .
Ich ſehe nun , daß alle anderen Menſchen in allem mir Sicht¬
baren auch Maſchinen ſind wie ich , — folglich werden ſie
wohl auch Empfindung beſitzen . Die Maſchine dort , die ich
einen lebendigen Kuckuck heiße , wird entſprechend ebenfalls wohl
Luſt empfinden . Und ſo geht das nun abermals abwärts ins
Unaufhaltſame . Alle Lebensmaſchinen da unten ſind ja nur
Unterſchiede des Grades , nicht der Art gegen mich . Und end¬
lich überhaupt alles Mechaniſche . In alle Tiefen ſinkt die
Empfindungs-Analogie jetzt erſt recht mit — und alles ſchein¬
bar vom Mechanismus Umgeworfene richtet ſich auf wie
ſtrotzende Kornähren nach dem Regen .
Es genügt , denke ich , wieder einmal vollkommen , die
Dinge bis hierher gleichſam aus dem Hauptbuch der modernen
Philoſophie aufzurollen .
Was erhellen ſoll und , meine ich , muß , iſt die unab¬
änderliche Beſchränkung bei uns auf den großen Analogie-
Schluß , — den Analogie-Schluß , der von jeder Betrachtungs¬
weiſe aus in Vollkraft tritt , ſobald das Wörtchen Empfindung
überhaupt erklingt . „ Ich “ bin an einem einzigen Weltfleck
Fachmann gerade hier , — aber das erkaufe ich auch damit ,
daß der ganze Reſt der tauſendgeſtaltigen proteiſch bunten
Welt im Empfindungspunkte für mich ein Analogie-Schluß bleibt .
Und alles Verſteifen auf den Mechanismus nützt dazu im an¬
gedeuteten Sinne nicht einen Pfifferling .
So hübſch es klingt : ich ſoll dich aus dir ſelbſt begreifen
lernen , den Kuckuck aus ſich ſelbſt , die Pflanze aus ſich ſelbſt ,
den Bazillus aus ſich ſelbſt , den Kriſtall und die Erdkugel aus
ſich ſelbſt , — — im Moment , da ich überhaupt dieſes „ Aus
ſich ſelbſt “ einführe in die Rechnung , ſetze ich mich ſelbſt
hinein vermöge eines Analogie-Schluſſes . Ich muß es , — ich
ſelber bin das einzige Mikroſkop , um hierher überhaupt zu ſehen .
Aber ich fühle auch ſofort die Schwierigkeiten , die
Schranken meines Werkzeuges . Ich bedarf eines großen
Glaubens an die geheimnisvolle Grundähnlichkeit aller Natur ,
um nicht völlig zu verzweifeln . Auch ſo aber werde ich im
Einzelfalle ſchwanken , werde mich in einem Labyrinth ſehen ,
werde nicht wiſſen , wo die Analogie zu weit geht oder nicht
reicht . Es ſind ja doch Unterſchiede da . Ich als Menſch bin
nicht der Pflanze , dem Bazillus ohne weiteres gleich . Die
Maſchine iſt ſichtbarlich verſchieden , wenn ſchon nicht prin¬
zipiell . Für alles Empfindende aber habe ich nur eine einzige
Schablone : — mich .
Dieſe Dinge mußten hier geſagt werden , wenn ſie auch
ins Verwickelte menſchliſcher Denkprozeſſe greifen , die nicht
jedermanns Sache ſind .
Sie beweiſen einerſeits die unkritiſche Leerheit der
Forderung , Seeliſches aus ſich zu begreifen ohne Menſchen¬
analogie . Andererſeits aber deuten ſie auch die Schwierigkeit
an , die in dem einzigen und ewig uns gegebenen Analogie-
Schluß von unſerer eigenen Perſon aus liegt .
Wo in der Liebe eine echte Empfindungsfrage nackt aus
den Wellen des Körperlichen ſtößt , mußt du dich auf dieſe
Sachlage mit derſelben Unbefangenheit beſinnen , die dich das
Körperliche nackt hat anfaſſen laſſen .
Ein ſolcher Punkt aber iſt die Wolluſt .
Wir haben keine Ahnung davon , was eine einzellige
Amöbe , was ein Bazillus empfinden , wenn ſie ſich in zwei
Stücke teilen . Es iſt ihr Liebesakt . Warum ſollen ſie nicht
etwas dabei fühlen ? Es iſt nach allen Analogien ſelbſtver¬
ſtändlich . Zugleich iſt es der Urakt aller Liebe . Die Wolluſt
wäre hier bei ihrem Urphänomen . Aber wie geſagt .
Und wenn zwei jener einzelligen Weſen miteinander
verſchmelzen , — im Urbild aller ſpäteren Geſchlechtsliebe , —
was dann ?
Man möchte ſich ausdeuten , bei jenem Zerfallakt käme
eine beſtimmte Kette von Empfindungen vor , in denen Luſt
und Unluſt wechſeln . Zuerſt ein Gefühl der Überfülle , des
Strotzens , des überquellenden Dranges . Dumpfe Unluſt .
Dann der eigentliche Akt der körperlichen Spaltung . Höchſt¬
wahrſcheinlich doch ſcharfer Schmerz . Dann aber in den
beiden neuentſtandenen Teilweſen ein Gefühl der höchſten Ent¬
laſtung , Friſche , Erlöſung .
Die Analogie für dieſe ganze Kette läge für uns bei
einem gebärenden Weibe . Bloß daß die Analogie hinkt .
Denn die Selbſtteilung geht als Schnitt durch das ganze
Bazillus-Individuum . Der Akt der Teilung muß eine Art
Tod enthalten und dann in den Teilen beiderſeits ein Gefühl
des Wiederauflebens . Jeder Teil iſt ja Kind zugleich und
Mutterhälfte . Die Empfindungen müſſen alſo doch wohl noch
viel kompliziertere ſein , ſie müſſen noch ein Myſterium mehr
in ſich faſſen — Tod und vergnügtes Weiterleben — das ſich
unſerer Erfahrung entzieht .
Ähnlich könnteſt du die Verſchmelzung von zwei ſolchen
einfachſten Urweſen in eine Analogie bringen mit den Hunger-
und Sättigungsgefühlen bei dir . In jedem der beiden Weſen
regt ſich ein Gefühl der Lebensſchwäche , das nach Auffriſchung
verlangt . Eine wirkliche Art Hunger . Alſo auch hier ein
allgemeines ſeeliſches Unbefriedigtſein zuerſt , — dumpfe Unluſt .
Dann , mit der Begegnung der beiden , der Annäherung wohl
ſchon , wachſende Luſtgefühle . Vielleicht wird das Erkennen
vermittelt durch gewiſſe Geruchsempfindungen . Dieſe würden
bei beiden Teilen ſchon Luſt erzeugen . Der Berührungsakt
könnte das ſteigern . Die Verſchmelzung enthielte die volle
Befriedigung mit nachfolgendem erhöhtem Kraftgefühl , völliger
Sättigung und Beruhigung .
Dieſe Hunger- und Freß-Analogie iſt aber doch eine recht
mangelhafte . Man ſucht unwillkürlich ſchärfere Analogien
aus unſerm menſchlichen Zeugungsakt . Zuerſt das allgemeine
Unluſtgefühl der liebesverlangenden , aber einſamen Seele .
Alſo Liebeshunger , Liebesſehnſucht . Es iſt eine höchſt eigen¬
artige Sorte Unluſt , die lange eine ſtarke Beimiſchung von
Süße hat . Das braucht dir ja nicht beſonders beſchrieben zu
werden , das Wörtchen Liebesſehnſucht genügt . Dann die
wirkliche Begegnung mit einem Gegenſtand unſerer Liebe .
Die feinen Diſtancewerte des Sehens , Sichkennenlernens .
Die körperliche Berührung . Der Miſchakt endlich ſelbſt . Die
nachfolgende ſeeliſche Ruhe .
Auch in dieſer Analogie hinkt noch vieles .
Es fehlt ja die wahre phyſiſche Verſchmelzung der Ur¬
weſen . In dieſer muß ebenſo wie in jener Selbſtteilung ein
Todesmoment liegen . Gewiß iſt es höchſt merkwürdig , wie
der Augenblick der äußerſten Hingabe und Erlöſung auch in
unſerm menſchlichen Geſchlechtsakt für Mann wie Weib etwas
todesartiges beſitzt : einen Moment des Zerfließens , der Auf¬
hebung der eigenen Individualität . Aber die Pſychologie
dieſer höchſten Sekunde iſt wohl kaum bisher klar durchdacht
worden . Unſer eigenes Empfinden ſteckt da ſo im Myſterium ,
daß wir mit Analogie nicht viel machen können . Iſt dieſer
Todesmoment des Doppel-Individuums bei jenen Urweſen im
Moment ihres Zuſammenfließens zu einer einzigen neuen
Individualität eine Luſt- oder eine Unluſt-Empfindung ? Man
möchte die Gegenfrage ſtellen : iſt der Tod beim Menſchen
eine Luſt- oder eine Unluſt-Empfindung ? Womit wir wieder
an der Mauer ſind . Hier hören nicht die Analogien auf ,
ſondern unſere Kenntniſſe über uns ſelbſt .
Es iſt ja nicht auszuſagen , wie dumm wir klugen
Menſchen in unſerer eigenen Haut ſtecken . Wir wollen das
Geheimnis der Bazillus-Empfindungen löſen durch Analogie
mit unſern eigenen Empfindungen — und merken allerorten ,
wie wir ſelber uns ſelber ein rabenſchwarzer Urwald ſind , in
dem der Knabe Simplicius verloren an einer Einſiedler¬
klauſe ſitzt .
Ja wohl : gewußt wird die Sache ganz ſicher innerhalb
unſerer Leiber , — nur nicht von „ uns “ .
Die einzig wahre Analogie zu jener Bazillus-Liebe bildet
offenbar das Empfindungsleben unſerer eigenen Samenzellen
und Eizellen . Da wird alles noch nach der Ur-Schablone
famos ſelber erlebt . Samenzelle und Eizelle verſchmelzen genau
ſo miteinander , und genau ſo ſpaltet die befruchtete Eizelle ſich
abermals in zwei Zellen auseinander . Was dabei an Luſt und
Schmerz zu empfinden iſt , werden die Kleinen da unten ſchon
genugſam erfahren . Aber wir großen Menſchen-Individuen
ſind einmal wieder haarſträubend viel „ dümmer als wir ſelbſt “ .
Jeder Dichter , hat Viſcher einmal geſagt , iſt viel dümmer als
er ſelbſt und viel geſcheiter als er ſelbſt . Will ſagen : in jeder
Dichter-Individualität giebt 's ein kleines Lichtfeld und eine
ungeheure Abgrundtiefe darunter , die faktiſch unendlich viel
mehr umfaßt , als oben ſichtbar wird . So ſchweben wir
Menſchen aber alle miteinander beſtändig über einem Ozean
von Dingen , die eigentlich alle „ wir “ ſind und die wir gleich¬
wohl auf Verlangen nicht haben können . Das Seelenleben
deiner eigenen Samentierchen iſt dir ſo fremd wie das der
Marsbewohner .
Aber nehmen wir wirklich einmal an , wofür doch im
Grunde alles ſpricht : das Zuſammenfließen zweier Weſen , die
jedes nur aus einer einzigen Zelle beſtehen , in ein neues
Einheitsweſen bedeute für dieſe Weſen ihren höchſten fertigen
Wolluſtmoment .
Dieſe Wolluſt war dann offenbar die wirklich älteſte der
Lebewelt auf Erden . In irgend einem Urmeer vergeſſener
Grautage der Erdgeſchichte iſt ſie zuerſt von Einzellern erlebt
worden , — bei den Rumpelſtilzen unſeres Schöpfungsmärchens .
Von ſolchen Einzellern iſt ſie dann in aller Folge myriaden¬
fach weiter erlebt worden . Und ſie wird noch in uns ſelbſt
und in allen anderen höchſten Tieren täglich erlebt von den
einzelligen Geſchlechtszellen , dem Samen und dem Ei , wo
immer dieſe den wahren Miſchakt vollziehen .
Wir ganzen Menſchen aber , ich , und du , wie du hier
vor mir ſtehſt , und jeder ſonſt , — wir können überhaupt den
Fertigwerdepunkt unſerer Wolluſt nicht in dieſem äußerſten
Miſchmoment mehr haben , — denn wir ſind rieſige Zellſtaaten ,
Genoſſenſchaften von Zellen , die ſich als ſolche gar nicht mehr
miteinander im Ganzen vermiſchen .
Hier tritt einfach in Kraft , was wir oben ſo eingehend
durchgeſprochen haben : daß nämlich für uns bewußte große
Einheitsmenſchen auch der intimſte Begattungsakt immer noch
im feinſten Sinne ein Diſtanceakt bleibt . Die Körper von
Mann und Weib berühren ſich bis in die diskreteſte Innenwelt
hinein , — aber ſie verſchmelzen nicht . Nur die jederſeits los¬
gelöſte Samenzelle und Eizelle vollführen den wahren Miſchakt ,
aber erſt nachträglich und ganz ohne unſer weiteres Zuthun .
Unſere geſamte Ganzmenſchenliebe iſt und bleibt von ihrem
Alpha bis zu ihrem Omega , von der erſten Lichtwelle , die
zwiſchen den Liebenden her und wieder fliegt , bis zu der
tiefſten Verſenkung des Liebesgliedes in die Liebespforte , eine
einzige fortlaufende Diſtanceliebe .
Daraus aber ergiebt ſich geradezu zwingend eine weitere
einfache Folgerung .
Wir haben früher den Weg genau verfolgt wie aus ein¬
zelligen Urweſen vielzellige Tiere ſich herausbildeten . Die
Einzeller traten zu Zellgenoſſenſchaften zuſammen . Anfangs
iſt jede Einzelzelle in ſolcher Genoſſenſchaft noch ein ſelbſtändiges
Weſen . Jede Zelle beſitzt alle Lebenseigenſchaften in ſich : ſie
frißt , verdaut , atmet , bewegt ſich , empfindet Lichtwellen , Schall¬
wellen , Geruchs- und Geſchmackseindrücke , ſie orientiert ſich
in ihrer Umgebung nach Kräften und ſo weiter . Allmählich
aber ordnen ſich die Genoſſenſchaftszellen dann nach dem Prinzip
der Arbeitsteilung . Jede kultiviert in ſich nur mehr ein Reſſort ,
genießt aber die Arbeit aller anderen dabei mit . Beſtimmte
Zellen freſſen nur noch , andere fangen bloß Lichtwellen auf ,
wieder andere bloß Schallwellen , gewiſſe bewegen die ganze
Kolonie vorwärts , noch andere bilden eine Zentralſtelle zur
allgemeinen Orientierung . Kurz : die Zellgenoſſenſchaft bildet
ſchließlich ein neues Individuum , das wie eine vergrößerte ,
geſteigerte Auflage der urſprünglichen Einzelzelle erſcheint .
Auch dieſes Geſamt-Individuum bewegt ſich , frißt , atmet ,
hört , ſieht wieder , bloß daß alle ſeine Organe engere Verbände
20
urſprünglicher Einzelweſen nach dem Prinzip der Arbeitsteilung
ſind . Im Triumph ſeiner Vereinheitlichung beſitzt es natür¬
lich auch wieder die Luſt- und Schmerzempfindungen wie jede
jener früheren Einzelzellen . Ein Stich mit der Nadel bringt
bei ihm eine Schmerzreaktion hervor genau wie bei dem Ein¬
zeller . Und wenn es in die Liebeserregungen gerät , ſo taucht
auch dieſes höhere Vielzell-Individuum in eine breite Gold¬
welle vielfältig verſchlungener Luſtgefühle mit einer geraden
Steigerung auf einen Gipfelmoment der abſoluten Liebesluſt-
Erfüllung los .
Aber !
Dieſe ganze Liebesluſt muß ſich mit all ihren Steigerungen
doch in einem hier den Verhältniſſen der Zellgenoſſenſchaft
im Gegenſatz zur Einzelzelle anbequemt haben . Ihr ganzer
Lauf mußte ſich bis zum Schluß erfüllen innerhalb jener
Diſtance-Liebe , die der Zellgenoſſenſchaft ja allein gewährt iſt .
Von einer Erfüllung im wahren Miſchakt konnte bei ihr keinerlei
Rede ſein , da die ganzen männlichen und weiblichen Vielzell-
Weſen ſich als ſolche gar nicht mehr miſchten bis zum In¬
einanderfließen .
Alles umfaßte bis zu dem gewiſſen Punkt ja das Liebes¬
leben auch der großen Zellgenoſſenſchaften , wie du eine biſt ,
wie ich eine bin , wie deine Liebſte eine iſt . Dieſe höheren ,
geſteigerten Individuen ſahen ſich , konnten ſich aufeinander zu
bewegen , hörten ſich , fühlten ſich durch hundert feine äußere
Medien hindurch , ſie ſchmolzen geiſtig einander zu , ſetzten ſich
in wunderbare Harmonie , — ſie berührten ſich endlich unmittel¬
bar mit den Hauptwänden ihrer Leiber — ſie drückten ſich die
Hand , umarmten ſich , küßten ſich , — ſie preßten ſich immer
feſter aneinander , durchdrangen ſich ein kurzes Stück Körper
in Körper . In alle dem trug ihre Liebe die ganze Sache ,
trug ſie tauſendmal beſſer als die ſich ſuchenden Einzelzellen
es jemals vermocht , trug ſie für die im Leibesinneren ver¬
borgenen Geſchlechtszellen mit . Alle Luſt- und Leidgefühle
der Liebe wallten und wogten ſo lange durch den Geſamt¬
organismus in voller Wucht , wühlten das ganze obere , höhere ,
umfaſſendere Perſonen-Individuum auf bis in jede Tiefe hinein ,
verlangten , klagten , jauchzten , verſtrömten in ihm .
Aber an ganz beſtimmter Stelle dann machte das alles
oben Halt . Die Samenzellen ſpritzten aus , die Eizelle fand
ſich zu ihnen , ein geheimes Innenleben kleiner ſeparater Maul¬
würfe begann innerhalb des einen Über-Individuums . Eine
letzte Diſtance wurde dort genommen und eine echte Zellmiſchung
fand ſtatt . Aber als das kam , war jede unmittelbare Verbindung
mit dem Liebesleben der großen Individuen Mann und Weib
vereits völlig abgeriſſen . Der körperliche Liebesakt war dort
längſt zu Ende . Seine eigene höchſte Steigerung und Er¬
füllung mußte längſt vorüber ſein .
Denkſt du dir das klar in Erinnerung an einen Liebes¬
akt deines eigenen Körpers durch , ſo kann dir wohl kein Zweifel
darüber bleiben , was geſchehen mußte und geſchehen iſt .
Der höchſte Wolluſtmoment , bei den einzelligen Weſen in
die völlige Verſchmelzung naturgemäß gelegt , mußte ſich für die
Vielzeller ebenſo naturgemäß gleichſam in eine andere Stufe
der großen Liebesbahn verlegen .
In eine frühere .
In die dem wahren Miſchakt nächſte der Diſtance-Liebe .
Alſo in den äußerſten Punkt dieſer Diſtance-Liebe , der von den
großen Attrappen der echten miſchfähigen Geſchlechts-Einzeller ,
von den vielzelligen Über-Individuum ſelber noch erreicht
wurde .
Damit haſt du den Schlüſſel des ganzen Entwickelungs¬
ganges in der Hand . Auch die Liebe der Zellgenoſſenſchaften
wahrte ſich ihren höchſten körperlichen Erfüllungspunkt , ihren
Wolluſt-Punkt . Aber ſie legte ihn ihrer ganzen Veranlagung
nach an eine andere Stelle der großen Kette , — dahin , wo
dieſe Kette ſich für ſie , als auf einem erreichten und nicht
mehr zu überbietenden Gipfel , ſchloß .
20*
Fragte ſich jetzt nur in der großen aufſteigenden Linie
der Tiere noch , wo dieſe Gipfelſtelle überall war . Und hier
ergiebt die wechſelreiche Arabeske deſſen , was ich dir vorher
erzählt habe , wahrſcheinlich die nötigen Fortſchrittsſtufen
von ſelbſt .
Der äußerſte körperliche Liebesakt der vielzelligen Weſen ,
dieſer großen Zell-Pyramiden , unter deren Schutz und Deck¬
ſchild erſt die kleinen Samen- und Eier-Maulwürfe ihre letzte
Arbeit vollziehen , iſt kein Miſchakt , ſondern im günſtigſten
Falle ein Berührungs-Akt .
Wir haben aber geſehen , wie lange ſelbſt das in deiner
werten Ahnenſchaft ſchwankte . Die liebenden Vielzell-Weſen
ſuchten ſich , näherten ſich , ſahen ſich , empfanden ſich in weiteſter
Diſtance irgendwie , — dann ſpritzten Samen wie Eier ins
Blaue los auf Gutfinden . Erſt allmählich kommt die echte
körperliche Berührung als Bedingung hier hinzu . Fiſche , die
ſich Leib zu Leib drücken . Die ſich aneinander ſaugen , mit den
Floſſen halten . Endlich ein feſtes Preſſen Liebespforte zu
Liebespforte . Es iſt lange Zeit die Afterpforte . Allmählich
wächſt in dieſer beiderſeits das Scharnier . Es wird , einſeitig
ſich erhebend und endlich vom After befreit , zum Mannesgliede .
Mit ihm vernageln ſich die Geſchlechter ſchließlich im Akt .
Bis zu dir , wo 's noch genau ſo iſt .
Dieſer klar zu Tage gelieferte Weg der äußeren möglichen
Diſtancenahme zwiſchen den großen Deck-Individuum Mann
und Weib iſt nun offenbar mit allen ſeinen Stationen auch
der Weg der Wolluſt-Projektion dieſer Individuen geweſen .
Die Wolluſt ſoll als höchſter Luſtmoment die gegebene
Liebeskette krönen . Es verſchiebt ſich nur eben von Stufe zu
Stufe der Grenzpunkt dieſer Liebeskette immer tiefer noch
hinein . Und alſo geht die Wolluſt mit , ihren rechten Ort
zu ſuchen .
Kehre noch einmal zu jenem Ur-Bilde des vielzelligen
Weſens zurück , das uns in unſere Betrachtung ſchon ſo oft ge¬
holfen hat . Der Stufe , die Häckel das Urmagentier oder die
Gaſträa getauft hat .
Das ganze Tier beſteht bloß aus Haut und Darm . Der
Darm beſorgt die Ernährung . Die Haut dagegen bewegt , ver¬
verteidigt — und iſt der weſentliche Sitz der Empfindungen .
Sie nimmt Lichtreize auf , Schallreize , äußere Stöße und
Stiche und Berührungen jeder Art .
Die Haut iſt hier im ganzen Umfange das , was ſpäter
das Nervenſyſtem iſt . Dieſes ganze Nervenſyſtem mit allen
ſeinen Sinnesorganen und inneren Werkſtätten iſt eben ur¬
ſprünglich aus der Haut hervorgegangen . Die feineren Ver¬
arbeitungsateliers wurden allmählich in Gruben , Rinnen , Säcke
dieſer Haut aus Schutzgründen mehr nach Innen verlegt . So
iſt das Gehirn , das Rückenmark , das ganze Nervennetz langſam
von Stufe zu Stufe gleichſam eingeſunken aus Hautſtücken , in
die ſicherere Tiefe des Leibes hinein , — nach demſelben Grund¬
prinzip , das zuerſt den Magen nach innen ſich hatte einſtülpen
laſſen . Je feiner , je verwickelter das geſamte Innenkunſtwerk
des Tierkörpers ſich ausgeſtaltete , deſto feiner und verwickelter
ſpann ſich auch dieſes urſprüngliche Hautnetz durch ſein ganzes
Inneres hindurch . Immer aber mußte auch jetzt noch die
ſtrengſte Verbindung zwiſchen den Empfindungs-Werkſtätten im
Inneren und der Außenwelt bleiben .
Zog ſich auch der eigentliche Sitz des Empfindens tief in
den harten Schädel und in die Wirbelſäule zurück als Gehirn
und Rückenmark , — ſo wahrten doch dieſe uralten , einwärts
gewanderten Hautteile fort und fort auch dann noch durch
Nervenverbindungen , — alſo auch letzthin nur feinſte Haut¬
verlängerungen , nach innen geleitete Hautſpitzen gleichſam , —
ihre „ Fühlung “ im eigentlichſten Sinne mit der Körperober¬
fläche , alſo dem alten echten Sitze der Haut .
Noch immer , auch bei dir , nimmt dieſe Außenhaut zunächſt
die Lichtwellen , wie die Schallwellen , das ärgerliche Piken der
Nadel wie die behagliche Wärme der Maienſonne und ſo weiter
und weiter zunächſt auf . Der eigentliche Sitz der Empfindung
iſt dann freilich nicht mehr gleich an der Aufnahmeſtelle der
Oberfläche , ſondern es ſchaltet ſich noch der Telegraphendraht
des Nervs ein , der den Licht- , Schall- , Stoß- oder Wärmereiz
ins innere Hautorgan , alſo das Rückenmark und Gehirn , be¬
fördert . Auch hat ſich die Hautoberfläche mehrfach bei dir
ſchon in beſtimmter Weiſe ſelber wieder in die Arbeit geteilt .
Zwei Stellen , die Augen , paſſen ausſchließlich auf Lichtreize .
Zwei , die Ohren , nur auf Gehörsreize . Zwei in der Naſe ledig¬
lich auf Geruchsreize . In dieſem Falle haben ſich ſogar dieſe
äußeren Aufnahmeſtellen nochmals wieder etwas eingeſenkt und
geſchützt : die Netzhautſtellen für das Licht liegen tief hinter einer
durchſichtigen Oberhautſtelle ; ebenſo iſt das Ohr eine geſchloſſene
Kapſel geworden ; und die Naſe bildet mindeſtens eine Taſche
mit ihrer riechenden Schleimhaut .
Nur die Reaktion auf Druck und Temperatur iſt faſt der
ganzen Hautoberfläche gemeinſam geblieben , — wo ich dich an
Arm oder Bein oder Schulter oder Bruſt mit der Nadel pike ,
fühlſt du es und zwar unangenehm als Schmerz , und ebenſo
fühlſt du mit jeder dieſer Stellen auch die wohlige Wärme der
Sonne da droben .
Indeſſen alle dieſe Verfeinerungen und Verwickelungen
ſind Schritt für Schritt erſt zwiſchen den älteſten Hauttieren
und dir entſtanden . Noch haſt du Tiere deutlich heute vor
dir , bei denen die ganze wirkliche Oberhaut auch das ganze
Gehirn noch darſtellt und in ihrer Ganzheit hört oder Licht
empfindet . Und erſt allmählich ſiehſt du das Gehirn ſich ſondern
als eine Zentralſtelle , die alle Empfindungen ſämtlicher Haupt¬
zellen noch wieder in eins greift wie eine Spinne die Fäden
ihres Netzes . Allmählich ſiehſt du dann auch , daß zum Beiſpiel
dieſe oder jene Stelle der Haut nur noch Licht empfindet für
alle anderen mit . Du ſiehſt dieſe Stelle nach innen in
Kontakt bleiben mit jenem Gehirn durch eine beſtimmte Haut¬
faſer , den Sehnerv — und du ſiehſt zugleich , wie ſie außen
einſinkt , eine Grube erſt bildet , dann eine Taſche , endlich eine
geſchloſſene , bloß vorne für Licht durchläſſige Kapſel , — wie
ſie , mit anderen Worten , erſt nach und nach zum Auge wird .
Das ganze höhere Tierreich iſt dieſer ſinnreichen Fortſchritte
fortlaufendes Exempel .
Nun denn : auf die Haut alſo führt uns auch das ganze
Empfindungsgebiet der Liebe bei den vielzelligen Weſen offen¬
bar zurück .
Die Haut wurde der große Kuppler , der allherrſchende
Liebesvermittler und Liebesträger für die vielzelligen Tiere ,
die nicht mehr auf echte Ganzvermiſchung hinlieben durften ,
ſondern nur mehr Diſtanceliebe , Berührungsliebe pflegten .
Und ſo iſt die Haut denn auch die urſprüngliche Wolluſtſtätte
geworden , der Schauplatz für den höchſten körperlichen Luſt¬
triumph dieſer Diſtanceliebe .
Über die Anteilnahme der Haut an den Liebesdingen ſtelle
da nun zunächſt einmal mit dir ſelber ein kurzes Verhör an .
Du biſt allerdings mit deinem ungeheuren Gehirn , deinem
endloſe Weiten durchtauchenden Gedächtnis , deiner jederzeit
feſt geſtaltenden Phantaſiethätigkeit , deiner geheimen Schulung
auf tauſend Kulturmittel , Kulturabkürzungen , Kulturſtenogramme
ein äußerſt ſchwieriges Beiſpiel . Trotzdem laß uns einmal grob
herſagen .
Deine Haut nimmt Anteil an deiner Liebeserregung
zunächſt als Netzhaut . Beim Sehen . Anblick des weiblichen
Körpers , Anblick der ſpeziellen Geliebten und ſo weiter .
Dann als Taſtorgan für Schallwellen . Als Ohr . Menſch¬
liche Stimme , Geſpräch , Geſang , Muſik . Über erotiſche Wir¬
kungen durch Muſik beſteht wohl ſchlechterdings kein Zweifel .
