Der Weg
zur
höheren Berufsbildung der Frauen
und die
Lehrweise der Universitäten.
Von
Dr. E. Dühring.
Zweite,
verbesserte und mit Gesichtspunkten für Selbstausbildung
und Selbststudium erweiterte Auflage.
Leipzig.
Fues's Verlag (R. Reisland).
1885.
Vorrede.
Im März 1876 wurde im Berliner Rathhaus von mir über
höhere Berufsbildung der Frauen ein Vortrag gehalten, der nicht
nur bei dem zahlreich und in beiden Geschlechtern gleichmässig
vertretenen Publicum beifällige Aufnahme fand, sondern auch
durch die sich in weiteren Kreisen verbreitenden Grundgedanken
allgemeineres Aufsehen erregte. Den Aufforderungen, jenen Vor-
trag in andern Versammlungen zu wiederholen, konnte ich nicht
entsprechen, und so entschloss ich mich, um dem auch sonst mir
vielfach nahegetretenen Wunsche, meine Auffassung des Gegen-
standes näher kennen zu lernen, gehörig nachzukommen, dazu,
eine selbständige Bearbeitung des Thema erscheinen zu lassen.
Der Umstand, dass jener Vortrag die Veranlassung, wenn auch
nicht die eigentliche Ursache meiner Beseitigung von einer Ber-
liner Vorlesungsanstalt für Frauen, dem Victoria-Lyceum, ge-
wesen, machte die vorletzte Nummer dieser Schrift, mit ihrem
mehr als blos persönlichen Inhalt, nothwendig. Wie gross über-
haupt die Hemmungen sind, die von Seiten der Scheinwissen-
schaft und des gelehrten Unwesens den wissenschaftlichen und
gesellschaftlichen Bestrebungen der Frauen, in den Weg gelegt
werden, mag man aus meiner Kennzeichnung der Tendenzen
entnehmen, die sich in den gelehrten Zünften und dem zugehörigen
Unterrichtssystem im Sinne mittelalterlicher Ueberlieferung und
gegenwärtiger Corruption verkörpert haben.
Nicht blos in ihrer ersten Entstehung, sondern nach ihrem
ursprünglichen Erscheinen Herbst 1876 auch bald in ihren weiteren
Wirkungen, hat die, nun wieder neu vorliegende Schrift ganz beson-
dere Schicksale gehabt. Sie wurde Sommer 1877 neben dem Preiswerk
des Verfassers über die Principien der Mechanik mit ihrer
Kennzeichnung der Universitätszustände für die Berliner Uni-
versität einer der Vorwände, die schon lange vorbereitete
Remotion des vierzehn Jahre lang fungirenden Privatdocenten
zu bewerkstelligen. Die gegen mich agirenden Figuranten vom
Gelehrtenstande hatten sich jedoch gegen ihr Erwarten hiemit
etwas in Scene gesetzt, wodurch die Universitätszeichnungen
dieser Schrift nicht blos reichlich, z. B. durch viele Tausende
von Studentenaufrufen, im Inlande bekannt wurden, sondern auch
mehrfach im Auslande widerhallten. An diese ganze Bewegung
kann ich hier nur erinnern. In meinem Buch „Sache, Leben
und Feinde“ ist ihr ein besonderes Capitel gewidmet und ist auch
das mit der vorliegenden Schrift Zusammenhängende erläutert.
Die erheblicheren Zusätze in dieser neuen Auflage wird man
bisweilen schon aus den Zeitberufungen erkennen. Der neu
hinzugekommene letzte Abschnitt behandelt ein, wenn sich auch
verwandt anschliessendes, doch zugleich selbständiges Thema,
nämlich wieviel weiter sich ohne die Anstalten und trotz ihrer
mit Selbstausbildung und gutgewähltem Bücherstudium kommen
lasse.
Nun noch ein paar Aeusserlichkeiten! Der Abdruck des
Verzeichnisses meiner Schriften am Ende der vorliegenden ist
insofern auch ein zugehöriger Bestandtheil, als er bei den im
Verlauf der Darstellung vorkommenden Anführungen die Um-
ständlichkeiten vollständiger Titelangaben einfürallemal erspart. –
Der in andern Vorreden von mir geübten und begründeten
Gewohnheit gemäss habe ich auch diese in jedem Exemplar mit
Federunterzeichnung versehen.
Zehlendorf bei Berlin, im April 1885.
Inhalt.
VorredeIII
1) Begrenzung der Aufgabe1
2) Befähigungsfrage4
3) Aerztliche Thätigkeit11
4) Hochwissenschaftlicher Lehrerberuf von und für Frauen20
5) Weibliches Studium und heutige Universitätszustände34
6) Natürliche Vorbereitung für das praktische Hauptziel53
7) Einschaltung über die Ränke des Gelehrtenneides gegen meine Thätig-
keit für höhere Frauenbildung64
8) Gesichtspunkt für Selbstausbildung und Selbststudium81
Schriften desselben Verfassers108
Bemerkung über die Plagiirung einer derselben110
1. Begrenzung der Aufgabe.
Es ist ein Zeichen des Ueberganges zu einer höheren Civili-
sation, dass die weiblichen Bestrebungen, die überlieferte gesell-
schaftliche, materielle und geistige Vormundschaft abzuthun, zu-
gleich an ideeller Kraft und praktischer Nachdrücklichkeit er-
heblich gewinnen. Die wirthschaftlich materielle Seite der
Frauenfrage ist der praktisch wichtigste Ausgangspunkt für alles
Uebrige. Die socialökonomische Berufsstellung des Weibes ent-
scheidet durchschnittlich auch über das Maass höherer Bildung.
Nur was sich an Bildungsnothwendigkeit aus den Erfordernissen
des Berufs nothgedrungen ergiebt, kann für die grosse Zahl durch
öffentliche Einrichtungen wirklich gesichert sein. Der blosse
Reiz des Wissens ist zwar der edelste Beweggrund des höchsten
Bildungsstrebens, wirkt aber nur ausnahmsweise und hat bisher
noch nie jene breite Grundlage zu schaffen vermocht, welche den
sozusagen mittleren Menschen, also die zahlreichen Gruppen um-
fasste. Es ist also auch aus diesem höheren Gesichtspunkt er-
forderlich, die Hebel im Gebiet der Berufszweige anzusetzen...
Auch sollen sich die folgenden Darlegungen, mit Ausnahme des
letzten Abschnitts, um die wissenschaftliche Bildung durchaus
nicht an sich selbst, sondern nur insoweit kümmern, als eine solche
Bildung für das höhere Berufsleben nothwendig ist und sich da-
her von selbst einfindet, wo die neuen gesellschaftlichen Functionen
den Frauen zugänglich werden.
Im Haushalt der Gesellschaft spielen der höhere Lehrerberuf
und die ärztlichen Verrichtungen eine Rolle, die theils gar nicht,
theils nur missbräuchlich einen politischen Charakter hat. Da-
gegen gehört die Thätigkeit des juristischen Sachwalters und
vollends die des Richters schon in das staatliche Gebiet. Wer
daher das Studium des Rechts oder gar der eigentlichen Verwal-
tung mit Rücksicht auf die auch in dieser Richtung berechtigten
Ansprüche der Frauen erörtern will, muss nicht etwa blos das
Stimmrecht und die Theilnahme an den volksvertretenden Ver-
sammlungen, sondern noch weit Mehr zuvor erledigt haben. Der
politische Theil der Frauenfrage führt sehr weit; er lässt sich
sogar nur in Zusammenhang mit den socialitären Grundfragen der
ganzen Gesellschaftsverfassung entscheiden. Eine Behandlung,
die da glaubt, mit ihm in isolirter Weise vorgehen zu können,
ist theoretisch und praktisch auf einem Abwege. Bei dem heu-
tigen Stande der Sache wird die politische Frauenfrage zu einem
Theil der allgemeinen socialen Frage, und es ist auf den wenigen
Bogen, die hier zur Verfügung stehen, wohl ein in sich ab-
gerundetes Ganze, aber eben nicht eine Ausführung des politi-
schen Thema in Absicht. Trotz der Ueberzeugung von der vollen
Berechtigung eines rein politischen Programms, kann man dennoch
ein engeres und für den Augenblick, wenigstens auf deutschem
Boden, unmittelbarer zugängliches Gebiet abgrenzen, auf welchem
sich die gesellschaftlich nicht rückläufigen Ansichten weit eher ge-
danklich und thatsächlich zusammenfinden mögen, als wenn man
in Verhältnisse ausgreift, deren Verwirklichung erst einer späteren
Zukunft angehören kann. Wo man die letzten, am Horizonte der
Zukunft absehbaren Aussichten zu entwerfen sucht, wie dies auch
vom Verfasser der vorliegenden Schrift in systematischen Grund-
werken volkswirthschaftlich politischer und allgemein philosophi-
scher Art geschehen ist, da hat man auch in allen Hauptrich-
tungen mit den Gestaltungen des Geschlechterrechts abzurechnen
und nicht blos die durch Freiheit veredelte Ehe, sondern auch
die politischen und socialen Gleichheitsansprüche des Weibes in
den Grundformen festzustellen. Wo jedoch, wie in der Abgren-
zung der jetzt zu behandelnden praktischen Angelegenheit, die
heutige Gesellschaftsverfassung in ihren Hauptzügen nicht blos
der Anknüpfungspunkt ist, sondern auch einen Rahmen bildet,
innerhalb dessen schon erhebliche Reformen möglich sind, da
wäre es Thorheit, die Auseinandersetzung mit den alten Vor-
urtheilen noch durch die ganz unnöthige Hineinziehung weiterer
Ausblicke zu stören. Namentlich würde es aber schädlich sein,
die Eröffnung höherer Berufszweige für das weibliche Geschlecht
so erscheinen zu lassen, als wenn sie mit den eigentlich politi-
schen Interessen verwachsen müsste. Grade die Abtrennung
eines, ohne durchgreifend politische Umänderungen durchführ-
baren Gebiets der socialökonomischen Verbesserung der Lage
des weiblichen Geschlechts liefert einen sozusagen taktischen Vor-
theil, indem auf die Phalanx der Vorurtheile auf einem Punkte
losgegangen werden kann, wo das alte Regime seine grössten
Gebrechlichkeiten zeigt und nur noch von einer Falstaffgarde
vertheidigt wird.
Auch hat die Eröffnung höherer wissenschaftlicher Berufs-
zweige oder, wie man es auch nennt, der gelehrten Verrichtungen
vor dem anderweitigen Streben nach niedriger belegenen Ge-
werbsthätigkeiten einen Vortheil voraus. Im Bereich der gewöhn-
lichen Gewerbe und Künste geräth das Weib viel leichter in
falsche Hantirungen, und so viel auch über die unteren und
mittleren Erwerbsgelegenheiten gesagt und was auch in dieser
Richtung schon geschehen sein mag, so ist doch die Frage der
wirthschaftlichen Arbeitstheilung auf diesem Felde noch keines-
wegs gehörig entschieden. Eine geeignete Sonderung der Arbeits-
verrichtungen und geschäftlichen Functionen wird oft genug ver-
fehlt. So ist es beispielsweise äusserst fraglich, ob grade die auf-
reibende Setzerarbeit in den Druckereien in erster Linie seitens
der Frauen eine Berücksichtigung zu erfahren verdient. Ver-
sperrt soll überhaupt keine thatsächlich mögliche Function sein;
aber bei allseitig vollständiger Freiheit und Gelegenheit sollen
eben Auswahl und Erprobung erst darüber entscheiden, was für
die Anlagen, Neigungen und Leistungsfähigkeiten zweckdienlich
ist. Je mehr man sich der untersten Schicht der Frauenwelt
nähert und die Kreise der gewöhnlichen Arbeiterinnen in Betracht
zieht, um so plumper zeigen sich die Ansprüche, die man fast
ohne Unterscheidung zwischen Männern und Weibern eben auch
an die letzteren macht. Die Beschaffung billiger Arbeitskraft ist
hier der leitende Grundsatz aller unternehmerischen Auswahl,
und in ähnlicher Weise wird einige Stufen nach oben oft genug
mit humanitärem Heiligenschein die ganz gemeine Selbstsucht um-
geben, die sich unter den sogenannten gebildeten Theilen des
weiblichen Geschlechts ein neues Bewirthschaftungsfeld aufspürt.
Solchen Widerwärtigkeiten und hiemit auch aller Zweideutig-
keit oder wenigstens sachlichen Zweiseitigkeit entgeht man, so-
bald es sich um die Berufsarten handelt, zu denen eine höhere
wissenschaftliche Vorbildung vorausgesetzt wird. Hier hat das
Unternehmerthum theils gar keinen theils weniger Spielraum, und
wenn die wirthschaftliche Billigkeit der Leistungsfähigkeit in
Frage kommt, so geschieht dies unmittelbar dem Gesammtinteresse
der Gesellschaft und nicht einzelnen Unternehmern gegenüber.
Es ist alsdann jene natürliche Billigkeit oder, mit andern Worten,
ein geringstes Maass von Kostenaufwand, was, wenn es in allen
Verrichtungen verallgemeinert gedacht wird, der ganzen Gesell-
schaft und mithin auch denen zu Gute kommt, die eben nur die
natürlichen Productionskosten in gerechter Weise empfangen.
Die Sorge für Wissen und Gesundheit muss auf dem kürzesten
und sparsamsten Wege vorgehen, grade wie die Befriedigung
jedes andern Bedarfs, und deswegen ist die Einreihung der weib-
lichen Kräfte ein volkswirthschaftlicher Vortheil und würde dies
im höchsten Maasse eben dort sein, wo die natürlichen Er-
sparungen an sonst müssig bleibender Arbeitskraft Allen und
Jedem zustattenkommen. Letzteres ist aber in den selbständig
ausgeübten wissenschaftlichen Berufszweigen noch am meisten
der Fall. Die zweckmässige Vermehrung der höheren Unterrichts-
kräfte und des dem Preise nach in gehörigem Maasse benutz-
baren ärztlichen Beistandes ist ein Erforderniss, welches schon
an sich selbst die Einführung der Frauenthätigkeit in die höheren
Gebiete rechtfertigen würde. Es sind jedoch in erster Linie die-
jenigen Gründe geltend zu machen, die mit Stellung und Rolle
des weiblichen Geschlechts in unmittelbarer Beziehung stehen.
2. Befähigungsfrage.
Von denjenigen gelehrten Berufsarten, die gegenwärtig auf
Universitätsstudium beruhen, sind für die Frauen zunächst zwei
volle Drittel in Anspruch zu nehmen. Scheidet man nämlich das
juristische Fach vorläufig noch aus, so bleiben von den üblichen
vier Facultäten, da die Theologie nicht als Wissenschaft, sondern
nur als Glaubenschaft und mithin aus dem modernen Gesichts-
punkt für Null zu rechnen ist, am allerwenigsten aber bei vor-
wärts strebenden Frauen die Verirrung in das Priesterthum er-
träglich wäre, – so bleiben also von den drei zurechnungsfähigen
Facultäten die medicinische und die sogenannte philosophische,
aber hiemit eben auch zwei Drittel des gelehrten Berufswesens
verfügbar. Jene philosophisch genannte Facultät hat praktisch
nur die Bedeutung, Lehrer für die Gymnasien und Realschulen
auszubilden, und alles Uebrige an ihr ist thatsächlich ein für die
gesellschaftlichen Functionen bedeutungsloses Anhängsel. Es er-
geben sich hienach der ärztliche und der höhere Lehrerberuf als
die beiden Hauptverrichtungen, in denen die Vergleichung von
dem, was die Frauen zu leisten haben, mit dem, was jetzt auf
Universitäten geschieht, von Bedeutung werden muss.
Wenn hier zunächst an das blosse Universitätsstudium an-
geknüpft und modernere Gestaltungen, wie namentlich die poly-
technischen Schulen, vorläufig ausser Betrachtung gelassen werden,
so geschieht dies, theils um die Erörterung zu vereinfachen,
theils um grade die wurmstichigsten Stellen des hohen Unterrichts-
wesens mit Rücksicht auf die Neuschöpfung weiblicher Studien-
einrichtungen um so eindringlicher betrachten zu können. Wer
im Hohlraum der universitären Bildung, beziehungsweise Ver-
bildung, seine Aufmerksamkeit scharf nach allen Seiten gerichtet
hat und aus der von mittelalterlichen Nebeln noch stark ver-
dickten Luft in ein freieres, weniger getrübtes Bereich ausblickt,
wo sich die modernen Grundsätze ungehemmt von jenen düstern
oder schädlichen Bedrückungen entwickeln wollen, – der kann
nicht umhin, gleich von vornherein etwas Anderes zu fordern,
als etwa eine blosse Einverleibung der Frauenwelt in das bis-
herige Universitätswesen. Er wird von der Macht der neuen,
durchgreifend aufklärenden Grundsätze und Wissensbestandtheile
zu gross denken, als dass er wünschen könnte, das weibliche
Geschlecht möchte den alten gelehrten Zunftüberlieferungen ohne
Weiteres überantwortet werden und hiemit die Angelegenheit als
im grössten Maassstabe erledigt gelten.
Grade umgekehrt wird es darauf ankommen, den weiblichen
Fähigkeiten eine Bethätigungsstätte zu schaffen, auf welcher sie
ihre ganze Tragweite zu bekunden vermögen. Die alte Unter-
richtsverfassung und zugehörige Lehrart ist für diesen Zweck am
wenigsten geeignet; denn sie ist es, welche mit ihrem unnützen
Gelehrsamkeitsgerölle und ihrer überallhin verzweigten philologi-
schen Pedanterie die Frauenwelt in der That in Gefahr bringen
muss, blaustrümpfig auszuarten, nicht weil das hohe wissenschaft-
liche Studium an sich selbst das Weib aus seiner natürlichen
Bahn brächte, sondern weil die männlichen Blaustrümpfe, die in
der Gelehrsamkeit und auf den Universitäten hausen, es ihrer-
seits an der Mittheilung dieser schönen Eigenschaft an das andere
Geschlecht nicht würden fehlen lassen. Ein heutiger Molière
würde in erster Linie nicht die gelehrten Frauen, sondern die
gelehrten Männer mit seiner Komik bedenken müssen, und im
Grunde hat sich auch der alte Molière nur über solche weibliche
Unternehmungen belustigt, die auf eine Nachäfferei dessen hinaus-
liefen, was bereits an den Männern in verkehrtester Weise an-
getroffen wurde.
Stellt man also die Frage nach den Fähigkeiten der Frauen
derartig, dass man zugesehen wissen will, ob das weibliche Ge-
schlecht mit dem männlichen in der gewöhnlichen Manier des
Studiums wetteifern könne und solle, so ist mit einem Nein zu
antworten, aber mit einem Nein, welches in einem ganz andern
als dem gewöhnlichen Sinne des philiströsen Absprechens ver-
standen sein will. Die Frauen sind für das heutige gelehrte
Studium, wie es thatsächlich ist, allerdings nicht recht befähigt,
aber nur darum, weil es ihnen, solange sie auf ihrem natürlichen
Wege freier und zeitgemässer Bestrebungen bleiben, nicht in den
Sinn kommen sollte, sich die alte Zwangsjacke mittelalterlicher
Hochschulung anlegen zu lassen. Nicht sie sind für das Studium,
sondern das Studium ist für sie unzulänglich. Ihre Fähigkeiten
sind nicht etwa zu schwach, sondern im Gegentheil in ihrer na-
türlichen Unverschultheit zu stark, um die alte Lehrmanier und
deren trüben Schlendrian zu ertragen. Das weibliche Geschlecht
ist im Bereich der Wissenschaft und der zugehörigen Berufe ein
neues Element und muss unwillkürlich verjüngte Gebilde an die
Stelle der altersschwachen Gattungen des Gelehrsamkeitsbetriebs
bringen. Es muss mit seinen noch unverschulten Fähigkeiten
verhältnissmässig noch mehr leisten, als beispielsweise im Ge-
meinleben eine jugendliche Colonialgesellschaft vermag. Die
letztere wird die Ueberlieferungen des Ursprungslandes unter
neuen und freieren Verhältnissen zu frischen und wesentlich ver-
änderten Gestaltungen ausbilden, aber dabei doch auch noch viel
Vorurtheile und Thorheiten in die neue Erde mitverpflanzen. Die
Ausmerzungen des chinesenhaft Verknöcherten werden sich zwar
unter den neuen Lebensbedingungen zum Theil von selbst
machen; aber dennoch ist diese Lage keine so günstige, wie die-
jenige der Frauenwelt in dem vorliegenden Falle. Einer verrotteten
Verbildungsart gegenüber, deren üble Wirkungen im Prak-
tischen immer greifbarer werden, hat das Weib, wo es den
Boden der Wissenschaft und ihrer Anwendungen betritt, nun-
mehr von Natur- und Geschichtswegen den Beruf; die modernen
Antriebe der Umschaffung der wissenschaftlichen Welt in sich
aufzunehmen und an seinem Theil unter Widerstand gegen die
verkehrten Zumuthungen durchzusetzen. Dieser heilsame Wider-
stand wird ihm um so leichter werden, als es noch mit keiner ihm
vererbten Gelehrsamkeitsgewohnheit falscher Art belastet ist und
eben nur von den natürlichen Interessen des Wissens und wissen-
schaftlich nützlichen Waltens bestimmt wird.
Ob die weibliche Körper- und Gehirnverfassung zu schöpfe-
rischen Leistungen höchster Art in den schwierigsten Wissens-
gebieten befähige, ist für unsern praktischen Zweck eine müssige
Frage. Da aber die Verneinung derselben so oft als Einwand
gegen die weibliche Betheiligung an gelehrten Berufsarten aus-
gespielt worden ist, so sei hier doch wenigstens darauf hinge-
wiesen, wie das Genie oder, mit andern Worten, die etwas Neues
schaffende Fähigkeit mit den gelehrten Hantirungen des Arztes
oder Lehrers eben selbst nichts zu schaffen hat. Die paar
Dutzende wahrhaft schaffender Naturen ersten Ranges, die in
jeder Gattung die ganze Menschheitsgeschichte hindurch allenfalls
zusammenzuzählen sind, hatten Eigenschaften, die man doch
sicherlich nicht bei den Tausenden suchen wird, die eben nur
mit hervorragenden Talenten thätig waren, und wiederum die
wenn auch geringeren, so doch ausgezeichneten und werthvollen
Vorzugskräfte dieser Tausende werden gleichgültig bleiben, wo
es sich um das durchschnittliche Maass von Können und Wissen
handelt, welches alltäglich zur gemeinen Ausfüllung eines Berufs
genügen muss. Der Durchschnittsarzt und der Durchschnitts-
lehrer werden so ziemlich aus jedem Holze zu schnitzen sein,
wenn nur die Schnitzmaschine ins Spiel gesetzt wird. Man muss
von der wissenschaftlichen Formung der Menschen nur nicht zu
hoch denken oder gar die Eitelkeit auf blosse Dressur unbesehen
gelten lassen. Das Durchschnittserzeugniss ist, wie die Dinge
heute stehen, nun einmal eine Waare, die sich in den gelehrten
Fabriken stets fertigen lässt, wenn nur der gewöhnliche Rohstoff
und die Bearbeitungskosten nicht fehlen. Dieser Rohstoff ist
irgend ein lebendes Wesen von der Gattung Mensch, von irgend
einer Race und irgend einem Stamm, wobei so gewaltige Unter-
schiede unterlaufen, dass es wohl die grösste aller Thorheiten
sein würde, die Weiber nicht einmal als einen solchen Rohstoff
gelten lassen zu wollen. Wo die dicksten Schädel und plattesten
Köpfe, wo sogar die Hebräer, d. h. ein zur Wissenschaft un-
geschickter Stamm, noch immer gutgeheissenes Material bleiben
dürfen, da sollten Frauen, weil sie eben weiblichen Geschlechts
sind, ungeachtet einer oft unvergleichbaren Ueberlegenheit ihres
Verstandes, als von der Natur ausgeschlossen gelten?
An bedeutenden Leistungen in den schwierigsten Wissen-
schaften hat es unter den Frauen nicht gefehlt. Um nur an das
grösste Beispiel der letzten hundert Jahre zu erinnern, so über-
ragte im Gebiet der Mathematik Sophie Germain Schaaren von
Professoren und Akademikern. Die hundertjährige Wiederkehr
ihres Geburtsjahres (1776) erinnerte, wenn auch freilich ganz
geräuschlos und nur für den denkenden Geschichtsschreiber der
Wissenschaft daran, was bisher das Loos solcher weiblichen Aus-
zeichnungen gewesen ist. Sophie Germain hatte zwar die An-
erkennung Lagranges, des grössten Mathematikers der letzten
hundert Jahre, für sich, von dem Beifall nicht zu reden, den sie
von Seiten der Grössen niedern Ranges, wie namentlich von einem
Gauss, einerntete. Verglichen mit den heute tonangebenden oder,
besser gesagt, an der Oberfläche befindlichen, selbstverständlich
männlichen Persönlichkeiten, stellte sie eine Figur vor, die offen-
bar theils durch speciell mathematische Vorzüge theils durch
Ueberlegenheit des Gesammtgeistes im Ganzen einen so bedeuten-
den Eindruck macht, dass ein Hinausragen ihrer Fähigkeiten
über die Anlagen, mit denen heute die Tagesautoritäten aus-
reichen, für den Kenner der Geschichte und Gegenwart der Ma-
thematik keinem Zweifel unterworfen ist. Ueberdies war sie eine
feinsinnige Denkerin über allgemeine Wissenschaft und Philo-
sophie, und wer sich für die Ergebnisse ihres freien Blicks in
dieser Richtung interessirt, mag ausser den Anführungen in meiner
Geschichte der Mechanik auch die Gesammtkennzeichnung nach-
lesen, mit der ich ihr in meiner Geschichte der Philosophie eine
auf diesem Gebiet noch ungewohnte Erinnerung zu stiften ver-
sucht habe. Aber alle jene vorzüglichen Eigenschaften und
Leistungen haben es dennoch nicht bewirken können, dass der
Name Sophie Germains gebührend zur Erwähnung gelangt. Der
Neid der kleingeistigen Autoritätchen, die tief unter ihr stehen,
regt sich jedesmal, wenn die wissenschaftlichen Leistungen eines
Weibes neben den hölzernen Gestellen der gemeinen männlichen
Fabrikwaare an Hauptprofessoren und Hauptakademikern in
Frage kommen. Es sind daher nur die höchstbegabten und da-
her neidlosen Naturen, die gleich einem Lagrange für solche
Fähigkeiten und Verdienste die gebührende Werthschätzung
haben konnten.
Wenn die Beispiele ersten Ranges, verglichen mit denen
zweiter und dritter Ordnung, nur spärlich oder gar vereinzelt
anzutreffen sind, so entspricht dies nicht etwa blos jener Selten-
heit des Vorzüglichen, die der Männer- und Frauenwelt gemein-
sam ist, sondern es kommt im Bereich des weiblichen Geschlechts
auch noch der hochwichtige Umstand hinzu, dass hier Anregung
und Gelegenheit zum Wissenschaftsbetrieb fast gänzlich gefehlt
haben. Die gesellschaftlichen Einrichtungen beliessen das Weib
ausserhalb der gelehrten Verrichtungen, während innerhalb der
Männerwelt die Industrie der Gelehrtenausbildung ihren allge-
meinen Rohstoff, das Menschenmaterial, fortwährend in bestimmten
Mengen verarbeitete. Bei letzterer Massenproduction mussten sich
ab und zu einzelne besonders gelungene Exemplare ergeben;
denn nach Grundsätzen der Wahrscheinlichkeitsveranschlagung
sind nur bei einer grossen Auswahl regelmässige Aussichten vor-
handen, gelegentlich etwas von Natur Besseres und zugleich in
der wissenschaftlichen Cultur Erfolgreicheres hervorzuziehen. Die
Frauen sind aber nur in rein zufälliger Weise und ganz nebenbei
dazu gelangt, an der Pflege der Wissenschaften theilzunehmen.
Kein Wunder daher, dass sie in der Wissenschaftsgeschichte nur
ausnahmsweise mit eigentlichen Grössen vertreten sind.