Drittens als Naſenſchleimhaut . Die Rolle des Geruchs
im Erotiſchen iſt bei uns ja eigentümlich verſchleiert . Wir
reden von wollüſtigen Parfüms und das ſehr mit Recht . Im
Übrigen ſcheint der Geruch aber , worauf Guſtav Jäger ſo
verdienſtlich hingewieſen hat , bei uns nur mehr eine Art Geheim¬
rolle zu ſpielen , über die unſer Bewußtſein keine rechte Kontrolle
beſitzt . Das Thema liegt noch total im Argen und erfordert
erſt eine umfaſſende wiſſenſchaftliche Klarlegung .
Viertens durch körperliche Berührung . Hier tritt bei uns
eine unverkennbare Steigerung der Intenſität der ſpeziellen
Wolluſtneigung ein . Kuß . Umarmung . Kitzeln . Eine ganz
beſtimmte Form des angenehmen Kitzels , den warme weiche
menſchliche Haut auf Haut hervorbringt .
Innerhalb dieſes Allgemeinkitzels tritt aber fünftens eine
ganz unverkennbare Lokaliſierung jetzt ein . Die erotiſche Em¬
pfindung ſteigert ſich im vollen Verhältnis der immer größeren
Annäherung dieſes unmittelbaren Berührungsreizes an — die
Geſchlechtspforte .
Als Gipfelpunkt erſcheint ein ganz beſtimmt umſchriebener
Ort : beim Manne das aktive männliche Geſchlechtsglied ; beim
Weibe jenes eigentümliche Überbleibſel eines weiblichen Ge¬
ſchlechtsgliedes : der Kitzler . Bei nachhaltiger Reizung dieſer
Stelle wird bei beiden Geſchlechtern der höchſte Wolluſtmoment
erreicht . Bei beiden Geſchlechtern beſteht dabei irgend ein
tiefer Zuſammenhang zwiſchen der Reizfähigkeit gerade dieſer
Stellen und der Reife des großen Zellkörpers zur Abſpaltung
von Zeugungsſtoffen . Ja beim Manne fällt der äußerſte
mechaniſche Akt dieſes Abſpaltungsverlaufes , das Ausſchleudern
der Samentierchen , unmittelbar mit dem höchſten Wolluſtmoment
zuſammen und ſteht in einem ſo intimen Verhältnis zu ihm ,
daß die beiden Vorgänge gar nicht zu trennen ſind .
Unterſuchſt du die betreffenden kritiſchen Körperſtellen , an
denen die volle Wolluſterlöſung bei dir lokaliſiert iſt , ſo findeſt
du auch beſtimmte Nervenbedingungen dazu , die uns geradezu
von „ Wolluſtorganen “ reden laſſen . Indeſſen iſt von einem
echten komplizierten Geſchlechts-Sinnesorgan , etwa ſo wie das
Auge eines für das Licht darſtellt , doch nicht die Rede . Der
Hautzuſammenhang im ſchlichten Sinne bleibt aufdringlich
deutlich .
Denke dir einmal einen Moment , etwa dieſe deine ganze
weiße Körperhaut hier ſtellte eine Rieſenreihe von Taſten
eines Inſtruments dar , auf dem Muſik gemacht werden ſoll .
Da haſt du einige Flecke der Haut , die eigentlich ja nur
eine einzige Taſte beſitzen . Die Augen je eine für Licht .
Die Ohren je eine für Schall . Aber gerade dieſe „ eintaſtigen
Organe “ beſitzen in ihrer Taſte recht einen Drücker zugleich
für Öffnung eines ganzen herlichen Inſtruments , ja eines
ganzen rieſigen Orcheſters , das die verwickelſten Stücke ſpielt .
In einigermaßen ähnlicher , wenn auch geringerer Lage
ſind auch noch Zunge und Naſe .
Dagegen findeſt du eine ungeheure , weit überwiegende
Maſſe von Hautſtellen — auf ein paar Punkte deine ganze
ſchöne nackte Leibeshaut da — die beſitzen zwar jede
mehrere Taſten , aber dieſe Taſten ſind halt auch allein da , —
ohne weiteres , zu öffnendes Klavier dahinter .
Eine Taſte reagiert auf Druck und Stoß , eine auf
leichtes Kitzeln , eine auf Wärme und Kälte . Je nachdem
mit Luſt oder mit Schmerz . Aber mit dieſem einfachen Rea¬
gieren iſt auch alles gethan .
Und in dieſe Reihe tritt nun eigentlich doch auch jene
Stelle an den Geſchlechtspforten , am Mannesglied und
Weibeskitzler . Sie hat , ſcheint es , zwar auch wieder nur eine
Taſte . Doch nicht wie Auge , Ohr , Zunge und Naſe eine
ganz beſondere , die die übrige Haut nicht hat , — ſondern
nur eine von den der Haut auch in der Maſſe der Stellen
gegebenen : nämlich die Kitzeltaſte .
Dieſe Taſte hat ſie einſeitig ausgebildet , doch nicht im
Sinne von Auge und Ohr zu einem ungeheuren Orcheſter
mit unendlich verwickeltem Harmonie- und Disharmonie-Spiel
ins myriadenhaft Proteiſche hinein . Sondern ſie hat eine
beſtimmte Luſtſtimmung , die in der Taſte ſchon allgemein lag ,
bloß als ſolche ins Heroiſche vergrößert .
Im leichten , feinen Kitzeln liegt überall eine unverkenn¬
bare Luſtwirkung . Die iſt nun in der Wolluſtecke ins Un¬
geheure , Orkanartige heraufgeſchraubt , ohne dabei doch innerlich
jemals feiner gegliedert zu werden . Gegen das Geſicht , das
Gehör iſt die Wolluſt ein Ungetüm , ein klotziger Rieſe , der
alle ſeine Kraft nicht aus der Verfeinerung ins Detailleben
hinein , ſondern einzig aus der koloſſalen Übertreibung einer
einzigen konkreten Luſtwirkung ſchöpft , — allerdings eine
Goliathskraft .
Der Zuſammenhang mit dem einfachen angenehmen
Hautkitzel in deiner Wolluſt iſt ein überaus deutlicher — ſo
weit auf dieſem verwickelten Empfindungsgebiet überhaupt
etwas deutlich ſein kann , wo wir immerzu mit Analogien
ſchon beim nächſten Mitmenſchen rechnen müſſen und in uns
ſelber nur auf einer dünnen Planke über der ſchwarzen See
des eigenen Unbekannten hängen .
Es iſt vielleicht gar kein ſo übler Vergleich , wenn du
dir einmal einen typiſchen Kitzelakt ſonſt mit dem , ſagen wir
mal hier bloß männlichen , Geſchlechtsakt in Parallele bringſt .
Ich meine das Nieſen . Irgend etwas kitzelt leicht die Schleim¬
haut deiner Naſe . Es entſteht ein prickelnder Reiz mit
raſcher Steigerung . Endlich erfolgt eine Auslöſung mit inpul¬
ſivem , von deinem Willen unabhängigen Ausſtoßen . Der
Kitzel ſamt Erlöſung dabei hat einen unverkennbaren Luſt-
Inhalt , ich brauche nur an ſeine Ausbeutung bei uns unent¬
wegten Luſtſuchern im Schnupfen zu erinnern . Der ganze
Akt aber hat thatſächlich eine frappante Ähnlichkeit wenigſtens
mit dem männlichen Geſchlechtsakt .
Auch hier fällt der höchſte Luſtmoment mit einer unwillkür¬
lichen Ejakulation , einer Herausſchleuderung zuſammen .
Findet doch ſelbſt das allbekannte „ Zuſammenknicken “ des
Körpers im Geſchlechtsakt ſeine deutlichſte Ähnlichkeit im
Verhalten eines Nieſenden ! Ja ich wüßte , wenn ich die
beiden Akte in Gedanken miteinander vergleiche , bei beſtem
Willen überhaupt keinen ſtichhaltigen Unterſchied anzugeben ,
— mit einziger Ausnahme der reinen Steigerung des Grades
( nicht der Art ) in dem Luſtgefühl bei der Wolluſt . Es iſt
eben ein Kanonenſchuß gegen — eine Prieſe Schnupftabak .
Dieſe ungeheure , märchenhafte Steigerung der Kitzelluſt
im Geſchlechtsfalle , die koloſſale Wucht des einen dumpfen
Tones , der der Hautkitzeltaſte hier und nirgendwo ſonſt ver¬
liehen worden iſt , — das eben meine ich aber , iſt die Folge
einfach davon geweſen , daß dieſer Geſchlechtskitzelakt hier zu¬
gleich die äußerſte Stufe der Diſtanceliebe der Zellgenoſſen¬
ſchaften Menſchenmann und Menſchenweib darſtellte , — und
damit das ganze rieſige Plus auf ſich bekam , das in dem
höheren Individum an Luſtempfindung frei geworden war
durch den Verzicht auf das wirkliche Miſchen und Verſchmelzen
der Einzeller .
Das Glücksgefühl der Liebeserfüllung , von der realen
Körper miſchung abgetrennt bei allen vielzelligen Überindivi¬
duen , lokaliſierte ſich an dieſer für die Diſtanceliebe äußerſten
Hautkitzelſtelle .
Damit nun freilich hat dieſes „ Wolluſtgefühl “ , wenn es
auch kein vergeiſtigtes Sinnesorgan nach Art des Auges oder
Ohrs ſich geſchaffen hat , doch eine ungeheure Perſpektive hinter
ſich erhalten , — es iſt zu einem beſtimmten Krönungsmoment
in der allgewaltigen Liebesodyſſee jedes Vielzellindividuums
geworden . Du brauchſt bloß an die Vergeiſtigung dieſer Liebe
gerade als Diſtanceliebe in all ihrer himmelblauen Herrlich¬
keit zu denken , um ein Gefühl zu erlangen , in welche Geiſtes¬
kette die Wolluſt damit eingetreten war . Ein Flug von einem
geſteigerten Schnupftabaktitzeln zum großen Einſchlag in einer
wahren „ göttlichen Komödie . “
Denn ob du nun die Wolluſt noch ſo ſehr ( in einem , wie
du jetzt ſiehſt , gar nicht einmal ſtreng berechtigten Sinne ) als
blutrote Miſchliebe bezeichnen und gegen die lilienweiße Augen- ,
Ohr- und Kuß-Diſtance-Liebe herabſetzen magſt , — leugnen
wirſt du nicht können , wie das Brummen dieſer einen einzigen ,
aber herkulesſtarken Hauttaſte deines Leibes einen Grundbaß
dennoch ſpielt in allen , allen deinen noch ſo botticelliſch-ſüßen
Geiſtesmelodien . Und auch einen berechtigten Baß . Denn
das , was du Körper nennſt , iſt in Wahrheit ja ſo gut Geiſt
wie alles andere in dir . In das große Konzert gehört jedes
Inſtrument gleichberechtigt mit hinein . Auch das .
Von dieſem Schluß aus hat nun , hoffe ich ( immer im
Wahrſcheinlichkeitsrahmen ! ) die weitere geſchichtliche Betrachtung
keine beſondere Schwierigkeit mehr .
Nehmen wir eine befriedigende Wolluſt-Erlöſung auch für
alle vielzelligen Tier-Individuen nach unſerer Menſchen-Analogie
einfach einmal als eine Grundthatſache hin , ſo mußte die Lokali¬
ſierung dieſer Wolluſt ſich auch dort eben den verſchiedenen
Sachlagen anpaſſen , ſo gut es ging .
Ein Fiſch , der noch gar kein Geſchlechtsglied beſitzt , kann
die höchſte Wolluſt nicht lokaliſiert haben im Geſchlechtsglied
wie du . Erinnere dich nur wieder an die lieben Blaufelchen .
Sie finden ſich , Männlein und Weiblein , zueinander , ſehen ſich ,
berühren ſich mit dem ganzen Bauche im Liebesluftſprung —
und gleichzeitig jetzt ſpritzen beim Mann der Samen , beim
Weibe die Eier aus . Nach der Analogie deiner eigenen Liebes¬
erlebniſſe wirſt du ſagen : hier genügt eben ſchon der einfache
Kitzel bei Berührung der ganzen Bauchhaut , um die Wolluſt
auf ihre Höhe zu bringen . Und mit dieſer Höhe in engſter
Verbindung ſteht hier ein Geſchlechts-Nieſen beider Parteien
— Mann und Weib ſpritzen ihr Liebesprodukt dabei vor .
Es ſtände aber nichts im Wege , das darüber rückwärts
hinaus ſich noch viel einfacher zu denken .
Laß ſelbſt die allgemeine Bauchberührung , ja jede un¬
mittelbare Körperbetaſtung als Kitzelmoment fortfallen . Zwei
Tiere verſchiedenen Geſchlechts ſollen bloß ihre gegenſeitige
Nähe durch ein Sinnesorgan Auge oder Ohr merken , — ſie
ſollen ſich hören , oder ſehen , oder auch riechen . Und dann
beide losſchießen . Hier bildete geradezu alſo das Auge oder
das Ohr oder die Naſe den Kitzelerreger , der ſofort zur vollen
Wolluſt führte .
Du ſiehſt : jede einzelne Stufe jener Steigerungsſkala , die
wir bei dir oben betrachtet haben , kann bei dieſen oder jenen
deiner tieriſchen Ahnen ſchon genügt haben , um das ganze ſo¬
fort auszulöſen . Wie wenn du deine Geliebte bloß ſäheſt
oder reden hörteſt oder gar bloß den Parfüm ihres Kleides
einatmeteſt und das genügte , um die ganze Melodie des in¬
timſten Liebesaktes bei dir ſpielen zu laſſen mit ſämtlichen
Empfindungen und unter Ausſtrömen der Lebenswelle .
Bei den Blaufelchen wärſt du doch wenigſtens ſchon
beim Händedruck . Den umgekehrten Weg vom Blaufelchen zu
dir kannſt du dir aber jetzt wirklich von ſelber abzählen . Die
Kröten dort im Teich regen ſich offenbar noch ganz durch
äußere Hautreibung auf . Bei den Molchen , die Pforte an
Pforte lieben , iſt die Empfindung ſicherlich ſchon ſtark auf
dieſen Pfortenrand lokaliſiert . Aber es ſind ja noch die
Kloaken-Pforten . Alſo das Wolluſt-Centrum ſitzt ſehr im
Gegenſatz zu dir noch am After . ( Der Fall iſt , nebenbei be¬
merkt , wieder intereſſant zur Geſchichte der Päderaſtie . ) Dieſer
Sachverhalt hält ſich auch noch bei Eidechſe und Krokodil .
Aber hier hört etwas anderes , dir fremdes ſchon auf .
Das Weib behält nämlich ſeine Eier fortan auch über
den Wolluſt-Akt hinweg im Leibe .
Die Befruchtung , jener eigentliche Miſchakt der Samen¬
zellen und Eizellen , findet im Weibesleibe ſelbſt ſtatt . Es
bedeutete das einerſeits einen Schutz für die Eier , und anderer¬
ſeits eine gewaltige Erhöhung der Wahrſcheinlichkeit , daß jedes
Ei ein Samentierchen fand , alſo der wahre Miſchakt überhaupt
eintrat . Der Fortſchritt war aber eben erſt möglich , nachdem
ein Mannesglied ſich ausgebildet hatte . Fortan brauchte alſo
bloß noch beim Manne jener Nies-Akt der Samenausſpritzung
mit dem Höhepunkt des Wolluſt-Aktes vereint zu bleiben .
Beim Weibe fiel jede Eier-Exploſion im Wolluſtmoment end¬
gültig fort .
Du erinnerſt dich , daß gerade dieſes Fortfallen beim
Menſchenweibe wieder einer der Punkte war , den du oben als
Abſurdität brandmarken wollteſt . Daß nämlich beim Weibe
der Wolluſtakt ſcheinbar ganz außer Beziehung geraten iſt zu der
Eierablöſung im Eierſtock ! In Wahrheit kam von einer be¬
ſtimmten wichtigen Ecke der Entwickelung an alles darauf an ,
daß bloß der Samen möglichſt tief in das Weib eingepumpt
wurde . In dieſem Einpumpen lag der äußerſte Akt der
Diſtanceliebe der beiden großen Deckindividuen Mann und
Weib zu Gunſten der Miſchliebe der Samen- und Eizelle .
Alſo konzentrierte ſich auf dieſen Pumpakt auch beiderſeits die
höchſte Wolluſt . Beim Manne mußte nach wie vor das Samen¬
auspumpen damit zuſammenfallen , ſelbſtthätig verknüpft wie
Schnupftabakkitzel und Nieſen . Beim Weibe aber brauchte
ſchlechterdings nichts damit zuſammenzufallen , als die beſt¬
mögliche innere Situation zum möglichſt tiefen Einſtrömen¬
laſſen der Samenwelle . Alles was die eigenen Weibeseier
betraf , war längſt ſo tief nach innen verlegt , und hatte hier
ſo ſehr ſeinen eigenen Mechanismus , daß der ganze Akt der
beiden großen Leute ſich darum überhaupt nicht mehr zu
kümmern brauchte . In das eigentliche Eierland vorzudringen ,
war Sache der eingezeugten Samentierchen ſelbſt . Mochte die
eine eigene Wolluſtſehnſucht noch wieder für ſich weitertreiben
— Sehnſucht nach jener uns Großen körperlich unbekannten
Urwolluſt der wirklichen Körperverſchmelzung . Das hatte mit
dem rieſigen millionenzelligen Mutterorganismus über ihnen
aber nichts zu thun und konnte alſo auch keine Beziehung zu
deſſen Wolluſt haben . Deine ganze Forderung vom Zuſammen¬
fallen auch der Weibeswolluſt mit der Eierentſendung iſt ein¬
mal wieder der Ruf nach etwas längſt Antiquiertem , — nach
einem Fiſch- und Krötenſtadium , wo auch dem Weibe die
Wolluſt kam , wenn die Eier abgingen , — einem Stadium ,
das aber ſchon das Reptil endgültig aufgegeben hat , weil es
unpraktiſch war .
Die Wege , wie die Pforte des Weibes zum einfachen Ein¬
pumpen des Samens immer rationeller ausgeſtaltet wurde ,
haben wir vorhin genügend beſprochen . Die Afterliebe ſchwand
bei beiden Geſchlechtern . So konzentrierte ſich die Wolluſt
alſo folgerichtig nur noch um die Urin- und Geſchlechtspforte .
Inzwiſchen hatte ſich beim Krokodil aber jener Fleiſchzapfen
mit der Samenrinne als erſte Form des Mannesgliedes ge¬
bildet . Die männliche Wolluſt , nach wie vor im engſten Bunde
mit der Samenausſpritzung und immer auf dem vorderſten
Vorpoſten , lokaliſierte ſich ſtreng folgerichtig auf dieſen Zapfen .
Aber auch beim Weibe ſcheinen deine Ahnen hier herum ja
einen entgegenkommenden Zapfen gebaut zu haben . Alſo der
konzentrierte ebenſo auf ſich die weibliche Wolluſt .
Nachher freilich erwies ſich eine noch größere Vertiefung
als noch rationeller . Der Mannesſame wurde nicht bloß an
dem Weibeszäpflein entlang auf die Eierpforte zugegoſſen ,
ſondern das immer mehr vergrößerte und verfeinerte Mannes¬
glied wurde überhaupt ſo tief eingeführt , daß es ſogar unter
dem Zäpflein her direkt in die Eierpforte ſelber noch ein
Stückchen vordrang .
Damit aber nun war , wie geſagt , das weibliche Zäpflein
als Pumphelfer völlig entlaſtet . Es ſaß indeſſen nach wie
vor ſo günſtig für den gleichzeitigen weiblichen Kitzelakt , daß
eine Fortverlegung des Wolluſt-Centrums von hier geradezu
ein Schaden geweſen wäre . Und ſo hielt es ſich als Luſt¬
zäpfchen fortan allein weiter , — heute von uns noch Kitzler
getauft und damit in ſeiner Rolle anerkannt .
Die Wolluſt als reine Augenblicks-Luſtempfindung be¬
trachtet , ſpielt , ſagte ich dir , gleichſam nur auf einer Taſte .
Sie macht dabei dieſe Taſte nicht zu einem Orcheſter ,
ſondern ſie erzielt ihre dämoniſche Macht im Moment nur
durch einfache Steigerung eines einzigen Tons . Von hier
aus wird verſtändlich , daß in der Kette deiner tieriſchen Vor¬
fahren von da ab , wo überhaupt Luſt- und Schmerz-Reak¬
tionen äußerlich ziemlich deutlich werden , die Wolluſt wie
etwas mehr oder minder fix und fertiges erſcheint .
Schon das Benehmen von verliebten Fiſchen , die ſich
bloß aneinander reiben , noch ohne Begattungsglieder zu haben ,
hat eine ſo frappante Ähnlichkeit mit geſchlechtlich erregten
Menſchenkindern , daß es den ſchlichteſten Beobachtern aufge¬
fallen iſt . Vielleicht verteilt ſich das Gefühl lange noch über
eine größere Zeit . Vielleicht . Sagen läßt ſich das nicht
genau , da man nie weiß , wie viel Vorſpiel iſt , wie viel erſt
echter Akt . Man möchte meinen , beim Menſchen ſei alles ,
wenn es denn ſo weit iſt , auch epigrammatiſch zugeſpitzt .
Wie er ja in all ſeinem Handeln dieſes Konzentrierte , Spar¬
ſame , Epigrammatiſche auch ſonſt hat . Aber wenn man im
übrigen bloß den Akt im Ganzen anſchaut , ſo iſt es wirk¬
lich ſchon ein Kunſtſtück , auch nur den geringſten ſtichhaltigen
Unterſchied zu finden zwiſchen einem verliebten Froſch-Männchen
und einem bloß von der nackten groben Wolluſt-Sehnſucht
gepackten Menſchen .
Wie ein Wahnſinniger — ein Monomane thatſächlich der
einen brummenden Taſte ſeines Gefühlsorcheſters — ſtürzt
ſich der Froſch auf ein beliebiges Froſchweib . Auch er noch
ohne Begattungsglied , — bloß allgemeiner Berührungs-Liebler .
Aber er packt das Weib mit einer Gewalt um den Leib , daß
es nicht ſelten daran ſtirbt . Iſt kein echtes Froſchweib ſeines
Gleichen zur Hand , ſo packt er auch ein anderes gerade ver¬
fügbares Tier und regt ſich daran zum Ziel auf . Ein
Karpfen wird beritten , daß die Schuppen fliegen und nicht
ſelten die Augen gar ausgekratzt werden . Eine Kröte im
Goldfiſchglaſe hetzte die Goldfiſche ſchließlich zu Tode ſo .
Aber Männchen des Froſches beſpringen auch Männchen , wenn
es nicht anders iſt . Ein totes Weibchen wird genau ſo wüſt
umarmt wie ein lebendiges . Ein ſchon liebend vereintes Paar
wird von ledigen Männern nochmals beſtiegen , bis ein ganzer
ekler Klumpen verworrenen Lebens entſteht . Ja ganz lebloſes
Holz wird ſchließlich erfaßt und begattet .
Tolles Spiel . Denkſt du nicht daran , was Menſchen¬
unſinn alles verſucht hat mit der Wolluſt ?
Alles , um in dieſen dumpfen Grundbaß Abwechslung zu
bringen . Liebe zwiſchen Mann und Mann , Weib und Weib .
Liebe mit Eſeln und Gänſen . Liebe mit Toten , mit Ge¬
quälten , mit Sterbenden . Liebe mit künſtlichen Gegenſtänden ,
mit Puppen und Apparaten . Liebe zu Vielen . Liebe in den
kautſchukmenſchenartig ausgeklügeltſten Stellungen . Es iſt wohl
nicht nötig , dieſe humoriſtiſche Schreckenskammer weiter auf¬
zuthun .
Schließlich kommt der vollgeprüfte Liebesepikureer und
ſpricht als Fazit aus , wie armſelig wenig doch im Grunde
dieſes an Intenſität ſo ungeheure Wolluſtgefühl zu variieren
ſei , — ein kleiner Kreis , ewig neu abgetrottet , und als Re¬
ſultat eigentlich immer wieder gar nichts .
Das alles hat aber — bis auf das Philoſophieren —
wirklich der Froſch ſchon vorgemacht , und du großer Raffine¬
21
ments-Menſch ſo vieler Kulturjahrhunderte ſtehſt da in Wahr¬
heit vor einem bänglich armen Zirkel von Jahrmillionen , die
dich von deinem Menſchen-Froſch trennen . Man muß ſagen ,
die Menſchheit hat in dieſem Punkt einen wahren Don
Quixote-Helden-Kampf bis zum Äußerſten geführt , um Varian¬
ten im einfachen Gefühl zu ſchaffen . Und iſt doch wahrhaftig
nicht über den Froſch hinausgekommen .
Nein , in dieſer Linie war es nun einmal nicht zu
machen . Ein ganz anderer Weg iſt viel langſamer daneben
hoch gekommen — und eben der doch ſchließlich ein menſch¬
licherer . Der Menſch iſt einmal nun das Geiſtestier , das Tier
des aufſtrebenden Geiſtes — und da hilft alles nichts .
So iſt von hier eine ganz andere , entſchieden ausſichts¬
vollere Straße verſucht worden . Etwas geräuſchloſer , aber
doch übermächtig . Es iſt nämlich , ſintemalen der Kitzelakt der
Wolluſt nun doch einmal in die große Liebeskette als feſter
Fels hineingeraten war , verſucht worden , auch dieſen Fels zu
vergeiſtigen in eine höhere Linie hinein .
Von einer höheren Linie iſt das Zuſammentreten der
beiden Individuen Mann und Weib einer Reviſion unterzogen
worden im Sinne einer nochmals höheren Einheitsbildung .
Nicht jedes Weib als ſolches und nur deswegen , weil
es „ Weib “ iſt , mit jedem beliebigen Manne und umgekehrt .
Du verſtehſt , was ich meine . Das ungeſtüme Roß der Wolluſt ,
ſelber nicht entwickelungsfähig , iſt zwiſchen die Schenkel eines
allgewaltigen Geiſtes- und Kultur-Reiters gepreßt worden :
der geiſtigen Begründung des Liebes-Individuums auf Grund
individueller Harmonie zwiſchen dieſem Manne und ausgeſpart
gerade dieſem Weibe . Von hier beginnt ein weiterer Werde¬
prozeß , der noch einmal wirklich alles umwertet . Das Wort
Einzelehe bezeichnet ihn nur andeutend und vorläufig , nicht
dauernd weſentlich . Aber es faßt ihn immerhin grob ſo , daß
die Sache erkennbar wird .
Die Wolluſt , die zwiſchen Männern , Weibern , mit
Tieren , Leichen , Inſtrumenten und ſo weiter ſchließlich doch
keine ernſthafte Fortentwickelung erfuhr , wird endlich als
Faktor eingeſtellt in die Beziehungen zweier Menſchen zu ein¬
ander , die von einem ganz anderen , ſeeliſchen Boden aus in
eine höhere Gemeinſchaft , eine ganz beſtimmte Individuums-
Bildung bereits eingetreten ſind . Sie wird der rohe Natur¬
burſche zunächſt auch ſolcher Alliance ſein , zweifellos . Aber
es fragt ſich , ob ſie von hier nicht doch zu erziehen iſt , —
ſie , die von ihren Ur-Anfängen an eigentlich ein Harmonie-
Gefühl zwiſchen zwei körperlich verſchmelzenden Individuen
war , — die dann ſich auf eine Diſtance-Ecke zu äußerſt feſt¬
ſetzte bei den Vielzellern , den Deck-Individuen Mann und
Weib , — und die jetzt die Möglichkeit hätte , wieder in einen
echten geiſtigen Verſchmelzungsverſuch einzulenken .
Die Bahn dieſer Entwickelung liegt zum Teil ſchon
offen in der Chronik der Einzelehe und alles deſſen , was
damit zuſammenhängt , vor . Zum beſten Teil freilich ſteckt ſie
in einer Ehe ( cum grano salis ) , die noch nicht hinter uns
Menſchen von heute liegt , ſondern erſt vor uns .
Das macht die Sache abermals grundſchwierig .
Ein ganz neues , fernes , dämmerblaues Schneegebirge
taucht vor uns auf .
Alles meldet ſich , was wir voreinſt bereits über die Ehe-
Anfänge geredet haben . Das Wort fällt aber ſelber wie eine
Deckhülle von einem noch ſehr viel tieferen Problem .
Wir haben vom Liebes-Individuum bisher immer nur
geſprochen als überhaupt „ Mann und Weib “ . In dieſer
Gegenſätzlichkeit lag alles . Wir beobachteten ihre Mittel , ſich
zu finden , zu binden , das höhere Individuum zu gründen , den
Miſch-Akt einzuleiten und ſo weiter . Wie nun , wenn ſich
in dieſen Zuſammenſchluß von Mann und Weib nochmals viel
feinere Motive miſchen ?
Nicht mehr bloß Mann und Weib im Sinne des nötigen
Geſchlechtsgegenſatzes .
21*
Sondern ein Mann , ein ganz beſtimmter Mann .
Und ein Weib , ein ganz beſtimmtes Weib .
Individualiſierende Wahl .