In den Zwischen- und Halbwissenschaften, die unter dem
Niveau des strengen Denkens und der Mathematik stehen, haben
sich übrigens in neuster Zeit die weiblichen Betheiligungsfälle
vermehrt, aber nichts weiter bewiesen , als dass auch hier die
gewöhnlichen Auszeichnungen sehr wohl mit den entsprechenden
männlichen gelehrten Existenzen zu concurriren im Stande sind
und dies noch mehr vermögen würden, wenn sie sich nicht durch
den falschen Autoritätsrespect, der in ihnen der Männerliteratur
gegenüber unwillkürlich wirksam ist, beengt und niedergehalten
fänden. Miss Martineau, die Bearbeiterin des berühmten fran-
zösischen Philosophen August Comte, die Schriftstellerin in po-
pulärer Volkswirthschaftslehre und die Urheberin eines Werks
über die neuste Geschichte Englands, kann immerhin als acht-
bares Beispiel für das in den Halb- und Zwischenwissenschaften
regsam gewordene und nicht ohne Erfolg gebliebene Frauen-
streben gelten. Auch die Frau Stuart Mills, des Logikers und
Nationalökonomen, der sich den Fortschritt des weiblichen Ge-
schlechts zur gesellschaftlichen und politischen Selbständigkeit
wohl unter den früheren Autoren am meisten hat angelegen sein
lassen, – auch die Frau Stuart Mills ist nach der selbstbiog-
raphischen Angabe ihres Gatten dem letzteren oft genug eine
gute Strecke voraus gewesen. Sie hat einen nicht unerheblichen
Einfluss auf seine Schriften ausgeübt und ihr Antheil an den-
selben ist ein um so wichtigeres Zeugniss für die weibliche Be-
fähigung, als man einen Stuart Mill doch schon zu den wissen-
schaftlichen Arbeitern zweiter Ordnung rechnen muss.
Um auch das von der eigentlichen Wissenschaft und ihrer
praktischen Anwendung am weitesten abstehende Gebiet nicht
ganz mit Stillschweigen zu übergehen, so haben sich grade in
der Belletristik die Frauen bereits am umfassendsten und ver-
schiedentlich auch mit hervorragenden Leistungen geltend ge-
macht. Als Schriftstellerinnen schlechtweg sind sie thatsächlich
in der Literatur schon einigermaassen eingebürgert, und dies ist
offenbar die Folge davon, dass man ihnen nie so entschieden,
wie im Arbeiten an der Wissenschaft, so auch etwa im Spielen
mit der schöngeistigen Puppe hinderlich gewesen ist. Schon ihre
Durchschnittsbildung bringt sie mit besserer oder schlechterer
Belletristik und Allem, was daran angrenzt, mehr oder minder
in Berührung, und vom Lesen zum Schreiben ist bei begabteren
Naturen in diesem Genre kein grosser Schritt. Es giebt hier
sogar Beispiele einer höheren, ja vielleicht in einer gewissen Be-
ziehung allenfalls hoch zu nennenden Ordnung von Leistungen,
wofür George Sand ein sich der Erinnerung unwillkürlich auf-
drängender Fall ist. Diese Frau stand mit ihrer schriftstelleri-
schen Kunst doch wahrlich über einer Anzahl der namhaftesten
Schöngeister, die man bei uns, wie z. B. die Gutzkow, Gustav
Freytag, Berthold Auerbach u. dgl. zu den ersten Roman- und
Novellenvirtuosen gezählt und wohl gar zu grossen Schriftstellern
gestempelt hat. Das weibliche Geschlecht sollte jedoch auf die
Auszeichnungen dieses Genres nicht zu stolz sein. Es möge be-
denken, dass die Fähigkeiten, die sich hier zeigen, zwar bei den
Männern ganz unbedenkliche künstlerische Verdienste im Gefolge
haben können, in der Frage der weiblichen Freiheit aber darum
nicht so wichtig sind, weil jenes Spiel mit der schöngeistigen
Puppe den Weibern als eine unschuldige, wenig emancipatorische
Beschäftigung noch am ehesten gegönnt wird. Es handelt sich
aber grade darum, aus diesem Unterhaltungsgebiet herauszu-
kommen und dem Ernst des Wissens und Lebens näherzutreten.
Ueberhaupt wird die Bildungsfähigkeit zu allerlei künstlerischen
Leistungen dem Weibe am wenigsten bestritten und der Weg
dazu am wenigsten verlegt werden. Es ist aber nöthig, da einzu-
dringen, wo sich die Bollwerke des bisherigen männlichen Monopols
am ungefügigsten und die Vorurtheile am verstocktesten erweisen.
3. Aerztliche Thätigkeit.
Die praktische Anwendung der Wissenschaft findet sich in
ihrer vollen Unmittelbarkeit nur da, wo durch sie auf das ma-
terielle Wohl und auf die Gesundheit der Menschen eingewirkt
wird. Der blosse Lehrerberuf ist sozusagen eine Zwischenthätig-
keit und ist es am meisten da, wo er nicht die Anwendung der
Wissenschaft auf das Leben, sondern nur die Beschaffung von
allgemeiner oder vorbereitender Bildung zum Zweck hat. So
werthvoll letzteres Ziel auch an sich selbst ist, so kann es doch
in der Frauenfrage zunächst praktisch nur an zweiter Stelle in
Betracht kommen. Der Gang der Dinge wird und muss hier
derselbe sein, der er sonst bezüglich der männlichen Bildungs-
interessen in der ganzen Geschichte gewesen ist. An die Bedürf-
nisse der praktischen Verrichtungen haben sich Forschung und
Studium angeknüpft, und die nothwendigen gesellschaftlichen
Functionen sind die Träger, Erhalter und Vermehrer einer Bil-
dung gewesen, die nebenbei auch zu einer dem blossen Geistes-
spiel dienstbaren Speculation führte. Die selbständige Freude
an aufklärender Bildung, an erhebender Geistesmacht und schliess-
lich in der höchsten Steigerung auch am eigentlichen Denker -
und Forscherthum soll in ihrer Selbständigkeit und in ihrem vom
Dienste des Lebens unabhängigen Werth sicherlich nicht herab-
gesetzt werden. Das noch so energische Gefühl dieser Würde
wird aber bei besonnenen Naturen den Gedanken nicht aus-
schliessen, dass die praktische Sicherung bestimmter Bildungs-
elemente zuerst von der Anlehnung an solche Berufsverrichtungen
ausgeht, in deren Dienst das Wissen eine für die dringendsten
Bedürfnisse der Gesellschaft heilsame Rolle spielt. Die auf natur-
wissenschaftlichen Grundlagen betriebene Heilkunde und
Gesundheitspflege ist innerhalb der Universitätsfächer das, was mit dem
modernen Streben und Wissen die meisten Berührungspunkte hat
oder wenigstens haben kann. Wer Medicin studirt, muss wenig-
stens einen Theil der mittleren und niederen Naturwissenschaft,
also ausser den mehr beschreibenden Fächern auch schon die ein
wenig rationalisirten, wie die Physiologie, einigermaassen auf seine
Denkweise wirken lassen. Dieses bescheidene Maass, wie es in
der Bildung des deutschen Mediciners, einschliesslich derjenigen
des medicinischen Professors, durchschnittlich vertreten ist, kann
nun einerseits nicht als eine allzu grosse Zumuthung an den
weiblichen Wissenserwerb gelten, und muss doch auch anderer-
seits zu einer verhältnissmässig ganz ansehnlichen Geistesbefreiung
führen, zumal wenn man die Prüderie bedenkt, die noch immer
das der Frauenwelt auferlegte Gesetz ist.
Lassen wir jedoch diese Betrachtungen noch zur Seite, und
sehen wir uns zuerst nach dem Felde um, in welchem die medi-
cinische Praxis den Frauen unzweifelhaft natürlich und sogar
ein Bedürfniss der ganzen weiblichen Gesellschaft ist. Bis jetzt
haben, vereinzelt und ganz in der alten Manier, besonders unter-
nehmende Frauen, wo es anging, hier und da ärztliche Prüfungen
bestanden und sind so mit den Männern in gleicher Concurrenz-
reihe und genau mit denselben Ansprüchen auf eine allgemeine,
unterschiedslose und ungetheilte Ausübung aufgetreten. Es wäre
aber mindestens ebenso wichtig, dass nicht blos die Rolle, weib-
licher Arzt zu sein, sondern auch das natürliche Interesse der
Frauenwelt, für sich und ihre Töchter, ja überhaupt für ihre
Kinder weibliche Aerzte zu haben, energisch in das Spiel käme.
Ja sogar die Männer möchten vielleicht diesem Interesse auch
ihrerseits einige Beistimmung zollen, insofern es nämlich auch
ihnen nicht gleichgültig sein kann, ob das naturgesetzliche Wider-
streben des gesunden und unverdorbenen Sinnes verachtet und
das Weib gezwungen wird, da in Beziehung auf seine Zustände
und Eigenschaften körperlicher und geistiger Art im höchsten
Maasse vertraulich zu werden, wo es dies auch nicht im ge-
ringsten will oder soll. Diesen Grund mögen sich namentlich
diejenigen zu Gemüthe führen, bei denen doch sonst die Rück-
sicht auf das Wohlanständige angeblich ein so grosses Gewicht
hat. Die materialistische Naturmoral dürfte hier den männlichen
Aerzten, die jenes Widerstreben in ihrer gewohnheitsmässig ver-
schobenen Denkweise nicht anerkennen, einen argen Streich
spielen; denn sie lehrt, dass es, abgesehen von Alter oder Ab-
stumpfung, keine vertrauten Annäherungen oder Mittheilungen
zwischen den beiden Geschlechtern geben kann, ohne dass gegen-
seitige Reizungen nahelägen und mindestens die peinliche Be-
mühung nothwendig machten, da die strengste Zurückhaltung zu
üben, wo doch die Sache selbst die ungenirteste Mittheilung aller
auf die Gesundheit von Körper und Gemüth bezüglichen That-
sachen erfordert. Grade wer nicht zu den Verehrern des con-
ventionellen und in so vielen Punkten durchaus abseits gerathenen
Anstandes gehört, wird den wirklichen Naturgesetzen, wie sie
sich in den Veredelungen einer echten Cultur auszuprägen haben,
volle Rechnung tragen. Man findet es noch vielfach ungeheuer-
lich und gefährlich, dass Studirende beider Geschlechter zusam-
men denselben Vortrag anhören; aber eben dieselben Profes-
sörchen oder sonstigen Jünger des sich seltsam widersprechenden
Geistes alter Vorurtheile stellen sich lächelnd an, wenn man in
der Behandlung der Frauen aller Altersstufen durch Aerzte, die
ebenfalls allerlei Varianten der Altersentwicklung angehören, eine
lästige Unzuträglichkeit sieht. Der Rath, den Mephisto–Goethe
dem angehenden Studirenden zu Gunsten der vortrefflichen
Chancen der Medicin gab, dürfte zwar für alle Zeit die Quelle
von der er ausging, gekennzeichnet, aber doch auch ebenso eine
wohlbeobachtete Wahrheit enthalten haben und einen unver-
äusserlichen Zug der ärztlichen Praxis bilden, für den sich frei-
lich die grössere oder geringere Ausdehnung nicht statistisch fest-
gestellt findet. Dieser edle Rath bestand bekanntlich darin, die
Angelegenheiten der Gesundheit getrost dem Lauf der Dinge
anheimzugeben, da sich ja doch nichts machen lasse, und zu der
Frivolität der Wissenschaft oder vielmehr Unwissenheit die Fri-
volität des Lebens durch Benutzung der Annährungen an die
Weiber bei jeder günstigen Gelegenheit hinzuzufügen. Denkt
man auch überdies an die mannichfaltige Rolle der ärztlichen
Hauspriester, so wird man es nur um so mehr in der Ordnung
finden, dass die medicinischen Beichtväter der weiblichen Be-
völkerung doch wenigstens mit Beichtmüttern vertauscht werden,
wenn es auch überhaupt von einem modern freien Standpunkt
aus gar nicht angeht, eine Art ärztlicher Seelsorge, also irgend
ein Anstreifen der durchsichtig und klar sein sollenden Heil-
praxis an das alte, dem Kindheitsstadium der Völker angehörige
Heilpriesterthum zu gestatten. Eben um die Aerzte zu nöthigen,
aus dem Nebelreich, in welchem die Autorität ihres verschleierten
Wissens oder Wissenwollens so schön gedeiht, an das Licht her-
vorzutreten, müssen ihnen Concurrentinnen beigegeben werden,
die wenigstens in einem Hauptpunkte keine Veranlassung zu
Mystificationen haben.
Nach dem Vorangehenden würde den weiblichen Aerzten in
der natürlichsten Weise mehr als die Hälfte, ja vielleicht zwei
Drittel der ganzen Praxis gehören und mit der Zeit auch wirk-
lich zufallen. In feineren Specialitäten, wie z. B. in der Augen-
heilkunde, würde aber jener Unterschied von geringerem Einfluss
sein und auch die gemischte, nicht nach Geschlechtern getrennte
Behandlung gelegentlich platzgreifen. Im Grossen und Ganzen
würden sich die Aussichten der Frauen nicht schlecht stellen;
denn es würde mindestens die eine Hälfte der Bevölkerung von
ihren medicinischen Leistungen Gebrauch machen. Ueberdies
käme noch ein besonderer socialökonomischer Vortheil von grosser
Wichtigkeit hinzu. Medicinischer Rath und thatsächliche Heil-
hülfe würden von Seiten der Frauen nicht nur mit mehr Be-
kümmerung um das Einzelne und daher in mehr praktischer
Weise, sondern auch um einen billigeren Preis zu haben sein.
Zunächst ist unter den einmal gegebenen Verhältnissen die weib-
liche Thätigkeit stets weniger kostbar als die männliche; denn
erstens sind die Herstellungskosten der weiblichen Arbeitskraft
von vornherein geringer, und zweitens ist die Lage der weib-
lichen Bevölkerung in Rücksicht auf die Concurrenz vorerst eine
ungünstigere. Muss nun auch letzterer Uebelstand mit der Zeit
im Sinne der vollen Gleichheit verschwinden, so haben wir doch
zunächst mit den gegebenen Thatsachen zu rechnen und müssen
ihnen neben dem Schlimmen, das sie an sich tragen, auch etwas
Gutes abzugewinnen suchen. Eines wird aber auf die Dauer
einen gediegenen, mit Niemandes Schaden verknüpften Vortheil
gewähren, nämlich diejenige Preiserleichterung, die sich aus der
neuen Ausbildungsart weiblicher Aerzte von selbst ergeben muss.
Die Kosten, um welche ein Mediciner gegenwärtig producirt
und sozusagen auf den Markt gebracht wird, sind unverhältniss-
mässig und unnatürlich hoch. Sie übersteigen diejenigen jeder
andern gelehrten Berufseinrichtung und finden sich besonders
dadurch erhöht, dass ein grade für diesen Beruf unnützer Gelehr-
samkeitskram die gymnasiale Vorbildung und die universitäre
Ausbildung stark belastet. Billige Aerzte werden immer unmög-
licher, je grösser der Contrast zwischen den künstlichen Bildungs-
oder auch Verbildungsanforderungen und den wahren Gesell-
schaftsbedürfnissen wird. Ein Wiener Professor, den ich übrigens
für die Betrachtung dieser Dinge nicht etwa als Muster empfehlen
möchte, Herr Billroth, hat in einer auf das Studium der Medicin
bezüglichen Schrift das ökonomische Geheimmittelchen ausge-
plaudert, auf welches er den Geschäftsbetrieb der jungen Aerzte
gegründet wissen will. Nach seiner Ansicht wäre das Studium
der Medicin nur für tüchtig bemittelte Gesellschaftselemente da,
und übrigens gehört es nach ihm zu den empfehlenswerthen
Hauptmaximen der medicinischen Laufbahn, eine reiche Heirath
zu machen. Ein Ehegeschäftchen von finanzieller Ergiebigkeit
gehörte also zur medicinischen Ausstattung, und die Frage von
unserm Standpunkt bleibt nur die, was das Ersatzmittel jenes
herrlichen Receptes für die auf eine medicinische Praxis aus-
blickenden Frauen sein solle. Etwa reiche Männer zu heirathen?
Aber diese sind keine Waare, die wie das Weib mit einer be-
stimmten Mitgift angeboten und für die zweifelhafte Ehre und
Annehmlichkeit einer betitelten Geschäftsehe losgeschlagen wird.
Hier versagt daher der Humor, und man wird sich wohl nach
nicht corrupten, in der Natur der Sache gegründeten Ueber-
legungen umthun müssen.
Die natürlichen Herstellungskosten eines zur ärztlichen Thä-
tigkeit hinreichend ausgebildeten Menschen werden in einem ge-
sunden Verhältniss zu den späteren Einkünften stehen, sobald
man sich all das unnütze, ja schädliche Gerölle der altsprach-
lichen Verschulung und der mittelalterlichen Universitätsmanier
mit ihren unsäglich langen und doch verhältnissmässig so uner-
giebigen Lernzeiten und einseitigen Vorlesungsabhaspelungen hin-
weg und durch ein zweckmässigeres System ersetzt denkt. Unter
letzterer Voraussetzung wird auch die ärztliche Stellung in der
Gesellschaft eine gesundere werden; denn gegenwärtig krankt sie
an einer schlecht mit der Gewerbefreiheit stimmenden Monopol-
sucht. Eine vielfach unter den Aerzten verbreitete Ansicht ist
ungefähr die, welche der vorher genannte Professor in Rück-
sicht auf Reichthum und Heirathen mit recht ungenirtem Vorwitz
und unabsichtlicher Komik zum öffentlichen Besten verrathen
hat. Aber dieses eheliche Auskunftsmittel ist keine überall mög-
liche Gründungsmanipulation. Die Etablirung des Arztes ist, wie
dies in Grossstädten besonders sichtbar wird, ein sehr gewagtes
Geschäft, dessen bedeutendes Risico, wie die Dinge einmal liegen,
allerdings Capitalreserven verlangt und häufig genug diese letz-
teren verzehrt, ohne zu einem nennenswerthen Ergebniss zu
führen. Es erklärt sich daher sehr wohl, wenn die Aerzte nach
Zwangs- und Bannrechten über das Publicum haschen und sich
zugleich von den Resten gesetzlicher Pflicht befreien lassen. Die-
selben Aerzte, die in den gesetzgeberischen Körperschaften dafür
sorgten, dass kein Verunglückter, der schleunigen Beistand braucht,
auf ihre Hülfe bei Tag oder Nacht das alte herkömmliche Recht
behielte, vermöge dessen der Doctor kommen und sich wohl
auch aus dem Bett bemühen musste, wenn und wo er zu Hülfe
gerufen war, – derlei Aerzte, unter denen manche den ökono-
mischen Cynismus bis zur Forderung der Vorausbezahlung und
zur Versagung des Beistandes an nicht sofort Zahlungsfähige
treiben, – eben solche Aerzte sind dem Publicum mit dem Impf-
zwang ins Geblüt gefahren, und man kann nicht umhin, hierin
eine ganz hübsche künstliche Erweiterung der erzwungenen Nach-
frage nach ihren Diensten zu sehen. Auch die Hebammen sind
ihnen als ausgedehnte Concurrentinnen in der weiblichen Geburts-
hülfe nicht mehr recht, und allerdings würde es eine erkleck-
liche neue Besteuerung des Publicums geben, wenn letzteres
einmal nur die Wahl haben sollte, die theuren Preise für die ärzt-
liche Geburtshülfe zu bezahlen oder auf alle und jede Hülfe zu
verzichten. Die Preissätze, welche die Aerzte der früheren staat-
lichen Gebührentaxe in Preussen untergeschoben haben, mögen
zwar ganz gut zu den Bedürfnissen des grossstädtischen ärzt-
lichen Comforts passen, sind aber sehr wenig geeignet, die Kluft
zwischen Angebot und Nachfrage nach solchen theuren Diensten
zu vermindern. Die wachsende Monopolsucht ist zum Theil eine
Folge dieses Missverhältnisses und steht daher nur scheinbar mit
der Gewerbefreiheit in Widerspruch. In Wahrheit befindet sich
der Berufsstand der Aerzte in einer ökonomischen und gesell-
schaftlichen Krisis, die von der Halbheit seiner Lage herrührt
und auch die gesteigerte Feindseligkeit gegen weibliche Con-
currenz einigermaassen erklärt.
Die medicinische Thätigkeit ist im Bereich der preussisch -
deutschen Gesetzgebung oder, um es amtlicher auszudrücken,
innerhalb des Reichsgebiets, insoweit ein freies, von allen Voraus-
setzungen unabhängiges Gewerbe geworden, als nicht der Titel
Arzt oder irgend eine solche Bezeichnung als Aushängeschild
gebraucht wird, die bei dem Publicum den Glauben erwecken
würde, dass sich Jemand als staatlich geprüfter Praktiker an-
kündige. Uebrigens mag Jedermann und zufolge des Fehlens einer
gesetzgeberischen Beschränkung auch jede Frau die Heilpraxis
ausüben. Dies ist wenigstens das Princip und auch schon in
ziemlichem Umfang eine Thatsache; denn die Klagen der privi-
legirten Aerzte über die sogenannte Pfuscherconcurrenz sind gar
gross. Indessen fehlt doch noch viel, dass alle entgegenstehenden
Inconsequenzen der alten Gesetzgebung dem neuen Princip der
Gewerbefreiheit eine vollere und würdigere Entfaltung verstatteten.
Die Apothekerei beruht noch immer auf vererbbarem Monopol
und auf Concession mit herkömmlicher und thatsächlich sehr
enger Begrenzung der Anzahl dieser Medicamentfabriken.
Der Hauptmangel aber, weswegen die an sich in dem gegen-
wärtigen Gesellschaftssystem durchaus heilsame Gewerbefreiheit
zunächst zu manchen Unzuträglichkeiten und zwar besonders für
die bisherigen Monopolisten führt, ist die Halbheit der Maass-
regel. Auf der einen Seite hat man die medicinische Thätigkeit
einigermaassen freigegeben, aber nur zu einer von vornherein
degradirten und daher schon deswegen nicht immer die besten
Elemente anmuthenden Ausübung. Auf der andern Seite hat
man die bisherige Monopolgruppe, welche jetzt nur noch halb-
privilegirt ist, in dem ungefügigen Gestell einer veralteten Bil-
dungs- und Verbildungszurüstung stecken lassen, ohne zu be-
denken, dass auf dem freien Markte des Lebens, wo zum Con-
currenzlauf doch wohl Beine von Fleisch und Blut gehören, das
hölzerne Stelzenwerk der gymnasialen, namentlich aber der univer-
sitären Dressur mit Altsprachlichkeit und Scholastik ein nicht blos
für die Hauptsache an sich hinderlicher, sondern auch viel zu
kostspieliger Apparat ist. Die vergeudete Zeit und der im Hirn
beengte Raum, wo etwas Besseres und Praktischeres hätte platz-
finden sollen, sowie die baaren Auslagen für brodlose, auf Geistes-
pedanterie auslaufende Künste, – das sind Hemmnisse, durch
welche die natürliche Gestaltung der Berufsausübung und ihre
freie ökonomische Anpassung an die Bedürfnisse der Gesellschaft
hintertrieben werden. Es giebt also nur ein einziges Mittel, die
Herstellung des gestörten Gleichgewichts herbeizuführen, und
dies besteht darin, aus dem Halben etwas Ganzes zu machen und
die Befähigungsbürgschaften, soweit deren die Gesellschaft über-
haupt noch in staatlicher Weise zu bedürfen glaubt, blos in der
öffentlichen Bezeugung der nach natürlichen Grundsätzen für den
praktischen Zweck erforderlichen Vorkenntnisse bestehen zu
lassen. Hienach hätte man die Art, wie Jemand zu seinem
Wissen und Können gelangt ist, nicht zu untersuchen, sondern
nur sein fertiges Wissen und Können an sich selbst zu prüfen
und zu veranschlagen. Auch der höhere und hohe Unterricht
wäre hiemit frei, und es könnte sich Alles nach Maassgabe der
lebendigen Bedürfnisse gestalten. Doch ich will hier diesen Aus-
blick nicht verfolgen. Ich habe auf den Mangel an Folgerichtig-
keit und auf die entsprechenden Uebelstände nur hingewiesen,
um für das weibliche Geschlecht einen andern Weg der Aus-
bildung in Anspruch zu nehmen.
Dieser leichtere, billigere und für die Hauptsache dennoch
erfolgreichere Weg schneidet auch gänzlich einen beliebten Ein-
wand ab, der aber auch sonst nicht viel zu bedeuten hätte. Die
Aerzte sind häufig sehr zartfühlend für das weibliche Geschlecht
und stellen sich äusserst besorgt an, dass die armen Frauen unter
der Last einer so schwer erlernbaren und schwer auszuübenden
Kunst zusammenbrechen möchten. Sie weisen auf die weibliche
Körperverfassung hin und geben sehr weise zu bedenken, dass
die grossen Vorstudien und Studienthaten, in denen sie selbst,
mit ihren männlichen, von der Natur anderweitig weniger in
Anspruch genommenen Kräften, fast aufgerieben worden wären,
nichts für ein Geschlecht sein könnten, dem schon die Natur
ganz andere erschöpfende Aufgaben gestellt und allerlei zugehörige
Störungen der normalen Leistungsfähigkeit aufgebürdet habe.
Nun ist es allerdings eine Einrichtung zum Blasirtwerden, dass
Jemand nach Abmachung des ersten Elementarunterrichts noch
ein Jahrzehnt die Gymnasialbank drücken, alsdann mindestens
vier zünftlerische Lehrjahre auf den Universitäten absitzen und
schliesslich noch einige formelle Extrastationen als Hülfsmaterial
für die Krankenhäuser ertragen muss, ehe er dazu gelangt, wirk-
lich selbständig zu lernen d. h. in erster grüner Experimentalpraxis
oder besser als Assistent eines gewiegten Privatpraktikers
ein wenig in die Wirklichkeit der Heilkunde eingeweiht zu werden.
Das Lebensalter ist alsdann über Gebühr vorgerückt, das Er-
gebniss aber ungeachtet oder vielmehr vermöge aller Prüfungs-
chicanen, die zu neun Zehnteln auf unnützen Kram hinauslaufen,
in Wissen und Können ein unbefriedigendes und die praktische
Aussicht nicht verlockend. Jeder scheut sich vor einem jungen
unerfahrenen Arzt; denn wenn er es auch nicht mit allen Gründen
nachweisen kann, so ist er doch aus den bisherigen Wahrneh-
mungen der Gesellschaft davon unterrichtet, dass der maassgebende
staatliche Vorbildungsgang keine Bürgschaft für unmittelbar bereites
Wissen und Können bietet. Es wird also der Armuth und Noth
überlassen bleiben, den Stoff für jene tastende, jedenfalls aber
unreife Experimentalpraxis zu liefern, auf welche selbst bei be-
gabteren und unternehmenden Naturen doch mindestens ein halbes
Jahrzehnt zu verrechnen ist; denn hier beginnt erst das eigent-
liche Lernen. Auch beginnt hier erst die Gewöhnung an ge-
legentliche Berufsstrapazen, und es ist allerdings der beste Theil
des Lebens vernutzt, wenn der Mann dazu kommt, wahrhaft
selbständig und in seinem Berufsgebiet zu Hause zu sein. Es
mag also den Medicinern nicht übel genommen werden, wenn sie
von der Kräfteauszehrung, der sie auf ihrem Lernwege anheim-
fallen, viel Aufhebens machen und das weibliche Geschlecht ab-
schrecken zu müssen glauben. Wenn sie aber überhaupt die ge-
legentlichen Strapazen der wirklichen Praxis so hoch veran-
schlagen, dass sie den Weibern die physische, moralische und
geistige Fähigkeit absprechen, den verschiedenen Vorkommnissen
gewachsen zu sein, so mögen sie sich doch erinnern, dass sie
anderwärts, wo es sich nicht um Concurrenz handelt, die Frauen
für Strapazen ganz zurechnungsfähig erachten. Oder sind die
Leistungen der weiblichen Krankenpflege im Frieden und im
Kriege etwa nicht oft noch angreifender, als die eigentlich ärzt-
lichen Hantirungen, die sich, abgesehen von der Chirurgie, meist
auf blosse Anordnungen beschränken und sich von den gröbern
Unannehmlichkeiten meist in vornehmer Ferne zu halten wissen?