Es iſt gewiß wahr , daß gerade die Wolluſt vielleicht der
ausgeſucht ſeltſamſte Punkt iſt , um auf dieſes neue Kapitel zu
kommen . Gerade die Wolluſt mit ihrem einen groben , gleich¬
förmigen Grundbaß iſt bisher bei uns Menſchen ſelber noch
ſtets poſitiv die ſtärkſte Nivellierungswalze geweſen , die uns
immer und immer wieder beibringen wollte , jede höhere , ver¬
geiſtigtere , individualiſiertere Wahl beim Schließen des Liebes-
Individuums ſei eigentlich gleichgültig , da dieſe Grundmelodie
doch ſpielt , ob nun das dümmſte Augenblicksweſen unſerer
Laune oder die verklärteſte Idealliebe die Taſte ſchlägt .
Und es iſt wirklich ſo , daß erſt Zukunftswerte gerade
hier vor dir auftauchen , wenn du von Individualiſierung auch
der Wolluſt reden willſt , — von einem in gewiſſem Sinne
befreiten Menſchen redeſt , der für das Gefühl auch der wirk¬
lichen Wolluſt ſchlechterdings nur noch empfänglich wäre bei
inniger Einigung mit dem anderen Weſen , das auch ſein
ganzer unendlich verfeinerter Kulturgeiſt , all ſeine Ethik und
Äſthetik , all ſeine Idealität und Idealſchaffungsſehnſucht für
das richtige , ihm entſprechende erkannt hätten , das alſo Ma¬
donna und Venus im höchſten Sinne zugleich für ihn wäre .
Dieſe erhabene Harmonie iſt offenbar bei uns ſelber noch ein
Entwickelungs-Ideal , das wir wohl ſchon ſehnend ſchauen ,
aber noch keineswegs beſitzen . Erſt dieſes unabläſſige in¬
brünſtige Schauen ( dem wohl keine echte und reine Seele im
Punkte der Sehnſucht je im Leben , in noch ſo viel ſtark da¬
gegen abſtechenden Akten , eigentlich untreu geworden iſt ) ſoll
uns ja den Beſitz einmal verſchaffen . Inzwiſchen ſcheint aber
jene alte grobe Wolluſt-Form ihre gute Rolle darin zu ſpielen ,
daß ſie überhaupt Liebes-Individuen auch jetzt unabläſſig —
wenn ſchon rohe einſtweilen , Mondkälber gleichſam des Ideals
— ſchaffen hilft . Die Menſchheit ſtürbe ſonſt aus und aller
Ideal-Schaffung würde der Nerv damit durchgeſchnitten von
einer tieferen Schicht aus , die wir Ringenden ſo wenig in
uns ſelber geringſchätzen dürfen , wie das Rieſenfräulein des
Märchens den Bauer , der das Korn ſät .
Aber warum in unſerer ſo abſichtlich unſyſtematiſchen ,
nur intimen Gedankenreizen folgenden Betrachtungsart nicht
gerade ſolchen Knoten des Älteſten mit dem Zukünftigſten zum
Sprungbrett nehmen zum weiteren Satz ! Grade weil's ſo iſt .
Hinauf in den ſtillen , aber ſteten Triumph der Indivi¬
dualität noch auf einer neuen Stufe , einer höheren . Nicht
mehr bloß Mann und Weib . „ Der “ Mann — und „ das “
Weib .
Eine Tiergeſchichte zur Einleitung .
Aber vorher noch — ein Wort .
I ntermezzo ... .
Über der kleinen Kiefernſilhouette des Seeufers drüben
treibt ein blendend weißer Wolkenblock langſam empor .
Gegen die winzigen Bäumchen erſcheint er rieſig — wie
ein Gebirgshang mit ewigem Schnee . Gegen die ungeheure
blaue Himmelsſchale iſt er nur ein blinkendes Stückchen
Zucker .
Und es iſt , als freſſe ihn dieſes heiße Blau ſchon , kaum
daß er ſich über den Horizont wagt . Der weiße Klumpen
wird höckerig , bekommt Buckel wie Hamlets Kameel und
fratzige Profile mit großen Napoleonsnaſen . Dann bricht eine
erſte Naſe oben ab , ſchwebt eine kurze Weile ſchwindelnd als
loſe Flocke für ſich im Blau .
Du ſchauſt einen Augenblick auf den See und jetzt erſt
wieder hin . Fort iſt das Flöckchen ganz . Geſchmolzen . Auf¬
geſogen . Kaum noch , daß du ein ſchwächſtes blaſſeres Feder¬
ſtreifchen noch eben vom Ganzazur ſich abheben ſiehſt . Noch
eine Minute und auch das iſt hin . Das Blau blendet wieder
in einheitlichem Erz .
Inzwiſchen iſt aber der ganze Schneeberg unten im
vollen Zerfall . Noch zwei , drei Wölkchen löſen ſich ebenſo
ab und ſchmelzen höher oben für ſich . Dann ballt ſich der
ganze Hauptklumpen zu vielen kleineren Centren von einander ,
die nicht mehr ſteigen , ſondern ſchon unten ſich verkleinern .
Wie bläuliche Gletſcher ſchillert es auf einmal allenthalben in
dem Schneegipfel . Aber ſchon werden die Gletſcher zu blauen
Strömen und wieder die Ströme werden zum offenen Riß
in das Metallblau des Azurs hinein . Feine Fähnchen hängen
jetzt gleich ſchillerigen Eiszapfen von den Schneerändern hinaus .
Dann zerſtieben die Zapfen ganz zu feinem weißen Staub , als
würden es Waſſerfälle , die in Schaum verfliegen ehe der Ab¬
grund durchmeſſen iſt . Noch ein paar Minuten — und die
ganze Wolke iſt hin , — ein Nebelfleckchen nur noch im ſieg¬
haften Blau , eine bleiche Trübung — nichts mehr . Aber
tief unten auf dem Wald liegt wie ein äugender weißer Bär
ſchon eine neue , die herauf will . Herauf in denſelben Kampf .
Und um auch ſo zu ſterben ......
Ja wohl , das Geſchichtliche gibt zweifellos einen tieferen
Blick . Dieſer Millionenjahre-Menſch , in dem ſo und ſo viel
Welten aufeinander geſchichtet liegen , der durch ſo und ſo
viel Ungeheuer hiſtoriſch durchgeklettert iſt und von allen heute
noch gleichſam Schwänze und Klauen an ſich trägt , — dieſer
Menſch Darwins und der wahren Weltgeſchichte iſt wirklich
ein ganz anders verſtändlicher Kerl als jener Paradies-Adam
Jehovahs , der fix und fertig gedrechſelt und lackiert auf den
Markt geſtellt wurde , um ſogleich und für alle Folge jetzt das
Ideal zu vertreten , und der dann doch ſo mangelhaft ſich
erwies , wie er — eben iſt .
Dieſer geſchichtlich gewordene Menſch gleicht dem Helden
der Tolſtoiſchen Novelle , dem ſein Leben vorkam wie die
fürchterliche Würgearbeit eines Lebendigen , der in einen Wollſack
eingenäht iſt , und der ſich wälzen und wirbeln und ſtoßen
muß , bis endlich , endlich der Kopf das eine Wurſtende durch¬
gebohrt hat und ins Licht taucht . Es iſt gewiß keine Ab¬
ſurdität , wenn dieſer Menſch , im Lichte tief aufatmend , noch
das Haar dick voll Wollflocken hat . Und ſolche Wollflocken
einfach wären alle jene ſcheinbaren Verrücktheiten in deinem
menſchlichen Liebesleben von heute , die zahllos verpulverten
Zeugungszellen , die Verknüpfung von Heiligem und Unappetit¬
lichem in dem Akt , und ſo fort .
Gut , ich ſehe in eine unendliche Verwickelung , und wenn
dieſe geſchichtliche Verwickelung noch heute Verwickeltes erzeugt ,
ſo iſt das in ſich wirklich ganz und gar nicht abſurd , ſondern
es iſt ſchlichteſte Logik .
Aber ich ſtütze den Kopf auf die Hand und ſchaue in die
Wolken dort , die ſo ſchön weiß und ſolid aufſteigen und ſich
doch immer wieder ins blaue Nichts löſen . Auf dem See
ſchnattern die ungezählten Pärchen liebender Vögel , eine große
Hochzeit iſt da unten , ein wildes Zeugen neuen Lebens . Aber
oben kommen und gehen dieſe ſchweigenden Wolken , mit einer
ſtillen Tragik wie ein großer Chor , der den Schluß zieht , die
Moral von der Geſchichte .
Ja die Moral . Und ich träume mich hinein in das
Schickſal eines jener Quadrillionen verpulverter Samentierchen
und ich frage mich , ob wir die Abſurdität mit alle dem nicht
doch nur ein Stück weiter in den Kern der Weltendinge ver¬
ſchoben haben , ohne ſie auch ſo ernſtlich aus der Welt heraus¬
zubringen .
Damit einer lebt und weiter liebt , müſſen Quadrillonen
ſterben .
Eine Samenzelle findet ihre Eizelle und es wird ein
Menſch und wird groß und wandert ins Licht , ihm wachſen
Augen und er ſieht die Sterne und das märchenhafte Blau
da oben .
Dafür aber bleibt die ganze Pilgerfahrt von tauſend Ei¬
zellen das armſelige Stückchen Herumtappen in einem ſtock¬
finſteren Kanal zwiſchen Eierſtock und Gebärmutter . Und
Millionen Samentierchen erleben nichts als den kurzen , dummen ,
ſinnloſen Weg von ihrer warmen Wiege im Mannesorgan bis
zum Verſchmachtungstode in einer ungeheuren , ſchauerlichen ,
kalten , fremden Welt draußen , die ſie bloß begrüßt , um ſie zu
Tode zu quälen . Arme Bauſteine zu Welten , aus denen doch
keine Welt wird !
Durch meinen Sinn zieht auch die famoſe Geſchichte des
Multatuli : wie der Vater ſein Kind unterweiſt , wie ſchön
alles in der Welt eingerichtet ſei . Der Vogel legt ſeine Eier
und zur rechten Zeit , da es Würmlein als Speiſe gibt , kommen
die Jungen aus und ihr Geſang iſt eitel Dank für ſo
treue Fürſorge . „ Singen die Würmer mit , Papa ? “ fragt
das Kind .
Nein , ſie werden gewiß nicht mitſingen , dieſe verſchwendeten
Samentierchen , wenn ſie mit ihrer Jahrmillionen-Fracht an
Vererbungen und Hoffnungen auf irgend einer Leinewand ver¬
durſten , ohne Menſch geworden zu ſein .
Ich merke es wohl , du willſt mich ins Äußerſte hinein
beſchwören . Bis ins Kernholz des Philoſophiſchen . Ich aber
möchte dir mit einem einzigen Bilde bloß antworten . Vielleicht
daß es genügt .
Mache dich leicht im Geiſte , leicht wie ein Vogel , ein
Ballon , — noch viel leichter , ganz ſchwerelos . Und ſchwebe
empor .
Hoch wie ein Eukalyptusbaum von fünfhundert Fuß .
Die dreihundert Meter des Eiffelturmes . Die 8840 Meter
des Gauriſankar . Wie ein blaues Auge iſt der runde See
hier unter dir eingeſunken in dem graugrünen Kiefernteppich .
Und der Teppich verſchwimmt in dem allgemeinen Bunt einer
unentzifferbaren Stickerei . Violette Höhen im Süden . Im
Norden der Horizont auf dem hoch ſich wölbenden Meer .
Zuletzt die ganze deutſche Ebene noch wie in einem Riß , —
dann der Riß ſich ſchließend , Wolken , unendliche weiße Ein¬
ſamkeit . Die höchſte Ballonhöhe : Berſon im „ Phönix “ mit
9000 Metern , der leere „ Cirrus “ bis 18000 . Im Sinne
des Altertums müßteſt du jetzt die berühmte kriſtallblaue
Himmelsglocke ſchneiden , auf der die Götter wandeln .
Aber kein Kriſtall taucht dir auf , kein ſchneeiger Venus¬
leib ſpiegelt ſich darin . Nur die blaue Farbe haſt du wirk¬
lich durchſchnitten . Die feinen Waſſerbläschen reflektieren
über dir kein Blau mehr . Geſpenſtiſch rabenſchwarz iſt der
Himmel , — die Sonne weißglühend darin wie das ſcharf um¬
randete Loch eines Hochofens . Mit eiſiger Hand greift hier
ſchon die Polarkälte des Weltraums zu dir heran . Bei jenen
18000 Metern ſchon 67 Grad unter Null . Allmählich dann
bis zur Hundert herab . Unten ſchmelzen jetzt auch die Wolken¬
bänke zu Flocken und Streifen ein . Die Erde erſcheint wieder ,
aber tonnenartig nach innen eingewölbt wie ein gähnender
Trichter .
Höher . Die Atmoſphäre geht zur Neige . Bei zwei¬
hundert Kilometern iſt ſie ſo gut wie fort . Geheimnisvoll
zeigen ſich an dieſem Luftufer nur noch die letzten Auswürf¬
linge des tieferen atmoſphäriſchen Ozeans angeſpült . Da
ſchweben Teilchen vulkaniſcher Aſche und leichteſte Bakterien¬
keime , wohl das Einzige , was die ſauſende Erde unabläſſig in
den Raum hinein verliert . Dazwiſchen aber ſchon Gäſte des
Neuen . Vielleicht durchquerſt du die rätſelvolle Gasſchicht , die
uns da oben in der bunten Strahlenkrone des Nordlichts
erglüht . Der feine meteoriſche Nickeleiſen-Staub des Alls
beginnt reichlicher auf dich einzufallen . Unter dir verpufft
wie eine platzende Bombe ein derber Meteorſtein durch die
Reibung an der unaufhaltſam raſend von Weſt nach Oſt
gedrehten Luſtwalze . Noch ein Ruck : der freie Raum . Frei
bis zum Monde .
Doch du beſchleunigſt deinen Flug . Lichtgeſchwindigkeit
nimmſt du an . 40000 Meilen in einer Sekunde peitſcht ſich
die Ätherwelle , die von uns als Licht empfunden wird , dahin .
51000 Meilen bloß ſteht der Mond von der Erde ab . Alſo
noch nicht anderthalb Sekunden haſt du bei ſolcher Geſchwindig¬
keit bis zu ihm . Ein Sprung wie von einem Stuhl herab —
und du ſitzt auf dem Mond . Hexerei der Phyſik . Am Rande
einer der ungeheuren Kraterhöhlen . Tauſende von Metern
unter Dir , unter ſchwindelnder Wand , eine endloſe , wellige
graugelbe Ebene . Der Schatten des Zackengrates , auf dem du
hängſt , fällt in gigantiſchen kohlſchwarzen Hörner-Silhouetten
weit in die blinkende Fläche ein . Fern ein einzelner ſteiler
Pik , — der Zentralkegel des Kraterkeſſels . Myſteriöſe Farb¬
flecke hier und da in der Ebene . Grüne , blaue . Sind es
Wälder giftgrüner Kriſtalle ..... oder eine phantaſtiſche
Pilzvegetation , mit eukalyptushohen Stengeln und Dächern wie
Paläſte groß ?
Doch du richteſt den Blick in die Höhe . Da ſchwebt die
Erde . Die Volva , wie Kepler ſie in ſeinem „ Traum vom
Monde “ ſelenitiſch getauft hat . Ein freier Rieſenglobus .
Das Polareis des Nordpols erzeugt einen Reflex , daß das
Auge blinzelt . Es iſt die Gegend gerade , die ſelbſt der Menſch
noch nie ganz durchmeſſen hat . Von da abwärts die Meere
grünblau . Rötlichgelb die Sahara . In ſattem Smaragdgrün
der Tropengürtel Afrikas und Braſiliens . Über Teile von
Europa dampft langſam eine blendend weiße Wolkenbank ab .
Wo dein See hier liegen müßte , iſt es gerade wieder ganz
klar . Aber umſonſt , daß du ihn ſuchſt . Er iſt viel zu winzig .
Ein mikroſkopiſches Pünktchen . Kaum daß du den ganzen
Raum zwiſchen Mittelmeer und Nordmeer gewahrſt und die
größten Tatzen , die der kleine Erdteil in dieſe Meere ſchiebt .
Und keines unſerer Rieſenfernröhre , auf dieſe ſelenitiſchen
Kraterzacken geſtellt , würde dir je auch nur einen einzigen
der Menſchen zeigen , deren Luſt und Weh zu dieſer Stunde
fünfzehnhundertmillionenfach ſich auf dieſer Kugelwölbung aus¬
jauchzt und ausweint . Schon nach 51000 Meilen Weg nur
noch Waſſer , Land und Eis , und die Kugel ſelbſt , — aber kein
Menſchenantlitz mehr .....
Doch du raſteſt nicht . Weiter im Fluge . Was iſt ein
Weg von noch nicht anderthalb Sekunden Lichtbahn in dieſem
ſchwarzen , ſterndurchglühten Raum . Nimm drei Minuten
Lichtflug . Schon lange innerhalb der erſten ſchmilzt der Erden¬
globus zu einer kleinen glitzernden Mondſichel mit zarteſter
Schattenzeichnung , neben der die wirkliche Mondſichel bloß als
ſilberner Punkt ſteht . Am Ende der dritten Minute faßt du
auf einem der kahlen ziegelroten Hochplateaus des Mars Poſten .
Es iſt ſpäte Nacht und am Dämmerhimmel der Seite , wo der
Tag werden will , ſteht ein Morgenſtern , ſo hell wie bei uns
die Venus . Das iſt die ganze Erde . Ein Lichtpunkt im Firma¬
ment . Weder Meer noch Erdteile unterſcheidet dein bloßes
Auge . Der Mond iſt unſichtbar mit im Glanz . Auf dieſe
Ferne von ſieben Millionen Meilen exiſtiert er für deinen
Blick nicht mehr ſelbſtändig . Ein ſchöner Stern immerhin .
Wie eine weiße Blume blüht er noch lange im Oſten , während
das Morgenrot darunter in roten Streifen über die Ebene da
unten aufbricht und mit blutigen Reflexen in das weite Kanal¬
netz überall einſchwimmt ......
Zehn Minuten Flug . Nach einer ſchon wieder iſt der
ganze Mars ſelber ein gelbroter Stern . Nach zehn wölbt ſich
über dir ein geſpenſtiſch blaſſer Nebelbogen durch das Firma¬
ment . Du biſt auf dem Saturn . Der Ring ſchwingt ſich da
oben hin . Im Himmelsausſchnitt funkeln Sterne . Wo iſt die
Erde ? Du ſuchſt umſonſt . Ihr Lichtpünktchen iſt ſo klein , daß
dein Auge ſie ohne Glas nicht mehr findet . Auch die Sonne
ſelber iſt ſchon tief herabgeſchmolzen wie eine kurzgedrehte
Gasflamme .
Vier Jahre Flug . Die Lichtkraft , die dich in noch nicht
anderthalb Sekunden von der Erde auf den Mond warf ,
braucht vier Jahre , um die vier Billionen Meilen bis zum
nächſten Fixſtern zurückzulegen . Auf einem Planeten der roten
Doppelſonne Alpha im Sternbild des Centauren machſt du
Halt . Und wieder iſt Nacht und dein Auge ſinkt erſchauernd
in das Sternenmeer . Ein Lichtpünktchen dort , im ſilbernen
Staube zwiſchen den tauſenden wirbelnd : die Sonne . Sie
ſelber iſt jetzt nur noch ein kleiner Stern . In dieſes Stern¬
leins Licht zugleich aber ſtecken jetzt alle die Planeten unſicht¬
bar mit , die weiße Venus , der rote Mars , der rieſige Saturn
mit ſeinen Ringen , der endlos ferne Neptun . Und deine Erde
ſelbſt . Alles in allem nur noch ein Pünktchen . Ein Silber¬
ſtäubchen , das in Wirklichkeit die Größe der Neptunbahn , alſo
mehr als neuntauſend Millionen Kilometer Durchmeſſer , um¬
ſchließt .
Doch auch das iſt dir noch nicht fern genug . Du nimmſt
größere Geſchwindigkeit , als das Licht beſitzt .
Du durchquerſt die ganze Fixſternwelt . Bunte Doppel¬
ſonnen und Trioſonnen kreuzen deinen Weg . Planeten ſolcher
Syſteme , die heute eine blaue Sonne am Himmel haben , daß
alles wie in die blaue Grotte von Capri eintaucht , morgen
eine grüne , daß die Landſchaft im ſmaragdenen Kriſtall des
Vierwaldſtätter Sees verſinkt , und nächſtens eine rote , daß es
wie Höllenfeuer über Meer und Gebirge ſtammt . Und jeder
Planet mit fühlenden Weſen , ähnlich dir . Die Sternbilder
zerbrechen vor dir zu ſolchen Blütengärten , die Milchſtraße
fließt auseinander zu buntem Schaum . Dein Sonnenſternchen
aber iſt längſt untergegangen im Weltenmeer .
Doch du fliegſt und fliegſt .
Und du Ahasverus des Alls wirſt eines Jahres alles
überflogen haben , was wir Menſchen von der Erde aus an
Sternen kannten . Die ganze , ganze Fixſterninſel , zu der
unſere Sonne im Engeren gehört , das ganze Syſtem von
Fixſternſonnen , Sternhaufen , Nebelflecken ſchließlich , das noch
dämmernd ſein Licht da und dort zu uns nieder ſchickt , —
das alles , alles haſt du eines Tages hinter dir .
Und wenn du nun im Fluge dich umſchauſt , ſo ſchmilzt
es in ſeiner Allheit hinter dir zuſammen zu einer leuchtenden
Schneewolke , einem blanken länglichen Silberſchild , einer fernen
glimmenden Axenſtelle des unendlichen ſchwarzen Raumes .
Und wieder , da du eine lange Weile geradeaus vorwärts ge¬
flogen , wendeſt du dich : da iſt dieſer ganze Sternenhimmel
mit all ſeinen Sonnen und Nebelflecken nur wieder ein ein¬
zelner Stern , — ein einziger Lichtpunkt in der Weite , aus
der du ſteigſt , — Millionen Weltkörper alle wieder in einen
Punkt gebannt .
Schau es recht an , dieſes glimmende Sternchen . Deine
Fingerſpitze magſt du davor halten — und ſie verdeckt es .
Es iſt nicht größer , als das brennende Stäubchen , das von
deiner Zigarre fällt . Und doch Millionen und Millionen
Erden in dieſem Licht , alle mit Hoffen und Sehnen der
Menſchenbruſt . Und alles , was dieſe Menſchenaugen ſehen in
ihrem höchſten Moment , dieſes glühende Firmament mit all
ſeinen brennenden Fragen , — alles , alles in dem einen , einen
kleinen weltverlorenen Sternenpunkt . Nicht bloß du biſt als
früherer Menſch dort darin , ſondern alles , was dieſes Du im
Weiteſten war , die ganze Welt , die in dieſem Du ſich ſpiegelte ,
durch dieſes Du hindurch ging . Ja , es iſt eine „ Welt “ , dieſer
Stern dort , eine ganze , in ſich geſchloſſene Welt ....
Doch dein Auge wandert . Da ſind ja noch mehr Sterne .
Wieder Sternbilder , Sternhaufen , Nebelflecke , wie dort drinnen .
Dein Weltenſtern iſt ſchlicht dabei . Sieh , er bildet ſogar mit
anderen ein Sternbild , ein geheimnisvolles Dreieck , und dieſes
Dreieck iſt wieder das Schwert nur einer überweltlich rieſigen ,
aus Weltenſternen aufgebauten Oriongeſtalt . Alles wie bei
uns . Bloß jeder Stern nicht eine Sonne , ſondern eine
ganze Welt .
Du landeſt auf einem Planeten dieſes Jenſeitsreichs .
Andere Weſen wohnen dort , in anders gewaltigen Dimenſionen
als die irdiſchen . Wie ihre Raumbegriffe Welten ſtatt Sterne
faſſen , ſo ihr Zeitbegriff Jahrmillionen als Moment . Erſt
ſolche Momente aus Millionen ſetzen ihre Zeitenfolge zu¬
ſammen . Ein ſolcher Menſch tritt vor ſeine Thür . Er ſchaut
in ſeinen Sternenhimmel . Und wie es Tycho de Brahe einſt
ging , an jenem wunderbaren Abend des 11. November 1572 ,
als er plötzlich die altvertraute Kaſſiopeja ſuchte und einen
neuen , nie geſchauten ſchneeweißen Funkelſtern darin gewahrte
von Jupitergröße , — ſo ſieht er ein fernes Sternlein gerade
aufglimmen an einer Stelle , die vorher dunkel war . Er
wundert ſich und merkt ſich die Stelle . In der nächſten Nacht
ſchaut er wieder hin . Und das Sternlein iſt ſchon wieder
verglüht . In einem Tage . Er ſieht ſchon nichts mehr .
Und der Mann des Überwelten-Sternes ſtützt die Stirn
auf die Hand und ſinnt . Armes Loos dieſes Sternleins . Die
ganze Vergangenheit hatte daran gebaut , daß es glühte . Und
nun glüht es ein paar Stunden und fällt wie eine Rakete ab .
Wie iſt es uns hier ganz anders geworden . Seit Äonen
unſerer Zeit kommen wir in ſteter Entwickelung empor , in
Äonen ſteigen wir weiter , da iſt noch kein Abſehen . Und
dieſer arme Stern von zwölf Stunden !
Was hat er geleiſtet ? Ein paar Stunden etwas Licht
ausgeſtrahlt . Gerade genug , um meine Netzhaut hier eben
zu berühren . Und dann ſofort ins Nichts .
„ Singt der Stern auch , Papa ? “
... . Die zwölf Stunden jenes Menſchen waren inner¬
halb des verſchollenen Sterns hunderttauſend Trillionen Jahre .
In dieſen Jahren mußte für jeden Einzelſtern die Epoche
ſeiner Glut , die jener Menſch allein ſehen konnte , vorüber
ſein , damit die herrliche Entwickelungsphaſe , die wir organiſches
Leben nennen , überhaupt eintreten konnte . Was jener Menſch
in dem Augenblick ſah , da ihn das Weltenſternlein auf der
Netzhaut kitzelte durch einen Lichtreiz , — war eigentlich nur
die barbariſche Urform ſeiner Geiſtwerdung , da es noch rein
als Glut ausfloß ; für die Entwickelungsform des Intellektuellen ,
die erſt nachfolgte , hatte er keinerlei Sinn von ſeinem Stand¬
punkt aus .
Ihm aber war mit dem Aufhören dieſes plumpen Netz¬
haut-Reizes einfach „ alles zu Ende “ . Was ſollte auch in
Zeit von ein paar Stunden ſich da viel entwickelt haben !
Dummheit . Es war eben eine müßige Naturverſchwendung ,
ſolcher Stern . Ein himmliſches Samentierchen , das nicht in
die forttreibende Lebenswelle , ſondern auf die kalte Leinewand
gefallen und dort alsbald wieder verdurſtet , vertrocknet war .
Sie warfen mit ungleichen Würfeln da oben . Dieſer nichts
und jener alles . Trübe Welt !
Und der Menſch dort unter ſeinen Weltenſternen und
mit ſeinem Millionenjahre-Zeitbegriff ſtützte den Kopf auf
und ſchmollte . Trübe Welt . Dumme Welt . Unberechenbare
Welt .....
Träume . Aber wenn du ſo tief ins Philoſophiſche willſt ,
haſt du überhaupt nichts als Träume und Analogien . Immer ,
wohin du auch ſiehſt und was du auch ſiehſt : immer haſt du
nur Schnittflächen von Entwickelungen .
In jedem Stäubchen ſchachteln ſich Welten zuſammen .
In jedem Fall eines Stäubchens rauſcht die Entwickelungswelle
von Welten an dir vorbei .
Ändere dir den Größenblick und jedes Tröpfchen Lebens¬
ſubſtanz deines Gehirns umfaßt Siriusweiten , Räume , durch
die das Licht hundert Jahre zum Fluge brauchte . Ändere
ihn , — und unſer ganzes Fixſternſyſtem ſchmilzt zu einem
Tröpfchen ein in einem Gehirn , und die Sonne dort iſt ein
ſchwingendes Molekül im ungeheuren Verbrennungsprozeß einer
Gedankenfabrik , die Fixſtern-Gedanken denkt .
Das verſchmachtende Samentierchen ſo gut wie der aus¬
wachſende Menſch ſind Schnittecken ſolcher Entwickelung . Ein¬
mal ſiehſt du nur einen Punkt , einmal ein längeres Stück im
Schnitt , einen Stamm gleichſam , der im Querſchnitt Jahres¬
ringe ſetzt . Was willſt du ? Ein Ganzes , ewig Fortſchreitendes
ſiehſt du als ſolches hier ſo wenig wie dort . Dein Samen¬
tierchen , das dich hat bilden helfen , iſt nicht auf einer Leine¬
wand eingetrocknet . Du biſt daraus geworden . Aber was iſt
dieſes Du ? Morgen liegſt auch du auf einer Leinewand ,
keuchſt und ringſt nach Wärme , Luft und Licht , — und ſtirbſt
ebenſo , bloß ſo und ſo viel Jahre ſpäter , heraus aus einem
Leben der vollen Kraft , das den Sternenhimmel geſchaut , das
Goethe geleſen , das unter Liebesſchauern und Erkenntnis¬
ſchauern und Schönheitsſchauern gezittert hat , — aber doch
heraus — in dasſelbe „ Nichts “ .