Das Weib, welches dazu ausreicht, die schwersten und gefahr-
vollsten unter den niedern Krankendiensten zu verrichten, soll
seltsamerweise für die feineren eine zu zarte Leibes- und Hirn-
verfassung haben! Die Frauen, die man als Wärterinnen und in
der Krankenpflege nicht genug rühmen kann und deren gesell-
schaftliche Berührung mit dem Aerztepersonal der Krankenhäuser
keinen Anstoss erregt, sollen mit einem Mal aus ihrer
Natursphäre weichen, wenn sie danach streben, an Wissen und Thun
der Aerzte theilzunehmen. Fort also mit diesem gebrechlichen
Einwand, der, genauer besehen, ein blosser Vorwand ist! Man hat
doch sonst nie gezögert, das Weib zur Trägerin der schlimmsten
Lasten zu machen und ihm die Dulderrolle aufzuzwingen. Was
Frauen ertragen konnten und mussten, lehrt die Geschichte der
Gesellschaft in grossen Zügen und beweist jeder unbefangene
Blick auf das Loos der Masse des weiblichen Geschlechts. Die
schlimmere Arbeit ist stets auf den schwächeren Theil abgewälzt
worden und zwar um so mehr, je roher ein Stamm und je
unentwickelter eine Civilisation war. Das Weib ist aber überall
innerhalb der reinen Gewaltverfassungen, die bis auf den heutigen
Tag dauern, der schwächere Theil gewesen, und so erklärt es
sich, dass auf seinen Schultern wohl die unvortheilhafteren Lasten
gehäuft, aber von eben diesen Schultern das Gewicht derjenigen
Würden, die das selbständige Leben fördern und für dasselbe
Etwas eintragen, zärtlichst ferngehalten worden ist und mit
rührender Sorgfalt noch immer abzuwenden versucht wird.
Was in der That von der Frauenwelt ferngehalten werden
soll, sind nicht die nach dem Vorurtheil zu schweren Berufs-
fächer höherer und wissenschaftlicher Art, sondern die falschen
Ausrüstungs- oder vielmehr Bepackungsarten, mit denen man die
Reise zu solchen Standorten gesellschaftlich bevorzugter Functionen
in der unnatürlichsten Weise erschwert und verlangsamt hat. Die
eingehende Besprechung dieser Uebelstände des hohen Unter-
richtswesens wird jedoch im Laufe dieser Schrift erst dann ge-
hörig stattfinden können, wenn zuvor ähnliche praktische Ueber-
legungen, wie für das medicinische Fach, auch für das hoch-
wissenschaftliche Lehrerthum der Frauen angestellt sein werden.
4. Hochwissenschaftlicher Lehrerberuf von und für
Frauen.
Einen hohen Unterricht, welcher auch nur auf der Stufe des
universitären stände, giebt es für das weibliche Geschlecht in
einer eigens organisirten Weise noch nicht. Die hier und da
vereinzelt platzgreifende Zulassung zum Anhören von Universi-
tätsvorlesungen trägt nicht nur ganz und gar den Ausnahme-
charakter an sich, sondern würde auch, selbst wenn sie sich an
Umfang etwas erweiterte, völlig systemlos bleiben, da hiemit
weder für eine vorangehende gehörige Vorbereitung, noch für
einen nachfolgenden praktischen Beruf gesorgt wäre. Will das
weibliche Geschlecht sich den Eintritt in die Lehrerfunctionen
oberster Ordnung sichern, so muss es zunächst dafür sorgen, dass
innerhalb seiner eignen Welt derartige Dienste regelmässig ge-
braucht werden. Striche man aus den allgemeinen Bildungsein-
richtungen der männlichen Welt etwa die Gymnasien und Real-
schulen, so könnte es auch auf den Universitäten die sogenannte
philosophische Facultät in praktischer Bedeutung gar nicht mehr
geben. Da diese Facultät es nämlich ist, deren Thätigkeit für
Gesellschaft und Staat wesentlich darin aufgeht, Lehrer für die
Stätten der höhern allgemeinen Bildung zu produciren, so würde
sie selbst beseitigt, wenn man jene Schulen der benachbarten
Stufe hinwegnähme. Nur weil für das männliche Geschlecht ein
allgemeines Bildungsniveau höherer Art für viele staatliche und
gesellschaftliche Berufszweige ein anerkanntes, ja vorgeschriebenes
Erforderniss ist, kann auch jene höchste Position des Lehrer-
thums existiren. Die ganze Nachfrage nach Universitätsprofessoren
der Bildungswissenschaften, also der Mathematik und Physik auf
der einen und der sprachlichen Gelehrsamkeitszweige auf der
andern Seite, beruht darauf, dass alljährlich Schaaren von einstigen
Anwärtern auf gymnasiale, realschulmässige oder verwandte Lehr-
fächer in Vorbereitung zu nehmen sind. Die beiden Schichtungen
des Unterrichts, nämlich die des höhern und die des höchsten,
sind also derartig beschaffen, dass die eine gleichsam socialöko-
nomisch auf der andern ruht, und dass die Nachfrage nach hohem
Unterricht nur platzgreifen kann, wenn überhaupt über die Haupt-
stufe der höhern allgemeinen Bildung entschieden ist.
Eine solche Entscheidung steht aber für die Frauenwelt noch
aus, und allein in ihrer Durchsetzung wird das Schwergewicht
aller Bestrebungen zu suchen sein, welche den obersten Lehr-
beruf für die Frauen erringen wollen. Man gestehe zu, dass et-
was Aehnliches wie die Gymnasien und Realschulen, aber freilich
etwas im modernen Sinne, für die weibliche Bildung nothwendig
ist, und man hat zugleich die Schöpfung einer neuen Lehr-
industrie mit Unter- und Oberbau eingeräumt. Das Wort In-
dustrie, welches hier mit Absicht gebraucht ist, erinnert zugleich
an ein volkswirthschaftliches Verhältniss von grosser Wichtigkeit.
Einen neuen Thätigkeitszweig einführen, heisst soviel, als eine
Menge von Nachfrage nach Arbeitskraft schaffen, die ohnedies
keine Verwendung oder wenigstens keine gleich ergiebige und
einträgliche Verwendung hätte finden können. Ueberhaupt ist
die Einführung neuer nützlicher Verrichtungen und des zuge-
hörigen Systems von Einrichtungen eine dauernde Erhöhung und
Veredlung der gesammten Gesellschaftskraft. Es wächst hiedurch
dem Gemeinleben ein neues Organ zu, vermöge dessen es seine
Macht über die Dinge und seine Fähigkeit zu gegenseitigen Ver-
kehrsleistungen steigert. Die Herausbildung einer neuen mate-
riellen Industrie lässt sich hienach in dem Haushalt der Gesell-
schaft sehr wohl als ein Musterbeispiel betrachten, an welchem
auch gelernt werden kann, was die Beschaffung eines erweiterten
Lern- und Lehrgebiets zu bedeuten habe. Bisher konnte für die
Frauen von einem höhern Lehrerberuf im ernsten Sinne dieses
Worts nicht die Rede sein, weil es an Schülerinnen und An-
stalten dieser Gattung fehlte. Was man höhere Töchterschulen
nennt, gehört in das Bereich einer äusserst unzulänglichen, sich
nicht viel über die Stufe des Elementaren erhebenden und über-
dies abseits gerathenen Bildung. Es wäre nicht der Mühe werth,
über das weibliche Lehrerthum an solchen Anstalten hier noch
mehr Worte zu verlieren. Die zum Theil mögliche Zulassung
der Frauen zu solchen Lehrverrichtungen ändert an dem that-
sächlichen Monopol der Männer auch in dieser Sphäre nur wenig
und kann es auch nicht, solange das weibliche Geschlecht ganz
ausserhalb einer geordneten Organisation der Ausbildung von
höheren Lehrkräften belassen wird. Was daher, ich sage aus-
drücklich nicht etwa umzuschaffen, sondern überhaupt erst zu
schaffen sein wird, ist das weibliche Publicum, welchem das Be-
dürfniss einer höhern, sozusagen gymnasialen Vorbildung als ge-
sellschaftliche und staatliche Nothwendigkeit anhaftet. Mit dieser
Nothwendigkeit werden dann auch weibliche Hochschulen und
weibliche Gegenstücke der Professoren erforderlich oder, mit
andern Worten, Ausüberinnen jenes hohen Unterrichts, von dem
die Bildung der höheren Lehrerinnen ausgeht.
Es ist stillschweigend vorausgesetzt worden, dass auch in
den höhern und hohen Schulverrichtungen, ganz wie im Bereich
der Medicin, die Frauen ihr Publicum in ihrer eignen weiblichen
Welt zu suchen und sich dort eigne Institutionen zu schaffen
haben. Der Grund, aus welchem diese Arbeitstheilung zwischen
den Geschlechtern platzzugreifen hat, ist in den höhern und
höchsten Lehrfächern noch entscheidender als im medicinischen
Beruf. Im letztern ist es die ganze weibliche Welt aller Alters-
stufen, die man sich als Publicum zu denken hat; die distinguirte
Lehrverrichtung wendet sich aber wesentlich an die weibliche
Jugend und zwar vornehmlich in den Stadien der Entwicklung
und der Blüthe. Bisher kam von diesen letzteren Altersstufen
hauptsächlich nur die erste, noch physisch und demgemäss in
allen Beziehungen noch ziemlich unreife in Frage; aber dennoch
hat es an Unzuträglichkeiten, die sich von dem Männerunterricht
her einstellten, wahrlich nicht gefehlt. Allerdings hat der Staat
in seiner hochweisen Fürsorge den deutlich sprechenden Grundsatz
zur Geltung gebracht, dass an Mädchenschulen nur verheirathete
Männer zu fungiren haben. Er hat hiemit eingestanden, welchen
Bedenken er zu begegnen strebt; aber seine Rechnung ist doch
eine unzulängliche, ja zum Theil philisterhafte. Sie mochte einiger-
maassen zutreffen, solange altväterische Sitte noch im Schwunge
und die Ehe als eine halbwegs verlässliche Bürgschaft gegen
Ausschreitungen gelten konnte. Angesichts der neusten und
heute mehr als je fortschreitenden Sittenzersetzung dürfte jedoch
jene Vorkehrung sammt allen besondern Strafgesetzen, die den
Missbrauch des Lehrer- und Schülerverhältnisses betreffen, nur
einen unzureichenden Damm ergeben. Auch handelt es sich in
den hier fraglichen Beziehungen nicht einzig und allein um
gröbere Sitten- und Anstandsverletzungen, sondern um jene
feineren, für kein Gesetzbuch, ja nicht einmal für disciplinarische
Wahrnehmung erfassbaren Ungehörigkeiten, die darauf hinaus-
laufen, dass die natürliche Unbefangenheit des Fühlens und
Denkens durch falsche geistige Reizungen irregeleitet und gestört
werde. Derartige verkehrte Anregungen der Gemüthsverfassung
liegen aber naturgesetzlich sehr nahe, wenn man erwägt, welche
Gegenstände schon jetzt in der kaum über das Elementare zu
einigen belletristischen Verzierungen hinausgelangenden Mädchen-
bildung zu berühren sind, und um wieviel ernstlicher später bei
der höhern Schulung die Hauptfragen des Leidenschaftslebens
der Menschheit in Betracht kommen müssen. Es ist vielfach ein
eitler Conventionalismus, von dem die hohle und alberne Prüderie
mit all ihrer unvermeidlichen Heuchelei geschaffen wurde; aber
es ist ein naturgesetzliches Gebot, dass da nicht Vertrauen und
Unbefangenheit verlangt werde, wo so etwas den Sachverhält-
nissen nach unmöglich ist. Wo die Natur das Weib anweist, auf
der Hut zu sein, da ist es ein Verstoss gegen alle gesunden
Regeln des Verhaltens, wenn man die thörichten und störenden
Situationen willkürlich schafft und gar in öffentlichen Einrich-
tungen verkörpert. Das Weib wird das Beste, was es einst
lernen mag, nur vom Weibe selbst lernen können; denn nur hier
ist ein hinreichendes Maass von unbefangener Mittheilung und
Erörterung sowie von einer natürlich bildenden Einwirkung auf
die Gefühlsgestaltung der Schüler möglich. Ueberweise Kritiker
könnten zwar das von mir in den Vordergrund gerückte Princip
übertreiben wollen und so versuchen, seine hohe Naturbedeutung
abzustumpfen. Sie könnten geltend machen, dass auch zwischen
Frauen sittliche Missverhältnisse möglich wären, und dass, wer
diesen nicht vorbeugen könne, sich auch nicht einfallen lassen
solle, an dem herrlichen Männerunterricht moralisch zu mäkeln.
Auf diesen Einwand erwidere ich im Voraus, dass allerdings ja
auch die Schulen für junge Leute männlichen Geschlechts nicht
so ganz frei von Verhältnissen bleiben, die auf einer Sittenver-
irrung zwischen Lehrern und Schülern beruhen; dass aber diese
Verstösse gegen die gesunde Natur eben Abnormitäten sind, die
man zu bekämpfen hat, während im Falle der Verschiedenheit
der Geschlechter die allernormalsten Naturgesetze selbst die ver-
werflichen Störungen verursachen.
Auf die Gefahr hin, von Leuten mit einem engen Horizont
gradezu der moralischen Pedanterie angeschuldigt zu werden,
habe ich das entscheidende Grundverhältniss gekennzeichnet,
welches bei dem männlichen Unterricht junger Mädchen und
zwar ganz besonders dann störend werden muss, wenn ein
Schülerinnpublicum in Frage kommt, welches der heute üb-
lichen Altersstufe um einige Jahre voraus ist. Weibliche Stu-
dirende, das Wort Studirende nach altem Stil als blosse Anhörer
einer trocknen Universitätsvorlesung verstanden, mag man sich
in ihrem Verhältniss zum sogenannten Lehrer hinreichend apa-
thisch denken, um von keiner Seite affective Anregungen zu be-
sorgen, zumal wenn der Professor activ und passiv über alles
Menschliche hinaus und von ihm sozusagen nur das nöthige
Gestell übriggeblieben ist, um die dürren vergilbten Blätter seines
ihm ebenbürtigen Heftes umzuschlagen. An diese aus dem
frischeren Menschenleben ausrangirten Adressen, unter denen sich
vielleicht auch einige Autoritäten finden, mag man sich allenfalls
halten, wenn es gilt, für die Frauen die formelle Brücke auszu-
spähen, auf der sie, ehe ihre eignen Einrichtungen geschaffen
sind, zu den allerersten Berechtigungen und Zeugnissen gelangen
können. Derartige vertrocknete Harmlosigkeiten stellen aber
glücklicherweise nicht das Gesetz der frischen und gesunden
Natur dar und sind am allerwenigsten da zu gewärtigen, wo es
sich um einen lebensvollen, womöglich auf gegenseitigem Ge-
dankenaustausch beruhenden Unterricht höherer und höchster
Art handeln soll. Hier wird grade das Weib für das Weib der
natürlichste Beistand sein, und diese Wahrheit wird gelten, auch
ohne dass man soweit geht, etwa mit Sokrates die wahrhaft
wirksame Belehrung in einer Art geistigen Geburtshülfe zur Ent-
bindung der eignen Gedanken des Lernenden suchen zu wollen.
Das Lehrerthum männlichen Geschlechts, welches sich vor-
wiegend im Besitz der Lehrstellen an sogenannten höhern Töchter-
schulen befindet, weiss nicht genug von seiner eignen Ueber-
legenheit zu rühmen. Die weiblichen Lehrkräfte sind ihm nur
Existenzen zweiter oder, sagen wir lieber gleich, dritter Classe;
denn zwischen der didaktischen und pädagogischen Grösse der
Männchen und derjenigen der Weibchen muss natürlich noch
eine unausgefüllte Kluft bestehen und eine Nummer offengelassen
werden. Diese Eitelkeit ist nun unter allen Umständen übel an-
gebracht und könnte in ihrer Hohlheit leicht aufgedeckt werden,
wenn man sich die Mühe nähme, die Kenntnisse und die Lehr-
virtuosität der fraglichen männlichen Unterrichtsfunctionäre nach
absolutem Maass zu veranschlagen. Indessen mag, wie die Dinge
sich heut stellen, allerdings relativ ein Unterschied bestehen, der
darauf beruht, dass die Ausbildung in den Schulen für weibliche
Lehrerinnen unzureichender ist, als die mannichfaltigen Gelegen-
heiten, die für die Zurichtung männlicher Lehrkräfte vorhanden
sind. Es sind hienach ungleichartige Vorbildungsfrüchte, die mit-
einander concurriren, und man muss sich noch wundern, dass
Angesichts dieser Benachtheiligung überhaupt von weiblicher
Seite noch einige Concurrenz möglich bleibt. Sieht man sich die
Bildung derjenigen weiblichen Lehrerinnen an, die ihre Kennt-
nisse und ihre Einschulung beispielsweise solchen Anstalten, wie
dem Berliner Seminar, zu verdanken und die entsprechende Prü-
fung gehörig bestanden haben, so ist dieser höchste Gipfel, zu
dem bis jetzt die Frauen im Lehrfach gelangen, allerdings in
einem sehr bescheidenen Niveau verblieben. Das Wachsthum des
Bäumchens ist sorgsam bemessen, und überdies eine natürliche
Erhebung in grader Linie noch durch das niederziehende Ge-
wicht von allerlei Verbildungsmaterial unmöglich gemacht. Die
Quälerei ist gross und das Ergebniss klein; aber wie sollte es
auch anders sein in Zuständen, in denen man die weiblichen
Lehrkräfte nachher oft in so herrlich verkehrter Weise vernutzt,
indem man sie, wie dies beispielsweise die Stadt Berlin aus dem
Grunde verstanden hat, die sonst für so zart ausgegebenen
Anlagen in einer recht groben Hantirung, nämlich an wohlgefüllten
Knabenclassen zu bethätigen nöthigt. Der Staat und die Ge-
meinden sind freilich mit den Elementarschulen in arger Ver-
legenheit. Eine halbwegs leidliche Arbeiterstellung ist ökonomisch
besser und in der Hantirung sowie in allem disciplinarischen Zu-
behör nicht so unleidlich, wie diejenige eines Elementarlehrers.
Wo nun demgemäss die Männer dem schlecht gelohnten und
chicanenreichen Gewerbe der Elementardrillung, wenn sie irgend
können, den Rücken kehren, da sind die überall im Kampf des
Lebens zurückgesetzten weiblichen Kräfte eine noch verfügbare
und obenein billige Waare. Da mögen denn allenfalls die
Mädchen in den Zwanzigern zusehen, wie sie sich mit einem
Schock Jungen, die grade in den besten Flegeljahren sind, ab-
finden und unter der Bande Fleiss und Zucht aufrechterhalten.
Solchen liebenswürdigen Zumuthungen gegenüber tritt die sonstige
conventionelle Heuchelei, die von Zartheit und Schonung gegen
das weibliche Geschlecht erfüllt sein will, in ihr rechtes Licht,
und man erkennt zugleich, was es mit der thatsächlichen Hinde-
rung der Frauen an wirklich höher belegenen Lehrberufsstel-
lungen für eine Bewandtniss habe. Man lässt die Frauen eben
da einrücken, wo sie Arbeit verrichten sollen, die den Männern
im Verhältniss zu den damit verbundenen Unannehmlichkeiten
zu schlecht gelohnt ist. Man gewährt ihnen die Neben- und
Winkelplätze, ganz wie dies aus ihrer schwächeren und geflissent-
lich in Schwäche erhaltenen Stellung im Wettkampf des Lebens
nur zu logisch folgt. Ja sogar der Umstand, dass man diese
Unterordnung und Zurücksetzung mit gegentheiligen Redensarten
verziert und dem Weibe seine Lage als eine zärtlichst geschonte
darzustellen versucht, ist nur eine weitere Consequenz der that-
sächlichen Benachtheiligung. Wer geschädigt werden soll, wird
am besten stillhalten und sich am meisten von seinem Recht
nehmen lassen, wenn man ihn darüber zu täuschen weiss, was
ihm zukomme und nicht zukomme und was seine Pflicht und
nicht seine Pflicht sei.
Aus diesem Grunde muss aber auch das weibliche Geschlecht
den Grundsatz annehmen, stets nach der Höhe zu streben und
sich nicht mit den Niederungen des Lehrfachs, ja überhaupt nicht
blos mit niederen Berufsstellungen abfinden zu lassen. Hat es
einmal in den höhern und höchsten Functionen der Gesellschaft
und der öffentlichen Angelegenheiten einigermassen Boden ge-
wonnen, so wird es für die verschiedenen Schichtungen an den
mittleren und tiefer belegenen Stellungen durchaus nicht fehlen.
Die Ergiebigkeit an letzteren bleibt davon abhängig, dass die
obersten, alles Uebrige beherrschenden Positionen gewonnen und
zu einem vollständigen System weiblicher Berufsthätigkeit und
Bildung verzweigt werden. Hiebei sei wiederum daran erinnert,
dass jegliche Art allgemeiner Bildung ihre Wurzeln in praktischen
Berufsbedürfnissen haben muss und nur da den Charakter der
Allgemeinheit und scheinbaren Unabhängigkeit von bestimmten
technischen Berufserfordernissen annimmt, wo sich eine Menge
von Vorkenntnissen als gemeinsame Grundlage für eine grosse
Zahl verschiedener Berufsthätigkeiten ausscheidet. Alsdann kann
man nicht mehr sagen, dass es ein bestimmter Beruf oder eine
abgegrenzte Gruppe von Berufszweigen sei, für welche aus-
schliesslich jene Bildungselemente als Vorbereitung dienen. Man
befasst sich vielmehr in diesem Falle mit Kenntnissen und Ge-
schicklichkeiten, die bei dem gegebenen Zustande der Gesell-
schaft nach allen Richtungen verwerthbar sind.
Die Frage ist nun die, was für das weibliche Geschlecht an
die Stelle der Gymnasien und Realschulen treten soll. Letztere
beiden Gattungen sind freilich schon für das männliche Ge-
schlecht sehr wenig motivirt. Sie beruhen entweder auf gar
keinem Princip oder mindestens nicht auf einem praktischen,
welches gegenwärtig noch sonderlichen Sinn haben könnte. Aller-
dings sind sie es und nicht die Universitäten, wo man allenfalls
noch von allgemeiner Bildung reden kann; denn auch die
deutschen Hochschulen, die auf ihren angeblichen Universalismus
so gern pochen, sind doch in Wahrheit nur viergliedrige Fach-
schulen, in denen die einzelnen Hauptstudienzweige einander
fremd und ohne gemeinsame Bestandtheile nebeneinander her-
laufen. Die gymnasiale Bildung wäre also hienach die eigentlich
allgemeine höchster Gattung; denn die Realschulen gelten als eine
Stufe tieferstehend und sind auch in vielen Beziehungen so an-
gelegt, dass man ihnen ansieht, wie sie als Bildungsanstalten
zweiten Ranges von gymnasiarchisch äusserst selbstbewussten
Lehrplanfabricanten zurechtgemacht wurden. Nun giebt es aber
in der weiblichen Sphäre nichts Thörichteres, als die sich seltsam
verirrende Ambition nach gymnasialer Schulung oder, besser
gesagt, Verschulung. Es hat mich stets seltsam angemuthet, ja
manchmal gradezu bedrückt, wenn ich auf Fälle traf, wo be-
sonders strebsame Eltern für ihre Töchter das Höchste an Bildung
zu erreichen glaubten, wenn sie dieselben eben den Quälereien
überlieferten, denen der Geist der Knaben und jungen Leute auf
den Anstalten für Latein und Griechisch preisgegeben wird. Die
Gymnasien sind zwar nicht sofort mit der Abgelebtheit und Ueber-
lebtheit der Universitäten zu vergleichen; denn sie stehen an
verhältnissmässiger Regsamkeit doch weit mehr über dem mittel-
alterlichen Niveau; aber sie sind trotzdem arge Zeitwidrigkeiten
und zwar nicht etwa blos in einzelnen Bestandtheilen ihrer Ein-
richtung, ihres Lehrplans und ihrer Methode, sondern im Ganzen
und in der Grundanlage. Sie sind von vornherein eine abnorme
Uebergangsschöpfung gewesen, die der Barbarei und dem Be-
dürfniss der sich aus dem Mittelalter ein wenig erhebenden Völker
nach antiken Lehrjahren oder vielmehr leider Lehrjahrhunderten
ihre Möglichkeit verdankte. Sie müssen, nachdem die moderne
Welt dieses auf die Dauer unwürdige Lehrlingsverhältniss in den
wesentlichen Richtungen abgethan hat, auch wieder verschwinden
und rationelleren Einrichtungen platzmachen. Genau besehen,
stellen sie nicht die Interessen einer wirklich allgemeinen Bildung,
sondern diejenigen des gelehrten Berufsunterrichts vor, der auf
sie durch die Universitäten gepfropft werden soll. Weil man die
Studien auf den Universitäten in Juristerei und Medicin mit einem
altsprachlichen Zopf betreibt, darum sind die Gymnasien der zu-
gehörige Unterbau; denn nur in den letzteren kann das Flechten
dieses Zopfes erlernt werden. Nun haben die Frauen keine Ur-
sache, sich um solche altmodische Flechtkünste zu bekümmern.
Sie haben die Medicin und andere höhere Berufszweige, die ihnen
später noch zufallen mögen, im modernen Sinne und ohne chi-
nesenhafte Aufstutzung zu studiren. Bedürfen sie aber auf diese
Weise der reinen unverfälschten und unverschnörkelten Natur-
gestalt einer Berufswissenschaft, so gehört zu der letzteren auch
eine Vorbildung, die nicht die gymnasial ablenkende, sondern ein
vernünftiger Ersatz dafür ist. Man sieht also auch hier wiederum,
wie von oben her und aus dem Mittelpunkt der nächst angren-
zende allgemeine Bildungskreis mit den ihm dienstbaren Anstalten
bestimmt werde. Die Schicht der höchsten Berufsgruppen ent-
scheidet über die dazu erforderliche gemeinsame Bildung. Was
technisch und specialistisch einem jeden Beruf angehört, bleibt
hiebei ausser Anschlag; der Rest an gemeinsamen Erfordernissen
ist es aber, der alsdann höhere allgemeine Bildung heisst und sich
in der thatsächlichen Organisation auch zugleich zu einem Kreise
von Kenntnissen und Geschicklichkeiten abrundet, in welchem
sich die einzelnen Bestandtheile zu einem zusammenhängenden
Gefüge mit einigermaassen harmonischer Bildungsfunction ver-
bunden finden.
Construirt man sich auf diese Weise die Parallelen und Er-
satzmittel der Gymnasien und Realschulen, so wird man von dem
zunächst maassgebenden Standpunkt der späteren medicinischen
oder sonst technischen Studien aus die Elemente der niedern und
höhern Naturwissenschaft zum Fussgestell der Bildung machen,
einige modern gestaltete Mathematik hinzunehmen und übrigens
nur dafür sorgen müssen, dass ausser den ersten Elementarfertig-
keiten der niedern und höhern Rechenkunst Gewandtheit in der
Auffassung und Handhabung des schriftlichen und mündlichen
Worts, sowie eine gelenkige Anbequemung an die zusammen-
gesetzteren Denk- und Redegestaltungen, also schliesslich eine
gewisse Geschultheit im natürlichen Gedankengefüge sachlicher
Inhalte und sprachlicher Darstellungsform erzielt werde. Ich
würde Letzteres eine natürliche Logik genannt haben, wenn ich
nicht hätte dem Missverständniss vorbeugen wollen, als sollte es
sich um jene nichtsnutzige vertrocknete Pflanze handeln, die in
der Universitätsscholastik den Namen Logik führt und sich als
herkömmlich aufgenöthigtes Beiwerk einzelner Richtungen des
Universitätsstudiums in siechem Dasein noch durch künstliche
Zwangsvorschriften fortschleppt, aus den medicinischen Studien-
gewohnheiten aber mit Recht so gut wie verschwunden ist. Wenn
ich Geographie und Geschichte unter den Bildungsmitteln nicht
besonders erwähnt habe, so geschah dies, weil sich einige Geo-
graphie gleich Lesen und Schreiben schon in der untersten Bil-
dungsschicht von selbst versteht, die Geschichte aber, wie sie als
Raufereiencatalog und gefälschte Fürstenverherrlichung auf niedern
und höhern Schulen gelehrt zu werden pflegt, gleich dem Latein
und Griechisch mehr zu den Verbildungs- als zu den Bildungs-
mitteln gehören würde. Culturgeschichte aber und einige ent-
sprechende Culturgeographie, von denen man das wirklich In-
teressirende und durch die unverkünstelten Erinnerungstriebe
des Menschen Geforderte allerdings in die Organisation der höhern,
das Gymnasium ersetzenden Bildungsstufe aufzunehmen hätte,
sind thatsächlich noch zu sehr blosse Keime und Wünsche, als
dass hier im Vorbeigehen über ihre vorbildende Rolle und Be-
deutung entschieden werden könnte. Es giebt ausserdem noch
eine Anzahl moderner Bildungselemente, die, wie Gesundheits-
pflege, Wirthschaftslehre und einige Gesetzeskunde, in der höhern
Schulung und Erziehung einen Platz zu beanspruchen haben;
indessen ist hier nicht ein vollständiger Entwurf, sondern nur
eine solche Auseinandersetzung mit dem Bisherigen in Absicht,
vermöge deren die zu schaffenden weiblichen Bildungseinrich-
tungen eine unterschiedliche Kennzeichnung erfahren.