Nämlich in denſelben Längsteil unbekannter Entwickelungen
hinein , von denen du unabänderlich dort wie hier nur den
Querſchnitt ſiehſt , der ſich gerade in deine Lebensebene
projiziert .
Ein Punkt hier , — ein kleiner Stammes-Querſchnitt mit
Jahresringen dort . Aber du haſt in jenem Bilde geſehen :
der Punkt ſchon , ein einſames leuchtendes Lichtpünktlein im
All , kann eine ganze Welt von Trillionen Sonnen umſchließen ,
um die Quadrillonen Erden voll ſehnſuchtsvoller Menſchen¬
augen kreiſen innerhalb des einen Punktes . Den erwachſenen
Menſchen ſchneideſt du im Gegenſatz zum Samentierchen ein
zeitlich längeres Stück , nicht mit einem Punktquerſchnitt bloß ,
ſondern mit einem erweiterten Querſchnitt vieler konzentriſcher
Kreiſe , die ſich im Laufe von vierzig oder ſechzig Jahren um
dieſen Punkt legen . Schließlich aber hört dir der eine Schnitt
für dein Sehen ſo gut wieder auf wie der andere . In dir
liegt offenbar die Verſchiedenheit .
22
Du lebſt gerade in einer Weltenſchau , die die vertrocknenden
Samentierchen in ihrem Entwickelungsloos augenblicklich und
für immer verliert , — während die anderen , aus denen ein
Menſch von deinesgleichen wird , in deine Welt , ſo lange ſie
Menſch ſind , hineinwachſen , ſich dir ſichtbar , hörbar , fühlbar
machen . Nur was von Milliarden gerade in die Form der
Menſchwerdung tritt , ſiehſt du , erlebſt du weiter , — alles
andere tritt für dich in die Verſenkung ein . Aber wie willſt
du da nun werten , willſt du abwägen ? Wenn ein Sternen¬
punkt der Schnittpunkt eines ganzen Kosmos ſein kann , — willſt
du einen Menſchen ohne weiteres gegen einen Kosmos ſtellen ?
Das Wiederverſchwinden aus deinem Geſichtskreiſe kann
doch kein Werturteil für ſich abgeben . Denn auch der Menſch
in der Höhe all ſeiner Kraft entſchwindet dir eines Tages
ebenſo doch noch , ſchließlich . Und was weißt du im Grunde
von ihm ſo viel mehr als von dem vertrocknenden Samen¬
tierchen , das gerade das Loos hat , augenblicklich zu gehen ?
Aus dem „ Nichts “ kommt ihr , ins „ Nichts “ geht ihr . Dieſes
„Nichts “ zu verklären mit dem ewigen Entwickelungsgedanken ,
in ihm das Ganze zu ahnen , von dem wir nur die zufälligen
paar Querſchnitte ſehen , durch die gerade unſere Exiſtenzphaſe
eben durchſchneidet , — das iſt zuletzt die weſentlichſte Aufgabe
aller Naturerkenntnis , aller Weltanſchauung .
Und ſo iſt es auch die wahre Erlöſungs-Philoſophie des
auf kalter Leinewand verſchmachtenden Samentierchens .
Tiefinnerlichſte Wege ſcheiden ſich hier .
Wenn du in dem Weltgeſchehen überhaupt bloß ein
Nonſens , einen weltengroßen Unſinn ſiehſt , — dann iſt der
weltengroße Goethe in ſeinem Sterbeſeſſel auch nur ein armes
verelendendes Samentierchen , das nach einem wilden Liebes¬
ſpiel auf der Bettdecke liegen geblieben iſt und mit dem
Schwänzchen zuckt , bis der letzte Reſt Wärme und Feuchtig¬
keit entſchwindet und der alte Schnitter Tod es in die kalte
Garbe wirft .
Laß deine Wolken ziehen .
Und laß uns in der Kette deſſen bleiben , was wir als
grünen Plan mit bunten Blüten immerhin ſchon verfolgen
können von unſerer Selbſtherrlichkeit .
Setze das Fernrohr wieder von der Welt ab auf deinen
Stern , den Stern Menſch . Auf dich hier im Graſe , dieſen
handgreiflichen Querſchnitt aus nackter weißer Haut , ſehnenden
Sternen-Augen und heiß wallendem Liebesblut ... .
Wir haben unſer Problem auf einen neuen Moment
geſtellt .
Der Menſch , noch im Tiere , aber prometheiſch bereits
aufwärts drängend , fand in ſeiner Liebe die engere Wahl .
Mann war auf Weib , Weib auf Mann endlich wunder¬
bar eingeſtellt . Aber nun blitzt ein neues Licht . Ein neuer
Entwickelungsquerſchnitt wird im Großen auch hier ſichtbar .
Ein beſtimmtes Individuum im anderen Geſchlecht der¬
ſelben Art wird gewählt .
Was tritt hier alles in Kraft ?
Eine hochbedeutſame Arabeske gilt es zunächſt zu ver¬
folgen .
Einen Diſtanceweg über das Auge . Aber hinter dieſem
Auge ſtehen geheimnisvolle Eigenſchaften deines Urweſens , die
ſchon im Tiere vorbrechen .
Folgen wir ihnen zunächſt im Tier — um ſie dann für
den Menſchen fortan als ein Leitmotiv ſeines Menſchheits¬
ganges zu beſitzen wie etwas Selbſtverſtändliches bei ſeiner Liebe .
22*
E s war an einem goldenen Herbſttage in
Dresden .
Die Silhouette der Altſtadt mit ihren ſpan¬
grünen Dächern in einem Kranz tiefroter Blätter
des wilden Weins ; und in Stadt und Stimmung
etwas übermütig Luſtiges , das aller hergebrachten
Herbſtmelancholie Hohn ſprach .
Ich war ein paar Stunden lang durch die große
Galerie gewandert , ohne Bädeker , bloß als behaglich freier
Schwimmer im blauen Meer menſchlicher Hochkunſt . Ein¬
mal wieder war ſie an mir vorbeigezogen : die ganze bunte
Überwelt , die der Menſch auf dieſer dunklen Erde ſich ſelbſt
erſchaffen — von der weinverwegenen Lebensfreude der Nieder¬
länder bis zu der ſtrahlenden Idealgeſtalt der weltgewordenen
Liebe , vor der Friedrich Albert Lange einſt die Frage geſtellt ,
welcher Philoſoph wohl jemals die Sixtiniſche Madonna
„ widerlegen “ werde ...
Ganz noch im Bann dieſer Herrlichkeiten ſchlenderte ich
durch den alten , lieben Zwingergarten mit ſeinen brennend
roten Geranienbeeten und ſeinem Dornröschenzauber inmitten
der raſſelnden Großſtadt . Schlenderte hinüber ins zoologiſche
Muſeum , das ſtilvoller als wohl irgend ein zweites ſeines gleichen ,
in den Gängen und Pavillons dieſes Zwingers ſeine Heimat hat .
Es hat das vornehme Haus ſchon einmal mit ſeiner
Exiſtenz bezahlt , damals , als im Straßenkampfe von 1849 die
Flamme hineinfiel und ſeine Schätze fraß . Aber aus den ver¬
kohlten Räumen iſt es zu erneuter Kraft auferſtanden , heute
abermals der beſten eines im deutſchen Land .
Wer mit dem friſchen Kuß der Kunſt auf der Stirn
kommt , wie ich in dieſem Moment , dem leuchtet aber alles in
einem fremden Licht . Ich kam nicht , um lateiniſche Namen
auf den Schildern trüber Spiritusgläſer zu entziffern . Durch
die ſchönen lichtfreien Zwingerfenſter flutete auch hier das ganze
Herbſtgold herein . Ein Hauch des Lebendigen zitterte über
die grotesken Fratzen ausgeſtopfter Tierwelt von nah und fern .
Und mit dem Leben zugleich etwas , das im innerſten noch mehr ,
noch höher war .
Ich ſah heute nicht die Drähte , die nachhelfenden Fäden ,
die dieſe tote Welt zu wiſſenſchaftlichem Belehrungszweck noch
einmal zuſammenhielten . Aber mir war , als zögen ſich feine ,
nur im äußerſten Silberglaſt wahrnehmbare Fädlein hinüber
von dieſer reglos erſtarrten Tierwelt des Naturforſchers zu
jener leuchtenden Farbenwelt in dem Kunſttempel da drüben .
In ſolcher guten Stunde grübelſt du , verbindeſt und vergleichſt
wie ein Sonntagskind , das den grünen Wald und den blauen
Himmel auf einmal ganz neu anſchaut und auch fühlt , daß es
von ihnen mit den Augen eines viel tieferen , geheimnisvolleren
Lebens angeſehen wird .
Das Dresdener Muſeum beſitzt einen Schatz , für den
Naturfreund an Rang ſehr wohl vergleichbar jener nahen welt¬
berühmten Schatzkammer des „ Grünen Gewölbes “ mit ihren
gleißenden Edelſteinen , die jedermann kennt . Kaum daß du
dich in das Labyrinth der Glasſchränke voll zoologiſcher Selt¬
ſamkeiten etwas vertieft haſt , zwiſchen ſchwarzhaarigen Gorilla-
Leibern und zu Häupten ein ungeheueres , die Decke entlang
gezogenes Skelett des Finn-Walfiſches , — ſo lieſt du auf einer
Tafel mit einem Richtungspfeil : „ Zu den Paradiesvögeln . “
Das iſt der Schatz .
Gewaltige Spiegelſcheiben , — und dahinter ein Schimmern
und Gleißen der wunderbarſten Farben und Formen , ein leuch¬
tender Regenbogen , in wechſelnden Lichtern gebrochen auf dem
Federkleid tieriſcher Geſtalten . Und das alſo jetzt eine der
reichſten Sammlungen der Welt von jener Gruppe rabenähn¬
licher Vögel , die der gläubige Sinn einſt in romantiſch ſpielen¬
der Zeit einer kindlichen Naturforſchung „ Paradiesvögel “ getauft
hat , mit einem jener glücklichen Griffe naiver Phantaſie ,
denen die fortſchreitende Erkenntnis doch immer wieder einen
Sinn giebt .
Es blüht kein Paradies heute auf Erden , auch in keinem
entlegenſten Tropenwinkel . Und doch ergreift auch den Sinn
des ſchlichteſten Beſchauers noch jetzt vor dieſen ſeltſamen Weſen
ein dunkles Ahnen , daß es etwas Beſonderes um ſie ſei . Sie
ſind ſo ſchön ! Es iſt wie ein Aufatmen , wenn du aus all
den Fratzen und gaffenden Mäulern der Muſeumsgründe hier¬
her auftauchſt . Das iſt ja nicht mehr Wiſſenſchaft hier , —
das iſt Kunſt ! Wie vielen mag das auf der Lippe gelegen
haben .
Dort ſchwebt , zierlich ausgeſtopft , einer der kleinſten in
der Reihe , der ſogenannten Königsparadiesvogel . Ein zartes
Tierchen , nicht ſo groß wie eine Droſſel . Aber welches Juwel .
Nimm einen Krammetsvogel und tauche ihn an Kopf , Rücken ,
Schwingen und Schwanz in ein förmlich aufflammendes Zinnober¬
rot , mit einem Glaſt geſponnenen Glaſes , der ſich auf dem Kopf
zu einem ſammetenen Orange verklärt . Die Bauchſeite ſei
ſeidenweiß , wo aber dieſe weiße Seide an den roten Sammet
des Kopfes ſtoßen will , etwas unter der Kehle , da ſpinnt ſich
dazwiſchen noch ein Band von tiefem Smaragdgrün wie der
Bauſch einer Ordensſchleife . Goldgelb ſticht der Schnabel aus
dem Rot , kobaltblau die Füße aus dem Weiß . Rechts und
links von dem grünen Bruſtbande aber erheben ſich , von den
zimmetroten Schwingen unabhängig , je ein Büſchel langer
Federn fächerartig empor , jeder Fächer erſt ſilbergrau , dann
gegen den Rand abermals grün wie ein Reifen ſchillernder
Smaragde . Und endlich aus dem roten Schwanz ſich zu un¬
geheurer Länge leierartig herauslöſend zwei dünne Federſtrahlen ,
deren Spitzen halbſeitig mit goldgrünem Fahnenbart verſehen
und ſpiralig eingerollt je ein ſchillerndes Smaragdplättchen
abermals für ſich bilden , — eine feenhaft nachſchwebende Guir¬
lande , wie ſie kein zweiter Vogel der Welt ſo beſitzt .
Sage und Naturforſcher-Romantik weben ſich gleichmäßig
um dieſen Prachtkerl .
Um die Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts berichtet der
alte Konrad Geßner von ihm .
Mit allerlei Köſtlichkeiten war von den Sunda-Inſeln
auch ab und zu ein Balg von ihm herübergekommen . Wo er
eigentlich zu Hauſe war , konnte man nicht wiſſen , denn die
ganze Wunderwelt von Neu-Guinea , das wahre Paradies dieſer
Paradieſier , lag der Geographie von damals ja noch im Nebel .
Aber einen einheimiſchen Namen will Geßner ſchon kennen :
Manucodiata , das „ Vögelein Gottes “ . Ohne Füße werden
ſie geboren , dieſe Vögelein Gottes , wie er meint . Nie berühren
ſie im Leben die profane Erde . Des Männleins Rücken bildet
einen hohlen Winkel und das Weiblein hat einen vertieften
Bauch . Indem die Eltern ſich nun eng aneinander ſchmiegen ,
bilden ſie ſo zwiſchen ſich ein natürliches warmes Neſt , in
dem die Eier ausgebrütet werden , während das Elternpaar in
den Himmeln ſchwebt . Und damit das treue Paar ſich nicht
zufällig löſe , wickelt das Männlein jene beiden langen dünnen
Schweiffedern die Zeit über feſt wie einen „ Schuhmacherdraht “
um den Leib der brütenden Mutter .
Die Hiſtorie iſt ſo ſinnreich erfunden , daß man ſich faſt
wundert , daß ſie nicht wahr iſt . Denn die Natur iſt ja un¬
erſchöpflich in ähnlich verwickelten Methoden bei erſchwerter
Brutpflege . Lieblich erfunden iſt auch die kleine Wilden-Geſchichte ,
die Geßner beifügt : vom Vöglein Gottes als Bekehrer zum
Unſterblichkeitsglauben . „ Die Könige Marmin in den Inſeln
Molukkis “ , erzählt er , „ haben vor wenig Jahren die Seelen
untötlich ſeyn anfangen zu glauben , und das auß keinem andern
grund , dann daz ſie etwan ein ſehr ſchönes vögelein , ſo nimmer
weder auff die Erden , noch ander Ding ſitze , vermerkt haben ,
ſondern daz es zu zeiten auß der hohen Luft auff das Erdt¬
reich alſo todt hinabfalle . Und als die Machumeten , ſo dann
umb Kauffmanſchatz willen zu jhnen kommen , dieſen vogel im
Paradiß , welches dann das ort der abgeſtorbenen Seelen were ,
geboren ſeyn bezeugten , da haben die Könige die Machumetiſche
Sekt angenommen , darumb daß dieſelbge von dieſem Paradiß
viel großes verhieſſe und zuſagte . “
Dreihundert Jahre ſpäter folgt eine Stunde ſchillerndſter
Naturforſcher-Romantik .
Es iſt im März 1857 , auf einer der kleinen Aru-Inſeln
dicht bei Neu-Guinea . Ein engliſcher Sammler , Herr Alfred
Ruſſel Wallace , hat ſich hier einquartiert , um Vögel zu ſchießen
und Schmetterlinge und Käfer zu fangen . Es iſt derſelbe
Wallace , der wenig ſpäter als Mitbegründer der Lehre von
der natürlichen Zuchtwahl neben Darwin berühmt geworden iſt .
Die Aru-Inſeln waren damals für einen Zoologen jungfräu¬
liches Gebiet . Wallace ſchickt ſeine Burſchen auf die Jagd
und einer bringt einen bunten Vogel heim . Es iſt der erſte
Königsparadiesvogel , den ein Naturforſcher an Ort und Stelle
friſch vom Schuß erhält .
Äußerſt anziehend ſchildert Wallace , wie der Tag für ihn
ein Feſt war . Einer der Zwecke ſeiner ganzen Reiſe war
damit erfüllt . „ Die Empfindungen eines Naturforſchers , welcher
lange gewünſcht hat , das Ding in Wirklichkeit zu ſehen , das
er bis jetzt nur nach einer Beſchreibung , nach Zeichnungen
und nach ſchlecht erhaltenen äußeren Körperdecken kannte —
ſpeziell wenn dieſes Ding von außerordentlicher Schönheit und
Seltenheit iſt — bedürften einer poetiſchen Ader , wenn ſie
vollkommen zum Ausdruck gelangen ſollten . Die entfernte
Inſel , auf der ich mich befand , in einem faſt unbeſuchten
Meere , weitab von den Straßen der Kaufmannsflotten , die
wilden , üppigen , tropiſchen Wälder , die ſich weit nach allen
Seiten hin ausbreiten , die rohen , unkultivierten Wilden , die
mich umſtarrten , — alles das hatte einen Einfluß auf die
Empfindungen , mit denen ich dieſen Inbegriff der Schönheit
ſchaute . “
Er ſchwebte allerdings nicht im Sinne Geßners ewig
durch den Äther , dieſer Inbegriff der Schönheit . Wallace ſah
diesmal ſehr genau die blauen Füße vor ſich , die an früher
bekannten Bälgen ſtets erſt nachträglich von den Eingeborenen
abgeſchnitten worden waren . Aber der unmittelbare Reiz des
Schönen blieb . „ Ich dachte an die lang vergangenen Zeiten ,
während welcher die aufeinander folgenden Generationen dieſes
kleinen Geſchöpfes ihre Entwickelung durchliefen — Jahr auf
Jahr zur Welt gebracht wurden , lebten und ſtarben , und alles
in dieſen dunklen , düſteren Wäldern , ohne daß ein intelligentes
Auge ihre Lieblichkeit erſpähte , — eine üppige Verſchwendung
von Schönheit . “
Der Gedanke ſtimmt ihn melancholiſch . Er ſagt ſich , daß
der Kulturmenſch , wenn er wirklich in dieſen entlegenen Wald¬
winkel kommt , die ſchwachen Vögelchen ſogar raſch zum Aus¬
ſterben bringen wird — eine Prophezeihung , die heute ſchon
für das ganze Paradiesvogel-Geſchlecht ſich in Wirklichkeit zu
verwandeln droht . Und ſo philoſophiert er , daß dieſe köſtliche
Naturſchöpfung nicht um des Menſchen willen allein entſtanden
ſein könne , ſondern einen eigenen Selbſtzweck der Exiſtenz
beſitzen müſſe .
Ich bin auf dieſe Entdeckungsgeſchichte hier ſo genau ein¬
gegangen , weil ſie einen Maßſtab dafür giebt , wie dieſer Vogel
immer wieder gewirkt hat . Der rohe Eingeborene , der geſchäfts¬
kühle überſeeiſche Händler , der hausbackene Gelehrte des ſech¬
zehnten Jahrhunderts in ſeiner Apothekerſtube daheim , und
dann wieder der feinſinnige Philoſoph und Naturforſcher des
neunzehnten Jahrhunderts , ſie alle laſſen im Anblick dieſes
Vogels die Tagesarbeit einen Augenblick ſinken , ſinnen , dichten
Märchen ; ſelbſt der ſtrenge Forſcher ſucht eine poetiſche Ader
und philoſophiert über Gott und Welt . Worte wie Gott ,
König , Paradies , Inbegriff der Schönheit werden beſchworen ,
um ihm einen Namen zu geben .
Und dabei iſt dieſer Königs-Paradiesvogel nur einer unter
vielen in langer Reihe . Der zierlichſte , aber nicht einmal auf¬
fälligſte ſeiner Familie .
Da iſt in dem bunten Muſeumsbilde der ſogenannte „ große
Paradiesvogel “ , eigentlich der bekannteſte Typus der Gruppe .
Auch er im Grunde noch kein großer Vogel , einer Dohle etwa
gleich . Aber die Empfindung der Größe entſteht durch die
ungeheuerliche Verſchwendung gewiſſer Federn . Der echte Vogel¬
leib iſt beinah ſchlicht gefärbt , braunrot , nur im Nacken mit
einem Goldband und von der Kehle bis über die Augen ſammet¬
grün . Aber an den Seiten dieſes Leibes , unter den Flügeln ,
an einer Stelle , wo man auffallende Federn ſonſt gar nicht
erwartet , ergießt es ſich wie eine rieſige Welle wogenden Goldes ,
der eigentliche „ Paradiesſchweif “ , deſſen köſtliche Federn überall
geſchätzt ſind , der thatſächlich an dem Vogel bloß loſe daran
hängt , wie der Roßſchweif an einem Helm — ein reines
Schmuckſtück , das mit der hergebrachten Reihe von Nützlichkeits¬
federn an Leib , Flügeln und echtem Schwanz ſchlechterdings
gar nichts zu thun hat . Die Goldwelle beherrſcht aber das
ganze Bild des Tieres als das Auffällige , das eigentlich über¬
raſchend Schöne , das Paradieſiſche .
Wer das prachtvolle Geſchöpf öfter geſehen hatte , mochte
ſich ausmalen , wie es wirken würde , wenn dieſe Welle ſtatt
in Gold in einer anderen Spektralfarbe ſtrahlte .
Was mochte das zähe Wunderland Neu-Guinea — ſo
ſpät bekannt geworden , jetzt aber ſo heiß umworben — hier
nicht noch alles bieten ! Zu dieſer Stunde ſteht in Dresden
der Rudolfs-Paradiesvogel , benannt nach dem Schüler Brehms ,
Rudolf von Öſterreich . In der Farbenlehre ſagt man : die
Komplementär-Farbe zu gelb iſt blau . So leuchten jene Schmuck¬
federn dieſes Paradieſiers in einem wahren Capriblau , als ſei
alles Licht italiſchen Meeres darauf ausgegoſſen . Wunderbar
iſt dabei der Gegenſatz zu gewiſſen karmoiſinroten Federrändern
unter dem Blau , die wie ein Korallenbuſch in dieſer Bläue
liegen . Und auch hier iſt dieſe blaue Welle nicht Flügel , nicht
eigentlicher Schwanz , es iſt ein Luxus , der aber wie ein magi¬
ſches Nixenkleid beim Fluge das ganze Tier umwallt .
Es iſt das Bezeichnende aller ſchönſten Paradiesvögel ,
dieſe Luxusleiſtung . Dem Wallace-Vogel , der ſonſt ein graues
Vöglein iſt , blos mit einem violetten Krönchen auf dem Kopf ,
ſchießen aus der Bruſt wahre Standarten metalliſchen Grüns , und
von den Schultern heben ſich noch beſonders vier ſchneeweiße
Rieſenfedern , die ſich ſenkrecht gegen die Flügel aufrichten laſſen .
Dem König-Alberts-Vogel wallen zwei einzelne Federfahnen ,
um ein vielfaches länger als der ganze Vogel ſonſt , in ab¬
wechſelnd blau und weißer Porzellanfärbung wie ein ungeheuer¬
liches buntes Akazienblatt hinter dem Ohr hervor .
Noch andere der Reihe ſind ſchwarz wie Anthracit und
aus dem Muſchelbruch dieſes Anthracitkörpers bricht es plötzlich
in grünem oder violettem oder goldrotem Erzglanz wie eine
große Flamme heraus , ungeheuerliche Kopfhauben , lange Papa¬
geienſchwänze , Fächer und Diademe aller Art . Und immer
daß der Beſchauer ſtaunt : wie ſchön ! Abbildungen zeigen dir
durchweg nur ein ganz ungenügendes Bild , zumal ſie meiſt
die Metallfarben ſtumpf wiedergeben . Aber eine echte Sammlung
wie dieſe Dresdener überwältigt , bezwingt .
Du mußt nachdenken , mußt überlegen , was das ſoll :
ſolcher Schönheitsrauſch bei Geſchöpfen eines entlegenſten Ur¬
waldes .
Noch heute iſt Neu-Guinea ja im Innern das unbekannteſte
Land der Erde . Schon der brave Wallace empfand es , wie
dieſes ſpröde Heiligtum der Natur ordentlich verbarrikadiert
war , als ſollte der Menſch nicht heran . Unabläſſig rollt der
volle Wellenſchlag des Stillen Ozeans gegen die Nordküſte an .
„ Das ganze Land iſt felſig und gebirgig , überall mit dichten
Wäldern bedeckt und bietet in ſeinen Sümpfen , Abgründen
und gezackten Bergrücken ein faſt unüberſteigbares Hindernis
gegen das unbekannte Innere hin . Die Bewohner ſind gefähr¬
liche Wilde auf dem niedrigſten Zuſtande der Barbarei . In
ſolch einem Lande und unter ſolch einem Volke findet man
dieſe wundervollen Naturprodukte , deren auserleſene Schönheit
in Form und Farbe und in der ſeltſamen Entwickelung des
Gefieders darauf angelegt iſt , die Bewunderung und das Staunen
der ziviliſierteſten und geiſtig am weiteſten vorgeſchrittenen
Menſchen zu erregen und dem Naturforſcher unerſchöpfliches
Material für ſein Studium , dem Philoſophen für ſeine Spe¬
kulationen zu gewähren . “ So Wallace vor beinahe dreißig
Jahren . Die Situation iſt noch immer im weſentlichen ſcharf
gezeichnet .
Mir aber , wie ich ſo von der Sixtiniſchen Madonna zur
Paradisea Rudolphi kam , durch die That weniger Schritte im
Zwingergarten zu Dresden , drängte ſich mit tiefem Nachdruck die
Frage auf : wo liegt hier das Band ? Und giebt es wirklich eins ?
Man muß notwendig einen Augenblick überlegen .
Und es ſcheint ſo , als wenn du zunächſt zweierlei gänzlich
verſchiedene Dinge von einander trennen müßteſt .
Hier ſteht die Madonna Rafaels oder ſonſt ein köſtliches
Gemälde der Dresdner Gallerie . Und ich ſchaue ſie an und
ſage : das iſt ſchön .
Ich ſage es , ich von meinem menſchlichen Empfinden aus .
Ich empfinde das als „ ſchön “ . Dabei bin ich mir einer Sache
unbedingt gewiß .
Jener Maler , Rafael , der das Bild geſchaffen , war ein
Menſch wie ich . Uns trennen Jahrhunderte , aber im Bereich
künſtleriſchen Empfindens iſt das eine kurze Friſt . Phidias er¬
greift mich ebenſo noch heute , und der iſt über zweitauſend
Jahre älter . Alſo das fällt fort . Rafael war ein Genie als
Maler , was ich nicht bin . Darauf beruht eben ſeine Kraft ,
Bilder ſo nach außen zu projizieren , daß ich heute noch in
ſtiller Andacht davor ſtehe . Aber auch das berührt nicht die
Grundthatſache .
Er war ein Menſch . Ich bin einer . Er hatte Schön¬
heitsempfindungen und zwar unbedingt in der Wurzel ähnliche
wie ich . Seine perſönliche Kraft beruhte nur darin , dieſe
Empfindungen „ ſchaffend “ zu verwerten . Er „ ſchuf “ und ich
ſtaune . Aber in Wahrheit kehrt nur das menſchliche Schön¬
heitsempfinden , das im Kern auch in mir ſteckt , auf dem Um¬
weg über ſeine Meiſterſchaft zu mir zurück .
Und indem ich vor ſeiner gemalten Madonna alle Tiefen
meines Schönheitsempfindens aufgeriſſen und mit ſtrahlenden
Bildern belebt ſehe , empfinde ich mich im tiefſten Weſen doch
nur ſelbſt . Rafael empfand „ ſchön “ . Ich empfinde „ ſchön “ .
Er ſchuf auf Grund ſeines Empfindens „ ſchön “ . Ich empfinde
ſein Geſchaffenes abermals als „ ſchön “ . Das iſt eine einfache
Linie , nicht wahr ?
Sie kommt vom Menſchen und geht zum Menſchen . Es
ſchiebt ſich ein bißchen Vergangenheit hinein , aber ſie wird
überbrückt . Rafael iſt geſtorben , ſein Bild lebt aber noch .
Es lebt mit mir und entzückt mich heute noch . Hier iſt alles
kriſtallklar .
Nun aber nimm jenen märchenhaft blauen Rudolfs-Paradies¬
vogel . Ich brauche nicht in die Vergangenheit zu gehen . Er
ſelbſt lebt neben mir , mein Zeitgenoſſe — wenn ſchon in recht
verrammeltem fernen Tropen-Eiland . Hier im Muſeum ſteht
er aber unmittelbar vor mir , nicht als Werk , ſondern er ſelbſt .
Und ich — ich finde ihn „ ſchön “ .
Was heißt das jetzt ?
Ich als Menſch finde ihn ſchön . Er iſt ein Vogel , ein
lebendes Weſen weit entfernt von mir . Mir kommt das Wort
auf die Lippen : welch herrliches Kunſtwerk iſt dieſer Vogel .
Aber da öffnen ſich auf einmal die ſeltſamſten Fragen .
Iſt der Fall nicht doch ganz anders wie bei Rafael ?
Rafael , ein Menſch , projiziert Schönheitsdinge nach außen und
ich finde ſie wieder ſchön — ein glatter Kreislauf . Das Bild
iſt im Grunde nur ein Stück von Rafaels Gehirn , in die
Zeitdauer hinein projiziert , das Gehirn ſelbſt aber iſt Ge¬
hirn des Menſchen und ich finde nur wieder , was ich ſelbſt
habe , wenn ich auch jene Projizierungskraft für mein Teil
nicht beſitze .
Bei dem Paradiesvogel iſt ſcheinbar nur die halbe Kreis¬
linie ausgeſchrieben . Mein Gehirn findet ihn ſchön , unmittel¬
bar ſo bald es ihn ſieht . Aber ich vermiſſe zunächſt die andere
Kreishälfte . Welches Gehirn hat dieſen Vogel erſonnen ? Hat
ihn als „ Schönheit “ aus ſich herausprojiziert ? Auf den erſten
Anblick fehlt mir jedes Band . Dieſer Paradiesvogel des
Rudolf mit ſeiner Farbenpracht der blauen Grotte von Capri
— er flog vielleicht ſchon in den Urwäldern jenes verwunſchenen
Neu-Guinea , als zuerſt Menſchen auf der Erde entſtanden .
Woher kam ſeine „ Schönheit “ ?
Indem ich ſie empfinde , träume ich , ich finde auch in ihr
wie in jener Madonna Rafaels etwas wieder .
Aber was ? Ich gerate ja über jede Grenze des Menſch¬
lichen hinaus . Schön — und ſchön ! Wären die Begriffe
doch nicht die gleichen ? Laß uns vorſichtig weitergehen , ob
ſich eine Löſung biete .
Das Dresdener Muſeum zeigt nicht nur die prachtvollſten
Paradiesvögel . Auch die übrige Vogelſammlung iſt überaus
reich gerade an den ſchönen Formen . Umſichtig aufgeſtellt ,
erzeugen ſie einen Farbenrauſch ohne gleichen . Da ſind die
Kolibris , deren ganze Farbenleiſtung meiſt auf einen kleinen
Fleck an der Kehle zuſammengedrängt iſt , hier aber volle Edel¬
ſteinkraft beſitzt . Da ſind die Spechte , die gewiſſe Farben immer
wieder kaleidoſkopartig durcheinandergewürfelt zeigen ; überblickſt
du ſie , wie es die faſt künſtleriſche Anordnung hier ermöglicht ,
in langen Farbenreihen , ſo ſiehſt du , wie die einzelnen Kalei¬
doſkopſtellungen in Wahrheit Stufenfolgen bilden , eine die
andere ablöſen , erſetzen , ſich auseinander entwickeln laſſen . Da
ſind die Tauben , unſere einheimiſchen meiſt ſo ſanft in den
Farben , auf den tropiſchen von den Molukken aber der ganze
Schiller üppigſter Tropenpracht .
Auf einmal dann aber , vor einer neuen Schrankflucht , ein
ganz anderes Bild .
Grau und braun , jenſeits aller Lichterfülle , die zahlloſen
Arten der Neſter all dieſer Vögel . Es iſt wirklich eine andere
Welt . Auf den erſten Blick ſiehſt du , wie alles auf die
Nützlichkeit , die Sicherheit , den Schutz hier angelegt iſt . Aber
mit welchem Genie , unter wieviel tauſend Möglichkeiten und
Zwangslagen ! Da iſt das ſogenannte eßbare Schwalbenneſt ,
das aus kittendem Speichel an die ſenkrechte Felswand geklebt
iſt . Das Neſt des Schneidervogels , zu dem ein paar große
Blätter vom Vogel ſelbſt durch eigens geſponnene Fäden mit
dem Schnabel als Nadel regelrecht aneinandergenäht ſind . Die
Neſter der Rohrſänger zwiſchen Rohrſtengeln wie ein Pfahlbau
befeſtigt . Das ſchwimmende Inſel-Neſt des Waſſerhuhns . Die
tollen Flaſchenkörbe , die Beutel und Schläuche der Webervögel
und Beutelſtare , die gleich rieſigen Früchten am dünnen Zweig¬
ende , unzugänglich für jeden ſchwereren kletternden Räuber ,
zwiſchen Himmel und Waſſer hängen . Bis zu den großartigen
ſchwebenden Heuſchobern des afrikaniſchen Siedelſperlings , die
eigentlich nur ein Genoſſenſchaftshaus darſtellen , unter deſſen
ſicherem Geſamtdach jetzt erſt wieder viele hunderte von Einzel¬
neſtchen ruhen .
Nicht die äußere ornamentale Schönheit packt hier , ſo
niedlich und ſauber oft die Baukunſt anmutet . Aber etwas
anderes packt diesmal überwältigend : die Achtung vor dem
Gehirn dieſer luſtigen Schar , vor dieſem kleinen Organ unter
dem dünnen Schädelchen , das du als Schlemmer beim Krammets¬
vogel als beſonderen Leckerbiſſen dir herausklaubſt , ohne eine
Ahnung zu beſitzen , welche feine Geiſteswerkſtatt da zwiſchen
deinen Zähnen zergeht .
Ich will in dieſem Augenblick garnicht an die tiefere
Frage rühren , wie der erſte Siedelſperling oder Schneidervogel
auf ſeine wunderbare Art des Neſtbaues geraten iſt . Ich will
annehmen , daß durch einen geheimnisvoll vererbten Inſtinkt
( wir wiſſen thatſächlich über dieſe Vererbung ihrem Weſen
nach eigentlich gar nichts , als daß wir ein Wort uns gebildet
haben , um etwas Dunkles zu kennzeichnen ) jeder Vogel , der
heute geboren wird , bereits ein allgemeines Bild ſeiner Neſt¬
form mit auf den Weg bekommt .
Was ich aber auch dann immer von neuem bewundern
muß , iſt die geradezu überwältigende individuelle Leiſtung
nun doch wieder jedes Einzelvogels , dieſes Neſt nun für
ſeinen Fall in Wirklichkeit herzuſtellen .
Immer und immer wieder ſind ja die äußeren Bedingungen
etwas anders , immer und immer wieder muß der Neſtbau
gerade dieſem Aſt , gerade dieſen Rohrſtengeln in dieſer indivi¬
duellen örtlichen Lage angepaßt werden . Und das vollbringen
alljährlich in ihrer Niſtzeit nun ſo und ſo viel Millionen kleiner
und kleinſter Vögelchen , mit einer ſchier unendlichen Beweglich¬
keit ihres winzigen Gehirns in der Wahl des Ortes für jeden
neuen Einzelfall und in der Anpaſſung des allgemeinen Schemas
der Neſtform an die gegebene Einzelmöglichkeit dieſes Ortes .
Wer auch hier noch von blindem Inſtinkt reden will ,
wirft alles durcheinander . Jedem , der logiſch vergleichen gelernt
hat , erſcheint in dieſer Individualiſierung das denkbar ſchärfſte
Merkmal einer geiſtigen Thätigkeit , die ſchlechterdings nur mit
unſerer eigenen verglichen werden kann .
Nun meine ich aber , es ſei für unſere ganze Erörterung
doch nicht unwichtig , daß wir von einer anderen Stelle her
gerade ſo aufdringlich an das Daſein eines denkenden Gehirns
beim Vogel gemahnt werden .
Auch unſer ſchöner blauer Rudolfs-Paradiesvogel , von
dem wir ausgingen , beſitzt ein ſolches Gehirn .
Unſere Kunſtvergleichung hatte uns aber auf der Seite
des Rafaelſchen Gemäldes ſo ſehr nachhaltig auf das Wörtchen
Gehirn geſtoßen . In Rafaels Gehirn lebte Gefühl für Schön¬
heit . In das Bild der Sixtiniſchen Madonna wurde dieſes
Gefühl — gleichſam ein Stück Gehirn Rafaels — hinein¬
projiziert . Durch dieſe Projektion , als dauerndes , in der Galerie
hängendes Gemälde vermag das Gefühl heute noch auf mich
zu wirken : es weckt meinen eigenen Schönheitsſinn in meinem
Gehirn . Der vollkommene Kreislauf !
Bei dem Vogel wirkte auch etwas auf mich ſo , daß ich
ſagte : ich fühle meinen Schönheitsſinn erregt , zur höchſten Be¬
wunderung hingeriſſen . Aber ich wußte nicht , wo diesmal die
Schönheit herkam . Es fehlte mir die Hälfte der Kreislinie .
Jetzt ſcheint ein Lichtpunkt mindeſtens mehr aufzudämmern .
Der Paradiesvogel hat ja auch ein Gehirn !
Es iſt zunächſt nur ein Lichtpunkt , ganz und gar nicht etwa
ſchon das fehlende Kreisſtück . Denn bei dem Gehirn Rafaels
23
iſt allerdings auf der einen Seite alles klar : das Gehirn hat
Schönheitsempfindungen , es projiziert ſie in das Bild und das
Bild wirkt wieder auf die Schönheitsempfindungen meines Ge¬
hirns . Aber beim Paradiesvogel .... ? Welcher Zuſammen¬
hang ſollte wohl beſtehen zwiſchen ſeinem kleinen Rabengehirn
— und der Pracht ſeines Federkleides , die ich mit meinem
Gehirn als „ ſchön “ empfinde .... ?
B leiben wir ruhig noch ein Weilchen im
trefflichen Dresdener Muſeum . Da ſteht neben den
Schränken mit den vielen luſtigen Vogelneſtern ein
beſonderer Kaſten mit einem Ding , das zunächſt
einen weiten Gedankenſpaziergang ganz für ſich
nötig macht . Es iſt ein hübſcher Spaziergang und
du ſollſt auf ihm vorerſt noch einmal alle graue
Theorie wie den Sandſack eines Luftballons , der
ſteigen will , über Bord werfen .
Du blickſt in dem Kaſten in eine auſtraliſche Landſchaft .
Durch ein Stückchen niedlich gemalter Hintergrundskuliſſe iſt die
Phantaſie im ganzen geweckt : du ſiehſt auſtraliſche Bäume ,
eine kleine Strecke jener eigenartigen Buſchwald-Landſchaft , die
den alten merkwürdigen Erdteil der Schnabeltiere , Känguruhs
und Molchfiſche auszeichnet . Vor dieſer Landſchaft ſteht dann
vollſtändig naturgetreu wiederaufgebaut ein echter auſtraliſcher
Gegenſtand der ſeltſamſten Art .
Du ſollſt die Empfindung bekommen , daß du in dieſem
Augenblick wirklich durch den auſtraliſchen Buſch ſtreifſt — und
auf einmal ſteht vor deinem Blick dieſes Etwas , ſchwieriger
zu bezeichnen als eine unendliche Fülle anderer Erzeugniſſe der
erfindungsreichen Mutter Natur .
Es iſt die Hochzeitslaube des Kragenvogels , der Chla¬
mydodera , wie der Vogel wiſſenſchaftlich heißt .
Hochzeit ! Wir ſind auf einmal bei einem Liebeswerk !
Der Vogel gehört ſeinem Bau nach ſo eng zu den Para¬
23*
diesvögeln , daß er geradezu mit ihnen vereinigt werden kann ,
und auf alle Fälle iſt er ein Muſter dafür , was wir vom Gehirn
etwa auch unſeres blauen Rudolfs-Vogels zu gewärtigen haben .
Bloß daß der Ort diesmal das Feſtland von Auſtralien iſt .
Dort im „ Skrub “ , im echten neuholländiſchen Buſch , hauſen
wunderſame Tiere aller Art . Da huſcht nachts das groteske
Echidna-Tier aus ſeinem Verſteck , das Land-Schnabeltier , das ,
obwohl ein Säugetier , doch noch Eier legt wie ein Vogel . Da
ſcharrt das Skrub-Truthuhn , der berühmte Talegallus-Vogel ,
der irgendwie in ſeinem Vogelverſtande doch ein großes Geſetz
der Chemie dämmernd entdeckt hat : daß nämlich gewiſſe
Gährungserſcheinungen faulender Pflanzenſtoffe Wärme erzeugen .
Es iſt das Geſetz , nach dem feuchte Heuſchober ſich ſo leicht
im Innern ſelbſt entzünden . Der Talegallus aber hat dieſe
Sache von der praktiſchen Seite genommen : er ſcharrt Haufen
von Blätter , Gras und Pilzen bis zu zwei Metern Höhe und
vier Metern Umfang zuſammen , und in dieſe kleinen Schober
legt er ſeine Eier , damit die entſtehende Wärme ſie ausbrüte
wie ein Brutofen . Dabei weiß er genau wie ein Kenner auf
die Sache zu achten : täglich mehrmals kommen die Alten
heran , lüften die Eier , die bis zu Metertiefe eingegraben liegen ,
ſchauen nach , ob die Hitze ſich auch richtig entwickelt hat oder
ob ſie umgekehrt nicht zu hoch geſtiegen iſt . Zuletzt helfen ſie
dem ausgeſchlüpften jungen Küken dann aus ſeinem warmen
Neſte heraus — nützliche Beiträge auch das zu dem oben an¬
geſchlagenen Thema vom Vogel-Gehirn .
Hier alſo im düſteren , einförmigen Buſch , wo höchſtens
am Rande einmal ein paar gelbe Blüten etwas „ Schönheit “
wecken — zwiſchen umgefallenen Stämmen , abgeſtorbenen Zweigen
und jenen künſtlichen Hügeln der Talegallus-Hühner , — hier
lebt auch jener Kragenvogel oder Laubenvogel : die nicht minder
bei allen Tierkundigen berühmte Chlamydodera .
Richard Semon hat ſie neuerdings wieder an Ort und
Stelle genau beobachtet . Der Vogel ſelbſt beſitzt nicht die
Schönheit der Paradieſier von Neu-Guinea . Ein ſchlichter
Kerl , nicht ganz wie ein Eichelhäher groß , grau und braun
mit helleren Tupfen , nur im Nacken mit einem kleinen Kragen
hübſch roſenroter oder violetter Federn geſchmückt . Aber gerade
dieſer ſchlichte Kauz wird dir zum Lehrmeiſter über ein ge¬
heimnisvoll bedeutſames Gebiet im Vogel-Gehirn , — für unſere
Frage das allerbedeutſamſte .
Die Chlamydodera baut ihr echtes , für die Eier und
Jungen beſtimmtes Neſt ſchlecht und recht wie jeder andere
Vogel ihrer Verwandtſchaft . Das iſt eine ernſthafte Pflicht-
Sache , die keinerlei Extravaganzen duldet . Wenn die rechte
Zeit da iſt , wird das Neſt im Eukalyptusbaum oder Akazien¬
buſch bereitet , napfförmig wie das einer Droſſel , der Rohbau
aus dürrem Reiſig , das dann noch die zarteſten Gräslein und
Federchen den lieben Kleinen mollig machen müſſen . Alles
natürlich ſo verborgen und ſo unſcheinbar wie möglich . Denn
wenn Auſtralien auch keine einheimiſchen Katzen hat , ſo hat es
doch kletternde Beuteltiere , die frech wie Katzen räubern .
Wo immer Vögel ſo zum Neſtbau ſchreiten und um das
Wohl der Jungen ſich mühen , da ſind ſie in der ſorgenvollen
Zeit ihres Lebens , wo ſie am wenigſten an eigene Bequemlich¬
keit und Luſtbarkeit denken . Und doch : bei unſerer Chlamy¬
dodera iſt dieſe Bauzeit nur der zweite Akt . Sie hat ſchon
einmal gebaut — vorher — nicht in nachdenklicher Familien¬
ſorge , ſondern im luſtigen Rauſch der erſten Liebeszeit . Eine
beſondere Art Neſt galt es auch da , aber nicht eine Kinder¬
ſtube , ſondern — eine Hochzeitslaube .
Das jetzt iſt das ſeltſame Ding , das ſie in Dresden ganz
wieder aufgebaut haben .
Die Liebeszeit der Kragenvögel iſt da . Die Liebespaare
locken und ſuchen ſich . Da erſteht durch die Arbeit der ver¬
liebten Vöglein am Boden des Buſchwaldes , weit ab von den
Stellen , wo ſpäter das wirkliche Neſt hinkommt , eine Art von
Liebestempelchen : das Hochzeitshaus .
Es iſt unvergleichlich viel größer als das ſpätere Kinder¬
neſt . Auf die Länge von einem Meter und mehr bauen die
Vögel ( vor allem das Männchen ) zunächſt eine Art Hütte oder
Zelt aus ſolidem Reiſig auf . Die Reiſigſtücke werden von
zwei Seiten her ſchräg aneinander gelehnt , genau ſo , wie wenn
Kinder aus Streichhölzchen ein langes Zelt zuſammenſetzen ,
bloß daß die Größe gewaltig über Streichhölzchen hinaus¬
wächſt . Iſt das Zelt roh fertig , vorne und hinten mit einer
ſpitzen Thür und innen mit einem ſchmalen Gang , über dem
die ſchrägen Reiſigſparren mehr oder minder bogig oder firſt¬
artig zuſammenſchlagen , ſo beginnt die feinere Arbeit .
Und zwar , du magſt nun Worte ſuchen , wie du willſt :
eine äſthetiſche Arbeit , die mit platter Nützlichkeit ſchlechter¬
dings nichts zu thun hat .
Die grobe Reiſigwand des Häusleins wird mit zierlichen
grünen Grashalmen aufs glatteſte tapeziert . Dann wird der
Boden gepflaſtert , mit runden weißen Flußkieſeln , die eine be¬
ſondere künſtliche Anordnung erhalten , hier zu Häufchen vereint ,
dort kleine Pfade frei laſſend . Bunte Federn , grellrote Beeren ,
ein blaues Läppchen Tuch , das irgendwo ſtibitzt werden konnte ,
werden in die grünen Graswände an guter Stelle eingeordnet .
Und endlich wird je vor dem Ein- wie Ausgang eine Art
beſonderer Schauſammlung auffälliger und hübſcher Gegenſtände
angehäuft . Wundervolle Muſchelſchälchen , die meilenweit erſt
vom nächſten Fluß im Schnabel hierher geſchleppt werden
mußten . Bunte , ſchimmernde Steine . Zwiſchen dem vielerlei
Farbigen zum Kontraſt ſchneeweiße Knöchelchen , die offenbar mit
höchſter Sorgfalt als weiße Muſterproben ausgeleſen ſind , beſon¬
ders die kleinen Schädel von Fledermäuſen . Ein halber Scheffel
ſolcher Reichtümer findet ſich bisweilen an einem Fleck beiſammen .
Das iſt die Liebeslaube der Chlamydodera .
Iſt ſie endlich fertig und ragt ſtrahlend in ihrem Prunk ,
ſo hebt eine frohe Zeit an . In dieſer Laube ſuchen ſich die
Liebenden , ſpringen und tanzen und jagen ſich und koſten alle
Seligkeit goldener Liebestage aus . Und erſt wenn das alles
vorüber iſt , kommt fern davon der eigentliche Neſtbau .
Es bedarf nur eines Blickes auf dieſe Hochzeitslaube mit
ihrem Schmuck — und man iſt für immer überzeugt , daß in
dem kleinen Gehirn dieſes Vogels im einſam wilden auſtraliſchen
Buſch nicht bloß ein gewiſſer Verſtand wohnt , ſondern auch
eine unmittelbare äſthetiſche Freude am „ Schönen “ . Du wirfſt
vielleicht ein , daß ein paar rote Beeren oder eine ſchmucke
Feder oder gar ein weißer Kieſelſtein doch äußerſt armſelige
Schönheitsproben ſind . Aber warum zieht ſich der Wilde
einen glänzenden Ring durch die Naſe , hüllt ſeine Liebſte in
einen ſchreiend roten Lappen , hängt ein paar grelle Blumen
an ſeine Hütte ? Er findet das ſchön , ſeine kleine naive Äſthetik
lebt ſich darin aus . Und warum tragen wir eine rote Nelke im
Knopfloch , einen Brillanten im Ohr ? Lege ein paar gemeine
grüne Blätter ins Fenſter deiner Farm in Auſtralien und da¬
zwiſchen eine rote Nelke : dein Kind wird zuerſt nach der Nelke
greifen und die Blätter liegen laſſen — der Kragenvogel aber ,
verlaß dich darauf , wird es genau ſo machen , und deinen
Brillantohrring ſchleppt er , es giebt Proben dafür , unter allen
Umſtänden in ſeine Hochzeitslaube , wenn er ihn erreichen kann .
Vollends beweiſend aber für unſere allgemeine Schönheits¬
betrachtung iſt , daß der Vogel in ſeine Laubenwand als Zier¬
ſtück geradezu auch bunte Vogelfedern ſteckt . Er ſelbſt hat ,
wie geſagt , nicht viel Buntes am Leibe . Aber nehmen wir
an , er fände eine jener Federn des Rudolfs-Paradiesvogels
( dieſer wohnt ja nicht dort , ſondern in Neu-Guinea ) mit ihrem
Capri-Blau : kein Zweifel daß er ſie aufpickt und heimträgt
ins Liebeshaus als köſtlichſten Fund .
Warum ? Weil er ſie „ ſchön “ findet .
Und da haben wir 's alſo jetzt : unſer Gehirn empfindet
auf Grund ſeines Schönheitsſinnes den blauen Paradiesvogel
als ſchön ; hier aber iſt ein Vogel , der aufs engſte ſchon den
Paradiesvögeln ſelber verwandt iſt , und im kleinen Gehirnchen
dieſes Vogels entſteht ebenfalls beim Anblick der Paradies¬
vogel-Federn die Empfindung des Schönen .
Der nächſte , geradezu hahnebüchen grobe Schluß iſt : ſo
wird der Paradiesvogel ſelber wohl , wenn er ſich ſelbſt geſpiegelt
oder wenn er ſeinesgleichen ſieht , das für ſchön halten . Auch
im Gehirn des Paradiesvogels ſelber wird eine Empfindung
für Schönheit leben . Und ſo hätten wir die Vergleichung
thatſächlich noch einen Schritt weiter . Rafael hatte Schönheits¬
empfindung in ſeinem Gehirn , er ſchuf mit ihrer Hülfe die
Sixtiniſche Madonna , die mir , der ich ebenfalls Schönheits¬
empfindung im Gehirn beſitze , jetzt wieder als Schönheit er¬
ſcheint . Auch der Paradiesvogel hat ein Gehirn und er hat
Schönheitsempfindungen , meinen eigenen vergleichbar , in ſeinem
Gehirn . Mir aber , in meinem Gehirn , mit meinen Anlagen ,
erſcheint ſein Gefieder als Schönheit .
Ich meine doch , du ſiehſt deutlich : ganz iſt der Kreis im
zweiten Falle immer noch nicht geſchloſſen .
Wir ſind der Sache ein rechtes Stück näher dadurch , daß
wir dem Vogel ein Gehirn geben und in dieſem Gehirn nun
auch noch einen dem unſeren verwandten Schönheitsſinn .
Aber nun klafft doch noch die eine unheimliche Lücke .
Rafael ſchafft kraft ſeines ſchönheitsſchwangeren Gehirns
die Madonna und ich finde ſie ſchön .
Der Paradiesvogel — ſchafft zunächſt gar nichts .
Er hat etwas .
Er hat ſein Gehirn und in dem Gehirn Schönheitsbewußt¬
ſein . Ferner hat er ſeine prachtvollen karmoiſinroten und
himmelblauen Federn . Er ſelber hat Schönheitsbewußtſein
genug , um dieſe Federn ſchön zu finden . Und ich finde ſie
auch ſchön . Er und ich ſind uns unverkennbar näher gekommen
— bis auf einen Punkt .
Rafael ſchafft in der Kette der Urſachen ſein Bild , proji¬
ziert gleichſam ſein Gehirn darin nach außen . Aber was —
und hier kommt die Grundfrage — was hat das Gehirn des
Vogels ( bei all ſeiner Verwandtſchaft mit dem meinigen ) mit
dem eigenen Federkleide des Vogels hinſichtlich der Ent¬
ſtehung dieſes Federkleides zu thun ?
Hat der Vogel etwa ſich ſelber ſo ſchön gemacht , weil er
es ſo für ſchön befand und ſo ausſehen wollte ?
Iſt mit anderen Worten die That des ſchönheitsdurſtigen
Paradiesvogels ſein eigenes Federkleid ? Dann , ja dann wäre
der Kreis auch hier geſchloſſen . Der Rudolfs-Paradiesvogel
hat ein Gehirn mit Schönheitsidealen . Das iſt genau ſo
( natürlich ins Menſchliche verſtärkt ) der Fall bei Rafael . Rafael
ſchafft ſein Bild , das mir ſchön erſcheint , weil ich ein ähnliches
Gehirn mit ( wenigſtens paſſiver ) Schönheitsempfindung habe .
Der Paradiesvogel ſchafft ſeine blaue Federnpracht , die mir
ſchön erſcheint , weil ich ein auch dieſem Paradiesvogel immer¬
hin noch ähnliches Gehirn mit Schönheitsempfindung von einer
ihm ebenfalls ähnlichen Art beſitze .
Aber wer in aller Welt giebt uns das Recht , ohne weiteres
eine ſo ungeheuerliche Annahme zu machen , um jenen Kreis
zu ſchließen ?
Der Vogel ſoll von ſeinem Gehirn und äſthetiſchen Können
aus ſich ſelber die herrlichen Federn an den Leib gebracht haben !
Er ſoll ſein eigener Künſtler geweſen ſein in einem Sinne ,
der alles andere Kunſtſchaffen wie ein Kinderſpiel in den
Schatten zu ſtellen ſcheint .
Nehmen wir noch einmal Rafael als Vergleich . Er ſchaute
innerlich ein herrliches Kunſtideal , die Sixtiniſche Madonna ,
im Geiſt . Und ſeine Hand greift zum Pinſel und ſchafft
äußerlich aus Ölfarben auf einer fremden ſtofflichen Fläche
einen Abglanz dieſes erhabenen äſthetiſchen Traums . Welche
Aufgabe hätte jener ſchaffende Paradiesvogel ihm aber geſtellt ?
Er ſelber als lebendiger Menſch müßte ſich in ſein Kunſtideal
verwandelt haben , und die Sixtiniſche Madonna müßte fortan
als lebende Geſtalt auf dieſer Erde gewandelt ſein . Die Ver¬
drehtheit des Gedankens ſcheint ſo handgreiflich , daß es nicht
verlohnt , darauf einzugehen . Und unſere ganze Betrachtung
ſcheint über Dresden , Neu-Guinea und den auſtraliſchen Buſch
hinweg nun doch noch im wahren Wolkenkuckucksheim zu enden .
Was aber bloß not thut , iſt , daß wir abermals eine Weile
die graue Theorie über Bord werfen und noch einige weitere
Wirklichkeiten unſeres Muſeums in Augenſchein nehmen .
Es iſt eine alte Streitfrage in der Schönheitslehre : wer
ſchöner ſei : — Mann oder Weib ? Die Maler und Bildhauer ,
denen wir doch wohl in dieſen Dingen das Recht des Fach¬
mannes zugeſtehen müſſen , haben dieſe Frage ſtets praktiſch
beantwortet . Sie ſind für die abſolute Gleichberechtigung ein¬
getreten .
Das Scherzwort bleibt ja wahr , daß ein ſchöner Mann
immer ſchöner ſei als eine häßliche Frau und eine ſchöne
Frau ſchöner als ein häßlicher Mann . Aber von einer ge¬
wiſſen Höhe der Schönheit überhaupt an iſt ein Unterſchied
nicht mehr zu ziehen . Sobald Schön hier gegen Schön dort
ſteht , weibliches Ideal gegen männliches Ideal , die Venus
von Milo gegen den Hermes des Praxiteles , die Pieta des
Michel Angelo gegen Michel Angelos David und Moſes , ſtellen
ſich die Schalen der Wage gleich . Es bleibt der „ ſchöne Menſch “
ein Wunderwerk der Entwickelung , das aber in ſich kein Ge¬
ſchlecht mehr als Schranke kennt .
Mache nun einen großen Sprung und vergleiche ein Tier
mit dem Menſchen , das nach deiner Schätzung wohl ſchwerlich
als ſchön gelten kann und das dir höchſtens komiſch erſcheint :
den Igel .
Du kennſt die köſtliche Geſchichte vom Wettlauf des Haſen
und Swinegel . Jedesmal , wenn der Haſe ans Ziel ſauſt , er¬
hebt ſich dort aus der Ackerfurche Swinegel als „ längſt ange¬
kommen “ . Der Kern des Scherzes ſteckt darin , daß Swinegel
in Wahrheit gar nicht gelaufen iſt , ſondern nur ſeine Frau am
Zielpunkt verborgen hat , die jedesmal „ Ich bin ſchon da “ ruft ,
wenn der Haſe keuchend anlangt . Swinegel und Swinegels
Frau ſind ſich eben ſo ähnlich , daß der dumme Haſe überliſtet
wird . Und das Märchen giebt die nette Nutzanwendung ,
daß , wer ein braver Swinegel iſt , ſorgen ſoll , daß er auch
einen Swinegel zur Frau bekomme . Das Märchen hat aber
auch eine zoologiſche Nutzanwendung , wie ſich denn aus den
meiſten Offenbarungen des ſinnigen Volksgeiſtes vielerlei
„ Wahres “ herausleſen läßt .