Nennen wir die weiblichen Anstalten, welche die Gymnasien
und Realschulen durch etwas Besseres ersetzen sollen, kurzweg
höhere Vorschulen, so ist in diesem Ausdruck zugleich angedeutet,
dass der Hinblick auf den einstigen praktischen Beruf auch das
Maass fiir die in diese Vorschulung hineinverwebte allgemeine
Bildung geliefert hat. Die sogenannten Lyceen aber, deren man
eines in Berlin und einige verwandte Gegenstücke in andern
grössern Städten Deutschlands wesentlich als private Unter-
nehmungen in Gang gebracht hat, können nicht im Entferntesten
für etwas gelten, was sich in ein praktisches Berufssystem oder
auch nur in ein rein theoretisch abgestuftes Bildungssystem ein-
fügte. Ich werde hier nur nach dem Berliner Mustergebilde ur-
theilen, welches ich genau genug kenne, und an welchem mir,
wie die vorletzte Nummer dieser Schrift zeigt, der Contrast
zwischen systematischer Initiative und zerfahrener Mengselei von
allerlei in unverbundener Planlosigkeit zusammengewürfelten
Bildungsvorlesungen, bald solchen der niedrigsten Art, bald
solchen mit höheren Ansprüchen, nahe genug getreten ist. Schon
der Name ist irreleitend; in Frankreich weiss man allerdings,
was man für die männliche Jugend unter Lyceen zu verstehen
hat; wir wenigstens denken uns diese französischen Institute
ziemlich zutreffend, wenn wir sie ungefähr als Parallelen unserer
Gymnasien betrachten. Nun ist aber das weibliche Lyceum in
Berlin mit einem Gymnasium oder einer Realschule oder gar mit
dem, was wir höhere Vorschule genannt haben, nicht zu ver-
gleichen. Der Namengeber, ein Aristotelesgelehrter Geheimrath,
mag wohl an das Lykeion des Aristoteles gedacht haben; aber
aus diesem Gesichtspunkt nimmt sich die Bezeichnung sogar noch
linkischer und komischer aus. Den Namen müssen wir also in
jeder Richtung ausser dem Spiele lassen und uns an die Sache
halten, welche in erster Linie eine Vorlesungsanstalt und zwar
zunächst für das Bedürfniss einer Art Bildungszerstreuung be-
deutet hat. Das Schwergewicht des Interesse fiel bei dem theil-
nehmenden Publicum, wie leicht begreiflich, auf solche Fächer wie
Kunstgeschichte und gelegentlich auch auf moderne Literatur, –
immer aber auf solche Dinge, die den weiblichen Kreisen in
ihrem bisherigen Bildungsgange bereits nahe gerückt waren. Nun
verstreute man aber in ganz zufälliger Gestalt, wie es eben jedem
angeworbenen Docenten beliebte, Ankündigungen von allerlei
Vorlesungscursen buntester Mischung und oft genug unzweck-
mässigster Art. Von mittelalterlichen Geschichtsliebhabereien gar
nicht zu reden, mag nur als auf ein besonders humorerregendes
Beispiel darauf hingewiesen sein, dass auch griechische Literatur-
geschichte unter den angebotenen, wenn auch grade nicht nach-
gefragten Vorlesungen figurirt hat. Irgend ein leitendes Princip
ist niemals vorhanden gewesen, und um Ernst in die Sache zu
bringen, hätte selbst ein theoretisch noch so guter, aber blos all-
gemeiner Bildungsplan nicht genügt, solange keine praktischen
Berufsfolgen daran geknüpft worden wären. Ganz nebenbei und
sozusagen abseits von den eher besuchten Hauptvorlesungen hat
man auch kleine Gelegenheiten eingerichtet, ein paar Brocken
Elementarmathematik sowie etwas Physik und Chemie anzusehen
und „anzuhören“, ja auch, damit es am Allerbesten nicht fehle,
für die lateinischen Sextanerkünste durch das Angebot einer
Vorlesungseinweihung in die heilige Gelehrtensprache gesorgt,
und sich sogar bis zum Griechischen verirrt. Natürlich ist mit
all solchem zersplitterten Nebenwerk wenig oder so gut wie nichts
geworden. Die Theilnahme dafür blieb äusserst spärlich oder
versagte ganz, was am allerwenigsten dem Frauenpublicum selbst
zur Last fällt, welches mit Recht danach fragt, wozu und mit
welcher schliesslichen Frucht es solche unzusammenhängende und
an sich unzulängliche Halbgelegenheiten überhaupt noch benutzen
soll. Wie sich die Leitung des Lyceums künstlich Publicum zu
verschaffen und die sonst nicht zu Stande kommenden Vorlesungen
ein wenig zu füllen gesucht hat, ist in der vorletzten Nummer
dieser Schrift angegeben, und es würde uns überhaupt von be-
deutenden Gegenständen ablenken, wenn auf den vorliegenden
Bogen auch noch eine ausführliche Kritik der form- und princip-
losen Berliner Anstalt mit ihren später immer chaotischer ge-
rathenden Abänderungsversuchen platzfinden sollte. Elementare
Geographievorlesungen und Aehnliches, was zur Fortbildung von
Lehrerinnen auf Kosten der Stadt nachträglich hineingepfropft
worden ist, dürfte sicherlich nicht die Zerfahrenheit und fast
völlige Undefinirbarkeit des Charakters der Anstalt gemindert
haben. In der That weiss letztere nicht, was sie eigentlich will,
soll oder könnte. Diese Unfähigkeit hat sich in der ganzen
Existenzzeit des Lyceums nie verleugnet, und wenn man sich
das Tuttifrutti ansieht, welches aus der Anstalt im Laufe des
Jahrzehnts von 1875–85 geworden ist, so ergiebt sich, dass die
Charakteristik ihm nur dann gerecht wird, wenn sie die ver-
fehlten Züge immer stärker markirt. Einerseits ist das Lyceum,
soweit es in erster Linie eigentliche Vorlesungsanstalt für Damen
sein soll, nur immer tiefer in die universitären Rückständigkeiten
gerathen und den Verkehrtheiten von Universitätsprofessoren an-
heimgefallen, die daran dociren oder ihre Protégés dort dociren
lassen. Andererseits aber, soweit es sich um eine Gattung schul-
artiger Curse handelt, ist das Lyceum zu einer Fortsetzung so-
genannter höherer Töchterschulen versimpelt. Hiebei hat sich die
aufgenöthigte Schülerhaftigkeit der Manieren bis zu einer förm-
lichen Reglementirungsvelleität und bis zur obligatorischen Vor-
schrift des Ankaufs der empfohlenen Bücher erstreckt. Was
aber die universitätsartigen Vorlesungen anbetrifft, so verbinden
sie alle Schäden des Universitären noch obenein mit lächerlichen
Zeitmaassen. Ein Curschen der Chemie von einem halben Dutzend
Vorlesungen, deren jede anderthalb Stunden währt, sage also
fünfhundertundvierzig Minuten der Chemie gewidmet, – das ist,
zumal in der Universitätsmanier, eine komische Dosis; aber an
solchen Musterstückchen von Kunstbethätigung der Berliner Uni-
versitätsprofessoren für das Lyceum hat es nicht gefehlt. Doch
lassen wir die Chemie als Feuerwerk in sechs Vorstellungen auf
sich beruhen; denn das ganze Treiben auf dem sogenannten
Lyceum ist ja überhaupt Spielerei und Schein.
Auch ist dies nicht zu verwundern, da die für die Einrich-
tung maassgebenden gelehrten Elemente selbst Gegner aller ernst-
haften Frauenbildung, namentlich aber jeder höhern weiblichen
Berufsbildung sind und ein Institut wie das Lyceum nach dem-
selben socialpolitischen Grundsatz behandeln, wie in einer andern
Richtung die sogenannte Volksbildung. Es ist eine alte Maxime,
solche Bewegungen, die sich nicht unterdrücken lassen, wenigstens
in einer für die ihnen feindlichen Elemente bequemen und mög-
lichst fruchtlosen Richtung niederzuhalten. Behufs der Erzielung
solcher unschuldigen Scheindinge stellt man sich selbst organisi-
rend und fördernd an, während man in der That zu hemmen
und abzulenken sucht. Doch genug von diesem Zwischenreich
wissenschaftlich seinwollender Halbexistenz. Wirkliche Bildungs-
anstalten werden stofflich und der Lehrart nach den Charakter
der höhern Vorschule an sich tragen müssen und vor allen
Dingen nicht Vorlesungsanstalten sein dürfen. Der universitär
verzopfte Lehrstil mit der einseitigen Vorleserei ist an sich schon
ein Uebel; er wird aber vollends zur Caricatur, wenn er in einen
zwerghaften Rahmen gefasst, auf ganz elementare Gegenstände
übertragen und überdies einem mit modernen Ansprüchen auf-
tretenden, nach frischen Anregungen und gesunder Geistesnahrung
ausschauenden Publicum aufgetischt wird. Die vorbereitende
Lehre blosser Bildungswissenschaften muss ein wirklicher Unter-
richt und demgemäss eine Mittheilung von Kenntnissen mit gegen-
seitigem Gedankenaustausch sein. Passt auch die Form der
gemeinen Schulung nicht einmal mehr für den Fall „höherer Vor-
schulen“, wie ich sie auffasse, so darf doch niemals das universitäre
Vorleserthum platzgreifen. Anregungen zur Selbstthätigkeit, zum
Selbststudium nach gedruckten Lehrhülfen und je nach Bedürf-
niss bereite persönliche Aushülfe bei Verlegenheiten sowie einige
eigentliche Uebungen oder Bethätigungen des geläufig gemachten
Wissens und Könnens werden die Hauptbestandtheile einer
bessern, über das ganz unselbständige Stadium rein autoritärer
Art hinausgelangten höhern Vorschulung bilden, an welche sich
später das eigentliche Berufsstadium knüpfen soll. Vorträge aber,
die nicht mit Vorlesungen universitären Stils zu verwechseln sind,
mögen allenfalls dazu dienen, als anregende Auseinandersetzungen
auf die Hauptfragen eines Studiengebiets aufmerksam zu machen
und auf das, was selbstthätig zu thun ist, eindringlich hinzuweisen.
Sie können Programme des Selbststudiums und Erläuterungen dieser
Programme liefern; sie können einen mächtig leitenden Einfluss
üben; aber sie dürfen nicht, wie die herkömmlichen Vorlesungen,
detaillirte Mittheilungen und sozusagen Abhaspelungen ganzer
Wissenschaften sein wollen.
Wie wirkliche Hochschulen für Frauen beschaffen sein
müssen, lässt sich erst im Gegensatz zu den Universitäten gehörig
auseinandersetzen. Hier sei nur bemerkt, dass sie als Ueberbau
der höheren Vorschulen nicht blos die speciellen Berufsfächer,
wie die Medicin, sondern eben auch die technische Ausbildung
von Lehrerinnen für jene höhern Vorschulen zum Gegenstande
haben und in dieser Eigenschaft als Pflanz- oder
Normalschulen fungiren werden. Die zweistufige Organisation, die den Gymna-
sien und sogenannten philosophischen Facultäten, also dem Lehren
der Bildungswissenschaften und der Ausbildung von Kräften für
diese Lehrfunctionen entspricht, ist hiemit für die weibliche Welt
als ein eignes Reich gekennzeichnet, welches an Nützlichkeit für
den Geist, an praktischen Früchten für das Leben und auch an
Verwendungsgelegenheiten für sonst müssig gehende oder un-
gelohnt verderbende Kräfte weit ausgiebiger werden muss, als es
bisher die entsprechenden Anstalten der männlichen Sphäre ge-
wesen sind. Der Hauptgrundsatz muss aber immer bleiben, dass
in diesem ganzen Entwurf das Lehrerthum, ja jegliche Leitung
ausnahmslos weiblichen Händen anheimfällt. Um eine andere
Combination, in welcher auch Männer mitwirkten, könnte es sich
nur in unzulänglichen Uebergangs- und Halbformationen handeln.
Für den Augenblick und für die allererste Ueberleitung, bei der
es gilt, überhaupt nur den Weg in das wissenschaftliche Bereich
und in die zugehörigen Gerechtsame zu bahnen, mag immerhin
die bunteste Mischung ganzer und halber Mittel, ja aller nur
irgend zugänglichen Handhaben platzgreifen , und es würde ein
falscher Principienpedantismus sein, die gegnerischen Monopole
und Bollwerke nach einem Schema einnehmen zu wollen, welches
erst für den vollen Besitz und Angesichts einer ausgebildeten
Schaar von weiblichen Wissenschafts- und Berufsinhabern Geltung
haben kann.
5. Weibliches Studium und heutige
Universitätszustände.
Die Zulassung von Frauen zu Universitätsstudien und zum
Doctorgrad, die namentlich im Bereich der Medicin hier und da
vereinzelt platzgegriffen hat, erinnert daran, mit welchen Er-
wartungen meistens das den Universitätsverhältnissen gegenüber
ganz draussen stehende und daher in dieser Richtung unkundige
weibliche Publicum die fraglichen Gelehrsamkeitsanstalten be-
trachtet. Ist doch durchschnittlich nicht einmal die männliche
Jugend im Stande, vermöge der blos passiven Theilnahme an den
Studiengewohnheiten die Missverhältnisse, denen sie anheimfällt
und die dem regsameren und aufgeklärteren Theil auch wohl
fühlbar werden, hinreichend und namentlich in Rücksicht auf die
erzeugenden Ursachen zu durchschauen! Die wenigen Frauen,
welche auf einigen sozusagen geschäftlich coulanteren Universi-
täten, von denen die Promotionsgebühren weiblichen Geschlechts
eben auch für Geld gehalten werden, dazu gelangt sind, Studien
zu machen und zu doctoriren, – diese wenigen Frauen dürften
zwar als Fremde in dem ungekannten Lande, durch welches sie
ihre Tour machten, im günstigsten Falle einige gute Beobach-
tungen angestellt haben, aber doch schwerlich dazu gelangt sein,
von den sorgsam verschleierten Verhältnissen Mehr wahrzunehmen,
als die traditionell, wenn auch nicht in die Universitätsgeheim-
nisse, so doch in das Studentenleben und in das äussere Ge-
haben der Professorenmanier eingeweihte männliche Jugend.
Vielleicht noch ein wenig mehr, als der männliche Universitäts-
neuling, von der in der Vorstellung hochgehaltenen und überdies
für das Weib ausserordentlichen Situation geschmeichelt, wird die
Studirende und später Promovirende nur daran denken, dass ihr
die besondere Gunst zu Theil geworden, in einen sonst ver-
schlossenen Kreis einzudringen und das titulare Zeugniss für
absolvirte gelehrte Studien zu erlangen. Sie wird überdies keine
Gelegenheit zur eigentlichen Kritik haben. Ohne eingehende
Kenntniss der Literatur und der wahren Grössen der von ihr
erstrebten Wissenschaft wird sie sicherlich nicht minder, sondern
gewöhnlich noch mehr als der männliche Student jenem Autori-
tätsaberglauben anheimfallen, der die jedesmal privilegirtesten
und durch allerlei äussere Umstände einflussreichsten Professoren
mit Grössen verwechselt, deren Ansehen wirklich daher rührt,
dass sie in der Wissenschaft, aber nicht, wie jene conventionellen
Kathedergötzen des Augenblicks, blos in der Ausbeutung der
Zunftmonopole und in der universitären Reclame gross sind.
Es hat mir immer einen sonderbaren Eindruck gemacht,
wenn ich die eigenthümliche Art von Selbstgefühl wahrnahm, mit
welcher eine Doctorirte ihre ungewöhnliche Würde betrachtete.
Ich will durchaus nicht an der Befriedigung mäkeln, die von
der blossen Thatsache herrührt, dass ein Weib die bisherigen
Schranken durchbrochen und sozusagen den alten Zunftstempel
des gelehrten Bürgerthums aufgedrückt erhalten hat. Dies ist
der alten Ausschliesslichkeit gegenüber immer schon eine Art von
äusserlichem Protest gegen die Ungleichheit und Unterdrückung
des Geschlechts. Indessen kann ich mich trotz alledem einiger
Anwandlung von Komik niemals erwehren, wenn ich sehe, wie
strebsame Candidatinnen der Wissenschaft die alte, gelehrt und
praktisch immer hohler gewordene Doctordecoration sich grade
in einer Zeit umhängen lassen, in welcher sich die Ueberzeugung
von der Verkommenheit und dem todesmatten Siechthum dieser
abgelebten und unrettbar verlorenen Einrichtung schon im wei-
teren Publicum ziemlich verbreitet hat. Ueberdies ist bezüglich
der praktischen Hauptsache der Doctorgrad in unsern Landen
ohne jede Bedeutung. In der Medicin berechtigt er nicht zur
Praxis und ist zu ihr glücklicherweise auch nicht einmal mehr
ein nebensächliches Erforderniss. Die Staatsprüfung entscheidet
Alles, und daneben nimmt sich die Doctorirung, wo sie überhaupt
noch im Hinblick auf ein Stück an diesem Titel haftenden Volks-
aberglauben stattfindet, wie eine altfränkische Zunftceremonie aus,
bei der das einzige Reelle und vollhaltig Gediegene die Kosten
sind, die sie zu Gunsten der Börsen der gelehrten Zunftmeister
verursacht. Doch ich will hier nicht noch einmal ein Thema
erörtern, welches grade ich in meinem Anfangs 1875 erschienenen
„Cursus der Philosophie“ bei Besprechung des Unterrichts zuerst
ernsthaft und zwar dergestalt auf die Tagesordnung gebracht
habe, dass man sich von gegnerischer, aber in diesem Punkte
behufs Wahrung eines scheinbaren Anstandes doch ein wenig
zum Reformeln geneigter Seite aufgestachelt fühlte und nun selbst
eine Art Streifzug, wenn auch selbstverständlich nicht gegen das
Unwesen der Doctorei überhaupt, so doch gegen einige dem
Publicum besonders in die Augen fallende corrupte Praktiken
desselben unternahm. Hiemit wurde natürlich so gut wie gar
nichts gebessert, und der ganze Standpunkt, eine abgelebte Sache
wieder zu einem für das Publicum lebenlügenden Scheindasein
galvanisiren zu wollen, ist, wenn nichts Schlimmeres, eine stark
nach Gelehrsamkeitsromantik schmeckende Illusion.
Doch lassen wir den Doctor und die Doctorin der verschie-
densten Facultäten auf sich beruhen. Die Gelehrsamkeit, die
davon umhüllt wird, ist für die wissenschaftliche Zergliederungs-
kunst ein wichtigerer Gegenstand. Der Leichnam der todten
Gelehrsamkeit erfordert einige Anatomie, und wenn die weibliche
Aspirantenwelt einmal mit dem Bau des scholastischen Skeletts
eine genauere Bekanntschaft gemacht haben wird, dürfte sie sich
von dem Gerippe und seiner mittelalterlichen Zusammenfügung
nicht mehr sonderlich angezogen finden. Allerdings haben die
Staatsprüfungen Einiges ein klein wenig modernisirt; denn die
centralistische Polizeigewalt des neuern Einheitsstaats hat, wie in
Rücksicht auf alles Zunftwesen, so auch im Verhältniss zu den
gelehrten Zünften, immerhin ein Stückchen Fortschritt vertreten.
Sie hat zwar die Universitätszünfte, statt sie wegzuschaffen, nur
einigen ihrer eignen Zwecke dienstbar gemacht und sie ein wenig
in ihren eignen Rahmen hineingezogen; sie hat aber doch bei
dieser Gelegenheit den Zunftgeist wenigstens durch den weniger
unmodernen Typus der Büreaukratie hier und da gemässigt und
hat sich neuerdings oft genug in der Lage gesehen, mit der Ini-
tiative zur Abschneidung einzelner ganz unerträglich gewordener
Zöpfe vorzugehen. Sie hat grade bei den hartnäckigsten Uni-
versitäten den lateinischen Dissertations- und Ceremonialzwang
etwas beschränkt und gelegentlich auch wohl einmal Miene ge-
macht, die Alleinherrschaft der alten Philologie in einigen Rich-
tungen in Frage zu stellen. Solche kleine und langsame Besei-
tigungen bereits überall lächerlich gewordener Ueberlieferungen
haben aber an der Hauptsache nichts geändert. Das Wissen,
welches für die Staatsprüfungen beschafft werden muss, wird zum
grossen Theil auf anderm Wege als durch die Universitätsvor-
lesungen angedrillt. Buchhülfen, sogenannte Paukatur, sowie
allerlei private Nebeninstitute müssen hier aushelfen; denn die
Ohnmacht des sich träge hinschleppenden einseitigen Vortrags
mit seinem semesterlang ausgesponnenen Faden wird immer fühl-
barer, und die unpraktische verrottete Manier, in welcher viele
Wissenschaftsrubriken in nutzloser Ausfüllung mit allerlei ge-
lehrtem Schutt dargeboten werden, drängt sich denn doch den
Candidaten der verschiedenen Berufszweige bei Gelegenheiten,
wo es etwas gilt, einigermaassen auf. Am wenigsten ist dies
freilich da der Fall, wo, wie in der Medicin oder in der Philo-
logie für unsern Staat, die Professoren auch zugleich die staat-
lichen Prüfungscommissionen ausfüllen. In diesem Fall sind sie
aber doch gezwungen, ganz andere Forderungen zu stellen, als
in den spielend tastenden Tentamen, die zur Doctorirung aus-
reichen. Mag der Staatsprüfungscandidat zusehen, woher er den
Stoff sich einverleibe; das Anhören der meisten Universitäts-
vorlesungen, soweit es wirklich noch ertragen wird, verhilft ihm
sicherlich nicht dazu; aber der Umstand, dass der büreaukrat-
ische Staat eingegriffen hat, ist doch wenigstens die Ursache, dass
mehr herauskommen muss, als das, was die Zünfte als Meister-
stück verlangen und als Abschluss der bei ihnen durchgemachten
drei- oder vierjährigen Lehrlingsschaft gelten lassen. Es ist also
nicht ein Verdienst der Universitätszünfte, wenn vermöge der
Staatsanordnungen eine gewisse Summe von Kenntnissen zur
Prüfung auf irgend einem Wege eingepackt werden muss, um
dann für den entscheidenden Tag zum Auspacken bereit zu sein.
Freilich wird dann die Reise durch das praktische Leben nicht
zu viel von der Bagage mitzuschleppen haben; denn die letztere
verliert sich zu einem grossen Theil und Stück für Stück, ohne
dass eine besondere Bemühung nöthig wäre. Einiges haftet je-
doch; aber selbst an diesem Wenigen sind die Universitäten meist
unschuldig; denn grade die allmälige und allein nachhaltige Ein-
verleibung von Wissensstoff, um welche es sich bei einer wohl-
geordneten, nicht erst schliesslich überstürzten Vorbereitung
handelt, ist das, was von ihnen verfehlt wird. Sie verderben die
Zeit, in der etwas Gediegenes geschehen sollte, mit ihrem leb-
losen Scheinunterricht und wiegen den Studirenden nicht blos
eigentlich, sondern auch metaphorisch in Schlummer, indem sie
grade die Gewissenhaftesten glauben machen, mit dem absitzen-
den Anhören der professoralen Heftverlautbarung ihre Pflicht
gethan und für die zureichende Präparation ihres wissensbedürf-
tigen Hirns gesorgt zu haben. Im Falle der grössten Geduld
tragen die Studirenden aber doch nur beschriebenes Papier nach
Hause, während ihr Geist im günstigsten Falle unbeschrieben
bleibt, im weniger günstigen aber allerlei Kreuz- und Querstriche
aufzuweisen hat, welche von dem hölzernen Stil der professoralen
Heftcompilation herrühren.
Die weibliche Welt hat hienach keine Ursache, die Jünger
der Universitäten zu beneiden. Sie hat Ansprüche auf etwas
Besseres, und wenn sie in den Verlegenheiten der Uebergangs-
zustände von jedem Mittel und also auch von den Universitäten
Gebrauch machen will, so kann dies nur den Sinn haben, sich
den Zugang in neue Berufszweige auf einem nun einmal noch
ausschliesslich privilegirten Wege zu eröffnen und wird daher
nur als ein unter Umständen nothwendiges Uebel zu betrachten
sein. Da jedoch ohne die innern Gründe die nackten Thatsachen
zu ungeheuerlich erscheinen möchten, so muss ich und zwar hier
grade im Interesse der Frauenbildung etwas näher auseinander-
setzen, welche Bewandtniss es mit der Lehrweise der Universi-
täten hat, und wie die Verkehrtheit derselben theils von den
Wirkungen der längst überlebten mittelalterlichen Zunftverfassung,
theils von den mitgeschleppten Gelehrsamkeitsstoffen alter Art
und schliesslich auch von dem unmodernen und unwissenschaftlichen
Princip der autoritären Ueberlieferung persönlicher Mei-
nungsweisheit in Heftvorlesungsform herzuleiten ist.
Zünfte sind nicht blos geschichtlich, sondern überhaupt un-
berechtigte Gebilde gewesen. Ihr Wesen oder vielmehr Unwesen
war die Ausschliesslichkeit, die Scheu vor der freien Concurrenz,
ja gradezu der familien- und vetterschaftliche Alleinbesitz des
Gewerbes. Letzteres selbst wurde als ein Mittel der monopo-
listischen Ausbeutung des Publicums und demgemäss als eine Art
abgepferchtes Privatrecht angesehen. Das zünftlerische Princip
ist nun in den materiellen Gewerben glücklich überwunden; aber
die mittelalterlichen Zunftgebilde sind gleich emporragenden
Ruinen in den Universitäten noch immer zu schauen. Gelehrte
Zünfte sind aber ihrem Wesen oder vielmehr Unwesen nach noch
schlimmer als diejenigen der gemeinen Handwerke; denn sie
sind nicht blos der Form, sondern auch dem Inhalt nach mittel-
alterlich und haben überdies den Nachtheil, dass die Wissenschaft
von der Unfreiheit weit ärger betroffen wird, als irgend ein ge-
wöhnliches Handwerkserzeugniss. Der Zunftstiefel oder Zunft-
rock mag immerhin an Geschmack und Billigkeit viel zu wün-
schen übriglassen; aber er ist doch wenigstens ein brauchbares
Ding, und nur selten wird die zünftlerische Unfreiheit daran
Schuld sein, wenn er drückt oder gar nicht sitzt. Von einem
zünftlerisch gearbeiteten Tisch lässt sich jedenfalls noch essen
und trinken, auch wenn Meister und Gesellenschaft schon arg
heruntergekommen wären und für den theuersten Preis das un-
beholfenste Möbel producirt hätten. Die zünftlerisch zubereitete
Wissenschaft ist aber oft eine ungeniessbare oder mindestens un-
verdauliche Speise; sie ist mit einer Menge Bestandtheilen ver-
setzt, die dem modernen Magen starke Indigestionen verursachen
müssen, wenn nicht schon zuvor die Zunge ihre Schuldigkeit
gethan und dem schmacklosen Zeug, soweit möglich, den Eingang
verwehrt hat. Ausserdem sind gelehrte Monopole und Aus-
schliesslichkeiten weit schlimmer als materielle; denn die Unfrei-
heit des Unterrichts muss das Erzeugniss weit mehr fälschen, als
die Unfreiheit des Handwerks. Die geistige Corruption, die im
Dunkel der unfreien Autoritätenwirthschaft um sich greift, ist
viel intensiver als die materielle. Die Herabziehung der Wissen-
schaft zu einem blossen Werkzeug der zünftlerischen Nahrungs -
und Versorgungsinteressen ist denn doch noch etwas Anderes, als
die Dienstbarmachung eines gemeinen Gewerbes für diesen, ihm ja
ganz naheliegenden und gewissermaassen auch natürlichen Haupt-
zweck. So sind denn seit dem 12. Jahrhundert die Universitäten
als geistige, ja zum Theil auch geistliche Zünfte nach einer
kurzen Halbblüthe, die in bedeutenden sachlichen Anregungen
und in ursprünglich bisweilen auch freieren Verfassungen ihren
Grund hatte, in den modernen Jahrhunderten überall immer mehr
verfallen und haben den Fortschritt der Wissenschaften wesent-
lich gehemmt, die untergeordnete Vermittlung des anderweitig in
freierer Gewonnenen meist recht schlecht oder gar
nicht besorgt. Schon von Adam Smith wurden sie für diejenigen
Stätten erklärt, in denen die verrottesten Vorurtheile noch hausen,
die bereits aus allen Ecken der Welt vertrieben sind. Doch ich
kann mich hier nicht auf eine geschichtlich weit ausholende Dar-
legung einlassen. Das Zunftgerüst und seine Wirkungen können
auch an den heutigen deutschen Universitäten zur Genüge in
Augenschein genommen werden. Die ausschliessende Körper-
schaft cooptirt nach persönlichem Belieben; denn die Staats-
genehmigung ist fast nur formell. Ein Fachprofessor entscheidet
darüber, wen er zum Collegen haben will, und sieht sich natür-
lich nach einem möglichst gefälligen und zahmen Concurrenten
oder vielmehr Nichtconcurrenten um. Wo er sich nicht gradezu
Nullitäten besorgen kann, weil seine Fachcollegen auf andern
Universitäten mit ihm im vetterschaftlichen Cartell stehen und
auch ihre Leute untergebracht sehen wollen, arrangirt man sich
nach dem Princip der Gegenseitigkeit und theilt innerhalb der
Kameradie das Monopol nach jedesmaliger Convenienz. Aus-
nahmsweise greift allerdings auch die Bürokratie ein, und da
ihr Nepotismus weder an sich selbst so schlimm wie der zünft-
lerische und überdies weniger unmittelbar in die gelehrte Sphäre
hineinverzweigt ist, so geschieht es auch wohl, dass ein einfluss-
loserer Fachprofessor gute Miene zu dem für ihn bösen Spiel
machen und sich die Hinsetzung einer sogenannten Grösse als
nachbarlichen Concurrenten oder vielmehr Hauptmomopolisten ge-
fallen lassen muss. Selten wird es aber geschehen, dass der-
artige Grössen und Hauptprofessoren selbst nicht in der Lage
wären, jeder an seiner Universität möglichst allein zu horsten und
so in den Hauptzunftörtern in gehöriger Distanz voneinander ihre
gelehrten Zwangs- und Bannrechte über das Studentenpublicum
auszuüben. Das Ausland sei noch besonders daran erinnert, dass
die bei uns von den Studenten bezahlten Vorlesungsgelder eine
eine ansehnliche Privateinnahme der einzelnen Professoren bilden, und
dass diese letzteren daher eine sehr starke ökonomische Ursache
haben, die formell freie Auswahl ihrer Vorlesungen seitens der
Studirenden nie einer missliebigen, wenn auch noch so be-
schränkten Concurrenz anheimfallen zu lassen, so dass ein volles
oder aber nach stillschweigendem Einverständniss und collegi-
alistischer Anstandsordnung getheiltes Monopol das Ideal der Aus-
beutung des gelehrten Handwerks bildet.