Es hat zur Vorausſetzung die wirkliche zoologiſche That¬
ſache , daß der männliche und der weibliche Igel ſich nur ganz
verſchwindend wenig von einander unterſcheiden . Es bedarf
hier nicht der Maßſtäbe Schön und Häßlich : der Unterſchied
der Geſchlechter fällt überhaupt ſo gut wie ganz für den
äußeren Anblick fort . Nun iſt der wohlbelobte Herr Swinegel
aber , wie du dich erinnerſt , eines der Tiere , die zwiſchen
Beuteltier und Affe ziemlich nahe deinem eigenen menſchlichen
Stammbaum geſtanden haben . Um ſo bedeutſamer , daß ihn
nun ſchon das Volksmärchen benutzen darf als Vertreter einer
zum Verwechſeln ähnlichen äußeren Körpergeſtalt bei Swinegel-
Mann und Swinegel-Frau . Man bekommt die Idee , daß ſelbſt
der poſitive Unterſchied , der heute zwiſchen Mann und Frau
beim Menſchen beſteht ( der aber auch ſchon keinen Unterſchied
zwiſchen Schön und Häßlich bedeutet ) , bei dieſen alten und
niedrigeren Tierformen wie dem Igel ( der an ſich gar nicht
mehr für Schön oder Häßlich in Betracht kommt ) ſchon ganz
verwiſcht ſei .
Die feine Individualiſierung etwa in Frauenantlitz und
Mannesantlitz wäre eben bloß erſt eine Entwickelungs-Errungen¬
ſchaft des Menſchen , und der Igel mit ſeiner Igel-Frau , die
der Haſe für den Igel-Mann hält , weil ſie ihm aufs Haar
gleicht , ſtellte uns noch die urſprüngliche , rohe Grundlage vor
Augen — gleichſam den groben Marmorblock , aus dem erſt
höhere Geiſtesentfaltung jenen prachtvollen Doppelſtern von
Weibesſchöne und Mannesſchöne herausmeißeln ſollte .
Klingt hübſch — und iſt verkehrt über alle Maßen .
Mann und Weib ſind ſchon tief , tief unten im Tierreich
in tauſend und abertauſend Fällen ſo grundverſchieden von
einander , daß ſelbſt der geiſtig und leiblich blindeſte Haſe ſie
nicht mehr mit einander verwechſeln könnte . Und der Igel iſt ,
alle ſeine Rolle in der edelſten Ahnentafel der Natur zuge¬
ſtanden , nicht das maßgebende Beiſpiel für die ältere Tierſchaft ,
ſondern eine echte und rechte Ausnahme . Schon bei ganz ,
ganz niedrig ſtehenden Geſchöpfen ſteigert ſich die Verſchieden¬
heit der Geſchlechter zu Extremen , gegen die unſere menſchlichen
Verhältniſſe igelartig harmlos werden . Erinnere dich nur
allein an den grünen Wurm Bonellia , bei dem die Größen¬
verhältniſſe zwiſchen Mann und Frau differieren , wie zwanzig
Zentimeter zu ein bis zwei Millimetern ; die Zwergmännlein
wohnen als winzige Schmarotzer im Leibe ihrer Rieſendame .
Nun iſt ja ein ein ſolcher unappetitlicher Wurm wie die
Bonellia an ſich gewiß noch viel weiter entfernt von jedem
äſthetiſchen Vergleich , als Herr und Frau Swinegel in ihrer
Ackerfurche . Die Frage wird aber wichtig für unſere Schön¬
heitsbetrachtung , wie ſich in dieſer Hinſicht jene Tiere ver¬
halten , von denen wir uns geſtanden , daß ſie unzweifelhaft
„ ſchön “ ſeien .
Wir betrachten Paradiesvogel-Mann und Paradiesvogel-
Weib .
Die Erwartung ſagt uns , daß wir wohl auch in dieſem
Punkte hier auf mehr oder minder menſchliche Verhältniſſe
geraten werden : zwar Verſchiedenheit der Geſchlechter , aber
im Punkte des Ideals dabei Schön gegen Schön wie bei uns
in der Venus von Milo und dem Hermes des Praxiteles .
Wieder gründlich daneben geſchlagen !
Wenn bisher von der „ Schönheit “ des Paradiesvogels
die Rede war , ſei es bei dem großen goldenen oder bei dem
kleinen rot-grün-weißen oder bei dem neuen blauen — immer
ſind wir , ganz ohne es zu wollen , „ Partei “ geweſen . Wir
haben einſeitig den Mann betrachtet , den Mann bewundert ,
über den Mann Gedanken ausgeſponnen .
Alle dieſe wunderbaren Paradieſier , wie wir ſie hier
unten in den Schränken des Muſeums vor Augen haben : es
ſind erwachſene , voll entwickelte Paradiesvogel-Männchen .
Dort oben aber , in ſchlichter Reihe , ſitzen die Weibchen .
Man fragt ſich , was dieſe armſeligen Vögel hier ſollen . Denn
der Kontraſt iſt ſo grell , daß ſelbſt gewiſſe ganz hübſche ſanfte
Farben neben der Farbenorgie der Männchen notwendig arm¬
ſelig erſcheinen müſſen .
Da iſt die ausgewachſene Frau jenes großen Paradieſiers ,
der die märchenhafte Goldwelle hinter ſich herſchleift : dieſe
Frau iſt oben braun wie Kaffee , an der Kehle , wo der Ge¬
mahl eine Agraffe von Smaragden trägt , von einem trivialen
Rauchviolett , am Bauche fahlgelblich ; die ganze Welle ange¬
hängter Schmuckfedern fehlt vollkommen . Wenn man dieſen
weiblichen Vogel anſchaut , ſo begreift man erſt , daß die Para¬
dieſier im Syſtem eng an die Krähen und an die Stare
angeſchloſſen werden . Dieſes Weib iſt in der That kein Götter¬
vogel , ſondern ein einfacher Starmatz von Neu-Guinea .
Bei dem kleinen Juwel des Königsparadiesvogels iſt die
Überraſchung beinah noch derber . Das Weibchen iſt oben erd¬
braun mit einem kaum merkbaren Anflug von Orangerot , unten
gelblich braun mit etwas dunklerer Zeichnung — ein Spatz
ſtatt eines Paradiesvogels . Man meint , ein Hofmann in über¬
ſchwänglicher Pracht eines brandroten Fracks , weißer Seiden¬
weſte , grüner Ordensbänder und langer goldbetreßter Schöße
habe jählings eine braune Nonnenkutte übergeworfen . Dieſe
Nonne ist Zeit ihres Lebens der weibliche Königsparadiesvogel .
Es bleibt nichts anderes übrig , als ſich zu ſagen , daß in
dieſem Falle nicht nur ein koloſſaler Unterſchied zwiſchen den
Geſchlechtern waltet , ſondern auch ein gröbſter Unterſchied gerade
der äſthetiſchen Begabung , der Schönheit . Der männliche Vogel
iſt ſchön bis zu einem Maße , daß die Sprache ſelbſt des kunſt¬
verwöhnten Menſchen in paradieſiſchen Bildern ſchwelgt . Und
der weibliche Vogel iſt einfach ein Starmatz oder Spatz , deſſen
höchſte Farbenvergleichung ein Bild wie „ Kaffee “ ausſpricht .
Wo heute eine „ Frauenbewegung “ beſteht , da hört man
ſo oft das Wörtchen Ungerechtigkeit . Es giebt in der That
ein ganzes Sündenregiſter der Punkte , in denen die Frau in
der Kulturgeſchichte ungerecht behandelt worden iſt , und zwar
weſentlich Ungerechtigkeiten , die in einer Zurückſetzung gegen den
Mann beſtehen . Was wollen aber alle dieſe Vergewaltigungen ,
die uns vom „ Menſchentier “ grauslich erzählt werden , wohl
beſagen gegen die ſcheußliche Minderwertung des Weibes , die
anſcheinend von Mutter Natur hier bei den Paradieſiern von
Neu-Guinea verübt worden iſt .
Der Mann in einer Pracht , als habe Rafael ihn gekleidet ,
und das arme Weiblein ewige Karthäuſerin !
Nun dazu noch das Unheimlichſte , hergenommen aus jener
früheren Betrachtung der Laubenvögel . Dieſe Paradieskinder
im Urwald Neu-Guineas beſitzen in ihrem Vogelverſtande Sinn
und Liebe für Schönheit , für bunte Federpracht .... . Alſo
dieſes Weibchen etwa des kleinen Königsparadiesvogels , dieſes
lebenslängliche und ewig neu geborene Aſchenbrödel in Kaffee¬
braun und Unſcheinbarkeit : wir müſſen gewärtigen , daß es auch
noch weiß , daß es häßlich und der Herr Gemahl ein Juwel
an Farbenſchöne ſei .
Oder ſollen wir etwas anderes annehmen , im Grunde
noch bitterer ? Soll das Weib des Paradiesvogels keinen
Schönheitsſinn beſitzen , während der Mann ihn hat ? Es
wäre die alte Schickſalsfrage : was beſſer ſei , ewig blind und
dumm ſein — oder ſehen und ſich ſehnen , aber ohne Erfüllung .
Schließlich doch eine Wahl , bei der man ſich entſcheiden kann ,
ob man vom Tiger gefreſſen werden oder in den Abgrund
ſpringen will .
Übrigens zeigen die Thatſachen bei dem Laubenvogel gar
nichts von ſolcher Trennung des Schönheitsſinns von Mann
und Weib . Beide Gatten vergnügen ſich an der Hochzeitslaube
wie ſpielende Kinder . Man ſieht von da aus nicht ein , daß
es beim Königsparadiesvogel etwa anders ſein ſollte . Und
dann verwirrt ſich doppelt nicht nur unſere „ Ungerechtigkeit
der Natur “ , ſondern es ſchürzt ſich auch ein neues Hemmnis
in der ganzen Schönheitsfrage .
Erinnere dich doch : wir waren darauf und daran , uns
zu fragen , ob der Paradiesvogel , deſſen Gehirn Schönheits¬
empfindungen hegt , nicht ſein ſchönes Federkleid ſich etwa gar
ſelbſt „ gemacht “ haben könnte , ähnlich wie Rafael ſeine ſchönen
Bilder geſchaffen hat . Nun ſehen wir plötzlich einen Doppel¬
fall innerhalb unſeres Paradiesvogel-Beiſpiels . Angenommen ,
es haben wirklich beide Paradies-Gatten , das Männlein wie
das Weiblein , in ihrem Gehirn Schönheitsgefühle . Beim
Manne gelingt es , einerlei zunächſt einmal wie , dieſe Schön¬
heitsgefühle äußerlich in einen herrlichen Federſchmuck des
eigenen Leibes zu projizieren : der Paradies-Mann wird als
ſolcher ein Juwel an Schönheit . Umgekehrt aber : die Frau
Paradieſierin erweiſt ſich als abſolut unfähig zu dem gleichen
Akt . Mit all ihren Schönheitsgefühlen bleibt ſie — eine alte
graue Krähe . Und der Gegenſatz iſt ſo grell , daß man meinen
ſoll , die ganze Vorausſetzung muß über ihm den Hals brechen .
Trotz Gehirn und Schönheitsſinn ſcheint es nur einfach eine
doppelte und dreifache Abſurdität , daß der Paradiesvogel ſich
ſelber ſeine herrlichen Farben auf den Leib gemalt habe .
Wir ſind jetzt wirklich in einer engen Gaſſe .
Die Dresdener Muſeumsſchränke mit ihrem bunten Feder¬
volk und ihren klaren reinlichen Glasſcheiben ſtarren dich an ,
als hätten ſie ihre Schuldigkeit gethan und wüßten nun auch
nicht weiter . Wir müſſen unſeren größten Helfer beſchwören :
den Gedanken , den allgewaltigen spiritus familiaris , den wir
Fauſte dieſes alten Erdplaneten nun doch allein beſitzen und
in dem uns kein häßlicher Swinegel oder bildſchöner Paradies¬
vogel irre machen kann .
Kein geringerer als Darwin hat an der Stelle , auf die
ich dich jetzt geführt habe , einen Gedanken gehabt .
Und der Gedanke , den er hatte , war kein geringerer als
der : gerade dieſe Thatſache , daß nur das Männchen des
Paradiesvogels ſchön gefärbt iſt , giebt uns einen unmittel¬
baren Fingerzeig dafür , wie die Federpracht dieſer Vögel über¬
haupt ihr eigenes Werk ſein könnte .
Und zwar ein Werk der Liebe !
Folgendes iſt im Kern die Darwinſche Schlußfolge . Darwin
hat ſie allgemeiner ausgeführt für viele Vögel und noch andere
Tiere . Ich dränge ſie dir zuſammen in ihren Kerngedanken
auf unſer Beiſpiel von den Paradiesvögeln , das zugeſtandener¬
maßen das lehrreichſte und durchſichtigſte aller bekannten iſt .
Es war in früheren Zeiten .
Wie weit zurück , das iſt einerlei , bloß nicht allzu weit .
Schon hatten ſich Vögel auf dem Wege über den uralten
Eidechſenvogel Archäopteryx , deſſen Reſte — halb Eidechſe ,
halb Vogel — heute im Berliner Muſeum liegen , aus Eidechſen
entwickelt . Und dieſe Vögel hatten ſich zerſpalten in eine
Unmaſſe von Gruppen in Wald und Steppe , Gebirge und
Waſſer . Die Gruppen größerer Art wieder in kleinere und
die kleinſten zuletzt in einzelne Arten . Und da gab es denn
auch die enge Sippe , die uns heute als die der Paradiesvögel
im Bannkreiſe Auſtraliens entgegen tritt .
Wo dieſe Sippe entſtanden war , — wer weiß es ? Wo
ſind vor Zeiten die Urſprungsſtätten der heutigen Tierfamilien
geweſen ? Schwere Fragen . Wo ſind die Pferde , wo die
Hirſche , wo die Elefanten entſtanden ? Wir ſehen da in tauſend
Schiebungen , Wanderungen , deren alte Wegweiſer vermorſcht ,
deren Brücken im Ozean verſunken ſind .
Genug : die Paradiesvögel tauchten eines Tages an der
Grenze des auſtraliſchen Gebietes , vor allem in Neu-Guinea ,
auf . Aber ſie tauchten nicht als das auf , was ſie heute ſind ,
wenn wir ins Muſeum treten und ſie bewundern . Alle ,
Männlein wie Weiblein , hatten einerlei Geſtalt und Farbe .
Unſcheinbar war dieſe Farbe ; es war die grau in grau oder
braun in braun gemalte Federfarbe der heutigen Weibchen .
Noch giebt es heute einen ſcharfen Hinweis , daß auch der
männliche Paradiesvogel voreinſt die ſchlichte Kutte ſeiner
beſſeren Hälfte trug ſtatt des Juwelenmantels , in dem er heute
ſeine Paradieſiernatur zur Schau zu ſtellen weiß .
Der junge Paradiesmann gleicht zunächſt vollkommen
dem Weibe , keine Goldwelle geht von ihm aus , kein grünes
Kehlband trennt die weiße Seidenweſte vom granatroten Rock ,
auch er als junger Fant iſt Kaffee in Kaffee , unſcheinbar wie
ein Kuttenmönch . Ein ſeltſames Geſetz aber , weißt du , ſcheint
durch die ganze Welt des Lebendigen zu gehen : die Jugend¬
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form , die Keimform und Kinderform wiederholt noch einmal
das Bild der Ahnen . Der junge Froſch atmet noch einmal
mit Kiemen wie ein Fiſch , ſchleppt einen Schwanz hinter ſich
her , wie ein Molch . Auch der ganz junge Vogel im Ei zeigt
noch ſolche Kiemenſpalten , ſeine Flügel und Beine ähneln zuerſt
Floſſen . Der junge Walfiſch entwickelt zuerſt ſtatt der Fiſchbein¬
barten regelrechte kleine Zähne wie ſeine Vorfahren ſie hatten .
Der kleine neugeborene Löwe iſt noch tigerartig geſtreift , die
junge Wildſau , der kleine amerikaniſche Tapier verraten ein
Streifen- und Fleckenkleid einer fremden Ahnenwelt . Der Bei¬
ſpiele giebt es zahlloſe .
Wenn im Jugendkleide Mann und Weib des Paradies¬
vogels heute gleich ausſchauen , ſo iſt es im höchſten Grade
wahrſcheinlich , daß dieſes Jugendkleid in Wahrheit das Ahnen¬
kleid iſt . Einſt ſah das ganze Volk dieſer Vögel Zeit ſeines
Lebens ſo ſchlicht und ärmlich aus . Das Weib muß dann
das dauernd konſervative Element geweſen ſein . Es blieb bis
heute ſo . Der Mann aber warf eines Tages das Ahnenkleid
mit dem mannbaren Alter ab und erſetzte es durch ein
ſtrahlendes Prachtgewand ganz neuer Art . Wie kam das ?
Das iſt die Frage .
Darwin ſchließt weiter .
Sieh dir zuerſt dieſes ſchlichte Kleid des heutigen Weibchens
einmal unter dem Geſichtspunkte an , daß es das ehemalige
allgemeine Kleid der Ahnen war . Es iſt , wenn nicht alles
trügt , ein ſogenanntes Anpaſſungskleid .
Ich denke , du weißt , im Umriß wenigſtens , was das heißt .
Der Kampf ums Daſein tobt in der Natur . Die Weſen ringen
um ihr Leben . Starke , indem ſie angreifen , Schwache , indem
ſie ſich verbergen . Die Farbe iſt ein Mittel in dieſem Zwiſt .
Sie verbirgt den Angreifer wie den Angegriffenen . Das
Wüſtentier auf gelbem Wüſtenboden hat Vorteil , wenn es gelb
iſt , wie Löwe , Schakal , Wüſtenfuchs , Sandviper und Sand¬
eidechſe . Dem Polartier dient , wenn es weiß wie Schnee iſt :
weiß iſt der Eisbär , der Polarfuchs , der Polarvogel in viel¬
fältigſter Art . Grün nützt dem Laubfroſch , der Heuſchrecke .
Und ſo weiter . Eine naturgeſetzliche Anpaſſung iſt überall im
Kampfe um die Exiſtenz eingetreten . Darwin ſelbſt meinte ,
daß von tauſend verſchiedenen Farben ſtets nur die beſte , die
„ angepaßte “ ſich erhielt . Wie durch ein Sieb fielen die un¬
praktiſchen Farben ab . In der Wüſte erhielt ſich nur gelb , —
alles andere wurde ausgerottet . Auf dem grünen Blatt nur
grün . Und ſo fort . Andere haben an noch direktere Zuſammen¬
hänge gedacht . Das „ Wie “ ſei der freien Debatte ausgeliefert ,
für die auch Darwin dir nur eine Anregung ſein mag . Aber
die Thatſache einer allgemeinen Anpaſſung der Lebeweſen zu
Zwecken des Daſeinskampfes , ſei es Raub oder Schutz , kann
ſchlechterdings nicht mehr angezweifelt werden .
Ihr unterlag nun auch , ſcheint es , jene urſprüngliche
ſchlichte Farbe der Paradiesvogelahnen .
Hier ſpielte „ Schönheit “ keinerlei Rolle . Was Schönheit ,
wenn es groben Lebenskampf gilt ! Da iſt ein Land , wo wilde
Räuber , Katzen oder Halbaffen oder Eichhörnchen ( echteſte Neſt¬
räuber auch dieſe ! ) den armen Vogel und ſeine Brut be¬
drohen . Als Parole gilt , ſo unſcheinbar wie möglich aus¬
ſehen . Glücklich der Vogel , der braun iſt wie ein Spatz . Er
drückt ſich an den braunen Stamm und wird nicht erkannt .
Der Räuber ſieht ihn reglos auf dem Neſte ſitzen und denkt ,
es iſt eine dürre Baumflechte , ein Stück krauſer Rinde , ein
welkes Blatt : Mutter und Brut ſind gerettet .
In ſolcher Zeit der Drangſal feſtigt ſich die Anpaſſungs¬
farbe , — weltfern von aller „ Schönheit “ . Was denkt ein
Soldat in der Schlacht an äſthetiſche Werte — und ſei er
ſelbſt daheim eigens privilegierter „ Profeſſor der Äſthetik “ .
Das iſt die Stimmung , in der die Ahnen der Paradieſier ſich
bildeten . Sie wurden , wie heute die Jungen , die Weiber ſind :
Anpaſſungsprodukte , bei denen Kaffebraun als Rindenfarbe
Trumpf war . Bloß keine üppigen Federanhängſel ! Sie
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wären ein Ballaſt im harten Zwiſt geweſen . Nehmen wir
noch einmal das Bild des Soldaten in der Schlacht . Wird
er ſich mit einem koſtbaren Gemälde auf dem Torniſter belaſten
in der Todesnot ? In ſolcher Stunde wird Rafael Ballaſt .
Es iſt der Augenblick , wo die Byzantiner einſt die ſtürmenden
Goten von den Zinnen der Engelsburg zu Rom mit den
Meiſterwerken griechiſcher Plaſtik , die Hadrian geſammelt ,
bombardiert haben ... .
Da aber , — ein Wechſel der Dinge .
Wer will den Schleier alter verſchollener Wanderungen
der Tiere lüften ? Jahrtauſendelang , ehe die Spanier die
nackten Wilden Amerikas mit ihren Pferden erſchreckten , hat
Amerika ſelber Pferde beherbergt . Ihre Knochenreſte liegen
im Pampaslehm bis zum Feuerland hinab . Warum ſie aus¬
geſtorben waren , als Columbus kam — Myſterium . Woher
ſie gekommen , — ebenſo unbekannt . Genau ſo müſſen eines
Tages die annoch unſcheinbaren Paradiesvögel wie ein grau¬
brauner , ſchönheitsfremder , bloß vom Daſeinskampf abgebrühter
Krähenſchwarm in die paradiſiſch abgeſchloſſenen Urwälder Neu-
Guineas eingeflattert ſein .
Und dann ?
Hier beginnt im Ideengange Darwins ein neues Kapitel ,
das zweite und entſcheidende .
Neu-Guinea iſt für Vögel wirklich ein Paradies . Ein
ungeheures Land , dieſe Inſel , — ein kleiner Weltteil faſt für
ſich . Was könnten dieſe tiefen Dickichte nicht alles an böſen
Räubern nähren ihrem Raum nach , Katzen und Marder , Affen
und Halbaffen , große und kleine Eichhörner , die bei Tag und
Nacht die arme gefiederte Welt bedrohten . Nichts derart aber
iſt der Fall . Mit Neu-Guinea beginnt ſchon das Wundergebiet
Auſtralien . Alle jene Räuber gehören höheren Säugetier¬
gruppen an . In Auſtralien giebt es keine höheren Säuger .
Uralte Ordnungen vertreten ſie hier noch , graue Reliquien der
Ichthyoſauruszeit : Schnabeltiere und Beuteltiere . Und das
hebt weſentlich ſchon in Neu-Guiena an . Es fehlen aber
ſogar hier die räuberiſchen , fleiſchfreſſenden Beuteltiere des
auſtraliſchen Kontinents . Wohl klettert , ſeltſam genug , ein
großes Känguruh der Inſel in die Baumäſte hinauf . Aber
dieſes Baumkänguruh iſt Vegetarier gleich ſeinen hüpfenden
Verwandten in der Grasebene . Das große Landſchnabeltier
Neu-Guienas ſchleckt Ameiſen und hat nicht einmal einen Zahn
im ſchnabelartigen Munde , um auch nur den ſchwächſten Vogel
faſſen zu können . Dazu endloſe Strecken weit einheitlich dichter ,
dunkler Wald , ein undurchdringliches Blättermeer , in dem ſelbſt
der Scharfblick eines kreiſenden Raubvogels kaum Gefahren
bringt . Eine Luſt iſt es hier , Vogel zu ſein . Und wie ent¬
laſtet erſcheint alles vom groben Daſeinskampf . Der Unſchulds¬
vogel der Legende , die Taube , ſicherlich der ſchutzloſeſten Vögel
einer , wird kühn und üppig hier , mehrt ſich ins Ungemeſſene
und ſpaltet ſich in mehr Arten als ſonſt auf einem zweiten
Fleck der Erde , — dabei jene Prachttauben , die mit den
Papageien an Farbenglanz wetteifern .
Das jetzt iſt auch der Ort , wo der Paradiesvogel ſeinen
entſcheidenden Schritt that : von der mühſamen Behauptung
im nackten Daſeinskampfe zur Kunſt .
Die Paradiesvögel , ſelber noch graue Krähen ohne jeden
Schönheitsreiz , beſaßen doch jenen einfachen Schönheitsſinn
ſchon in ihrem kleinen Krähengehirn , den wir beim Laubenvogel
gefunden haben . Eine grellrote Beere gefiel ihnen beſſer als
eine ſchlichte grüne , eine der wundervollen großen Blüten des
Urwaldes machte mehr Eindruck auf ſie als ein beliebiges Blatt ,
ein reiner ſchneeweißer Kieſelſtein feſſelte ihre Aufmerkſamkeit
ſtärker als tauſend grobfarbige ſchmutzige Steine des Bach¬
randes daneben .
Und zwar beſaßen den äſthetiſchen Sinn Männlein und
Weiblein gleichermaßen .
Es iſt ein altes , hübſches Wort , daß der äſthetiſche Sinn
mit der materiellen Sorge für den nackten Kampf des Lebens
in einem gewiſſen Druckverhältnis ſtehe . Die Sorge laſtet auf
der tieferen äſthetiſchen Seelenſtimmung bildlich geſprochen wie
eine ſchwere Maſſe auf einer mouſſierenden Flüſſigkeit . Du
nimmſt etwas Maſſe , etwas Druck , etwas Lebensſorge fort —
und die Flüſſigkeit wallt augenblicklich mit impulſivem Stoß
empor , das äſthetiſche Empfinden , die Freude am Schönen bricht
entlaſtet herauf und beherrſcht ſogleich das ganze Feld , den
ganzen Menſchen . Dieſer Vorgang hat etwas Zauberhaftes ,
er iſt im Menſchenleben aber eine uralte Erfahrung . Und er
iſt zugleich eine unſerer tröſtlichen Erfahrungen . Sie lehrt
uns , daß wir den Kampf um Beſeitigung einer gewiſſen Schicht
grober Lebensſorgen nicht bloß deshalb führen , um nachher die
Hände in den Schoß zu legen . Iſt der „ Notmenſch “ , wenn
man es ſo ausdrücken ſoll , befreit , ſo wächſt vom Druck ent¬
laſtet alsbald ein tieferer Menſch herauf : der Kunſtmenſch ,
vor dem eine neue Welt der Arbeit , doch höherer , genu߬
reicherer , freierer und mehr ſelbſtgewollter Arbeit , liegt .
Geſagt wurden dieſe Dinge allerdings zunächſt immer nur
vom Menſchen . Und oft wurde geradezu der entſcheidende
Unterſchied zwiſchen Menſch und Tier auf dieſes Verhältnis
von Notweſen und Kunſtweſen feſtgenagelt . „ Die Kunſt , o
Menſch , haſt du allein “ , hat uns der Dichter geſungen . Dem
Tier ſollte jene tiefere Schicht fehlen , ſie konnte alſo bei ihm
auch nicht entlaſtet werden . Das Tier , hieß es , von der Not
des täglichen Brotkampfes , von der großen Hatz und Flucht jäh
befreit : es frißt und ſäuft , vegetiert roh weiter , wird fett und
kommt ſchließlich noch in Faulheit herunter von dem letzten
Stückchen tieriſchen Verſtandes , das der Notkampf wenigſtens
immer wieder angeſpannt hatte bis zum äußerſten .
Das iſt nun wieder eine der guten alten Behauptungen ,
wie ſie früher die Philoſophie hinter ihrem Ofen ſo trefflich
gebrauchen konnte , — bis eines Tages ſich die echte Tierkunde
klar darüber war , daß ſie einfach verkehrt ſei .
Jene Tierkunde , die ſich darauf beſann , daß der Menſch
geſchichtlich ja ſelber nur ein Tier ſei , ein feiner Goldextrakt ,
deſtilliert aus Tierheit , ein Kriſtall , deſſen Mutterlauge dieſe
ſogenannte Tierheit geweſen iſt und nichts ſonſt .
Daß Tiere äſthetiſches Empfinden überhaupt beſitzen , hat
uns der Laubenvogel Auſtraliens gezeigt . Gerade dieſer Lauben¬
vogel weiſt aber auch ſchon auf jenes Verhältnis von Druck und
Entlaſtung hin , das offenbar in dem kleinen Gehirn des Vogels
ſich ganz mit derſelben Folgerichtigkeit entwickelt wie beim
Menſchen .