Infolge dessen ist auch der Aerger der Zunftmeister und
Facultätsprofessoren besonders gross, wenn einmal die Regierung
auch einen ihrer eignen Leute in eine Professur zu stecken hat
und ihn einer Facultät, wie man dies nennt, einfach hinsetzt. Von
einem solchen Fall, welcher nach manchen andern z. B. auch 1884
der Berliner Universität und zwar in der medicinischen Facultät
begegnete, dem Fall Schweninger, machten die dort tonangebenden
Professörchen und die zugehörigen Pressjuden viel Aufhebens, weil
sie diesmal gegen den Hingesetzten, unter Vorwand eines Sitten-
defects, ein gar leichtes Spiel zu haben glaubten. Mir, als einem
Kenner der Sitten der Zunftgelehrten in ihrem Gewerbsbetrieb,
musste es hochkomisch vorkommen, dass die Herrchen auch
Mangel wissenschaftlicher Verdienste als einen Grund affichirten,
während doch bei ihren eignen Protégés wissenschaftliche Aus-
zeichnung das ist, was regelmässig gar nicht oder höchstens ein-
mal nebenbei und an letzter Stelle in Frage kommt. In der
That dienten solche Vorschützungen nur dazu, das Publicum über
das eigentliche Motiv irrezuführen. Dieses war, wie immer, so
auch diesmal nichts Anderes, als das beeinträchtigte Monopol
zünftlerischer Patronage, also der Eitelkeit und des stellenver-
gebenden Einflusses derjenigen Professoren, welche gewohnt sind,
immer nur ihre Anhängsel unterzubringen. In diesem Falle hatte
sie dies bis zu dem Punkte aufgekitzelt, sogar davon verlauten
zu lassen, selber gehen zu wollen, wenn die Regierung gegen
ihre dem hingesetzten Professor gegenüber inscenirte Benehmungs-
art einschritte. Das Einschreiten, d. h. die Zurechtweisung kam
und dazu auch öffentlich in officiösen Zeitungsartikeln die ent-
schlossene Andeutung, dass man die Herren, wenn sie wollten,
immerhin ziehen lassen würde, – und siehe da, die Species
bewährte ihren Charakter. Sie zogen nicht nur nicht, sondern –
legten sich auch sofort. Nach so vielem und monatelangem Ge-
kläff in den Zeitungen und nach allen möglichen Demonstrations-
inscenirungen wurde mit einem Mal Alles mäuschenstill. Der
abkühlende Wasserstrahl hatte seine Schuldigkeit gethan. Im
Ernste ihre Professuren quittiren, – nein, das wäre ein übles
Geschäft gewesen, wo doch die ganze unterthänigste Empörung
nur einem Stückchen vom zünftlerischen und persönlichen Pa-
tronagemonopol gegolten hatte. Ein späteres gelegentliches Nach-
spiel von blossem Wortdemonstratiönchen im preussischen Abge-
ordnetenhause auf einen weiteren und noch entschiedeneren Schritt
der Regierung hin, nämlich auf eine ansehnliche Gehaltscreirung
für den Ernannten im Etat, – das war billiger zu haben als der
eigne Abgang. Zeigt eine Regierung nur eine ernste Miene, so
wissen die Zunftprofessoren gar wohl, was sie zu thun oder vielmehr
zu lassen haben. Andernfalls aber, und wo ihnen die Regierung über-
haupt nicht querkommt, bethätigen sie ihr Privilegium ganz nach den
gelehrt vetterschaftlichen Interessen von Einzelpersonen und Ringen.
Der Professorenstand ist nämlich eine Art Kaste, die sich
vornehmlich durch Inzucht fortpflanzt. Schwiegervater und
Schwiegersohn sitzen innerhalb derselben Facultät und fungiren
innerhalb derselben Commission als Examinatoren. In die Pro-
fessuren heirathet man sich ein, wie früher in die Handwerks-
gilden. Auch ausserhalb der Universitäten weiss man ja in vielen
Kreisen bereits hinlänglich, dass die Vetterei dadrinnen eine
ganz bedeutende Rolle spielt, und dass wissenschaftliche Ver-
dienste nicht etwa blos die gleichgültigste Nebensache, sondern,
wo sie nicht mit der persönlichen Patronage zusammentreffen, ein
Hinderniss des Fortkommens und ein Grund der Fernhaltung
oder gar Aechtung sind. Aber die Art, wie dieses nepotische
System, welches da, wo es einmal über die Bluts- und Gilden-
verwandtschaft hinausreicht, auf persönlicher Affiliation beruht,
mehr und mehr corrumpirend auf den Nachwuchs einwirkt, muss
hier doch in Erinnerung gebracht werden. Ein Candidat des
Docententhums sieht sich zunächst danach um, wo er durch
Unterthänigkeit und in Aussichtstellung guter Dienste die specielle
Patronage eines Fachprofessors erwerben und sich so dessen
Stimme für die Zulassung und für künftige Beförderung ge-
winnen möge. Die Gewitztesten beginnen diese persönlichen
Manipulationen schon während der Studienjahre, zumal wenn sie
unmittelbar aus der Kaste selbst stammen oder wenigstens ihren
Künsten nähergetreten und von erfahrenen Routiniers schon
einigermaassen eingeweiht sind. Die elendeste Schmeichelei ist
das Pflaster, mit dem der Weg festgemacht wird, und die grüne
Unreife mit ihrer Urtheilslosigkeit hilft ein wenig nach, wo sich
onst vielleicht gelegentlich doch das Gewissen regen und dens
beschränkten Cultus bei den jedesmaligen Professörchen, der mit
der Verlästerung oder wenigstens Verleugnung des Bessern ver-
bunden werden muss, als eine zu arge Schmach empfinden lassen
würde. Indessen sind die universitären Reptilien mit ihrem Stellen-
schleicherthum meist schon durch die umgebenden Lebensbe-
dingungen hinreichend in ihrem Artcharakter ausgeprägt, um mit
einer mönchischen Verschlagenheit auch hinreichende Erhabenheit
über wissenschaftliche Heuchelei zu verbinden und ihre servile
Anpassungsrolle so abzuspielen, dass nicht bei ihnen eine mora-
lische Gegenregung, wohl aber bei Andern, diesem gesinnungs-
losen Treiben Fremdgebliebenen und nur von draussen Hinein-
blickenden, trotz der Entfernung, um auch einmal classisch zu
reden, der Speichel rege gemacht wird.
Wenden wir uns von diesem ekelhaften Treiben der Per-
sonen zu dem sachlichen Boden, auf dem es sich ergeht. An ge-
lehrtem Gemüll fehlt es dort natürlich nicht, und die Abfälle aus
dem Mittelalter bilden die Hauptverzierung , durch welche sich
universitäre Gelehrsamkeit vor moderner und naturgemäss ge-
stalteter Wissenschaft auszeichnet. In den Rahmen des mittel-
alterlichen Kirchen- und Autoritätswesens hineingepfropft, haben
die Universitäten das von der Kirchensprache her angenommene
Latein sozusagen als heilige Scheidewand gegen das profane
Volk angenommen und bis auf den heutigen Tag nach Kräften
conservirt. Freilich haben sie die lateinischen Vorlesungen schon
im vorigen Jahrhundert grösstentheils abthun müssen; aber sie
sind damit doch ein paar Jahrhunderte zu spät gekommen. Der
Geist der freien Wissenschaft hatte sich schon im 16. Jahrhundert
der neuern Völkersprachen bedient und die gelehrten Zünfte sind
in diesem Punkt wiederum nur der Hemmschuh gewesen, der
den Wagen des natürlichen Fortschritts am unrechten Orte auf-
gehalten hat. Heut steht das Latein theils als ceremonielles
Curiosum, theils aber auch (und dies ist das ernsthafte Uebel)
als Grundlage der Studien im Wege. Mit dem Griechischen sind
zwar die Gymnasien arg genug heimgesucht; aber in den be-
sondern Fachstudien spielt es, abgesehen von der Philologie, also
von der Zurichtung von Gymnasiallehrern für dasselbe, auf den
Universitäten keine gleich lästige Rolle. Der Jurist, dem man
die Pandekten als A und O der Rechtskunde wöchentlich 12- bis
15 stündig servirt, und der nach echt philologischer Manier wohl
gar die Künste eines römischen Richters an den alten „Formeln“
höchst Savignyromantisch galvanisiren soll, – der Jurist, dem
einige Geschäftskenntniss in den Verkehrs- und Rechtsformen
des wirklichen Lebens Noth thäte, soll statt dessen am rescri-
birten Gajus klauben und, was noch schlimmer ist, gelegentlich
ausser dem byzantinischen Mosaik der Justinianisch-römischen
Rechtsbibel auch noch das Corpus des kanonischen Rechts in der
ganzen Wohlbeleibtheit dieses geistlichen Buches umklammern
und, wie der Theologe seinen hebräischen Psalm, so seine latei-
nische Stelle aus der hierarchischen Ueberlieferung auslegen
können. Aber Griechisch kommt hiebei doch so gut wie gar
nicht in Frage, und das Unleidliche ist die lateinische Wörter-
dressur. Seit sieben Jahrhunderten hat man an der römischen
Rechtsbibel, namentlich aber an den Pandekten, sowie auch an
dem mittelalterlichen Zubehör heruminterpretirt und will noch
immer dieser erläuternden Bedientenverrichtung nicht entwachsen
sein. Diese Armseligkeit der Ergebnisse rührt von dem autori-
tären Princip her. Man hat persönliche Meinungen weiter ge-
geben, aufgereiht und gesammelt; die Ansichten der Doctoren
bildeten die sogenannte Wissenschaft und das lateinische Gewand
war der einzige Umstand, welcher der äusserst platten Sache vor
dem abergläubischen Publicum einen gewissen Schein und eine
Art Vornehmheit verschaffte. Hienach wird man auch begreifen,
warum die Gilde heute im Latein die letzte Stütze ihres An-
sehens wanken sieht, und warum sie diese heilige Sprache als
Scheide ansieht, in welcher das Schwert ihrer Rechtsweisheit
stecke. Eine Scheide ist es nun wohl – dieses Latein; aber
darinnen steckt Nichts, womit sich ernsthaft fechten liesse. Wer
nicht schon vor der umgehängten Scheide Respect bekommen
will, braucht das Uebrige nicht zu fürchten.
Dennoch hat aber ein geringes Maass von Latein grade noch
bei den Juristen am ehesten einen praktischen Sinn; denn manche
noch maassgebende Vertrags- oder Gesetzesurkunde neuerer Zeit
ist in echtem Küchen- oder Kirchenlatein abgefasst und kann
unter Umständen wohl einmal buchstabirt werden müssen, wofür
man freilich auch ebensogut wie für Polnisch eigne Dolmetscher
halten könnte. Was aber die Quellen des wissenschaftlichen
Studiums anbetrifft, so dürften die Kinderschuhe doch endlich
auszuziehen sein. Hat man sieben Jahrhunderte lang glossirt,
ohne selbständig zu werden, so wird man es auch in sieben
Jahrtausenden nicht; und ist man anderweitig durch bessere
Methoden des Denkens ein wenig zum Gebrauch der eignen
Beine gelangt, so ist erst recht kein Grund vorhanden, den alten
lateinischen, römischrechtlichen Zoll noch ferner zu entrichten.
Selbst der romantische Savigny wollte ja seine Liebhaberei nicht
verewigt, sondern dieselbe nur noch als eine zur Selbständigkeit
vorbereitende Phase anerkannt wissen und ergab sich bereits in
den Gedanken, den römischen Rechtsstoff als Schulungsmittel ab-
gethan und nur noch der geschichtlichen „Erinnerung einer dank-
baren Nachwelt übergeben“ zu sehen. Das Latein in der Philo-
logie aber schwebt ganz in der Luft; denn es dient nur dazu,
Lateinlehrer für die Gymnasien zu produciren, und die ganze
Herrlichkeit dreht sich auf diese Weise im Kreise. Braucht man
das Latein nicht mehr für materielle Fächer, so hat es auf den
Gymnasien keinen Sinn mehr; fällt es aber auf den Gymnasien
fort, so ist die Philologie auf den Universitäten überflüssig und
die altsprachlichen, angeblich auch alterthumskundigen Professoren
können getrost aussterben.
Die Medicin sammt Apothekerei ist zwar in ihrer eigensten
mittelalterlich abergläubischen Gestalt auch lateinisch recht hübsch
inficirt, aber doch glücklicherweise nur mit Brocken und sehr
äusserlich in jener Weise, wie sie von einem Molière im „Ein-
gebildeten Kranken“ angemessen verspottet wurde. Auch für die
Heilkunde wird man künftig gar keine alten Sprachen brauchen,
und schon jetzt kommt man so ziemlich ohne dies aus. Der junge
Mediciner kümmert sich um sein wenig Gymnasialgriechisch gar
nicht mehr, und auch von dem Latein wird er meistens 99⁄100
vergessen, ohne auch nur bei der Staatsprüfung in Verlegenheit
zu kommen. In der Praxis entäussert er sich aber alles gelehrten
Krams; nur darf er die paar Apothekerausdrücke für das Recept-
schreiben nicht verlernen; denn hier spielen die Reste der heiligen
Sprache eine wahrhafte Priesterrolle gegen das profane Laienvolk.
Hiemit sind wir aber auch schon auf dem Niveau des blossen
Apothekers angelangt, und für dessen Büchsen wird man doch
wahrlich nicht die classisch lateinische Literatur auf den Gymna-
sien tributpflichtig und zum Hauptdrillungsmaterial der armen
gequälten Zöglinge gemacht haben wollen. Um bei dieser Ge-
legenheit noch einmal an den Juristen zu erinnern, so wird auch
dieser in der selbständigen Praxis und zum Theil sogar schon,
wenn er über die erste, noch viel todte Gelehrsamkeit athmende
Prüfung hinaus ist, seine altsprachliche Bedürftigkeit mit Behagen
der Vergessenheit anheimgeben und Angesichts des wirklichen
Lebens und der neuern Gesetzbücher sich durch den Gedanken
erheben, welcher classisch romantischen Täuschung er nun glück-
lich entwachsen sei. Der nachdenkende Mediciner aber wird sich
sagen, dass er, um auch einmal aus Neugier in den Hippokrates,
hineinzusehen, mit seinem unzulänglichen Gymnasialgriechisch
doch nicht ausgereicht, sondern zu Herrn Littrés schöner franzö-
sischer Ausgabe oder auch zu einer deutschen Uebersetzung
hätte seine Zuflucht nehmen müssen. Uebrigens wird er wissen,
dass trotz einiger guter Maximen, über welche die Heilkunde
und die Betrachtungsart der Krankheiten in den 2000 Jahren nicht
hinausgekommen ist, doch der jetzige Hauptlernstoff im Natur-
wissenschaftlichen liege, worin die Alten bekanntlich weniger als
Kinder gewesen sind. Was an der Medicin nicht priesterartig
dunkel, autoritär und abergläubisch ist, stammt zum überwiegen-
den Theil aus der modernen, ja soweit es sich um die Geltend-
machung besserer Grundlagen des Naturwissens handelt, erst aus
der allerneusten Zeit. Die Ausmerzung des Verkehrten ist ein
Haupttheil der Fortschritte gewesen, und hiebei war die Altsprach-
lichkeit nicht ein Förderungsmittel, sondern eine Hemmung.
In Wahrheit ist das angedeutete Stück Mittelalter und Kirchen-
sprache und mithin die ganze Erbschaft des verwesten römischen
Reichs völlig abzuthun. Unmittelbare Kenntniss der Sachen im
modern wissenschaftlichen Sinne ist bei den Alten nicht zu haben.
Die Literatur des Römerthums aber ist sogar unwissenschaftlich
gewesen und hat, in Ermangelung schöpferischer Anlagen, blos
das Griechenthum nachgeahmt und zwar meistens recht dürftig
copirt. Zur eigentlichen Wissenschaft hatten die Römer niemals
irgend welche angestammte Neigung; die Schöngeisterei der ersten
Zeiten ihres Kaiserthums war, wie gesagt, erborgt und obenein
ziemlich servil. Was aber die sogenannten classischen Juristen
anbelangt, die sich in den ersten Kaiserjahrhunderten ausprägten,
so sind von ihren Werken nur Trümmer und Mosaikstückchen
vorhanden, und die verhältnissmässige Schärfe ihrer Manier, privat-
rechtliche Vorstellungen zu zersplittern, hat als Schulungsmittel
neuerer Gelehrsamkeit im Werthe immer mehr sinken müssen,
je entschiedener sich herausstellte, dass sich jene Formen des
Denkens von dem völlig fremdartigen Rechtsstoff nicht trennen
liessen. Dieser Rechtsstoff selbst ist aber nunmehr in der so-
genannten reinen Gestalt ein Gegenstand der romanistischen
Philologie geworden und hiemit seiner Ausrangirung aus den
wirklichen Bildungsmitteln näher gerückt. Dieses Stück Phil-
ologie kann ebensowenig, wie die sonstigen altsprachlichen und
alterthumskundlichen Gelehrsamkeitsreste, dem modernen Men-
schen als Bildungsmittel zugemuthet werden. Die sogenannte
classische Bildung auf den Gymnasien sollte eher altsprachliche
Verbildung heissen, und die mächtigen industriellen Classen, in
denen doch Blut des neuern Lebens pulsirt, werden schliesslich
schon dahin gelangen, die altsprachlichen Zollschranken nieder-
zureissen. Diese modernen Gesellschaftselemente werden sich
nicht immer gefallen lassen, dass ihre sonst einflussreichsten Mit-
glieder von der Staatsverwaltung, vom Richter- und Advocaten-
stande und überhaupt von allen gelehrten gesellschaftlichen Func-
tionen ausgeschlossen bleiben, weil ihr sachlicher Bildungsgang
ihnen die Einlassung mit dem Todtenputz philologisch lebloser
Verbildung nicht gestattet hat. Eines ist aber eben nur möglich,
und bei der Wahl zwischen Sachwissenschaft und Wörtergelehr-
samkeit kann die Entscheidung für den modernen Menschen nicht
zweifelhaft sein. Die vermeintlich bildende Kraft, die das gram-
matische Wiederkäuen lateinischer und griechischer Schriftsteller
auf den Gymnasien zur Formung des Geistes haben soll, ist nie
die Ursache der Einführung solcher todten Künste gewesen,
sondern hinterher als Scheingrund erfunden, um nicht zu sagen
erlogen worden. Seit den Zeiten Petrarcas und überhaupt mit
der literarischen Renaissance hatte man sich aus Bedürfniss, in
einer Art Anwandlung von Classicitätsromantik und zum Theil
auch, um ein Gegenstück zur religiösen Barbarei zu pflegen, den
alten Schriftstellern zugewendet, und der sogenannte Humanismus
von antik literarischer Haltung hatte eine gewisse Berechtigung.
Indessen würde man doch nicht die gelehrten Anstalten gymna-
sialer Art sowie den ganzen Gelehrtenverkehr auf das Latein
gegründet haben, wenn wirklich die geistige Beschaffenheit der
schriftstellerischen Ueberlieferungen und nicht vielmehr die alten,
von der Kirche herstammenden Gewohnheiten maassgebend ge-
worden wären. Die griechische Literatur hatte allein einigen
Gehalt; aber grade die Kenntniss und Einschulung der griechi-
schen Sprache blieb stets und bis auf den heutigen Tag eine,
dürftige. Es ist also eitel Blendwerk, wenn man sich heute hinter
angeblich formalistische Vortheile zu flüchten und sozusagen auf
die Turnkünste an den alten Sprachen zu steifen sucht. Selbst
wenn die schulmässige Zerklitterung zum Theil geringwerthiger
Autoren geschichtlichen oder belletristischen Genres im altsprach-
lichen Gebiet besondere Vortheile böte, wovon aber grade das
Gegentheil der Fall ist, – selbst wenn also die formelle Sprach-
bildung hier ernsthafte Förderung erführe, so würde dennoch
jeder moderne Gegenstand vorzuziehen sein, weil das Opfer, sich
etwas sachlich Nutzloses mit grosser Mühe und erheblichen Kosten
anzueignen, um eine blos formelle Uebungsfrucht davonzutragen,
denn doch Angesichts des riesenmässig angewachsenen Materials
unmittelbarer und lebendiger Sachinteressen eine zu komische
Zumuthung wäre. Solch eine Zumuthung kann eben nur von
Jemand ausgehen, der sich als philologischer Pedant in seine
Winkelwelt derartig eingehaust hat, dass er in seiner Eitelkeit
sein Wörterhäuschen für die grosse Welt der Dinge nimmt und
seine „Facultas“ für lateinische und griechische Knabendrillung
mindestens als eine Art Braminenthum der Bildung ansieht,
während er sich doch in Wahrheit zu den Theologen gesellen
und mit seinem altsprachlichen Priesterthum gegen wahrhaft auf-
klärende Sachwissenschaft nur eine reactionäre Front formiren
kann. Auch ist es der Mangel an wirklichem Wissen und ernst-
hafterer Bildung, was die altsprachlichen Matadore so gewaltig
aufregt, wenn Jemand der Heiligkeit und den Wunderwirkungen
ihrer Manipulationen den Glauben versagt. Sie fühlen nämlich
schon einigermaassen, dass sie nichts sind und mit ihrer sach-
lichen Bildungslosigkeit zu einer komischen Figur werden müssen,
wenn ihr altsprachliches Priesterthum erst von einer grösseren
Menge durchschaut wird.
Man ist schon früher in Frankreich und jetzt auch bei uns
auf den der Beschränktheit naheliegenden Einfall gekommen, das
Griechische im Verhältniss zum Latein mehr als bisher hervor-
treten zu lassen. Diese Weisheit ist eine sehr ungeschichtliche
und unpraktische; denn, wie schon gesagt, nach dem Rangver-
hältniss der Literaturen ist die altsprachliche Drillung überhaupt
nicht eingeführt worden. Es waren praktische Anknüpfungs-
punkte gewesen, denen das Latein seine schulmässige Einbürgerung
zu verdanken gehabt hatte. Nun thut man aber so, als wenn
geistige Vorzüge einer relativ bessern Literatur, wie der griechi-
schen, den Ausschlag geben müssten. Man kommt hiemit nicht
nur ein halbes Jahrtausend zu spät, sondern versimpelt auch die
ganze Betrachtungsart in das Ideologisch-Romantische hinein.
Was zur Zeit humanistischer Classicitätsschwärmerei, also in einem
Zustande, welcher sich zu dem heutigen Verfall wie Jugendleben
zu einem Leichnam verhielt, nicht den Ausschlag zu geben ver-
mocht hat, sollte jetzt an erster Stelle maassgebend werden?
Selbst wenn wir heute mit unserer wirklichen Wissenschaft da
ständen, wo wir vor vier Jahrhunderten waren, also bei einer
ersten Initiative, so würde der Werth des Griechischen doch nicht
dazu führen können, es zur Schulungssprache zu machen. Wie
die Dinge aber gegenwärtig liegen und nach Beseitigung aller
jener Illusionen der Classicitätsromantik möchte die griechische
Belletristik und Geschichtsschreibung denn doch nicht verlockend
genug sein, um moderne Generationen, etwa der zerfahrenen Possen
des Aristophanes wegen, zu nöthigen, sich Jahrzehnte des Lebens
durch griechische Sprachexercitien aushöhlen zu lassen! Das
Beste bei den Griechen war die plastische Kunst, und ihre Bild-
säulen reden glücklicherweise kein Wort Griechisch. Die Wissen-
schaft aber war bei den Griechen in der Kindheit und die Philo-
sophie fast durchgängig weniger als das, nämlich, was sie, ab-
gesehen von der sachlichen Forschung, auch noch heute so
ziemlich überall ist, ein selbstgefälliges, sachlichen Ernstes er-
mangelndes Vorspiel mit allerlei ersten Elementarbegriffen, aber
überdies in einem dialektisch sehr schülerhaften Genre. Wenn
man also die griechische Schöngeisterei nicht überschätzt und die
Bedürfnisse der modernen Denk- und Gefühlsweise nicht auf die
Dauer mit Füssen treten will, so wird man auch die griechische
Romantik fahren lassen und den modernen Völkern nicht mehr
etwas so Entfremdetes und, realistisch besehen, einer edleren
Menschlichkeit oft so Fernstehendes, stets aber götterspielerisch
und abergläubisch Rückständiges aufdringen können. Für die
richtige Würdigung und Stellung aller Belletristik, einschliesslich
der sprachlich mumisirten und sachlich uns in vielen Elementen
ganz unsympathischen des Alterthums, wird die eigentliche
Wissenschaft schon sorgen.
Gesetzt aber auch, die weibliche Jugend würde unter gymna-
sial altsprachliche Zucht genommen, so würde sie selbst für den
eingebildeten Zweck davon keine Frucht haben; denn mit dem
Zeugniss der Reife ist der heutige Abiturient in griechischer
Lectüre doch noch regelmässig ein derartiger Stümper, dass an
ein geläufiges, sachlich ausgiebiges Aufnehmen alter Literatur-
werke nicht zu denken ist. Bleibt doch noch sogar der studirte
Philologe im trägen Schneckengange des sich Wort für Wort und
Zeile für Zeile durchwindenden und meist mühsam keuchenden
Uebersetzens und sogenannten Commentirens stecken! Doch ich
kann diesen Gegenstand hier nicht im Entferntesten erschöpfen.
Es ist genug, wenn die Frauen wissen, dass ihnen die heutige
Todtenmaske der einst lebendigen antiken Literatur nicht blos
übel anstehen, sondern auch noch die Verrenkung ihrer natür-
lichen Geistesglieder mit der altsprachlich grammatischen und
lexikalischen Folter eintragen und sie so zu allen gesunden Lei-
stungen ungeschickt machen würde, – eine Ungeschicklichkeit,
die sie am besten im Voraus an jenen männlichen Blaustrümpfen
studiren können, die als philologische Pedanten auf den Gymna-
sien und Universitäten die heutige Scholastik vertreten. Ueber-
haupt hat die todtsprachliche Bildung ihren Ort bei den übrigen
Leichnamen, die den Gegenstand linguistischer Anatomie bilden,
also bei dem Sanskrit, dem Hebräischen u. dgl. zu suchen und
mag sich äussersten Falls einer ähnlichen gelehrten Winkelpflege,
wie die altorientalischen Sprachen, erfreuen. Was aber das ver-
dorbene Latein anbelangt, in welchem in den neuern Jahr-
hunderten auch noch einige wirkliche Wissenschaft, wie Mathe-
matik und Physik, niedergeschrieben wurde, so ist es nur zum
letzten Quellenstudium, ja, wie die Zuratheziehung antiker griechi-
scher Schriftsteller, eigentlich nur zur Geschichtsschreibung der
Wissenschaft erforderlich, und letzterer Thätigkeit kann unter
natürlichen Verhältnissen über und über genügt werden, wenn
auf 100,000 Menschen, die den Ständen gelehrter Berufsausübung
angehören, einer kommt, der sich mit dieser Art von Erinnerung
befasst. Hiezu genügen aber Gelegenheiten, wie sie ja auch be-
züglich mexikanischer Alterthümer von denen aufgespürt worden
sind, welche die sprachlichen Hülfsmittel zu ihren Forschungen
von keiner Staatsweisheit für sie bereitgestellt fanden.
Das Kramen in Citaten antiker Schriftsteller ist das Merk-
mal der falschen Autoritätsmanier und hat auf den Universitäten
die Lehre der meisten Wissenschaften nicht nur mit Geschmack-
losigkeiten durchwebt, sondern auch in der ganzen Haltung und
Methode verdorben. Alte Musterbücher und sozusagen Bibeln
sowie überhaupt persönliche Meinungen und literarische Urkunden
werden fälschlich als letzte Quellen oder als letzte Gegenstände
des Wissens angesehen. Der stupide Personencultus spielt dabei
eine Hauptrolle und die Wortgelehrten haben nicht einmal in
ihrem eignen Gebiet eine Ahnung von freier und unmittelbarer
Sachwissenschaft. Selbst Mathematik und Naturwissenschaft sind
hievon angesteckt und zeigen die Spuren einer Ablenkung zum
scholastischen Verfall, der allerdings auch zugleich auf die Wir-
kungen der Zunftcorruption und der servilen Personenauswahl
zu verrechnen ist. Eine Universitätsvorlesung, die sich ein Semester
hindurchschleppt, trägt meist das Gepräge jener Autoritätsmanier.
Sie ist der späte Nachkömmling jenes mittelalterlichen Ersatzes
der Bücher durch dictirendes Uebermitteln eines wohlzusammen-
gestoppelten Professorheftes. Sie benimmt sich heute noch so,
als wenn es keinen Buchdruck gäbe, und als wenn die Weisheit
der Kathederpfründner ein Geheimniss wäre, das nur im ver-
traulichen engern Kreise offenbart würde. In Wahrheit bleiben
aber die Hefte gewaltig hinter den Grundwerken der Wissen-
schaft zurück. Der gemeine Professor hält sich stets unterhalb
des Niveaus seiner Wissenschaft; denn er käut nur wieder, was
ihm schon mannichfaltig vorgekaut und von seinem einstigen
Hauptprofessor übergeben worden ist. Dieser selbst aber hat
Mühe und Noth gehabt, etwas zusammenzudrechseln, worin
wenigstens die an der Oberfläche greifbarsten Ansichten wirk-
licher Grössen und Grundwerke der vorangehenden Generation
oder des abgelaufenen Jahrhunderts registratormässig angeführt
wären. Er ist damit freilich auch meist im Rückstande, und in
der Gegenwart versagt sein Urtheil ganz; denn es beruht auf
demjenigen anderer Leute, die für ihn schon entschieden haben
müssen. Das Verfahren eines auf dem Wege zur Docentur Be-
griffenen macht die Art kenntlich, wie die Vorlesungshefte ent-
stehen. So ein Candidat pflegt, nachdem er die drei oder vier
Jahre Studien hinter sich hat, noch ein paar Jahre auf ver-
schiedenen Universitäten herumzuhausiren. Dort sieht er zu, wo
er etwas abgucken und in sein Stammheft, welches er einst vor-
zulesen gedenkt, buchstäblich zusammentragen könne. Das Heft
seines Hauptprofessors bildet den Rahmen, falls nicht irgend ein
anderes Renommee tributpflichtig gemacht werden kann, wobei
auch die nichtofficiösen Vortragenden, die allerdings eine seltene
Ausnahme bilden, mit der verstohlenen Anwesenheit solcher can-
didirenden Freibeuter heimgesucht werden. Uebrigens hält sich
der Candidat zu seinem Patron und verleugnet öffentlich Alles,
was diesem und seiner Clique nicht genehm sein würde. Die
gekennzeichnete Heftmache aber ist darum nothwendig, weil es
dem angehenden Docentenvolk selbstverständlich noch weit mehr
als seinen bejahrteren Protectoren an der Fähigkeit fehlt, die
Wissenschaft in freier Initiative selbständig zu formuliren oder
doch wenigstens in Gemässheit der letzten Grundwerke und aus
den bedeutendsten unmittelbaren Quellen zu redigiren. Die Pflege
der autoritären Unmündigkeit, welche schon in der ganzen gym-
nasialen Vorbildung verderblich und in den Universitätsstudien
vollends degradirend wirkte, erklärt zu einem guten Theil jene
Heftzurichtung. Uebrigens ist es aber die Macht der mittel-
alterlichen Gewohnheit, welche bei Lehrenden und Lernenden
den Heftcultus sammt Ablesen, Anhören und Nachschreiben ver-
schuldet. Wie auch der Inhalt dieser Form entspreche und wie
verzopft die Gelehrsamkeit, ja selbst die modern angefrischte
Wissenschaft dabei hervortrete, ist hier nicht möglich, im All-
gemeinen und kurz auseinanderzusetzen; wird aber wohl für den,
welcher das Uebrige durchschaut hat, keinem Zweifel unter-
liegen. Auch kann ich mich für Mathematik und Naturwissen-
schaft auf die Auseinandersetzungen berufen, die sich in der
zweiten Auflage meiner Geschichte der Mechanik in der am
Schluss angegebenen Anleitung zum Studium der mathe-
matischen Wissenschaften bezüglich der universitären Lehrweise finden.
Hiemit sind noch die Kennzeichnungen zu verbinden, die in dem
Werk „Grundmittel zur Analysis u. s. w.“ speciell für die
mathematischen Gelehrtenzustände und deren monströse Ent-
artungen beigebracht worden. Für die Volkswirthschaftslehre ist
Entsprechendes in der Studienanleitung am Schluss der zweiten Auf-
lage des Cursus der Nationalökonomie dargelegt worden. Die
allgemeinen Gesichtspunkte aber nebst einigen andern speciellen
Anwendungen finden sich über die universitäre Lehrweise im
Cursus der Philosophie geltend gemacht, und reformatorische
Beleuchtungen der Wissenszustände überhaupt sowie im besondern
Hinblick auf die Hindernisse der Wissensentwicklung sind in dem
Buch „Logik und Wissenschaftstheorie“ nach allen Richtungen
hin vorgenommen. Auf die Ausführungen dieser Bücher muss
ich mich berufen, um für das, was ich hier im Interesse der
Frauen mehr allgemein gekennzeichnet als im Detail verfolgt
habe, die erforderliche systematische und dem wissenschaftlichen
Gesammtzusammenhang eingefügte Ergänzung voraussetzen zu
können. Die weibliche Welt muss vor allen Dingen darauf halten,
das fragliche gelehrte Unwesen nie ernstlich an sich kommen zu
lassen, und also auch dann, wenn sie ausnahmsweise mit ihm auf
einem Wege zusammentreffen und die jetzigen gelehrten An-
stalten zeitweilig benutzen müsste, der Hohlheit des universitären
Aufputzes eingedenk bleiben. Das ganze System wäre längst
zusammengebrochen, wenn es nicht einem künstlichen Staats-
zwange die zum Theil schon recht widerwillige Kundschaft ver-
dankte. Der Student muss seine Semester und die Bezahlung
seiner Vorlesungen nachweisen und sich meistens auch von Exa-
minatoren prüfen lassen, die ihm an den Universitäten als Pro-
fessoren ihre Vorlesungen anbieten. Gäbe es Unterrichtsfreiheit,
so könnten die altersschwachen Institute die Concurrenz des freien
Marktes keine Generation hindurch aushalten. Die Frauen haben
aber zuzusehen, wie sie auf dem kürzesten Wege zu einer na-
türlichen Studirart gelangen und für diese den freien Spielraum
und die natürlichen Rechte gegen staatliche Beeinträchtigung und
universitäre Monopole verwirklichen.
6. Natürliche Vorbereitung für das praktische
Hauptziel.
Der heutige Zustand der Wissenschaft und zum Theil auch
derjenige der Literatur legt überhaupt und ganz besonders fur die
weibliche Welt eine ganz andere Studirweise nahe, als die aus
dem Mittelalter und von der Autorität vererbte. Selbstthätigkeit
auf Grund gedruckter Hülfsmittel wird die in Rücksicht auf
Zeit und Geld bequemste und billigste Lernart ergeben. In der
That ist es ein gelehrter Privilegienhumbug, glauben zu machen,
dass die Grundwerke der Wissenschaft, die von wirklichen und
schöpferischen Grössen herrühren, für den strebsam Lernenden
zu hoch ständen. Was heute in der That nicht zu brauchen
ist, – das sind die Lehrbücher, die, auf die Universitäten be-
rechnet, schon absichtlich so eingerichtet wurden, dass sie den
Vorlesungen keine Concurrenz machen. Sie sind nicht etwa blos
Halbheiten, sondern meist Ungeniessbarkeiten und haben ihren
Namen von dem, was sie nicht leisten. Wer sich aber an die
Grundwerke hält, die hoch über den Lehrbüchern stehen, wird
wirklich und zwar weit besser belehrt werden als durch Vor-
lesungshefte, die er übrigens auch, wenn er den Aberglauben an
sie probiren will, fertig geschrieben kaufen kann, ohne sich selbst
die Pein des Anhörens des Dictats und die Schreiberarbeit nebst
dem Absitzen in der dumpfen Luft auferlegt zu haben. Die
seltene Ausnahme eigentlicher und anregender Vorträge, die weder
auf Vorleserei noch auf Abhaspelung des Detailkrams einer
Wissenschaft oder gar auf einen Buchersatz hinauslaufen, ist
praktisch kaum zu veranschlagen, da sie in der Masse so gut
wie nicht mitzählt und überdies im Rahmen der universitären
Gewohnheiten und Vorschriften zu einer schwierigen und nur
mit Opfern ausführbaren Angelegenheit wird. Ein Semester hin-
durch mindestens sechzigmal in lebendiger Rede sich über die
anregenden Hauptpunkte, leitenden Grundanschauungen und
Studiengrundsätze einer Wissenschaft derartig auslassen, dass
Alles sofort interessirt und ohne Schreiberei dem Geiste ein-
geprägt werde, – dies ist, zumal den stumpfen Angewöhnungen
gegenüber, die schon vom Gymnasium her die Fähigkeit zur
thätigen und mitarbeitenden Aufmerksamkeit abgeschwächt haben,
eine für den Docenten äusserst aufreibende Sache. Der einseitige
Vortrag ist hier eben ein Hinderniss der Natürlichkeit der Mit-
theilung; denn es ist eine ungeheuerliche Aufgabe, im Semester
etwa für zwei Wissenschaftszweige zwei Mal sechzig eigentliche
Reden halten zu sollen und dabei die eignen Kräfte und die-
jenigen der Zuhörer nur in dem menschlich möglichen Maasse
in Anspruch zu nehmen. Es kann Einer unvergleichlich leichter
sechs Stunden hintereinander (wie dies bei Pandektisten in über-
stürzten Schlussabhaspelungen vorkommt) den Inhalt seines Heftes
abdictiren, als zwei Stunden hintereinander wirklich selbständige
und geistig frei bewegliche, den Gedanken frisch gestaltende Vor-
träge halten. Man erwarte daher auf den Kathedern wesentlich
nur mechanische Arbeit, bei der natürlich für das Lernen weit
weniger herauskommen muss, als wenn das Heft oder besser ein
gutes Buch zur unmittelbaren Lectüre vorläge. Mit wirklichen
Vorträgen hätte man weit sparsamer zu sein; denn weder der
Lehrende hat sich in ihnen aufzureiben, noch der Lernende ein
Interesse, in andern als wichtigen Fällen in einseitiger mündlicher
Rede, die sich an Viele allgemein dirigirend wendet und keinen
gegenseitigen Gedankenaustausch mit sich bringt, sozusagen
wissenschaftlich haranguirt zu werden. Derartige Haranguen sind
ganz am Orte, wo es gilt, einen leitenden Einfluss auszuüben,
der an Einzelne oder Wenige in gewöhnlicher Gesprächsform
nicht adressirt werden kann, weil eine derartige Anleitung, die
jedenfalls noch besser ist, zu kostbar ausfallen müsste. Bedeutende
Persönlichkeiten und selbst schon besondere Virtuositäten können
mit dem lebendigen Wort auch in der Wissenschaft für eine
grössere Menge meist nicht anders dasein, als durch Vorträge,
deren Hauptcharakter im Erwecken und methodischen Dirigiren
der jedesmal erforderlichen speciellen Studienthätigkeiten be-
stehen wird. Solche Vorträge werden auf die Hauptaufgaben
hinweisen und die Mittel kennen lehren, durch welche man das
Ziel selbstthätig erreicht.
Abgesehen von solchen Vorträgen, die heute überall nur als
vereinzelte Ausnahmen existiren und daher als Studienmittel erst
einzuführen sind, wird für den bereits zum Verständniss der
eignen Sprache einigermaassen Gebildeten das gedruckte Wort in
allen Wissenschaften den Hauptausgangspunkt abgeben müssen.
Ein ergänzender mündlicher Unterricht, soweit er für Einzelne
oder für kleine Kreise billig und daher gewöhnlich nur von
Seiten der Durchschnittskräfte zu haben sein wird, hat das Ge-
präge der zweiseitigen Mittheilung und womöglich des gemein-
schaftlichen Arbeitens von Lehrenden und Lernenden, mindestens
aber irgend einer Art der gegenseitigen Verständigung anzu-
nehmen. Da er nur zur Aushülfe erforderlich ist, so wird er
schliesslich billiger zu stehen kommen, als die üblichen, aber
äusserst gehäuften und dennoch so überaus unzulänglichen Bil-
dungsgelegenheiten. Für die Frauen aber, die ein neues Berufs-
gebiet betreten wollen, giebt es Angesichts der heutigen Lage
kaum eine Wahl. Sie müssen zusehen, wie sie sich auf privatem
Wege die persönlichen Orientirungshülfen zur ersten Einführung
in das Bücherreich verschaffen. Der Staat wird ihnen dabei
schwerlich auch nur aus der Sonne gehen; sie werden bei ihren
Bemühungen um die für sie brauchbaren Lehrkräfte den Schatten
schon merken, den das Privilegienunwesen in unwillkommener
Weise auf ihren Weg wirft. Allzu genau werden sie es daher
in der Uebergangsphase nicht nehmen dürfen. Sie werden sich
die ergänzenden Lehrkräfte gefallen lassen müssen, wie sie die-
selben finden und haben können. Sie mögen auch immerhin mit
allen Mitteln operiren und selbst das universitäre Gebiet nicht
scheuen, wenn sie sich nur hüten, seiner Sklaverei und seinen
Rückläufigkeiten anheimzufallen. Wo ausser dem Lesen, welches
in den praktischen Fächern zwar sehr Viel, aber doch nicht
Alles sein kann, sachliche Erfahrungen persönlich gemacht und
Hantirungen eingeübt sein wollen, werden sich die Frauen an
die praktischen Privatausüber der Sache halten und beispiels-
weise in Verfolgung des medicinischen Berufs ausübende Aerzte
zur Unterweisung und technischen Anleitung gewinnen müssen.
Letzteres wird mehr leisten als das amtliche Stationsdurchmachen
in den öffentlichen Krankenhäusern, was man dem Weibe vor-
läufig nach Kräften versagen wird und was auch kaum als der
natürlichste Weg gelten kann. Wie der Jurist am besten durch
einen Praktiker und inmitten der Geschäftsbedürfnisse zur selb-
ständigen Rechtswahrnehmung geschult werden würde, während
er jetzt die Universität praktisch ganz unkundig verlässt, so
muss auch der ärztliche Beistand im engsten Anschluss an die ein-
schlagenden Verrichtungen des täglichen Lebens erlernt werden.
Privatvereine zum theoretischen Studium und zur ersten
Einführung in die Praxis würden hier die privilegirten Staatsanstalten
weit hinter sich lassen können und vor allen Dingen ein mög-
licher Weg sein, trotz der Staatsprotection der Unterrichtsprivi-
legien die Gewerbefreiheit im weiblichen Interesse auszunutzen.
Man hätte damit freilich noch nicht die amtsärztlichen Functionen
zur Verfügung; man könnte noch keine staatsmässig gültigen
Krankheits- oder Todtenzeugnisse ausstellen und, was weniger
zu bedauern ist, auch nicht gültige Impfungen vornehmen. In-
dessen würde man statt dessen der Gesellschaft einige gesunde
ärztliche Elemente eingeimpft, eine Schaar weiblicher Kenner von
Gesundheit und Krankheit und hiemit zugleich eine grössere
Bereitwilligkeit geschaffen haben, dem Publicum wirklich hand-
anlegende Dienste zu leisten und sich auf den Hülferuf auch
anders als blos bei Tage oder blos bei dem Sonnenschein vielen
Goldes einzustellen. Doch letztere Vortheile gehen die gesammte
Gesellschaft erst später an; in der Phase des Studiums aber wird
man zu erwägen haben, dass die naturgemäss verfügbare Zeit
bemessen ist.
Soll das Mädchen nicht zu alt und durch die Studien über
ihre Jugendblüthe hinaus mit blossen Vorbereitungsdingen zu
lange aufgehalten, also an einer rechtzeitigen Selbständigkeit des
mündigen und praktischen Lebens gehindert werden, so muss sie
ihre höchste theoretische Berufsaufgabe etwa in zwei Jahren eben-
sogut durchmessen können, wie der Zögling der Pariser poly-
technischen Hochschule die seinige. Ja es muss in dieser Zeit
für die Annäherung an den praktischen Beruf vergleichungsweise
noch mehr geschehen; denn die Medicin ist noch lange nicht in
dem Maasse eine eigentlich wissenschaftliche Kunst, wie es das
Ingenieur- und Baufach sind. Von den vermeintlichen oder
wahren Hülfswissenschaften der Medicin kann man sehr viel in
die „höhere Vorschulung“ verweisen. Beispielsweise werden
Physik und Chemie nicht wie heute zweimal erscheinen, nämlich
erst auf Gymnasien oder Realschulen unzulänglich und dann noch
einmal auf Universitäten, wo sie von den Medicinern aber auch
nur als Nothvorlesungen um der künftigen professoralen Examina-
toren willen benutzt und von den Docirenden in der auch zugleich
für Apotheker berechneten Manier hübsch elementar oder viel-
mehr platt aufgetischt werden. Eine solche Zeit- und Geldver-
schwendung könnte in einem gesund organisirten System nicht
vorkommen; dort würden derartige Erfordernisse als allgemeine
Bildungswissenschaften in den „höhern Vorschulen“ gründlich
und ein für alle Mal abgemacht, und die Beschäftigung mit diesen
elementaren Grundlagen der naturwissenschaftlichen Bildung
könnte schon in ein sehr jugendliches Alter fallen. Es blieben
alsdann, um wieder das Beispiel der Medicin zu Grunde zu legen,
als technische Fachstudien nur detaillirte Anatomie und Physio-
logie des gesunden und kranken Zustandes, ferner eine an die
unmittelbare Erfahrung angeknüpfte Krankheitslehre und die
Heilmittelkunde übrig, zu welchem theoretischen Stoff sich dann
weiter die praktischen Uebungen und Hantirungen zu gesellen
hätten. Wirft man den unnützen Gelehrsamkeitsballast, den me-
dicinischen Aberglauben, die Ueberlieferungen der ärztlich priester-
haften Charlatanerie und allen scholastisch formellen Kram eines
hohlen Pedantismus über Bord, so wird man wahrlich nicht zu
viel Gediegenes zu lehren und zu lernen übrig behalten. Ge-
wissenhaft Lehrende werden sogar eher in Verlegenheit gerathen,
die angesetzte Zeit wahrhaft interessant mit echtem und brauch-
barem Wissensmaterial auszufüllen, als etwa den heutigen Mono-
polisten nachzuahmen, die unter der Wissenslast, die sie ablagern
zu müssen vorgeben, zusammenbrechen wollen und zu den bereits
viel zu langen vier zünftlerischen Lehrjahren noch eines oder
zwei zu ihren bisherigen Zwangs- und Bannprivilegien hinzu-
fordern, um künstlich sozusagen mit der Dienstzeit der Studenten
den Umfang der jedes Jahr verfügbaren Zuhörerkundschaft zu
vermehren.
Wirklich gute Einrichtungen gehen von den Bedürfnissen des
Publicums und nicht von den Gelüsten der Monopolinhaber eines
in jeder Richtung verrotteten Unterrichtssystems aus. Aus diesem
Grunde ist auch an die höhere Vorschulbildung des weiblichen
Geschlechts in dem bestimmten Sinne, in welchem ich dieses
Wort gebraucht habe, zunächst nur unter der Voraussetzung
privater Initiative zu denken. Bis jetzt lässt sich zwar noch
nicht einmal eine armselige Volksschule ohne öffentliche Ge-
nehmigung errichten; aber ein solches Uebermaass der Unfreiheit,
ja der Unterrichtssklaverei, wird wenigstens stückweise durch-
löchert werden. Für erwachsene Personen bildet das Vereins-
recht den Anknüpfungspunkt, um wenigstens die gesetzlich mög-
liche Form für eine Bildung- und Berufspropaganda zu gewinnen,
durch welche für die Pflanzschulen, aus denen die „höhern Vor-
schulen“ ihre Lehrkräfte zu beziehen haben, eine Schaar in-
struirender Persönlichkeiten bereit gemacht werden könnte. Die
letzteren würden zunächst privatim überall da eine Verwendung
finden, wo das Publicum gewillt wäre, sich die bisherigen Un-
zulänglichkeiten nicht mehr gefallen zu lassen und concessionirte
Privatinstitute bisheriger Art, ja gelegentlich auch die Communen
zu nöthigen, die schlechten Anstalten für sogenannte höhere weib-
liche Bildung dadurch zu verbessern, dass besondere Extracurse
eingeführt und von jenen Normallehrerinnen abgehalten würden.
Hiebei ist natürlich vorauszusetzen, dass dieselben die Kleinig-
keiten der bisherigen privilegirten Prüfungen nebenbei längst er-
ledigt und daher keinen formellen Hindernissen der Zulassung zu
begegnen hätten. Man würde auf diese Weise das alte Regime
mit einem Netzwerk thatsächlich besserer Unterrichtshülfen durch-
flechten, sich aber jedenfalls überall da, wo der private Wille,
der Familienunterricht und eine Association von Familien den
Ausschlag geben kann, etwas modern Brauchbares und Gediegenes
sichern. Die Lehrerinnen an den Pflanzschulen der Vereine
würden zeitgemässere Figuren sein, als philologische Universitäts-
professoren, zu denen sie ungefähr die Parallele bildeten, ohne
deren überlebte Lehrstoffe und Methoden anzunehmen.
Ein einziger praktischer Berufszweig, wie die Medicin, er-
scheint vielleicht Manchem nicht ausreichend, um im Hinblick
auf denselben eine ganz neue höhere weibliche Vorschulbildung
nebst einer Zurüstung von Pflanzschulen zu organisiren, die ein
weibliches Gegenstück zu der universitären Production von Gym-
nasiallehrern bildeten. Es fehlt indessen doch nur an dem juri-
stischen Beruf, um an Weite wenigstens dasselbe für sich zu
haben, was das heutige gymnasial-universitäre System aufzuweisen
hat. Vorläufig kann man sich aber sehr wohl bei der Medicin
als praktischem Zielpunkt beruhigen; es wird an andern Ver-
zweigungen der wissenschaftlichen Berufsthätigkeit auf die Dauer
nicht fehlen, und die höhern Vorschulen werden sozusagen nicht
blos für zwei weibliche Facultäten, nämlich nicht blos für die
Medicin und das Lehrfach, vorarbeiten. Grade der selbständige
Bildungswerth der höheren Vorschulen, vermöge dessen sie auch
für allerlei, nicht grade gelehrte Berufe die natürlichste Vor-
bereitung ergeben, wird weiterhin der Anknüpfungspunkt werden
können, um später den Uebergang zu polytechnischen Verrich-
tungen der Frauen zu vermitteln und schliesslich auch an den
öffentlichen Functionen, also an der Rechtswahrnehmung und
Verwaltung denjenigen Antheil zu erobern, ohne den die bis-
herige unmündige Stellung des Geschlechts doch noch zu einem
grossen Theil fortbestehen und das gesellschaftliche Eingreifen in
das praktische Leben erschweren wurde. Doch ich habe grund-
sätzlich die Erörterung dieses Gegenstandes, als im Rahmen dieser
Schrift zu weit führend und auch als praktisch für den Augen-
blick zu weit vorgreifend, ausschliessen müssen. Die Lehrstoffe
aber, mit denen die höheren Vorschulen vorzugsweise zu schaffen
haben werden, bedürfen noch einer besondern Kennzeichnung.
Das blos Sprachliche sollte in einem modernen Bildungs-
system höchstens 1⁄20 des Raumes in Anspruch nehmen, so dass
19⁄20 für die Sachwissenschaften zur Verfügung blieben. Es ist
hauptsächlich auf den Satzbau der eignen Sprache zu concen-
triren und in den oberen Classen der höheren Vorschulen über-
haupt gar nicht mehr zu treiben; denn dort und schon vorher
ist ein grosser Theil der Uebung in Verständniss und Gebrauch
der Sprachmittel mit den sachlichen Auffassungs- und Darstellungs-
nothwendigkeiten unwillkürlich gegeben und überdies grund-
sätzlich zu verbinden. Was die antiken Griechen an ihrer eignen
Sprache in kümmerlicher Weise übten, das können wir, die wir
über die Kindheit der Sprachzergliederung und Sprachgeschichte
hinaus sind, am Deutschen weit besser verrichten. Man lehre
nur, im ernsten Sinne des Worts Deutsch hören, Deutsch lesen
und Deutsch reden, und die Leute beiderlei Geschlechts, die kein
Protocoll mit Verständniss unterschreiben können, und deren es
unter den Gebildeten, ja unter den Gelehrten sehr viele giebt,
werden seltener werden. Auch die Schulungsrubrik, welche man
deutschen Aufsatz nennt, dürfte alsdann überflügelt werden; denn
bisher habe ich von der Fähigkeit, die ein als reif entlassener
Gymnasiast im Auffassen eines reicher gegliederten, wissenschaft-
lich gehaltvolleren Stils bekunden wird, keine zu hohe Meinung
erlangt, und wie Universitätsprofessoren von grossem Renommee,
und darunter Philologen, oft genug ein wahres Judendeutsch
schreiben, das kann der Kenner, der hierauf seine Aufmerksam-
keit richten will, grade jetzt in wissenschaftlichen Journalen und
Büchern genugsam beobachten. Fremde moderne Sprachen sind
als materielle und geistige Verkehrsmittel internationaler Art von
grosser praktischer Wichtigkeit, aber darum eben auch ganz
praktisch, mit möglichst wenig Aufwand an grammatischem und
Regelpedantismus, aus unmittelbarer Uebung zu erlernen. Fran-
zösisch, Englisch und nächstdem das praktisch wohl bald an
dritter Stelle in Frage kommende Russisch brauchen und sollen
für uns grundsätzlich nicht als allgemeine Bildungsmittel sondern
nur als specielle Werkzeuge fungiren, deren Gebrauch man sich nur
bei besonderm Bedürfniss und alsdann auf möglichst billige Weise
zu verschaffen sucht. Was bei ihrer Erlernung dennoch neben-
bei als Bildung mitabfällt, mag man willkommen heissen; aber
man wird sich vor dem Abweg zu hüten haben, hier mit argen
Unkosten und mit Schädigung des praktischen Hauptziels die-
jenige Bildung zu suchen, die unmittelbar an dem bereits ge-
läufigsten Stoff, also am Deutschen und nur hier in der kürzesten
und vollkommensten Art erworben werden kann. Man lerne also
vor allen Dingen Lesen, Schreiben und Reden; man begreife,
was es heissen will, dem Gedankengang einer Lectüre oder einer
Verhandlung mit Unterscheidungsvermögen und mit genauer An-
passung an das wirklich Gesagte folgen, sowie die eigne Meinung
zutreffend und verständlich zu Markte bringen, so wird man an
„höherer Vorschulung“ für Berufsleben und Wissenschaft mehr
zur Schau stellen können, als heute gemeiniglich zu sehen ist.