Im Vogel , der vom Daſeinskampfe durch irgend eine Ur¬
ſache ſtärker entlaſtet wird , ohne daß ſonſt durch eine Begleit¬
erſcheinung ſeine Kraft und Geſundheit leiden , quillt die tiefere
äſthetiſche Schicht einfach genau ſo nach jener bildlichen Art
entlaſteter Kohlenſäure in die Höhe , wie bei uns . Man kann
etwas Derartiges ſchon bei jedem Tier , beſonders jungen
Tieren beobachten , wenn ſie ſpielen . Das Spiel tritt un¬
mittelbar ein , ſobald die wirkliche Sorge auf einen Augenblick
pauſiert . Und dieſes Spiel zeigt in vielen , wenn nicht allen
Fällen ſchon Anfänge äſthetiſcher Züge , es iſt eine Art Dichten
des Tieres . Aber es giebt da noch einen viel allgemeineren
und großartigeren Punkt und juſt iſt das gerade der , den wir
für unſere Paradiesvögel brauchen und um deſſentwillen ich
dir überhaupt dieſes ganze Tiermärchen erzähle .
Jene Lauben des auſtraliſchen Vogels ſind „ Hochzeits¬
lauben . “
Er baut ſie in ſeiner Flitterzeit , im vollen Rauſch der
Liebe . Im Leben mindeſtens aller höheren und höchſten Tiere
iſt die Zeit der Liebe die ausgeſprochenſte Entlaſtungszeit ihres
Lebens , was materielle Lebensſorge angeht . Das Tier in
ſeiner Liebeszeit iſt wie verzaubert . Es gehört einer anderen
Dimenſion gleichſam aller ſeiner Stimmungen an , iſt für eine
mehr oder minder kurze Rauſchzeit Bürger einer Welt , die
himmelhoch über der gewöhnlichen Lebensſorge ſteht . Es greift
etwas in ihm hinaus über das einzelne Individium : das
beſondere Leben der Gattung , das über Generationen , über
Jahrtauſende wandelt . Ich ſagte dir ſchon : es iſt ſeine
religiöſe Zeit . Doch laſſen wir jede Definition fort . Die
Hauptſache : es tritt eine Entlaſtung von der gewöhnlichen
Lebensſorge durch das ſeeliſche Ungeſtüm der Liebesempfindungen
ein . Und folgerichtig : im gleichen Augenblick erheben ſich ,
vom Druck vorübergehend mehr entlaſtet , die äſthetiſchen Em¬
pfindungen .
Die Zeit der Liebesgefühle wird zugleich eine Zeit des be¬
freiten äſthetiſchen Innenlebens , — eine Zeit der Schönheit .
An einer Stelle kennt dieſen Zuſammenhang geradezu jedes
Kind : beim Geſang der Vögel . Die rhythmiſchen Klänge des
Vogelgeſanges , die unſer verwöhntes Menſchenohr nicht weniger
entzücken , wie das Farbenkleid des Paradiesvogels unſer Auge
begeiſtert , ſind Liebeslieder , Lieder der Liebeszeit . Aber auch
jener mehr maleriſche Sinn für ſchöne Farben und Formen ,
wie ihn der Laubenvogel bethätigt , lebt ſich recht eigentlich aus
in dieſer Liebeszeit .
Und unſere Paradiesvögel , dürfen wir wohl annehmen ,
werden ganz in derſelben Weiſe ſchon in der Zeit , als ſie
noch als unſcheinbar gefärbte Krähen im herben Daſeinskämpfe
ſtanden , allemal ihre lebhafteſte „ Kunſtzeit “ mit Freude an
Bauten und Hübſchem in der Rauſchzeit ihrer Liebe gehabt
haben . Mann und Weib mögen in dieſen Tagen , wie es
einige Arten heute noch thun , geradezu nach dem Brauche der
Laubenvögel auch ihr Liebesverſteck mit luſtigen roten Blumen
geſchmückt haben wie ein Paar verliebter Schäfer , die ſich mit
Roſen bekränzen .
Dieſen Paradieſiern aber glückt es jetzt , ſich in den Neu-
Guinea-Wäldern feſtzuſetzen .
In dieſen Wäldern , wo der preſſende Druck des Daſeins¬
kampfes überhaupt um ein beträchtliches Teil auch in der Nicht¬
liebeszeit heruntergeht ! In einem im ganzen fortan faſt ge¬
fahrloſen Leben wird die Liebeszeit jetzt ein dreimal freies
und ideales Feſt . Alles in ihr mag ſich bis zur Neige aus¬
leben : alſo auch die Freude an der ſchönen Farbe und Form .
Äußerſt ſeltſam aber : ſobald hier einmal offenſte Bahn
für alle Wirkungen geſchaffen iſt , erſcheint es geradezu undenkbar ,
daß nicht auch folgendes eingetreten ſein ſollte . Etwas , was
man gleichſam als einen Knoten bezeichnen kann , zu dem ſich
die Regungen des Liebeslebens und die Regungen des Schönheits¬
ſinnes notwendig eines Tages verſchlingen mußten .
Die Empfindung für hübſche Farben und Formen begann
eine Rolle zu ſpielen bei der Wahl innerhalb der Liebe .
Bei unſeren liebenden Paradieſiern herrſchten im weſent¬
lichen Verhältniſſe wie bei der Mehrzahl der übrigen Vögel .
Es gab im allgemeinen ſtets mehr Männlein als Weiblein .
Die Folge davon pflegt bei den Vögeln eine doppelte zu ſein .
Einerſeits iſt jeder Mann froh , wenn er eine Frau über¬
haupt gewonnen hat und wacht eiferſüchtig über ſeiner Ehe ,
ſo daß ſich bei dieſen befiederten Liebesleuten thatſächlich in
größter Zahl ganz ehrbar monogamiſche Ehen auf Lebenszeit
finden . Anderſeits aber fühlt ſich das annoch unvermählte
Mägdelein durchweg in der guten Lage , unter einem ganzen
Heer liebenswürdiger Bewerber den ausſuchen zu können ,
der ihr am liebſten ſcheint .
In der poſſierlichſten Weiſe beobachtet man , wie die
eifrigen Werber ſich der Vielumworbenen vorſtellen , ihre Reize
vor ihr entfalten und irgendwie ſich als der Begehrenswerteſte
um jeden Preis darſtellen möchten . Welche Gründe aber ,
fragen wir uns , dürften dabei nun ihre , der Umworbenen Wahl
in den meiſten Fällen beſtimmen ?
Im allgemeinen Getriebe der Weltdinge , die ja auch für
ein Vogelhirnchen ihren Zwang unmöglich verleugnen können ,
wird das ſpröde Mägdelein wahrſcheinlich den kräftigſten Be¬
werber zunächſt auswählen . Ihr erſter und primitivſter Ge¬
ſchmack wird einfach der Geſchmack etwa unſerer Ritterzeit ſein .
Das Turnier tobt . Wer alle anderen , ſei es auch nur im
Kampfſpiel und ohne Todesgefahr , aus dem Sattel wirft , ge¬
winnt die Hand der Königstochter .
In der That führen , wie du weißt , verliebte , werbende
Tiermännchen in ſolchen Fällen vielfältig die erbittertſten Tur¬
niere vor den Augen ihrer gemeinſamen Herzenskönigin auf ,
und die gute Unſchuld wartet hübſch , bis einer alle heim¬
geſchickt hat — und dann ſagt ſie Ja in der wohl begründeten
Vorausſicht , daß dieſer entſchieden der Stärkſte ſei .
Aber wer will leugnen , daß dieſes Kampfmotiv etwas
Rohes hat . Die Vöglein im Baum ſind zum großen Teil von
Natur keine Kämpfer . Sollte es nicht noch andere Proben geben ,
die das Herz der Spröden öffnen und zwar weniger gewaltſame ?
Denken wir noch einmal an die Ritterzeit . Die Lanzen
ſplittern , Staub dampft empor , mit Ächzen und blauen Flecken
liegen alle Gegner im Sand . Die Königstochter aber ſchwankt .
Draußen , jenſeits aller Schranken , ſingt ihr Sänger ein ſüßes
Minnelied zum Lobe der ſchönen Frau . Und das Unmögliche
geſchieht . Sie wirft dem Sänger die Roſe zu .
Wenn wir es hören , ſo meinen wir den Anbruch einer
höheren Kultur in leiſem Klingen zu vernehmen . Das Weib
ſucht den Beſten , nach wie vor . Aber das Lied , der ſeine
vergeiſtigte Extrakt der tiefſten Menſchenkraft , gilt mehr als
die derbe Fauſtkraft , die bloß mit der Lanze Beſcheid weiß .
Das Beiſpiel ſcheint ganz menſchlich . Und doch : wie nah
iſt eben im Grunde das Tier dem Menſchen .
Eines Tages vollzog ſich beim Vogel ſchon ein ganz
ähnlicher Umſchwung . Statt eines wilden Bewerbervolkes , das
ſich mit den Schnäbeln hackte , bis die Federn ſtoben und Blut
floß , ſah die minnigliche Maid auf einmal rings um ſich einen
Chor von Liebenden , die hübſche rhythmiſche Laute hervor¬
brachten , — ſangen . Und der beſte Sänger erſang ſich die
Braut . Der Sinn für äſthetiſche Reize , ausſtrömend in der
Liebeszeit , wurde dem wählenden Weiblein ein Gradmeſſer für
die Beurteilung der Bewerber und gab ſchließlich den Aus¬
ſchlag . Aber auch hier wieder gilt das Gleiche wie früher :
nicht allein der Geſang der Nachtigall kommt als äſthetiſches
Motiv in Betracht . Anderswo , bei anderen Vögeln , hatte der
äſthetiſche Feinſinn ſich konzentriert nicht ſo ſehr auf das Ohr ,
als auf das Auge . Und da jetzt taucht für die Paradies¬
weibchen der Punkt auf , wo ſich bei ihnen die Liebeswahl
verknotete mit ihrem Schönheitsſinn .
Da ſaß das Paradieſierweiblein . Zwölf Paradieſier¬
männlein ſaßen um es her und bemühten ſich um ſeine Gunſt .
In einem ſolchen Vogelhirnchen vollziehen ſich keine
verwickelten Denkprozeſſe . Was kommt , kommt ziemlich auto¬
matiſch . Aber es iſt , als ſtecke doch eine tiefſte Gedankenlogik
gerade erſt recht darin . Das Paradiesweiblein findet dank
ſeinem angeborenen Schönheitsſinn eine knallrote Beere hübſcher
als eine kaffeebraune . Da ſitzen nun zwölf Männlein um es
her . Noch iſt , wohlverſtanden , auch die Schar dieſer Männer da¬
mals gewohnheitsmäßig ſimpel kaffeebraun . Aber ein einziges
Männlein hat auf dem Kopfe zwiſchen den braunen Federn
eine etwas lebhafter gefärbte : nicht mehr ſo ganz kaffeebraun ,
ſondern etwas mehr ſchon rotbraun . Einerlei für jetzt , wie
das gekommen iſt . Warum hat unter uns Menſchen hier ein¬
mal einer ein rotes Mal an der Stirn ; oder im pechſchwarzen
Lockenhaar von Jugend an eine einzelne weiße Locke ; oder
dieſe oder jene ganz beſtimmte Form von individueller Be¬
ſonderheit ? Sei es zunächſt einmal auch dort bloß ſo : es
hat eben einer eine mehr rote Feder . Und unſere Wahlmaid
wählt dieſen Bewerber gerade aus , ſintemalen er am eigenen
Leibe etwas hat , was mehr den roten Beeren als den braunen
gleicht , alſo den Beeren , die der Paradieſierin einfach netter
vorkommen . Nach demſelben Geſetz gefällt ihr jetzt die rötliche
Feder dort beſſer , und ſie wählt dieſen Vogel zum Gemahl
unter Zwölfen .
Hundertmal , tauſendmal geht das ebenſo .
Immer ziehen die Paradieſier mit etwas mehr roten
Federn am Kopfe das Loos der Miſchliebe ſtatt der Diſtance¬
ſchwärmerei und bringen es im Gegenſatz zu allen anderen zur
Gründung einer Familie mit entſprechender Dauerliebe .
Nun fangen gewiſſe dunkle Vererbungsgeſetze an , mit¬
zuarbeiten . Die Jungen mit roten Federn am Kopfe gewinnen
überhaupt ſchon von vornherein das Übergewicht . Und zwar
vererbt ſich — hier arbeitet die Vererbung allerdings ganz in
der dunklen Tiefe — die rote Federfarbe , die ja bei den
Männchen ſtets ausgeſucht wurde , mehr und mehr auch bloß
auf dieſe Männchen und nicht ebenſo auf die Weibchen .
Warum ? Ja , danach darf man bei „ Vererbungsgeſetzen “ heute
noch nicht fragen . Warum entſtehen überhaupt Männchen und
Weibchen ? Warum mehr Männchen als Weibchen ? Laſſen
wir auch dieſe Frage hier einſtweilen beiſeite .
Genug : ſo und ſo viel Zeit geht hin und es giebt über¬
haupt ſchließlich nur noch Paradiesvogelmännchen mit roten
Köpfen . Da die Weibchen die Auswahl ins immer Intenſivere
getrieben haben , iſt das Rot ſogar ſchon ganz grell geworden ,
Zinnober , leuchtend , wie geſponnenes Glas ſo farbenſchön .
Aber nun iſt's da und weiter läßt ſich 's nicht mehr treiben .
Wieder ſind die Liebeswerber gleich .
Da tritt unter ihnen im Banne jenes ganz leichten ,
ſcheinbar zufälligen Abänderns unter Zwölfen etwa einer auf ,
der iſt am Bauche nicht blaßgelblich braun , ſondern ſo blaß ,
daß ſchon mehr ein Weißgelb entſteht . Der Kontraſt gegen
das ſchöne Rot am Kopfe wäre auch für unſeren menſchlichen
Maßſtab immerhin etwas netter . Das wählende Weibchen
entſcheidet ebenſo . Nach ſo und ſo viel Zeit haben alle
Paradieſier derart weißgelbe Bäuche .
Schneeweiß wäre aber noch netter , und durch fortgeſetzte
Wahl der äſthetiſch konſequenten Minnemägdulein ſind die
Bäuchlein endlich ſämtlich ſeidenweiß .
Jetzt kommt aber ein neuer Fall : hier iſt eine „ Mißgeburt “
von Mann , der hat zwiſchen dem korallenroten Kopfe uud und dem
ſeidenweißen Bauche eine grüne Feder , durch — ſagen wir
mal vorläufig — irgend eine chemiſche Zufälligkeit bei der
Bildung ſeiner Halsfedern . Dem Weibchen erſcheint das aber
gar nicht als „ Mißgeburt “ . Grün zwiſchen rot und weiß , —
wie hübſch ! Es iſt ja Farbenſinn da , und der muß das ſehen .
Eine Weile — und alle Männchen haben zwiſchen dem roten
Kopf und weißen Bauche gewohnheitsmäßig eine ſmaragdgrüne
Binde .
Wozu noch mehr ausmalen ?
Der männliche Königsparadiesvogel entſteht vor uns , ein
Ergebnis des Farbenſinnes ſeiner wählenden Weibchen , heraus¬
gezüchtet aus einem „ Spatz “ . Freilich wohlverſtanden , nur
der männliche wird ſo ſchön . Das wählende Weibchen „ wählt “
ſich nicht mit . Es bleibt ſtehen , bleibt ſelber dabei der alte
graue Spatz . Aber vielleicht hat das ſogar noch ſeinen Nutzen
für ſich . Das Weibchen iſt , mag der Kampf ums Daſein im
lieben Neu-Guinea noch ſo harmlos ſein , doch als brütender
Vogel auf dem Neſt immer der gefährdetere Teil . Die alte
Spatzenfarbe war eine Schutz farbe . Beſſer es behält ſie auf
alle Fälle für ſich . Dem Schönheitsſinn iſt ja doch Genüge
gethan , denn es geht ihm wie Rafael vor ſeinem Bilde .
Es braucht nicht ſelber ſich in ſein Kunſtideal zu verwandeln
ſo wenig wie Rafael in die herrliche Kunſtgeſtalt ſeiner Madonna
ſelbſt hineinzuſchlüpfen braucht . Seinem Schönheitsſinn iſt
alles Höchſte erfüllt durch den Anblick dieſer farbenprächtigen
Männchen . Sie entfalten ihr Gefieder vor ihm , ſie entzücken
ſein Auge . Immer noch wählt es die herrlichſten aus , in
immer verfeinertem Kunſtgeſchmack . Alle ſind ſie ſo entſtanden ,
der Königsparadieſier , der große goldene , der blaue des Kron¬
prinzen Rudolf . Und noch immer währt der Schönheitsſtreit
der Männchen bis auf dieſen Tag .
Höre noch einmal zum Schluſſe Wallace , der die Para¬
dieſier in den Wäldern ihrer Heimat belauſcht hat , wörtlich .
„ Die Vögel hatten jetzt “ , erzählt er im Reiſebericht von den
Aruinſeln dicht bei Neu-Guinea , „ was das Volk hier ihre
scaleli oder Tanzgeſellſchaften nennt , begonnen . Sie finden
ſich auf gewiſſen Waldbäumen ein , die nicht Fruchtbäume ſind
wie ich zuerſt meinte , aber weiter ſich ausbreitende Zweige und
große , zerſtreut ſtehende Blätter haben und den Vögeln ſchönen
Raum zum Spielen und zur Entfaltung ihres Gefieders geben .
Auf einem der Bäume verſammeln ſich ein Dutzend bis zwan¬
zig vollbefiederter männlicher Vögel , ſtrecken ihre Nacken aus
und richten ihr exquiſites Gefieder auf , indem ſie es in be¬
ſtändiger zitternder Bewegung erhalten . Dazwiſchen fliegen ſie
in großer Erregung von Zweig zu Zweig , ſo daß der ganze
Baum mit wallendem Gefieder in großer Manigfaltigkeit
der Stellung und Bewegung erfüllt iſt . “ Alles „ Nützliche “
wird vergeſſen bei dieſem Liebesſpiel . Maſſenhaft ſchießen die
Eingeborenen — ein letzter und allerdings ſchlimmſter Feind
— die prunkenden Werber aus dem Blätterdickicht mit Pfeilen
herunter . Dabei wiſſen die heute ſo herrlichen Männchen
ſelber offenbar ganz ſicher , daß „ Schönheit “ ihr Liebespfeil
gegenüber dem Weibe iſt . Vor den Spiegel geſtellt , beſchaut
ſich das gefangene Paradiesvogelmännchen mit unverkennbarer
Eitelkeit , und hundert andere Züge mehr weiſen darauf hin .
So wäre die alte Linie wirklich geſchloſſen .
Der männliche Paradiesvogel in ſeiner Schönheit erſcheint
als das Produkt des Schönheitsſinnes ſeines Weibchens , ge¬
nau ſo wie Rafaels Sixtiniſche Madonna das Produkt von
Rafaels künſtleriſch erhabenem Schönheitsſinn iſt .
Auch hier erſcheint das Schöne auf der vollkommenen
Wanderſchaft durch den Geiſt zurück zum Geiſt .
Die Mittel ſind gröber , es bedarf gewaltiger Zeit dazu ,
Vererbung muß in dunkler Arbeit fixieren , was Rafael in der
Gunſt kurzer Stunden eines kurzen Menſchenlebens mit Hand
und Pinſel zum Gemälde feſtigt . Aber in der Grundlage iſt
der Kreis der Dinge dort geſchloſſen wie hier . Rafael mit
ſeinem mir verwandten Schönheitsſinne ſchafft die Madonna ,
und ſie wirkt auf mich kraft meines eigenen von ihr geweckten
Schönheitsſinnes . Das Paradiesvogelweibchen mit ſeinem mir
verwandten Schönheitsſinne ſchafft die Farbenpracht des männ¬
lichen Paradiſiers , und ſie wirkt auf mich kraft meines eigenen ,
von ihr nur geweckten Schönheitsſinnes .
Es liegt in dem Gedankengange Darwins , wie er hier
im Kern wenigſtens zu Grunde gelegt iſt , eine logiſche Gewalt
erſten Ranges . Alle haben das empfunden , die aus der gang¬
baren älteren Schuläſthetik zum erſtenmale vor dieſe ſcharfe Schlu߬
kette des Naturforſchers gerieten . Zum erſtenmale zeigte ſich eine
Möglichkeit , eine Schönheit wie die des Paradiesvogels wirklich
in den Rahmen echter menſchlicher Schönheitslehre einzuordnen .
Zugleich aber erſchien etwas innerlich noch viel bedeut¬
ſameres . Der Weg , wie dieſes Tier „ Schönes “ ſchuf , war
ein umſtändlicher , grober , niederer . Aber die Wurzel auch
ſeines Schaffens war im Grunde genau die gleiche wie bei
Rafael : ein geheimnisvolles „ Schönfinden “ gewiſſer Dinge
in den ſeeliſchen Tiefen ſeines Gehirns . Nie iſt das Tier in
der neueren Naturforſchung ſeeliſch dem Menſchen näher ge¬
rückt worden als hier . Die ganze Frage war , das darf nicht
vergeſſen werden , übergeſpielt in das ſeeliſche Gebiet , trotz
aller Strenge naturwiſſenſchaftlichen Denkens .
W o immer auf einem Gebiete menſchlicher Gedanken¬
anſtrengung die ehrwürdige Geſtalt des alten Darwin auftaucht ,
da iſt geweihte Erde .
Auch die Geſchichte des Liebeslebens dankt ihm einen
Alexanderzug . Aber du wirſt mir erlauben , nachdem ich die
„ Idee Darwins “ in ein einzelnes Bild , ſoweit es ging , zu¬
ſammengedrängt , ohne dazwiſchen zu reden : — daß ich jetzt
auch noch ein kleines eigenes Wörtchen anhänge . Im Voll¬
gefühl , daß wir heute nicht Darwin in einer billigen Manier
zu „ überwinden “ , — wohl aber mit gutem Bemühen fort¬
ſchreitend im Sinne ſeines eigenen Zieles zu vertiefen haben .
Charles Darwins Ideen über dieſe ſogenannte „ Geſchlecht¬
liche Zuchtwahl “ , wie wir ſie ſeit dreißig Jahren jetzt beſitzen ,
ſind in dieſer Zeit Gegenſtand der heftigſten , zum Teil aber
recht fruchtbarer Debatten geweſen .
Die weſentlichſten Thatſachen ſind dabei unbeſtritten ge¬
blieben . Mein Paradiesvogel iſt ja nur ein auf Darwins
Grundſätze abgehandeltes Exempel . Ähnliche Dinge findeſt du
in der höheren Tierwelt maſſenhaft . Prachtvolle Hochzeits¬
kleider der Männchen . Ein Wählen der Weibchen . Dann
verwandte Sachen fürs Ohr . Geigen , Singen , Muſizieren der
Männchen . Vom zackigen Kamm des verliebten Teichmolchs
bis zum Liede der Nachtigall .
Was man zunächſt nur beſtritt , war der verknüpfende
Gedankengang des Alten von Down . Darwin war in ſeiner
Zuchtwahltheorie ſo vielen zu „ mechaniſch , “ Allzugrob und roh
durch reine Kampf- ums Daſein-Ausleſe der Paſſendſten ſollte
die große Entwickelungslinie ſich dahin gedrängelt haben !
Jetzt umgekehrt die äſthetiſche Ausleſe bei der Liebe , dieſes
„ Sichvermehren der Wohlgefälligſten “ , wie einer die Sache
gut bezeichnet hat , war ſo und ſo viel anderen wieder zu
„ ſeeliſch “ , zu „ menſchenähnlich “ , zu ſehr Gehirnarbeit des In¬
dividuums .
Manche dieſer Argumente fallen gleich wie windige Spreu
ab . So das : der Menſch habe allein Äſthetik , Freude an
Schönem , das Tier nicht . Warum ? Ja weil der Menſch
halt „ Menſch “ ſei , himmelhoch von jedem Tier getrennt . Das
richtet ſich von ſelbſt durch Darwins weitere , umfaſſendere
Tier- und Menſchanſchauung , von der wir keinerlei Grund
haben , auch nur ein Titelchen nachzugeben . Dieſen Standpunkt
brauche ich dir nicht zu widerlegen , nachdem wir uns jetzt
zwei Bände lang unterhalten haben . Zieh dich nackt aus , be¬
frage deinen Leib , ſage dir , daß Leib und Geiſt Eines ſind ,
und frage nichts mehr ....
Weiter aber . Die ganze Pracht des Paradiesvogel-
Männchens ( und ſonſt ad infinitum bei Tieren ) ſei , heißt
es , ein unmittelbarer „ Überſchuß von Kraft “ , ausgemünzt im
Liebesſtadium mit ſeiner Entlaſtung von Kampfesſorge bei
Tieren , die ohnehin im Daſeinskampfe ſchon ſtark entlaſtet .
Das Weibchen ſoll ſtets nur das aufdringlichſte , auffälligſte ,
üppigſte Männchen wählen , das kräftigſte eben , deſſen Kraft
es an dieſer Üppigkeit merkt . Beſonderes Wohlgefallen aber
an dieſer oder jener Farbe oder am feinen Rhythmus des
Geſanges ſoll keinerlei Rolle dabei ſpielen , alſo nichts eigent¬
lich Äſthetiſches .
Dieſe Meinung , mit viel Energie vorgeführt , hat einen
dunkeln Punkt und einen direkt falſchen Punkt . Der falſche
25
liegt darin , daß vergeſſen wird , wie der Vogel — denke nur
an unſere Chlamydodera oben — ja bunte Sachen ( Federn ,
Beeren ) ſammelt auch unabhängig vom Männchen und ſeiner
Kraft . Jede knallrote Beere und blaue Feder an der auſtraliſchen
Liebeslaube wirft dieſe ganze Ecke des Arguments um : der
Vogel hat eben überhaupt Freude am Bunten , am äſthetiſch
Hübſchen — und weil er ſie ohnehin hat , hieße es in der
Liebeswahl einen Sinn bei ihm ausſchalten , wollte man von
der äſthetiſchen Wahl hier abſehen . Erdrückend ſind aber die
Beweiſe wieder , daß die Liebe wahrlich keine Sinne und
Geiſtesanlagen ausſchaltet , ſondern im Gegenteil alles auf die
denkbar höchſte Höhe ſchraubt .
Der dunkle Punkt dagegen ſcheint mir darin zu ſtecken ,
daß dieſe Anſicht noch durchaus nicht ohne weiteres die Ent¬
ſtehung etwa der Prachtfarben eines Königsparadiesvogels aus
Kraftüberſchuß im Liebesſtadium wirklich erklärt . Das „ Wie ? “
wird hier einfach mit einem Wort überſprungen .
Gut , ich glaube gern , daß die Liebeszeit alles im Leibe
eines Vogelmännchens zur Hochglut gleichſam bringt . Wie der
Blick feuriger wird , ſo wird auch die Haut lebhafter durch¬
blutet werden . Ich will zugeben , daß das als Reiz auf das
Wachstum der Federn wirkt . Die Federn werden zur Liebes¬
zeit vielleicht ſelber dicker , größer , üppiger werden . Zumal bei
Vögeln im geſchützten Urwald , wo der Kampf ums Daſein
wenig eine Rolle ſpielt . Und zumal gewiſſe Federn der be¬
ſonders hoch geheizten Geſchlechtsgegend . Ein ſolches verliebtes
Vöglein könnte ganz gut ſtärkere , längere Schwanzfedern als
„ Hochzeitskleid “ entwickeln . Ja ich will ſogar zugeben , daß
— in einer mir im Engeren allerdings ſchon unbekannten
Weiſe — dieſe verſchärften Reize gewiſſe chemiſche Wirkungen
derart in den Federn hervorgebracht haben könnten , daß irgend
eine veränderte Farbe aufgetreten wäre . Eine früher braune
Feder mag meinetwegen , wie , weiß ich nicht näher , im Hochzeits¬
fieber rot geworden ſein .
Aber jetzt ſieh dir den Königsparadiesvogel an . Wie ſoll
der Farbenrhythmus von Zinnober und Weiß , getrennt durch
eine ſmaragdgrüne Binde , ſo entſtanden ſein ? Er gerade iſt
eigentlich das , was ſo zauberhaft „ ſchön “ auf unſer Auge bei
dem Tierchen wirkt . Er gerade iſt das , was bei Darwin erſt
die äſthetiſche Wahl der Weibchen in einer Kette von tauſend
Generationen langſam aus hundert Möglichkeiten herausgeſucht
hat . Solche äſthetiſche Ausleſe ſoll nun gar nicht exiſtiert haben .
Und doch exiſtiert der Farbenrhythmus . Muß er alſo wohl auch
direkt durch jenen Kraftüberſchuß von den federbildenden Zellen
des Vogelleibes erzeugt worden ſein ! Aber das iſt , ſo einfach
hingeſtellt , zunächſt mindeſtens eine ganz dunkle Sache .
So iſt denn oft betont und auch von Darwin ſelber ge¬
glaubt worden , daß der Vorſtoß auch von dieſer Seite an ſeiner
teilweiſen Verkennung einfachſter Thatſächlichkeiten , alſo am
falſchen Punkt , und gleichzeitig ſeinem Verſagen vor der faſt
weſentlichſten Grundfrage , alſo am dunklen Punkt , vollſtändig
geſcheitert ſei .
Indeſſen ließe ſich doch überlegen , ob man nicht eine Syn¬
theſe beider Meinungen in ein noch Höheres und Beſſeres hin¬
ein vornehmen könnte .
Die äſthetiſche Ausleſe des jedesmal ſchönſten Männchens
durch das freiende Weibchen ſtehe im Sinne Darwins feſt , und
alles hier unmittelbar Anknüpfende bleibe genau ſo , wie es
oben geſchildert iſt . Aber nun fragt ſich doch noch , ob nicht
in der Gegend jenes anderen dunklen Punktes dem Ausleſe-
Prinzip wirklich noch etwas wenigſtens entgegengearbeitet habe .