Als Nebenfrucht wird dann vielleicht auch an die Stelle der
wüsten, blasirenden Vielleserei gedankenhohler Art etwas Sinn
für grössere Gediegenheit von Rede und Schrift treten und die
oberflächliche Schreibselei gelehrter und ungelehrter Art ein
wenig in Schranken halten.
Um jedoch das, was der Sprachbildung auf der andern Seite
als Aeusserstes gegenübersteht, nicht ganz unberührt zu lassen,
so wird die Mathematik ebenfalls als ein Werkzeug zu betrachten
sein, dessen Handhabung immer mit Rücksicht auf den speciell
sachlichen Zweck zu erlernen ist. Nur ein sehr kleines Theilchen
des mathematischen Feldes ist wirklich fruchtbar, sei es nun in
der allgemeinen Formung des Vorstellens und Urtheilens, oder
in der Bereitstellung von Mitteln für die Ergründung des Zu-
sammenhangs der Natur und technischer Mechanismen. Das
übrige Gebiet ist eine Wüste von speculativem Sande, innerhalb
dessen allenfalls noch ein paar Oasen das blosse Vergnügen des
Geistes ein klein wenig anfächeln. Wenn irgend ein Wissen-
schaftszweig in erster Linie und grade im Hinblick auf die
Frauenbildung einer Sichtung und Umgestaltung bedarf, so ist
es die Mathematik und zwar von ihren tiefsten Niederungen bis
zu ihren äussersten Höhen hinauf. Die verrottete Art, Mathe-
matik zu lehren oder vielmehr ungeniessbar zu machen, ist daran
schuld, dass auf den Gymnasien höchstens Einer auf Zehn seinem
Pensum leidlich gewachsen ist, während die übrigen Neun un-
willkürlich zu dem Aberglauben kommen, es gehöre zu so etwas
ein besonderer Naturberuf. Wo aber ausnahmsweise auch nur
leidlich unterrichtet wurde, war, wie ich selbst beobachtet habe,
das Gegentheil der Fall, und auch der Simpelste gelangte wenig-
stens dazu, seiner Aufgabe nothdürftig zu entsprechen. Bei einem
veränderten Lehrsystem müssten aber grade in der Mathematik
eher als in allen andern Richtungen die verlässlichsten Durch-
schnittsergebnisse gesichert werden können, weil grade diese An-
gelegenheit ihrer Natur nach eine elementar gemeinsame alles
menschlichen Vorstellens und Denkens ist.
Die rationelleren Theile der Naturwissenschaft, die sich zu-
nächst mit den Grundbeschaffenheiten alles Stoffes und mit den
Gesetzen der Bewegung materieller Theilchen beschäftigen und
in der modernen, seit Galilei immer mehr ausgebildeten Physik
ihren Ausgangspunkt haben, sind zwar von einem formell unver-
gleichlich besser bildenden Einfluss, als was man auf dem Boden
sprachlicher Uebungen für den Zweck der geordneten Geistes-
gestaltung geltend machen kann; aber man muss auch diesen ge-
wichtigeren Einfluss nicht zum leitenden Zielpunkt machen. Es
ist vielmehr gerathen, den wirklichen Inhalt an bedeutenden und
fruchtbaren Einsichten bei der Auswahl und Zusammenstellung
des zu Erlernenden in entscheidender Weise maassgebend sein
zu lassen. Ein ausdrückliches Bewusstsein über die hiemit zu-
gleich angeeigneten Fähigkeiten zum Denken und Gestalten wird
sich alsdann leicht erwecken lassen, und auf diese Weise wird
man sogar jenes freiere, von der Berufsnothwendigkeit nicht mit-
geforderte allgemeinere Wissen erreichen, welches, wie die Einsicht
in die bereits bekannten Züge des mechanischen Weltbaues, mehr
eine Zierde und ein Befreiungsmittel des Geistes als etwa eine
praktische Nothwendigkeit ist. Doch hier greife ich schon über
meinen Gegenstand hinaus; ich habe hier im Hinblick auf die
Schulen kein abgesondertes Muster der reinen und freien Bildung
an sich selbst entwerfen, sondern nur auf alles das hinweisen
wollen, was sich naturgesetzlich mit den Berufserfordernissen ein-
finden muss. Aus diesem Grunde lasse ich auch in den Lehr-
stoffen der höhern Vorschulung und mithin auch für die Pflanz-
schulen nur das als natürlich interessant und nothwendig gelten,
was im Leben unmittelbar oder mittelbar einer nützlichen An-
wendung fähig ist. Von der Geschichte verwerfe ich das Meiste
und lasse nur das zu, woran sich zu erinnern ein natürlich ge-
sellschaftliches Interesse vorhanden sein kann. Bei solcher Ein-
schränkung des Lernmaterials werden jene 19⁄20 mit nützlichem
und schönem Sachwissen in vielgestaltiger Art ausgefüllt und
unter Hinzunahme von 1⁄20 gediegener Sprachschulung eine ausser-
ordentliche Geistesmacht ergeben. Die Entlastung von all jenem
thörichten Kram, der gegenwärtig mindestens 11⁄12 alles Lehr-
stoffs ausmacht, wird die Aufgabe des Lernenden und den Beruf
des Lehrenden so gewaltig erleichtern und mit einer so natür-
lichen Zufriedenheit krönen, dass sich mit dieser gesunden Arbeit
die Qual der heutigen Schüler- und Lehrerfrohn nicht mehr ver-
gleichen lassen dürfte. Man wird sich über die Dinge und den
Menschen von vornherein in allen Richtungen elementar orientirt
finden, und man wird für einen höheren praktischen Lebensberuf,
wie z. B. für die Medicin, die Fortsetzung solcher Bildung eben
nur mit rein technischen Wissenszweigen und Functionen zu
machen haben, so dass der Cursus der weiblichen Berufshoch-
schulen in ein paar Jahren gründlich zu erledigen ist. Zu alle-
dem bedarf es aber, wie gesagt, einer privaten Uebergangsinitia-
tive von grosser Energie, und in dieser Zwischenphase wird nicht
blos mit den Consequenzen des Princips, sondern auch mit den
Inconsequenzen und Durchlöcherungen des alten verrotteten Re-
gime zu rechnen sein. Man wird sogar unter Umständen die
Mischgebilde und halben Erfolge nicht in principieller Vornehm-
heit abweisen dürfen und sich in Alles hineinzuleben haben, was
für den, der die Wirklichkeit nicht erst in der Zukunft zu fassen,
sondern schon in der Gegenwart anzugreifen sucht, zur uner-
lässlichen Handhabe werden muss. Kommt in die weibliche Be-
wegung bei uns hinreichende Energie, so wird die Kraft der
Vergesellschaftung für diejenige Ausbildung, die zum medicini-
schen und höhern Lehrerberuf gehört, die Mittel zu schaffen und
ein persönliches Contingent zu stellen vermögen. Ich traue den
betreffenden Gesellschaftselementen noch die Kraft zu, aus ihrem
Bereich heraus einen selbständigen Fortschritt zu machen und
die Befreiung von der gesellschaftlichen Geschlechtsvormundschaft
auf dem angezeigten praktischen Wege zu betreiben.
Durch das meist nur erheuchelte Wehgeschrei über die Ge-
fahren, die der Ehe und Familie von dem höhern praktischen
Berufsleben der Frauen drohen sollen, ist kaum ein Wort zu
verlieren. Selbst wenn es sich schon um jene Zukunftssocialität
handelte, in der die Ehe aus einer einseitigen Herrschaftsform
in eine verhältnissmässige Gegenseitigkeit verwandelt und die edlere
Form der natürlichen Familie vollständig entwickelt wäre, so
müssten die heute üblichen Einwendungen als thöricht gelten.
Vollends verkehrt sind aber diese Berufungen einem Bildungs-
entwurf gegenüber, der dazu führt, dass die Frauenwelt als
Ganzes eine grössere Summe von gesunden Kenntnissen und
Fertigkeiten in sich entwickelt und zur Anwendung bringt. Ein
Weib, welches den ärztlichen Beruf ausübt, kann mehr für das
Wohlergehen der Familie thun, als eine müssige Toilettenpuppe es
jemals können oder auch nur wollen wird. Uebrigens werden
aber auch nicht alle Frauen zu ausübenden Aerzten oder fun-
girenden Lehrerinnen werden; es ist genug, dass viele es können;
denn dies sichert ihre Unabhängigkeit schlimmsten Falls von,
und besten Falls in der Ehe. Auch ist noch keineswegs für
immer gesagt, dass die Arbeitstheilung zwischen Haus und Beruf
nicht harmonisch eingerichtet werden könne. Die Thätigkeit der
Frau nach Aussen braucht nicht so umfangreich zu sein, wie dies
jetzt bei dem Manne üblich ist, weil derselbe bei der Gestaltung
des Hauswesens unbetheiligt bleibt. Alle Gründe, die man gegen
zugleich philiströse und frivole d. h. gebrechliche Einwände dieser
Art aus dem Bereich der tiefern Volksschichten in das Feld
führen könnte, sind hier zur Seite gelassen worden; denn es war
hier überhaupt nicht die Absicht, von denjenigen Bedürfnissen zu
handeln, die sich grade im tiefsten Grunde der Gesellschaft so
mächtig regen. Die höhere Berufsbildung der Frauen, an die
zunächst nur in den Mittelschichten gedacht wird, erhält aber
eine neue Bedeutung, sobald das Unterrichtssystem seine ökono-
mischen Schranken öffnet und jedem strebsamen Element, gleich-
viel von welcher Tiefe es aufsteige, den Weg zu allen Berufs-
verrichtungen betretbar macht. Die höheren Functionen werden
auch ein System von Zwischenthätigkeiten im Gefolge haben.
wie man es sich beispielsweise von der blossen Krankenwärterin
bis zum weiblichen Arzt beliebig eingeschaltet denken mag, und
das Ganze der neuen Berufszurüstung wird so auch nach Unten
heilsame Rückwirkungen, die heilsamsten aber freilich nur dann
üben, wenn durch billige und nöthigenfalls unentgeltliche Unter-
richtsgelegenheiten das Emporsteigen von jedem Niveau her für
jede persönliche Energie gesichert ist. Ein Weiteres über diesen
gesellschaftlichen Punkt würde in das Gebiet hinausragen,
welches in den vorangehenden Erörterungen und Entwürfen als
zu umfassend nicht betreten werden konnte und sollte. Derjenige
Theil der Frauenwelt aber, der zunächst interessirt ist, und neben
dem der übrige Theil vorläufig noch mit ganz andern Bedürf-
nissen und daher in der Frage der höheren Berufsbildung gleich-
gültig dasteht, kann sich sagen, dass er zugleich auch eine all-
gemeinere Aufgabe, nämlich die Befreiung vom Aberglauben,
nicht etwa blos der Religion, sondern auch der todtsprachlichen
Alterthumsromantik, mit in Angriff nimmt, indem er den Bildungs-
nothwendigkeiten des praktischen Lebens und hiemit zugleich
echter Sachwissenschaft zusteuert.
7. Einschaltung über die Ränke des Gelehrtenneides
gegen meine Thätigkeit für höhere Frauenbildung.
Es wird nicht ohne Nutzen für das Publicum sein, von den
Schwierigkeiten Kenntniss zu nehmen, mit denen ein Theil meiner
Thätigkeit in Sachen der Frauenbildung zu kämpfen gehabt hat.
Diese Schwierigkeiten hatten einen doppelten Grund. Erstens
war überhaupt mein selbständiger und vorgerückter wissenschaft-
licher Standpunkt den im Verhältniss dazu rückständigen Ge-
lehrten von jeher ein Gegenstand des Neides und Hasses ge-
wesen, und zweitens hatte den Gegnern der Erfolg, mit dem ich
seit 1872 auch die Bildungsinteressen der Frauen speciell wahr-
genommen habe, am allerwenigsten zugesagt. Auf diesem Gebiet
waren meine Gegner mit ihren Universitätsrückständigkeiten am
ohnmächtigsten, und es musste ihnen daher besonders ungelegen
sein, mich auch hier entschieden wirken und zu einer wohlbe-
gründeten Anhängerschaft gelangen zu sehen.
Die unfreiwillige Beendigung meiner Wirksamkeit am Vic-
toria-Lyceum hat grade in einem Augenblick stattgefunden, in
welchem ich meinen Gedanken über die höhere Berufsbildung
der Frauen in jenem Vortrag, von dem in der Vorrede zu dieser
Schrift die Rede war, einen kurz zusammenfassenden Ausdruck
gegeben hatte. Ist dieser Vortrag auch nur die blosse Gelegen-
heitsursache zu meiner Beseitigung gewesen, so hätte es doch
geheissen, den Ideen jenes Vortrags und hiemit auch dem ersten
Hauptinhalt der vorliegenden Schrift, also der Sache selbst etwas
vergeben, wenn ich mich hätte der Mühe entziehen wollen, die
übernommene Angelegenheit gegen eine anmaassliche Benehmungs-
art zu wahren. Um überdies allerlei falschen Verbreitungen
über den Hergang entgegenzutreten, habe ich mit eingehender
Genauigkeit die einschlägigen Thatsachen und Briefe in der
ersten Auflage dieser Schrift vorführen müssen. Dieses Stück-
chen von der Art Geschichte, wie sie sonst regelmässig verborgen
bleibt, kann noch in späten Jahren die im Kerne immer wieder
neu werdenden Dinge illustriren. Ich habe es nicht mit Rück-
sicht auf das Leben untergeordneter Figuranten, sondern zur
Zeichnung der maskirten Physionomie der Zustände und der alle-
zeit hiezu gehörigen charakteristischen Vorgänge vorgebracht.
Der inzwischen seit jener ersten Veröffentlichung erfolgte Tod
einzelner Personen, insbesondere der nachfolgenden Hauptbrief-
schreiberin Miss Archer, hat daher an der Beschaffenheit und
Darstellung der Sache nicht das Mindeste ändern können.
Im Herbst 1872 wurde ich von einer Frau Hedwig Dohm,
mit der ich bis dahin nicht bekannt war, aufgefordert, in deren
Hause vor einem von ihr vereinigten Privatcirkel junger Damen
allgemein wissenschaftliche Vorträge zu halten. Es handelte sich
dabei namentlich um eine Anregung zur eignen Thätigkeit und
zur Benutzung der innerhalb der neusten Geistesströmung wich-
tigen literarischen Erscheinungen aus dem Bereich der höheren
Bildungswissenschaft, und der Name Philosophie kam mit seiner
gewöhnlich vorherrschenden metaphysischen Bedeutung meinem
Standpunkt gemäss gar nicht in Frage. Frau Dohm sowie deren
älteste Tochter und die übrigen Mitglieder des Kreises, unter
denen sich auch solche befanden, die das Victoria-Lyceum besucht
hatten, waren bei ihrer Vereinigung zum Privatcursus von dem
Gedanken geleitet gewesen, sich eine Belehrung zu schaffen,
die ihnen mehr genügte als das, was in jenem Lyceum geboten
wurde.
Die Kunde von den genannten Vorträgen gelangte bald in
die Kreise des Lyceums und veranlasste dort den Wunsch, eben-
falls solche Curse eingeführt zu sehen. Die Unternehmerin und
Vorsteherin des Lyceums, Miss Archer, bemühte sich bei mir in
diesem Sinne, um mich zur Uebernahme zu vermögen, und setzte,
da ich ohne Umschweife abgelehnt hatte, auf indirectem Wege
ihre Bemühungen fort.
Es war mir von vornherein als unthunlich erschienen, einen
Boden zu betreten, auf dem mir die Bürgschaften wissenschaft-
licher Freiheit allzu sehr zu fehlen schienen und wo überdies
doch in dem Curatorium, dessen sich Miss Archer als berathen-
der Instanz bediente, gegnerische und mir abgeneigte Persönlich-
keiten stark vertreten waren. Miss Archer wendete sich nach
meiner Ablehnung an Frau Dohm und wurde von derselben
darauf aufmerksam gemacht, dass meine wissenschaftlichen Ueber-
zeugungen frei, ja äusserst frei wären und mein persönlich strenger
Charakter sich in keine damit in Widerspruch stehende Be-
schränkung fügen würde. Hierauf gab Miss Archer die ent-
schiedenste Versicherung, dass es an Freiheit nicht fehlen solle,
und bestätigte schliesslich auch in einem Brief an Frau Dohm
die fragliche, allerdings nur moralische Bürgschaft. Da dieser
Brief, obwohl direct an Frau Dohm, doch indirect an mich ge-
richtet war und sozusagen zu meinen Engagementspapieren ge-
hört, so gebe ich ein paar Stellen daraus in wörtlicher Ueber-
setzung. Miss Archer schrieb: „Ich bitte, Dr. Dühring darüber
zu verständigen, dass nirgend in ganz Berlin solche Freiheit besteht,
wie im Victoria-Lyceum. – Vox populi vox deiVolkes Stimme Gottes Stimme. – ist unser
Motto. Der Dr. Dühring ist erwählt worden von den „dei“ –
und hat nun nur den „populi“ zu gefallen (to please), durch sie
wird er stehen oder fallen (by them he will stand or fall).“
Ueberdies bemerkte sie, dass es, was die speciellen Bedenken
bezüglich ihrer Ansichten betreffe, ihr nicht im Traume einfalle,
irgend einen „Gewissenszwang“ zu üben.
Hienach lag die Sache klar. Der Standpunkt auf Seiten Miss
Archers war ein rein geschäftlicher, und dies konnte mir recht
sein. Ich hatte, meinen Erkundigungen entsprechend, zunächst
nur die eine Seite des Fräuleins, nämlich einige Religiosität der
englischen Art, vorausgesetzt, und ich fand nun, dass dieses Ele-
ment, wie ja bei Engländern und Amerikanern so häufig, von
den unternehmerisch geschäftlichen Rücksichten überwogen und
zwar in einem Maass überwogen wurde, dass sich auch von
meinem Standpunkt damit rechnen liess. Noch mehr beruhigte
mich in den vorher angeführten Sätzen die Liebhaberei für un-
verstandene lateinische Sprüchwörter und die schöne Schiefe der
Vergleichung. Die „Götter“, das hatte sie eigentlich sagen
wollen, d. h. diejenigen Damen, welche als Vertreter des übrigen
Frauenpublicums im Lyceum für sich eine zusagendere Art von
Geistesnahrung verlangt hatten, waren die maassgebenden Er-
wähler gewesen und es sollte nun nur darauf ankommen, auch
dem weiter sich anfindenden Publicum zu genügen oder, wie Miss
Archer in ihrer Unternehmersprache sich ausdrückte, zu „gefallen“.
Ein Punkt des Anstosses, nämlich die zur Anstandsverzierung
bei den Lyceumsvorträgen übliche Anwesenheit der Miss Archer,
erschien mir nun auch nicht mehr als eine Freiheitsbeschränkung
oder sonst für einen Vertreter der strengen Wissenschaft un-
ziemliche Gene, da ich im Voraus sicher war, für die Urheberin
jener so gelungenen Auslegung, des Sprüchworts geistig so gut
wie gar nicht da zu sein. Auch wird man aus einem der folgen-
den Briefe sehen, wie Miss Archer selbst eingesteht, als Aus-
länderin einer deutschen Erörterung selbst dann, wenn sie sich
nicht einmal auf wissenschaftliche Fragen bezieht, nicht mit Ver-
lässlichkeit folgen zu können. Gegenüber der Bildung einer
Lehrerin des Englischen und den Eigenschaften einer höheren
Gouvernante war nicht einmal die Gefahr eines Miss-Verständ-
nisses sonderlich vorhanden, zumal der geschäftliche Verstand
stets die hinreichende Berichtigung und Ausgleichung versprach.
So bin ich denn auch mit Miss Archer und ihrer Unter-
nehmung ungefähr vier Jahre ausgekommen, ohne mir in Ent-
wicklung meiner Ansichten irgend eine Beschränkung aufzulegen.
Zunächst wurde den Erwartungen entsprochen und die Unter-
nehmerin blieb auch stets ein Echo der Befriedigung des Publi-
cums. Der Versuch war günstig ausgefallen und mein Docenten-
thum wurde später auch schriftlich als bleibende Stelle bestätigt.
Natürlich hatte dies Alles nur eine moralische Bedeutung; denn
in Ermangelung eines durch Conventionalstrafen gesicherten Ver-
trages und bei der chaotischen, statutenlosen Verfassung oder
vielmehr Verfassungslosigkeit des Lyceums blieb eine solche
Stellung völlig precär und beruhte, wie dargelegt, Alles auf dem
Geschäftsprincip.
Die Unternehmerin war in äusserster Verlegenheit gewesen;
was sie durch professoralen Beirath an Docenten aus meinem
Fach zur Verfügung hatte, war wegen Mangel an Fähigkeiten
nicht im Stande gewesen, sich eine Zuhörerschaft zu erwerben.
Beispielsweise war ein Herr Bratuscheck, der als Amanuensis
d. h. durch Handdienste bei dem verstorbenen Philologieprofessor
Boeckh einige Gönnerschaft erworben hatte und später ordent-
licher Philosophieprofessor in Giessen wurde, am Lyceum schliess-
lich ganz ohne Zuhörerinnen geblieben und hatte überhaupt nie
etwas ausrichten können. Es war also meine Aufgabe, einen
neuen Gegenstand erst in Gang zu bringen und der Philosophie
sowie namentlich der philosophisch behandelten Bildungsliteratur
im Frauenpublicum Anhängerschaft und Achtung zu gewinnen.
Dieser Zweck wurde in dem Maasse erreicht, dass im Winter
von 1874–75 mein Cursus der modernen Literatur eine der
beiden Vorlesungen war, die von den aus den sämmtlichen
Fächern am Lyceum gehaltenen den meisten Besuch aufwiesen.
Im Allgemeinen stellte sich meine Wirksamkeit derartig, dass
weniger die jüngsten als vielmehr die entwickelteren Theile des
Publicums meine Vorträge frequentirten. Viele verheirathete
Frauen und auch Schriftstellerinnen befanden sich darunter.
Uebrigens konnte ich aber auch nicht umhin, zu bemerken, dass
die mir ungünstigen gelehrten Einflüsse der Universitätsprofessoren
in und ausser dem sogenannten Curatorium daran arbeiteten,
mich in den Ruf zu bringen, als sei ich mit meinen Vorträgen
für das Lyceum nicht geeignet, weil ich vor nichts und z. B. in
der Philosophie selbst nicht vor Kant Autoritätsrespect zeigte.
Das Frauenpublicum sei aber an Ergebenheit unter die Autorität
zu gewöhnen.
Schon im zweiten Winter 1873–74 hatte ich mit der frag-
lichen Hemmung zu kämpfen, wie ich aus dem kühlen, auf einen
möglichen Abbruch deutenden Benehmen der Unternehmerin er-
kannte, und musste bisweilen durch allerlei Wendungen die feind-
lichen Ausgriffe pariren. Miss Archer, welche schliesslich mit
ihrem Interesse an einer guten Einnahme immer als die maass-
gebende Seele des Lyceums anzusehen war, konnte nicht gleich-
gültig bleiben, wenn ihr von den mir gegnerischen Seiten allerlei
Fingerzeige kamen, wie meine Behandlungsart, trotz des guten
Frequenzerfolgs, doch eigentlich dem Zweck noch nicht genug
entspräche. Noch erinnere ich mich, wie ich damals, um den
Gelehrtenhass und die Sectenverfolgung zu erläutern, einmal im
rechten Augenblick im Vortrag das Beispiel von Pierre de la
Ramée vorführte, der 1572 am dritten Tage des Bartholomäus-
massacre auf grausame Weise durch Leute ermordet wurde, die
von seinem gelehrten Collegen und philosophischen Gegner Char-
pentier, einem bornirten und allen Neuerungen feindlichen Ari-
stoteliker, gedungen waren, um jenen berühmten Logiker für seine
Angriffe auf den heiligen Aristoteles und für seine wissenschaft-
liche Opposition in ausgesuchter Art tödtlich abzustrafen. Man
hatte dies richtig verstanden und auch Miss Archer war diesmal
keine Ausländerin gewesen, sondern richtig auch in die Geheim-
nisse des Inlandes eingedrungen.
Nachdem ich einmal eine Sache übernommen und durch An-
strengungen mir und der Anstalt einen Wirkungskreis erworben,
wollte ich den Platz, den ich früher abgelehnt hatte, nun auch
nicht meinen gelehrten Widersachern zu Gefallen ohne Wider-
stand räumen. Wenn ich noch ausserdem 2 Jahre standhielt, so
ist dieses Ergebniss nur durch eine fortwährende Arbeit gegen
die gegnerischen Einflüsse erzielt worden. Miss Archer hatte
mich noch aufgefordert, auch einen Cursus über Nationalökonomie
einzuführen, was ich jedoch ablehnen musste, da ich die gering-
fügige Theilnahme für ein den Frauen bisher noch so wenig
nahegelegtes Gebiet voraussah und durch eine solche Unter-
nehmung meinen Gegnern bei ungenügendem Ausfall eine Waffe
in die Hände gespielt hätte.
Im März 1876 hatte mich ein damals in Berlin bestehender
Verein für Reform der Schule aufgefordert, einen Vortrag über
die Universitäten zu halten. Da dieser Gegenstand zur gebühren-
den Behandlung von meinem Standpunkt aus für einen Vortrag
zu umfassend und für eine mündliche, beliebiger Deutbarkeit aus-
gesetzte Darstellung, namentlich unter den obwaltenden, gegen
mich sehr aufmerksamen Gelehrtengegnerschaften nicht völlig
geeignet war, so wählte ich ein neutraleres und überdies zunächst
für das Publicum praktischeres Thema. Ich sprach im März über
die höhere Berufsbildung der Frauen vor einem mindestens zur
Hälfte aus Frauen bestehenden Publicum, unter welchem auch
das Lyceum stark vertreten war. Die Frauenlyceen berührte
ich nur im Vorbeigehen, indem ich darauf hinwies, wie dort
einzelne Bildungswissenschaften gelehrt würden, ohne dass hiebei
eine eigentliche Fachbildung für einen bestimmten Beruf in Frage
käme. Eine Rivalin von Miss Archer, und zwar eine solche,
welche selbst Frauenvereine leitete, hatte diese Stelle des Vor-
trags dahin gedeutet, ich hätte die Schwächen des Lyceums
richtig getroffen, und der Umstand, dass diese Auffassung vielfach
weiter verbreitet wurde, gab meinen Widersachern Gelegenheit,
das, was sie bisher durch anscheinend sachliche Gründe gegen
mich nicht hatten erreichen können, nun durch Reizung der
geschäftlichen Empfindlichkeit der Inhaberin des Lyceums durch-
zusetzen.
Da sich Verhältnisse eines kühleren Benehmens, wie ange-
führt, in früheren Jahren schon angefunden, aber immer wieder
dem Gleichgewicht Platz gemacht hatten, so konnte ich diesmal
darin nichts Besonderes sehen, zumal ich Einiges von der Be-
nehmungsart erst nach Beendigung der Vorträge erfuhr und Miss
Archer mir noch einige Wochen vorher, den von mir vorge-
tragenen Ideen entsprechend, den Vorschlag gemacht hatte, den
grösseren Cursus durch die Vereinigung eines ausgewählten Cirkels
behufs selbstthätiger Arbeit und Discussion zu ergänzen. Ich war
also einigermaassen überrascht, als ich acht Tage nach Beendi-
gung der Vorträge folgende hier in Uebersetzung wiedergegebene
Zuschrift erhielt: „2. Mai 1876. Geehrter Herr! Ich bedauerte
ausserordentlich, gezwungen gewesen zu sein, letzten Mittwoch
bei Ihrer Schlussvorlesung zu fehlen. Hatte zu warten, mein
Dr. Wh. hielt nicht seine Zeit ein, und war ich so gezwungen,
meine gewöhnliche Pflicht zu versäumen.