Ich meine das — immer jetzt bloß im Aper ç u ohne ſtrenge
Beweiſe geredet — ſo .
Auch bei Darwin liefern die Männchen ſchließlich doch
das Material der Ausleſe . Es tritt einmal eine rote Feder
auf — und die wird dann von dem Weibchen bevorzugt und
ſo fixiert . Nachher kommt eine grüne , der es ebenſo geht .
Und eines Tages hat ſich an Rot und Grün eine Fläche weißer
25 *
Federn geſchloſſen , die nun abermals treu gepflegt und ſo kon¬
ſerviert worden iſt .
Auch in Darwins Sinne kann hier nichts entgegenſtehen ,
wenn man ſagt : dieſe zunächſt regellos auftretende lebhafte
Färbung einzelner Federn überhaupt dürfte wohl in jenem
Sinne der geſteigerten Erregung des Vogels in der Liebeszeit
ganz im allgemeinen zuzuſchreiben ſein . So gerätſt du auch
von hier wenigſtens an die Grenze jenes dunklen Punktes der
anderen Betrachtungsart . Der Körper des Männchens thut
jedenfalls auch aus ſich etwas hinzu . Er liefert eine Art Pa¬
lette , aus deren regelloſen Farben dann das Auge und Gehirn
der Weibchen von ſo und ſo viel Generationen erſt den äſthe¬
tiſch ſchönen Farbenrythmus allmählich herausdeſtillieren .
Hier könnte ſich bei dir nun die Frage wenigſtens ein¬
ſtellen , ob dieſer rhythmiſchen Wahl nicht vom Federkleide , alſo
allgemeiner geſprochen , der Haut des Paradiesvogelmännchens
aus doch auch ſchon etwas ſelber Rhythmiſches , äſthetiſch Ord¬
nendes entgegengearbeitet hat .
Wohl verſtanden : nicht vom Gehirn des Vogelmannes .
Das wird hier nach wie vor ſo wenig Macht gehabt haben ,
wie wir Menſchen regelrechter Weiſe etwa durch reines „ Denken “
von Rot , Grün , Weiß nun auch unſere Haut entſprechend
färben können , oder ſo wenig wir überhaupt Macht über unſeren
Körper und ſeine Organe direkt von Innen heraus aus unſerer
„ Bewußtheit “ zu beſitzen pflegen .
Aber wir haben ja ſo vielfältig vom „ Leibe “ als tieferer
ſelbſtändiger Schicht der Individualität geſprochen . Laß alſo
die Hautzellen einmal eine ſelbſtändige Macht am Vogel ſein
und überlege , ob die nicht ganz für ſich in einem Stadium der
höchſten Energie des geſamten Organismus , das bis in jede
Zelle wetterleuchtet , etwas vermöchte , das jenes „ Entgegen¬
kommen “ thatſächlich ermöglichte .
Darwins ganze Idee von der Ausleſe der Paſſendſten
( hier im Falle ſind es die äſthetiſch Paſſendſten ! ) hat ja die
merkwürdige Eigenſchaft , daß ſie immerfort auf die Thatſache
einer tieferen Schicht herabdeutet , — und daß ſie in dieſer
Schicht zugleich vor das große Problem führt , ob von dieſer
Schicht etwas der Ausleſe entgegenarbeitet oder nicht .
Nimm Darwins einfache Zuchtwahl-Theorie .
Auf grünem Zweig leben Laubfröſche . Sie zeigen ver¬
ſchiedene Farbenvarietäten . Darunter auch grüne . Im Daſeins¬
kampfe bleiben bloß die grünen fort und fort erhalten und
pflanzen ſich immer grüner fort , ſintemalen Grün auf Grün
allein die Schutzfarbe iſt , die für Feind und Beutetier möglichſt
unſichtbar macht . Das iſt äußerſt plauſibel und ſchließt die
alte hausbackene Herrgotts-Zwecktheorie vollkommen aus .
Aber es bleibt die Grundſache , daß die grüne Variante
eben gelegentlich auftauchen muß . Ja es läßt ſich nicht leugnen :
ſie mußte früh , mußte oft erſcheinen , ſonſt kam die Sache
wohl nicht vor Vernichtung des ganzen Froſchvolkes ins helfende
Schutzgeleiſe . Auch ohne jede altertümliche Zwecktheorie iſt
alſo die Frage laut geworden : kam nicht der Entſtehung gerade
grüner Varianten doch von Beginn an etwas entgegen , ſo
daß die natürliche Zuchtwahl bloß mit ihrer ſchnellen Logik
nachzuhelfen und zu fixieren brauchte ?
Der Nachweis ſolchen Entgegenkommens brauchte wohl¬
verſtanden keineswegs in die alte Zwecktheorie zurückzufallen ,
ſondern er konnte recht ſo „ mechaniſch “ oder beſſer ſo logiſch
im naturwiſſenſchaftlichen Kauſalitätsſinne ſein , wie nur irgend
ein Teil der weiteren Darwinſchen Theorie .
Als Aper ç u wieder magſt du dir da einmal folgenden
Gedanken bei der Anpaſſungs-Zuchtwahl der Laubfröſche aus¬
geſtalten .
Es ſei jetzt nicht unterſucht , wie Farben im Einzelnen in
tieriſchen Hautzellen oder ſonſtwo entſtehen . Ich laſſe alle
mir ſoweit wohlbekannte Bildung von beſtimmten Farb-
Pigmenten mit ſo und ſo viel Mineraleinlagen beiſeite , ebenſo
alle ſogenannten Interferenz-Farben , und ſo weiter .
Ich ſage grob bildlich : Licht fällt auf eine Körperfläche .
Es iſt einfache Wirkung der Lagerung kleiner Teilchen in
dieſer Fläche , wie das Licht behandelt wird : ob dieſe Licht¬
ſtrahlen verſchluckt , jene zurückgeſtrahlt werden . Eine be¬
ſtimmte Lagerung dieſer Art bedingt beiſpielsweiſe , daß die
grünen Strahlen zurückgeſtrahlt werden , — daß alſo die
Körperfläche im ganzen grün erſcheint .
Eine ſolche Lagerung , die Grün erzeugt , haben nun die
Teilchen des grünen Blattes , auf dem der Laubfroſch ſitzt .
Wäre es nicht möglich , daß bei längerem Aufenthalt die
Teilchen ſeiner Hautdecke ſich dieſer Richtung ihrer Unterlage¬
teilchen nach Kräften annäherten ?
Du könnteſt dir das rein phyſikaliſch denken . Nimm ein
Verhältnis an wie zwiſchen zwei Drähten , in deren einem ein
elektriſcher Strom läuft und im anderen einen Induktionsſtrom
erzeugt . Oder nimm einen Kryſtall , der , in eine Löſung ge¬
taucht , eine beſtimmte „ Richtkraft “ auf die neu ſich bildenden
Kriſtalle dieſer Löſung ausübt und ſie zu ſeiner beſtimmten
Form nötigt . Ganz ähnlich ſtellten ſich Teilchen der Laub¬
froſchhaut allmählich auf die Richtung der Teilchen der Blatt¬
haut wie kleine Magnetnadeln ein — und das Ergebnis wäre
ein grün werdender Laubfroſch . Eine beſtimmte Macht
erzöge entgegenkommend grüne Varietäten . Und mit denen
hätte dann der Daſeinskampf , in dem gerade „ Grün “ hier
Schutz bedeutet , leichtes Spiel zum endgültigen Züchten einer
grünen Art gehabt ... .
Da es ſich bei der Laubfroſchhaut übrigens um lebende
Zellen ( und wenigſtens Produkte ſolcher ) handelt , ſo könnteſt
du die Sache auch „ ſeeliſch “ erzählen .
Alſo Zellteilchen der Froſchhaut empfänden durch irgend
einen eigentümlichen Reiz die räumliche Lagerung der Blatt¬
teilchen ſo lange als „ unangenehm “ , bis ſie ſich möglichſt in
derſelben Ordnung gelagert hätten . Es erfolgte alſo die Grün-
Werdung des Laubfroſchs urſprünglich aus einem Harmonie-
Bedürfnis , — doch nicht dem ſeines Gehirns , ſondern direkt
dem ſeiner Hautteilchen .
Doch einerlei , ob ſeeliſche oder phyſikaliſche Deutung : das
Ergebnis bliebe ſo wie ſo . Es arbeitete etwas der groben
Schutzausleſe im Überleben der Paſſendſten ſchon entgegen : von
Anfang an zeigte ſich eine Variations-Tendenz zu Grün , die
der Daſeinskampf bloß zu hätſcheln brauchte , um ein Geſchlecht
ſchließlich abſolut grüner Laubfröſche zu erzeugen .
Jetzt in dieſe Unterſchicht entgegenkommender Wirkungen
von den kleinen Lebensteilchen der Körperoberfläche aus hätteſt
du alſo bei den Prämiſſen der geſchlechtlichen Zuchtwahl auch
einzutauchen . ( Immer im Aperçu , nicht wahr ? ) Hier handelte
es ſich aber nicht um phyſikaliſch konforme oder ſeeliſch har¬
moniſche Anpaſſungs-Lagerungen kleiner organiſcher Deckteilchen .
Der Paradiesvogel-Mann entwickelt ja nicht rot-grün-weiße
Helgolandfedern , weil er etwa auf einem Helgoland ſitzt , wo
rot die Kant , grün das Land , weiß der Sand iſt .
Sondern es handelt ſich , um es kurz heraus zu ſagen ,
darum , ob in der organiſchen Welt ein beſonderes rhyth¬
miſches Prinzip noch walte .
Ein Prinzip , das lebendige Teile , die eine rote Feder
gebildet , zwingen könnte , aus ( phyſikaliſchen wie pſychiſchen )
Gründen daneben gelegentlich eine grüne Feder zu ſetzen und
wiederum in Ergänzung eine weiße nach der Skala ungefähr
unſeres menſchlichen äſthetiſchen Gehirn-Empfindens . Ein
Prinzip , das alſo ſolchergeſtalt , wenn ſchon in roher Anlage
nur , an einem und demſelben Tierkörper der geſchlechtlichen
Zuchtwahl ihr Material ſchon entgegengebracht hätte .
Es iſt nicht zu leugnen , daß ſolchem rhythmiſchen Prinzip
von unten auf im Organiſchen vielerlei in die Hände arbeitet .
Ich will jetzt nicht , woran du vielleicht bei der Ganz¬
natur denkſt , fragen , wer die Doppelſterne etwa ſo für
jeden Aſtronomen auffällig in Komplementärfarben geſondert
und wer die Kryſtalle gefügt hat , — das könnte zu ſehr ins
Weite und ganz Ungewiſſe verführen . Aber ſieh dir die Ge¬
bilde auf Seite 29 an , — Skelette aus Kieſelſtoff , die ſich
gewiſſe Urweſen bilden , die nur aus einer Zelle beſtehen , die
ſogenannten Radiolarien .
Dieſe Formen , in der Schutz-Praxis zum Zweck des
Schwedens gallertartiger Leiblein im freien Waſſer ausgenutzt ,
ſtellen viele Hunderte feinſter rhythmiſcher Gebilde dar , wie
ſie prächtiger kaum gedacht werden können , — von uns äſthe¬
tiſchen Menſchengeiſtern gedacht !
Und dabei Produkte einzelliger Schleimklümpchen .
Nun denke weiter an die wahrhaft berauſchende rhythmiſche
Pracht etwa von Schneckengehäuſen , alſo den Hautabſcheidungen
zwar höherer , aber doch noch gegen uns gehalten recht niedriger
Vielzelltiere . Und ſo weiter und ſo weiter .
Willſt du Bilder , ſo blättere Haeckels famoſes Tafelwerk
„ Kunſtformen der Natur “ durch .
Dieſes rhythmiſche Prinzip , wie ich es wirklich nennen
möchte , ſcheint durch die ganze organiſche Natur allenthalben
heraufzukommen und zwar als eine , wenn denn ziemlich myſte¬
riöſe Eigenſchaft aller beliebigen Protoplasmateilchen , — ſei
es nun , daß ſie ſich ſelber danach lagern , oder ſei es , daß
ſie es , wie in Radiolarienſkelett und Schneckenſchale , als
kriſtalliniſch wirkende „ Richtkraft “ in ihre abgeſchiedenen Pro¬
dukte hinein bewähren .
Nun aber etwas äußerſt merkwürdiges , obwohl im Grunde
höchſt ſimples .
Dieſes ſelbe rhythmiſche Prinzip kehrt uns wieder in
der Freude des Gehirngeiſtes der höheren Tiere an „ Schönem “ !!
Es kehrt wieder in der Kunſtempfindung bei uns Menſchen
und in dem aktiven Beſtreben , Äſthetiſches zu ſchaffen ...
Was Wunder aber ! Sind doch unſere Gehirnzellen auch
nur „ Zellen “ , ja gerade urſprüngliche Hautzellen . Iſt doch
alles „ Geiſtige “ in unſerem bewußten Sinne nur ein höheres
Stockwerk innerhalb unſerer Geſamt-Individualität , —
ein Stück höher projizierten Leibes ſelbſt .
Was unten tief darin lag als einfache Körperhandlung ,
kommt hier nur als komplizierte Geiſteshandlung auf der
gleichen Baſis wieder heraus .
Und da jetzt zeigt ſich für mich ( immer im Aper ç u ! ) der
eigentlich verknüpfende Punkt .
Der Leib bahnt Rhythmiſches in Farben an . Nicht vom
Centralbewußtſein aus . Bei den Hautteilchen für ſich , die ſich
rhythmiſch lagern . Mag wohl ſein : die Liebeszeit mit ihrer er¬
höhten leiblichen Energie giebt da einen großen Drücker . Zumal
jenſeits aller Kampf- ums Daſein-Anpaſſungen . So kommt
von hier reiches rhythmiſches , ſchon auf Schönheit geſtimmtes
Material entgegen . Das nun faßt aber das obere Stockwerk
der Liebes-Individualitäten durch das Auge und Gehirn des
wählenden Weibchens und baut es nach dem Prinzip der ge¬
ſchlechtlichen Zuchtwahl aus .
Die Schlange beißt ſich in den Schwanz . Der „ dunkle
Punkt “ erſcheint in dieſer Betrachtungsart nur wie die untere
Hälfte deſſelben Prinzips , das oben vom Gehirn aus wählt .
Unten dumpfer rhythmiſcher Drang der Hautteile , ſich , wenn
Rotlagerung gegeben , nun auch zu Grünlagerung und endlich
Weißlagerung daneben zu ordnen . Die Einzelteilchen fühlen
ſich phyſikaliſch und ſeeliſch beruhigt dabei . Zugleich aber
wirkt das nach oben in andere , höhere Zellenreſſorts als An¬
lage zu „ Schönem “ , wie man es vergeiſtigt dort faßt . Die
eigentlich äſthetiſche Ausleſe nimmt von oben jetzt das Heft in
die Hand , dirigiert die letzte plumpe Unvollkommenheit , wählt
ſo zu ſagen von tauſend Modellen ſtets wieder das vom über¬
ſchauenden Auge aus vollkommenſte — und ſchafft ſo endlich
das große Fazit in Darwins Sinn .
Es iſt das Hübſcheſte immer , wie hier das obere Prinzip
bloß als Entwickelungsſtufe des unteren erſcheint . Im Geiſtigen
bricht das Äſthetiſche ſehend und wählend aus , das unten ſchon
ein Grundprinzip der ganzen lebendigen Welt war . Die
Materie wird einmal wieder Geiſt , — weil alles Materielle
in Wahrheit ſchon von Urbeginn an ein Geiſtiges iſt . Nicht
der Geiſt ſinkt zur Materie herab , — ſondern die Materie
erſcheint als das Ur-Geiſtige .
Doch da thun ſich Fragen über Fragen noch auf . Der
Band aber will zu Ende . Es wird aus dem zweiten der
dritte Tag . Von der Liebe reden , ja das heißt kein Ende
finden . Wir ſind nun mit voller Wucht — wenn ſchon gerade
zuletzt , wie ich ſelber ſage , auf dünner Stange — ins Geiſtige
geſchritten .
Hier aber wird 's erſt eigentlich intereſſant ......
Einen Händedruck für diesmal , Freund am blauen
Weltenſee .
Und ein Wort vom alten lieben Angelus Sileſius .
„ Freund , es iſt nun genug .
Im Fall du mehr willſt leſen ,
So geh und werde ſelbſt
Die Schrift und ſelbſt das Weſen . “
Verlag von Eugen Diederichs in Leipzig Von gleichem Verfaſſer erſchien :
W. Bölsche , Das Liebesleben in der Natur . 1. Folge .
5. und 6. Tauſend . Mit Buchſchmuck von Müller-
Schönefeld . 402 Seiten . Preis broſch. M. 5.– ,
geb. M. 6.– .
W. Bölsche , Vom Bazillus zum Affenmenſchen . Ge¬
ſammelte Eſſays. 3. Tauſend . Mit Kopfleiſten von J. V.
Ciſſarz . 341 Seiten . Preis broſch. M. 4.– , geb. M. 5.– .
Inhalt : Bazillus-Gedanken — Wenn der Komet kommt ! —
Vom klaſſiſchen Boden des Ichthyoſaurus — Das Geheimnis des
Südpols — Aus dem Schickſalsbuch der Tierwelt in den Polar¬
ländern — Die Urgeſchichte des Magens — Ein lebendes Tier aus
der Urwelt — Der Affenmenſch von Java — Vom dicken Vogt —
Das Märchen des Mars .
Urteile in katholischer Weltauffassung :
Kölniſche Volkszeitung : Wir können der Arbeit von Bölſche , die Stellen
von einiger dichteriſcher Schönheit aufweiſt , den Vorwurf nicht erſparen , daß ſie von
Anfang bis zu Ende in der Vermenſchlichung des Tieres und der Vertierung des
Menſchen ſchwelgt . Das Gefühl unendlichen Ekels ergreift uns , wenn ſelbſt eine ſo
erhabene Verkörperung religiöſer Ideen , wie die Sixtiniſche Madonna , aus den
lichten Höhen der Apotheoſe in die dumpfe Atmoſphäre der Erotik herabgezogen wird .
Aber wenn die Natur alles und der Menſch nicht individuell unſterblich iſt , wie man
uns in dieſem wie in ſo vielen derartigen Büchern an der Hand der berüchtigten
Häckelſchen Heraldik und des biogenetiſchen Grundgeſetzes beweiſt , dann muß man
allerdings erotiſche Betrachtungen , wie ſie hier mit liebevoller Aufmerkſamkeit über
alle Klaſſen , Ordnungen und Familien des Tierreiches erſtreckt ſind , für die edelſte
Blüte der Hirnthätigkeit halten . Zweifellos würde einen wirklichen Natur¬
freund die trockenſte wiſſenſchaftliche Behandlung desſelben Stoffes
weit mehr befriedigen .
( Dazu bemerkt die Frankfurter Zeitung in einer politiſchen Betrachtung : Wir
laſen kürzlich in der „ Kölniſchen Volkszeitung “ eine Kritik über Bölſches „ Liebesleben
in der Natur “ , die ſehr abfällig war . Das Schamgefühl dieſes Blattes , das
etwa dem einer Maid von vierzehn Jahren entſpricht , iſt durch das
Buch verletzt worden — durch ein Buch von höchſt belehrendem Inhalt und meiſter¬
hafter Form . )
Allgemeines Litteraturblatt , herausgegeben durch die öſterreichiſche
Leogeſellſchaft : Aber der Ton , in dem der Verfaſſer dieſes Thema erörtert , iſt
der des Hymnus , des Panegyricus , des Stammelns , der halben Worte und Sätze ,
der ein myſtiſches Gewand um den Gegenſtand weben und ihn ſeiner naturwiſſen¬
ſchaftlichen Qualität entkleiden , ihn zum Gegenſtand der Dichtung , der Kunſt , des Ge¬
heimniſſes machen ſoll . Der nackte Darwinismus in ſeiner ganzen Brutalität — in
freie Rhythmen gebracht . Als Kopfleiſten findet man die aus Häckel bekannten ge¬
fälſchten Blätter des Katzen- und Menſchenembryos ( S. 44 ) und ähnliche Geſchmack¬
loſigkeiten . Für wen ein derartiges Buch berechnet iſt , Iäßt ſich nicht leicht erkennen :
der Naturhiſtoriker wird , abgeſehen davon , daß er nichts Neues daraus erfährt ,
abgeſtoßen durch die langweilige Geſchraubtheit und Umſtändlichkeit
der Sprache , der Philoſoph wird vergebens nach einem Gedanken in dem Wuſt
von Worten ſuchen ... bleibt nur die Klaſſe jener , welche der Titel oder das eigen¬
artige Umſchlagblatt verlockt . Ob es dem Verfaſſer aber gerade um dieſe Sorte von
Leſern zu thun iſt ?
Verlag von Eugen Diederichs in Leipzig
Neueſte Erſcheinungen :
Arnold , C. Fr. , Die Vertreibung der Salzburger Protestanten
und ihre Aufnahme bei den Glaubensgenoſſen . Ein kultur¬
geſchichtliches Zeitbild aus dem 18. Jahrhundert . Mit 42 zeit¬
genöſſiſchen Kupfern. Broſch. Mk. 4.– , geb. Mk. 5.– .
Die Blaue Blume . Eine Anthologie romantiſcher Lyrik von
Friedr. v. Oppeln-Bronikowski und Ludwig Jacobowski .
Broſch. Mk. 5.– , geb. Mk 6.– .
Driesmans , H. , Das Keltentum in der europäischen Blutmischung .
Eine Kulturgeſchichte der Raſſeninſtinkte. Broſch. Mk. 4.– ,
geb. Mk. 5.– .
Rossetti , Dante Gabriel , Das Haus des Lebens . Eine Sonetten¬
folge. Broſch. Mk. 3.– , geb. Mk. 4.– .
Ruskin , John , Ausgewählte Werke in vollſtändiger Übertragung.
Bd. I . Die ſieben Leuchter der Baukunst . Überſetzt von W .
Schoelermann . Broſch. Mk. 6.– , geb. Mk. 7.–.
Bd. II . Sesam und Lilien . Überſetzt von Hedwig Jahn .
Broſch. Mk. 3.–. geb. 4.– .
Salus Hugo , Ehefrühling. Gedichte . 2. Tauſend . Mit künſtleriſcher
Ausſtattung von H. Vogeler-Worpswede . Broſch. Mk. 2.– ,
geb. M. 3.– .
Schultze-Naumburg , Paul , Häusliche Kunstpflege. 2 Auflage.
Broſch. Mk. 3.– , geb. Mk. 4.– .
— Studium und Ziele der Malerei . 2. Auflage. Broſch. Mk. 44.
geb. M. 5.– .
Spitteler , Carl , Olympischer Frühling. I. Die Auffahrt . Preis
broſch. M. 2.50 , geb. M. 3.50 .
von Stendhal ( Henry Beyle ) . Rot und Schwarz . ( Le Rouge et le
Noir . ) Aus dem Franzöſiſchen von Fr. v. Oppeln-Bronikowski .
2 Bände. Broſch. à Mk. 3.– , geb. à M. 4.– .
Tolstoi , Leo , Auferstehung . Nach der einzigen ungekürzten Ori¬
ginalausgabe mit Genehmigung des Verfaſſers überſetzt von
W. Czumikow . 4. und 5. Tauſend . 3 Bände broſch. Mk. 6.– ,
geb. Mk. 8.50 , in 2 Bände geb , Mk. 8.– .
— Patriotismus und Regierung . 6. Tauſend. Broſch. Mk. –.50 .
Tschechoff , A. , Gesammelte Werke. Bd. I . Ein bekannter Herr .
Einzig autoriſierte Ausgabe . Überſetzt von W. Czumikow .
Broſch Mk. 3.– , geb. Mk. 4.– .
Verlag von Eugen Diedrichs in Leipzig
Weltanſchauungsbücher !
Julius Hart , Zukunftsland. T. der neue Gott . Ein
Ausblick auf das kommende Jahrhundert . Preis broſch.
M. 5.– , geb. M. 6.– .
— Das Reich der Erfüllung . Flugſchriften . Heft 1. Preis
broſch. M. 1.– .
In der Serie Zukunftsland , die drei Bände umfaſſen ſoll , entwickelt Julius
Hart in erſchöpfender Weiſe die Grundgedanken ſeiner neuen und originellen Welt¬
anſchauung , einer erſten Philoſophie der Entwicklung und Verwandlung , welche die
alten Gegenſätze der idealiſtiſchen und realiſtiſchen Erkenntnis überwindet und auflöſt
und die Wahrheiten der großen religiöſen und philoſophiſchen Syſteme der Vergangen¬
heit mit den Ergebniſſen der modernen Naturwiſſenſchaft zu vereinen und daraus
eine neue Auffaſſung von Werden und Vergehen der Dinge herzuleiten ſucht . Die
Flugſchriften leiten zu dieſer Weltanſchauung hinüber .
Kassner , Rudolf , Die Mystik . die Künstler und das Leben .
Über engliſche Dichter und Maler ( W.Blake , P. S. Shelley ,
John Keats , D. G. Roſſetti , A. C. Swinburne , W. Morris ,
E. Burne-Jones , Browning ). Broſch. Mk. 6.– .
m. Maeterlinck . Der Schatz der Armen . Autoriſierte
Ausgabe . Überſetzt durch v. Oppeln-Bronikowski .
Broſch , Mk. 6.– , geb. Mk. 7.– .
— Weisheit und Schicksal . Autoriſierte Ausgabe . Über¬
ſetzt durch v. Oppeln-Bronikowski . Broſch. Mk. 4.50 ,
geb. Mk. 5.50 .
In Vorbereitung ſind :
Bonus , Artuhr , Sind wir noch Christen ?
Schwann , Matthieu , Liebe ! Ein Hymnus auf das Leben .
Wille , Bruno , Offenbarungen des Wachholderbaums .
Roman eines Allſehers. 2 Bände .
Verlag von Eugen Diederichs in Leipzig
Möchten doch literariſch-artiſtiſche Unternehmungen dieſer Art
durch Alle , welche Kraft , Vermögen und Einfluß haben , gebührend
befördert werden , damit uns die große und rieſenmächtige
Geſinnung unſerer Vorfahren zur Anſchauung ge¬
lange , und wir uns einen Begriff machen können von dem , was
ſie wollen durften . Die hieraus entſpringende Einſicht wird nicht
unfruchtbar bleiben .
Goethe , Dichtung und Wahrheit .
Monographien zur deutschen
Kulturgeschichte
Herausgegeben von Dr. G. Steinhauſen .
In reich illuſtrierten , vornehm ausgeſtatteten 8—10 Bogen ſtarken
Bänden . Preis broſchiert M. 4.— , geb. M. 5.50 .
Dem deutſchen Volke die Kenntnis ſeiner früheren Kultur¬
verhältniſſe durch Wort und Bild zu vermitteln und dadurch deutſches
Volkstum und nationale Eigenart zu ſtärken und zu neuer Blüte zu
erwecken , iſt der Grundgedanke des weitangelegten Unternehmens .
Dasſelbe iſt auf ca. 30 Bände berechnet und umfaßt die Entwicklung der Stände ,
Berufe und Volksgruppen ſowie auch Sitten- und Zeitbilder . Die entwicklungs¬
geſchichtliche Darſtellung eines jeden Standes ſetzt mit dem Beginn der Kultur ein
und endet mit dem Anfang des 19. Jahrhunderts . Fern aller weitſchweifigen Ge¬
lehrſamkeit wird in anregender , leicht verſtändlicher Darſtellung ein anſchauliches
Bild unſerer vergangenen Kultur gegeben , das durch ſyſtematiſch ausgewählte Original¬
fakſimiles der Holzſchnitte und Kupferſtiche unſerer alten Meiſter wie Baldung ,
Beham , Burgtmair , Dürer , Holbein , Schäuffelein , Schongauer ꝛc.
ergänzt wird . Dadurch ſind die Monographien in hervorragender Weiſe geeignet ,
den Nibelungenſchatz der alten deutſchen Kunſt zu heben und bei billigem
Preis Jedermann zu ermöglichen , ſich an der Gefühlswelt , der Phantaſie und der
Naivität unſerer Vorfahren zu erfreuen .
Bisher erſchienen :
I . Georg Liebe , Der Soldat . Mit 183 Kupfern und Holzſchnitten .
II . G. Steinhausen , Der Kaufmann . Mit 150 Kupfern und Holz¬
ſchnitten .
III . H. Peters , Der Arzt und die Heilkunſt . Mit 153 Kupfern und
Holzſchnitten .
IV . F. Heinemann , Der Richter und die Rechtspflege . Mit 159 Kupfern
und Holzſchnitten .
V . H. Boesch , Das Kinderleben . Mit 149 Kupfern und Holz¬
ſchnitten .
VI . A. Bartels , Der Bauer . Mit 168 Kupfern und Holzſchnitten .
VII . E. Reicke , Der Gelehrte . ( Erſcheint im Oktober . )
Preis je broſch. Mk. 4.— , geb. Mk. 5.50 .
Ausgabe A altertümlich . Ausgabe B modern .