Schliessen hat immer etwas sehr Schweres (sad) an sich, noch
besonders, wenn es zu einem letzten Schluss kommt. Das Ly-
ceum hat sich der Früchte Ihrer Arbeiten nun eine ganze Reihe
von Jahren erfreut, und für das, was Sie in dieser Zeit gegeben
haben, wünschen wir unsern wärmsten Dank abzustatten. Viele,
wollen wir hoffen (let us hope), haben ihren Vorrath an Kennt-
niss und Ideen vermehrt. Mit vollkommener Hochachtung Archer.“
Diese Manier, mich so ganz selbstverständlich zu verab-
schieden, nebst der Phrase vom „wollen wir hoffen“ war Angesichts
dessen, was ich nicht blos geistig für das Lyceum, sondern auch
ökonomisch für die Börse Miss Archers gethan hatte, äusserst
verletzend, und da die ganze Sache vielleicht ausschliesslich auf
einer Miss-Auffassung vom Vortrag und der erwähnten Rivalität
her beruhen konnte, so glaubte ich mich verpflichtet, vor andern
Schritten dem Fräulein meinen Standpunkt durch eine kurze
Antwort, wie folgt, klarzumachen: „5. Mai 1876. Miss Archer
hier. Ihr englisch geschriebener Dank für meine vierjährige,
jedes Jahr etwas Neues bringende angestrengte Thätigkeit am
Lyceum muss zwar, in mein Deutsch übertragen, Undank heissen.
Glauben Sie indessen nicht, dass die Thatsache meiner plötzlichen
Ausstossung allein das Verletzende ist. Sie lastet materiell nicht
auf mir; denn die neuen Auflagen meiner Bücher stellen mich
ganz unabhängig. Dagegen ist besonders die Art und Weise, in
der Sie mich verabschiedet haben, mir gegenüber in der That
herausfordernd. Mit solchen Zeilen und Wendungen begegnet
man keinem Mann, den man ursprünglich erst eindringlich und
wiederholt hat ersuchen müssen, um ihn zu der Uebernahme zu
bewegen. Glücklicherweise sind Ihre Briefe in dieser Angelegen-
heit noch sämmtlich in meinen Händen und darunter einer an
Frau Dohm, der in dankenswerther Offenheit Ihre damaligen
Gesichtspunkte bei meinem Engagement und die geschäftliche
Hauptmaxime Ihrer Lyceumspolitik zu erkennen giebt. Nur ein
wenig von dieser Offenheit hätte ich auch gegenwärtig gewünscht.
Mit einer Antwort auf dieses bemühen Sie Sich jedoch nicht
weiter. Dühring.“ Trotzdem lief folgende Antwort ein: „Geehrter
Herr Dr.! Wenn ich nicht geglaubt hätte, dass Sie Englisch
ganz gut verständen, so hätte ich wie gewöhnlich Deutsch ge-
schrieben. Diesmal wählte ich meine eigne Sprache, um erstens
mit zarterem Ausdruck das zu verstehen zu geben, was ich ohne
Worte sagen musste, und zweitens um ein Gefühl von Schmerz
desto besser zu verbergen. So reinen Herzens bin ich in der
ganzen Sache, dass selbst ein Brief, wie der eben empfangene,
nicht einmal ein Gefühl von Zorn in mir wachrufen kann, wohl
aber eines von Verwunderung und Wehmuth. Dennoch muss ich
Ihnen dafür danken; denn das Schreiben hat mich über manches
beruhigt. Ich schuldete Ihnen und mir diese Worte, sonst wäre
ich Ihrem Wunsch, nicht zu antworten, entgegengekommen. Er-
gebenst Archer.“ Warum ich hierauf noch replicirte, geht aus
meiner Erwiderung selbst hervor:
„14. Mai 1876. Miss Archer, Hochwohlgeboren hier. In-
zwischen eingelaufene Berichte aus den Kreisen meiner Zu-
hörerinnen haben mir für Ihren zweiten Brief, dessen Deutsch
ich mehrfach nicht zu deuten wusste, während das Englische des
ersten mich sicher doch wenigstens nicht im Unklaren liess,
den Schlüssel nicht geliefert, sondern meine Ueberraschung nur
vermehrt.
Von Seiten der jüdischen Literatin Hirsch sollen in den
letzten Stunden kopfschüttelnde Unwillenskundgebungen in offen-
bar erkünstelter und auf einen Zweck abzielender Weise aus-
gegangen sein und noch eine der sogenannten Aufsichtsdamen
mitaufgereizt haben. Ja man sagt sogar, dass Sie selbst in solche
Benehmungsart mithineingezogen wären. Solche Kundgebungen
konnten nicht an mich gerichtet sein; denn von mir gesehen,
würden sie auch nicht einen Augenblick gedauert haben. Es
scheint hienach ein vollständiges kleines Complott seit Ausgang
März gegen mich bestanden zu haben. Die eigentlichen Zu-
hörerinnen dagegen haben mir ihren Dank durch eine derselben
am Schluss der letzten Vorlesung aussprechen lassen.
Ich begreife nun nicht, wie Sie glauben können, durch Ihren
letzten dunklen Brief und Berufung auf ein „reines Herz“ den
Bruch einer schriftlichen Zusicherung der „mit der grössten Frei-
heit in ganz Berlin“ wahrzunehmenden Stelle als Docent ohne
jede Grundangabe zu rechtfertigen. Eine öffentliche
Vertheidigung gegen die Thatsache und überdies gegen die be-
sonders empörende Art, in welcher ein Schriftsteller, der ziemlich
weit in der Welt bekannt ist, allem Anschein nach auf Veran-
lassung von Kleinlichkeiten, seinen im Hintergrund stehenden
Neidern zu Gefallen, wie irgend ein beliebiger Dutzendlehrer be-
seitigt wurde, – eine solche öffentliche Genugthuung wird Sie
voraussichtlich nicht überraschen. Dühring.“
Der folgende würdige Antrag, die Frucht der Scheu vor
der Oeffentlichkeit und eines argen Missverständnisses meines
Charakters, wird den Leser in Humor versetzen, zumal wenn er
bedenkt, dass mir die zugedachte Annehmlichkeit nur zur Un-
ehre, die volle Wahrheit über meine Vertreibung aber nur zur
Ehre gereichen konnte. Das Antragschreiben lautete:
„17. Mai 1876. Hochgeehrter Herr! Tief beklage ich es,
dass Sie meinen Brief so missverstanden. Sie scheiden aus dem
Victoria-Lyceum in derselben ehrenvollen Weise, wie vor Ihnen
Männer wie Wattenbach, Laass, Erdmannsdörfer etc. Eine grosse
Schaar Ihren geistvollen Vorträgen aufmerksam lauschender Zu-
hörerinnen zollt Ihnen Verehrung und Dankbarkeit ob der grossen
durch Sie empfangenen Anregungen. In dem nächsten Prospectus
wird Ihres Wirkens eben so ehrenvoll gedacht werden, wie das
bei dem Scheiden hervorragender Lehrkräfte aus dem Victoria-
Lyceum daselbst Gepflogenheit ist. Um der Wahrheit die Ehre
zu geben, muss ich noch eines erwähnen. Fräulein Jenny Hirsch
gehört zu Ihren Verehrerinnen und spricht mit Begeisterung von
ihren Vorlesungen. Ein für den nächsten Winter von dieser
Dame geplanter Vorsatz wird dies bestätigen.
Mit diesen Zeilen wünsche und hoffe ich jede Verletzung
beseitigt zu haben und bin mit vorzüglicher Hochachtung Ihre
ganz ergebene Archer.“
Man vergleiche den Inhalt dieses Briefes mit dem ersten
Abschiedsschreiben, und man wird über die Fortschritte staunen,
die ich in der Werthschätzung Miss Archers und ihrer Rathgeber
gemacht hatte; aber der Vertuschungsantrag war doch an die
falsche Adresse gerichtet. Ich sah im letzten Prospect nach, was
über das Ausscheiden des Professor Wattenbach gesagt war. Es
hiess dort: „Wir haben zu unserm lebhaftesten Bedauern mitzu-
theilen, dass Herr Professor Dr. Wattenbach wegen überhäufter
wissenschaftlicher Arbeiten diesen Winter seine Vorlesungen am
Victoria-Lyceum zu halten behindert ist; wir hoffen indess, dass
dieser ausgezeichnete Gelehrte und anregende Lehrer in nicht
allzuferner Zeit wieder thätig wirksam dem Lyceum zur Seite
stehen wird.“ Mir ging ein Licht auf; ich wusste nun ungefähr,
wie ich vor der Oeffentlichkeit von dem Lyceum ehrenvoll ver-
schwinden sollte. Auf dieses Angebinde von Ehre, die nicht nach
meinem Geschmack ist und sich wahrlich mit der auf Unterrichts-
instituten doch wohl noch erforderlichen moralischen Haltung
schlecht verträgt, verzichtete ich in folgender Antwort:
„19. Mai 1876. Geehrte Miss Archer! Der in Ihrem Letzten
in Vergleichung gestellte Fall des Abgangs früherer Lehrer des
Lyceums trifft bei mir nicht zu. Einige gingen nach ausserhalb,
andere hatten sich abgenutzt oder ermangelten von vornherein
der Zuhörerinnen. Der Grund bei mir ist allem Anschein nach
eine Intrigue. Ich habe, wie Sie Sich erinnern werden, bei
unserer ersten Unterredung den Bedenken bezüglich der im Vor-
stande befindlichen Professoren und des jüdischen Elements darin
unverholen Ausdruck gegeben. Später ist auch noch die Frau
des Professor Helmholtz hinzugekommen. Auch haben sich meine
Bedenken sehr bald bestätigt, und wenn wir uns auch später im
Laufe der Vorträge über Herrn Bonitz dahin verständigten, dass
dieser mir abgeneigte Einfluss keine entscheidende Wirkung übte,
so war ich doch Einwirkungen Anderer gegenüber ohne Gelegen-
heit zur Vertheidigung. Was Sie allein anbetrifft, so würde mir
hier der Grund am wenigsten klar sein. Bald nach meinem
Rathhausvortrag war eine Dame vom Letteverein bei mir und
fragte an, ob ich geneigt wäre, für eine von diesem Verein im
grösseren Stil zu errichtende wissenschaftliche Frauenbildungs-
anstalt mit meinem Rath eventuell mitzuwirken. In loyaler
Rücksicht auf das Lyceum lehnte ich schon im Voraus die Mit-
wirkung ab.
Ich ersuche Sie nun um gefällige wahrheitsgetreue Auskunft
darüber: 1) welcher Grund es gewesen, der meine Ausschliessung
aus dem Lyceum rechtfertigen und etwa als eine auferlegte Noth-
wendigkeit erscheinen lassen soll; 2) ob der Vorstand meine
Ausschliessung beschlossen hat oder die Sache ohne diese Form
vor sich gegangen ist.
Eine genügende Auskunft hierüber würde eher für mich
Werth haben als Worte, die mit den Thatsachen im Wider-
spruchTrotz meines Protestes gegen das Heuchelspiel kam dieses doch.
Der nächste Prospect des Lyceums vom Herbst 1876 enthielt folgende Worte:
„In Betreff des Lehrercollegiums tritt manche Aenderung ein. Mit aufrich-
tigem Bedauern sehen wir die Herren Prof. Dr. Dobbert und Dr. Dübring aus
demselben ausscheiden. Beide Männer haben mehrere Jahre hindurch anregend
durch ihre gehaltvollen Vorträge gewirkt und sich um unser Institut grosse
Verdienste erworben.“ Da meine Veröffentlichung fast gleichzeitig mit dem
Prospect zur Hand kam, so konnte das Publicum frisch das eben zur Welt
gekommene aufrichtige Bedauem über mein Scheiden und obige Briefe ge-
druckt nebeneinanderlegen, d. h. den hartnäckig verheuchelten Entstellungs-
und Vertuschungsversuch mit der standhaften Wahrheit vergleichen. Zur
moralisch ekeln Grimasse des Prospects kam so doch noch ein hoch komi-
scher Zug; denn das wohlweise Vorständchen des Lyceums mit seinen Pro-
fessörchen- und Jüdchenkünsten war auf diese Weise hinein- und von dem
dunkeln Wege in unbequemes Licht gerathen. stehen müssten. Hochachtungsvoll Dühring.“
Die Auskunft war folgende:
„21. Mai 1876. Hochgeehrter Herr! Gestatten Sie mir, Ihnen
Ihre sehr geehrten Zeilen vom 19. Mai in der Reihenfolge zu
beantworten, wie Sie dieselben entworfen.
Sie irren, wenn Sie glauben, dass Ihrem Ausscheiden aus
dem Victoria-Lyceum irgend welche Intrigue zu Grunde liegt;
mit Intriguen operirt ein Institut wie das Lyceum nicht.
Ebensowenig zutreffend ist Ihre erwähnte Zweitheilung von
im Vorstande befindlichen Professoren und dem jüdischen Ele-
ment. Das Curatorium bildet eine Einheit, die sich die Ver-
tiefung der Frauenbildung und Erziehung zu allem Edeln,
Schönen und Guten zur Aufgabe gestellt. Die Herren Professoren,
die zur Ehre des Victoria-Lyceums Curatorialmitglieder sind, sind
Leuchten der Wissenschaft und viel zu grosssinnig, als dass sie
irgend welchen persönlichen Abneigungen in ihrem Herzen Raum
gönnen könnten. Das jüdische Element anlangend, so befremdet
es mich ungemein, dass Sie bei Ihrer vorurtheilsfreien, ja er-
leuchteten Denkweise gegen dasselbe eine gewisse Animosität
hegen. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie hier Ihre grössesten
Anhänger zählen. Die Ihnen eigne kritische Schärfe spricht ganz
besonders den semitischen Geist an; und dort haben Sie Ihre
begeistertsten Zuhörerinnen.
Dass Sie aus loyaler Rücksicht auf das Lyceum eine Mit-
wirkung an einer vom Letteverein im grösseren Stil zu errich-
tenden Frauenbildungsanstalt abgelehnt, verdient meine volle An-
erkennung; indess Victoria-Lyceum und Letteverein bilden durch-
aus keine Gegensätze, ergänzen sich vielmehr.
Ferner, Sie stellen zwei bestimmte Fragen und verlangen von
mir deren präcise Beantwortung. Eine gar schwere Aufgabe! Sie
halten mich doch nicht etwa für ein Kind, das aus der Schule
plaudert? Darf über die in einer Conferenz geführten Beschlüsse
gesprochen werden? Eines sei Ihnen gesagt, es müsste eine ge-
waltige Anarchie in der Verwaltung des Lyceums herrschen,
wenn hinter dem Rücken des CuratoriumsNach dem Prospect von damals waren Mitglieder des Curatoriums
der Geheime Rath Bonitz, die Professoren Gneist, Virchow, du Bois-Reymond,
Lazarus, Frau Professor Heimholtz, Frau Fanny Reichenheim u. s. w. – Im
Prospect von 1884-85 figuriren z. B. die Herren Virchow und Dubois nicht;
die professorale Missleitung ist aber auch ohne sie genugsam vertreten und
überdies die Zahl der Personen jüdischer Race noch vermehrt. über Person und
Lehre Beschlüsse, die dasselbe zu vertreten hat, gefasst werden
dürften.
Ich will Ihnen ganz im Vertrauen und privatim aus Dank-
barkeit für Ihre dem Lyceum geleisteten Dienste etwas mittheilen.
Wenn ich der Discussion in der letzten Conferenz gefolgt bin,
als Ausländerin, so verlangt man eine grössere Objectivität, eine
nicht allzuscharfe schneidige, dem Herkömmlichen ganz abge-
wendete Kritik in der Behandlung philosophischer und literari-
scher Gegenstände. Was Sie, hochgeehrter Herr, geben, ist ja
bedeutend, geistvoll, eigenartig, mit einem Worte Dühringsch!
Es soll aber auch die Denk- und Betrachtungsweise anderer auf
den verschiedensten Gebieten des Wissens bahnbrechender Männer
zum Ausdruck gelangen. Grade diese Ausschliessung, wenn Sie
es doch einmal so nennen wollen, gereicht Ihrem selbständigen
philosophischen Forschergeiste zur Ehre; es soll einmal mit einer
andern wissenschaftlichen Methode als der Ihrigen, an und für
sich ganz und gar berechtigten und tief durchdachten, der Ver-
such gemacht werden. Ist das etwas so ungeheuer Ketzerisches?
gilt nicht auch in der Wissenschaft und namentlich in der Philo-
sophie – Königin der Wissenschaft – Toleranz als das höchste
Gesetz?
Hiemit sind meine Versuche, Ihnen Aufklärung zu geben,
erschöpft und bleibt mir nur übrig, mit dem Ausdrucke meiner
ganz besondern Hochachtung zu schliessen als Ihre ganz ergebene
Archer.“
Ich hatte hienach nur die Zurückweisung unrichtiger Unter-
stellungen bezüglich meines eignen Verhaltens nöthig und ver-
schaffte den ergebnisslosen Auseinandersetzungen auf folgende
Art endlich einen Abschluss:
„25. Mai 1876. Geehrte Miss Archer! Sie legen mir in
Ihrem Letzten die Vorstellung unter, ich hielte Sie „doch nicht
etwa für ein Kind“. Das ist seit unsern vierjährigen geschäft-
lichen Beziehungen und auch jetzt sicher nicht geschehen. Ja es
ist in Hinsicht auf Ihren letzten Brief, der in Ausdrucksart und
Gedanken auf fremde Kunstanstrengungen deutet, sicherlich am
wenigsten der Fall und ich nehme daher zu Ihren Gunsten an,
dass Sie an das, was darin geltend gemacht wird, selbst nicht
glauben. Dies gilt nicht blos von den für mich schmeichelhaft
sein sollenden Dingen – eine Gattung, wofür ich nicht empfäng-
lich bin – sondern auch von Ihrer angeblichen Voraussetzung,
dass „Leuchten der Wissenschaft“, wie Ihre Zeilen dieselben
nennen, viel zu „grosssinnig wären, als dass sie persönlichen
Abneigungen Raum gönnen könnten“. Erinnern Sie sich gefälligst
Ihrer früheren gelegentlichen Mittheilungen an mich; denn die
Erfahrungen der Gelehrtengeschichte liegen Ihnen allerdings
ferner. Was übrigens sonst die mir entgegengehaltenen „Leuchten
der Wissenschaft“ anbetrifft, so mache ich keinen Anspruch dar-
auf, so etwas zu sein; ich lasse mich auf keinem Leuchter ser-
viren und gehöre überhaupt zu keinem Service; mein weniges
Licht begnügt sich mit der Haltung und dem Orte, den ihm die
Schwere des eignen Körpers anweist, von dem es ausstrahlt.
Dieses Licht ist auch der Objectivität, deren Mangel Sie als
Grund meiner Entfernung und der zugehörigen Verletzung des
ursprünglichen Uebereinkommens angeben, sehr günstig; denn
eine richtige und sachliche Beleuchtung ist etwas Anderes, als
eine Darstellung im trüben Lichte persönlichen Schielens nach
irgend welcher Gunst. Uebrigens sind meine Vorträge während
der ganzen vier Jahre in vollem Maasse auf das Herkömmliche
eingegangen, und was die Form anbetrifft, so habe ich hier wie
überall sonst den Grundsatz befolgt, dass ein Vortrag rücksichts-
voller sein muss als ein Buch, welches der Leser jeden Augen-
blick bei Seite legen kann. Erinnern Sie sich, dass mein Rath-
hausvortrag über die höhere Berufsbildung der Frauen, den Sie
und ein Theil des Lyceums angehört haben, in der Discussion von
mehreren Seiten für sehr rücksichtsvoll und gemässigt erklärt
wurde. Wenn Sie daher für jenen vermeintlichen Aufschluss
mein privates Vertrauen in Anspruch nehmen, zu dem ich mich
noch nicht erboten habe, so passt dies wenig dazu, dass Sie Der-
artiges ja schon in den Lyceumskreisen während der letzten Vor-
träge zu verbreiten und, wenn auch fast ohne Erfolg, damit gegen
mich Stimmung zu machen gesucht haben, – um für etwas
Nichtmotivirbares, meine Entfernung, im Voraus den Schein einer
Motivirung künstlich anzufachen. Genau dieselbe Anschuldigung
hätte man auch in jedem der vier Jahre mit gleichem Unrecht
gegen mich richten können. Die Intrigue, die Sie leugnen, be-
hält also Recht. Wenn Sie mich aber noch als unduldsam be-
zeichnen, weil ich nicht geduldig die Ausschliessung vom Lyceum
als in der Ordnung anerkenne, so ist eine solche Umwendung
des wahren Sachverhalts eben eine Kopfstellung , die ich nicht
auf Ihre persönliche Rechnung setze.
Die jüdischen Anhänger betreffend, so habe ich deren auch
in der Männerwelt; man fühlt, dass ich Recht habe, und findet
sich oft grade durch meine Racenauffassung angezogen. Freilich
haben Manche dafür nur Instinct, dass bei mir etwas Brauch-
bareszu holen und als schriftstellerischer Hausrath zu verwenden
sei. Die Engländer werden ja so gut wie die Juden kritisirt,
namentlich in Rücksicht auf Egoismus und Colonialpolitik, und
dies findet Niemand intolerant. Ich will für Alle gleiche Rechte,
aber auch die Emancipation vom Egoismus. Uebrigens bin ich
so rücksichtsvoll, von so etwas nie in Vorträgen zu handeln. Nur
in meinen Systemschriften ist in rein wissenschaftlichem Zusam-
menhang die Racenfrage berührt.
Die Aufforderung seitens einer Dame vom Letteverein kann,
wenn Ihre Auffassung des Verhältnisses der beiden Anstalten
richtig ist, vielleicht nur den Sinn gehabt haben, meine Absichten
in Rücksicht auf anderweitige Thätigkeit oder eigne Unter-
nehmungen in Erfahrung zu bringen.
Ihre „Versuche, mir Aufklärung zu geben, sind hiemit“ aller-
dings „erschöpft“; ich bin aber an der verlornen Mühe un-
schuldig; denn ich habe schon in meinem ersten Briefe Sie er-
sucht, sich um eine Antwort nicht weiter zu bemühen, und muss
auch nun jetzt im Hinblick auf Ihr letztes Schreiben wünschen,
nicht in den Fall zu kommen, meine Abneigung gegen das
Schreiben langer und ungeschäftlicher Briefe ausnahmsweise über-
winden und mit Erinnerungen an für Sie verdriessliche That-
sachen lästig fallen zu müssen. Hochachtungsvoll Dühring.“
Der Inhalt des vorgeführten Briefwechsels spricht schon an
sich selbst; aber er sagt noch nicht Alles. Mein Beispiel ist
unter den mir bekannten das einzige, dass Jemand am Lyceum
gewaltsam entfernt worden wäre. Diejenigen, von denen man
sagen kann, dass sie zurücktreten mussten, waren in dieser Not-
hwendigkeit vermöge ihres Mangels an Erfolg. Mir gegenüber
war aber die freundliche Absicht meiner Beseitigung recht
schwierig auszuführen. Hätte man mir die Zahl der Zuhörerinnen
auf ein geringes Maass herabsetzen können, so hätte ich von
selbst gehen müssen. Aber eine solche Politik war gegen mich
unausführbar, obwohl der Einfluss auf die Frequenz von Seiten
Miss Archers und ihres Anhangs nicht unbedeutend war. Im
Gegentheil hätte ich immer festeren Fuss gefasst. Der Versuch,
mich in den letzten Wochen durch die Benehmungsart, die mir
erst nachträglich aus neuen Thatsachen verständlich wurde, der-
artig zu reizen, dass ich selbst die Initiative zum Abschied ergriffe,
war missglückt. So musste denn der „wärmste Dank“ des ersten
Briefes ausgespielt werden, und hiezu kamen all die ergötzlichen
Widersprüche bis zu dem Aeussersten, in einem Athem mir „eine
grosse Schaar“ den „geistvollen Vorträgen aufmerksam lauschen-
der Zuhörerinnen“, ja eine begeisterte Anhängerschaft zuzu-
schreiben und mich zugleich gehen zu heissen. Freilich ist hier
grade der Schlüssel zu finden; denn meine Erfolge waren eben
das, was mich für die fraglichen gegnerischen Einflüsse immer
unerträglicher gemacht hatte. Die „Denkweise anderer auf den
verschiedensten Gebieten des Wissens bahnbrechender Männer,“
wie es S. 76 hiess, sollte zum Ausdruck gelangen. In meine
Sprache übersetzt, bedeutete dies, dass gewisse Tagesautoritätchen,
die ich nicht honorirte, verherrlicht werden sollten. Solche per-
sönliche subjective Dienste waren von mir oder von Jemand, der
ein gleich selbständiges und unabhängiges Urtheil hat und es mit
der „objectiven“ d. h. sachlichen Wahrheit ernst nimmt, natürlich
nie zu erwarten.
Uebrigens hatte ich ja meine Schuldigkeit und zwar ernstlich
gethan. Die Lyceumsverhältnisse waren über das missglückte
Stadium, durch den selbständigen Werth der Leistungen ein
grösseres Publicum zu erwerben, bereits hinaus. Durchschnittlich
waren, ein paar Ausnahmen abgerechnet, die verschiedenen
Fächer so kläglich besucht gewesen und Alles hatte vorherrschend
eine so träge Physionomie behalten, dass Miss Archer immer
mehr zu künstlichen Mitteln ihre Zuflucht nahm. So hatte sie
1874 durch Erlassung von Bittschreiben ungefähr 30,000 Mark
zusammengebeten, um durch Freikarten an Unbemittelte ein neues
Publicum zu schaffen, welches ihr aus dem betreffenden Fond
die Casse ebenso füllte und ebenso ihr einen persönlichen Ge-
winn einbrächte, wie die selbst zahlenden Damen. Die Preise
waren übrigens derartig hoch, dass bei gehörigen Vortrags-
leistungen und bei umsichtiger Auswahl der Stoffe das Institut
ökonomisch ganz auf sich selbst hätte beruhen und einen hin-
reichenden Gewinn für die Unternehmerin und anständige Hono-
rare für die Vortragenden hätte abwerfen können. Beispielsweise
hat mein Honorar 20–36 Mark für die Stunde betragen, und
ungefähr ebensoviel ist dabei stündlich auch für Miss Archer
herausgekommen, und ich habe meine Sache vertreten, ehe und
ohne dass jene Fonds im Spiele waren. Wie aber die zusammen-
gebetenen Fonds im Allgemeinen haben künstlich nachhelfen
müssen und wie viele Vorträge nur auf ihnen beruhten, mag
man daraus ersehen, dass von den 30,000 Mark 1876 nicht mehr
viel übrig war. Ein neues Kunstmittel, nämlich ein städtischer
Zuschuss und damit zugleich die Veranlassung von Lehrerinnen,
durch Theilnahme an gewissen Cursen ihre Beförderungsaus-
sichten zu vermehren, kam zu allerletzt noch hinzu und nur
durch die weitere Verfolgung solcher und ähnlicher Wege konnte
ein Institut aufrecht erhalten werden, welches an sich selbst kein
zulängliches Leben entwickelt hat und ohne jene Hülfen zusam-
mengebrochen wäre.
Wenn ich hier manches auf den ersten Anschein Kleine
habe in den Vordergrund rücken müssen,
so war dabei die Er-
möglichung eines Schlusses auf den grössern Hintergrund die
Hauptsache. Das Lyceum und seine mit mir correspondirende
Leiterin sind dabei nur die
symptomatischen Vermittler gewesen.
Der Kern des Vorgangs ist eben ein Stück aus dem
allgemeinen
Verhalten meiner gelehrten Gegnerschaften gewesen und hat sich
in die gegen
mich befolgte Gesammtpolitik eingereiht. In dem
speciellen Fall war aber noch eine neue Seite
zur Sache hinzu-
gekommen. Während es früher nur meinen Reformen der Wissen-
schaft und mir überhaupt als einem beneideten, durch Unter-
drückung erst verletzten und
dann gehassten Gegner galt, ist mit
meiner Vertreibung vom Lyceum auch noch die feindliche
Be-
gegnung auf dem Boden der Frauenbildung erfolgt. Grade weil
hier wesentlich nur
Vorwände als Gründe hervorgekehrt worden
sind, kann das Publicum mit Sicherheit annehmen, dass
es sich
in der Beseitigung der Wirksamkeit meiner Person um die Fern-
haltung einer
Aufklärung und Förderung gehandelt hat, deren
wissenschaftlich befreiende Macht für die
Frauenwelt, wo es
irgend sein kann, unzugänglich gemacht werden sollte, – was
ja
auch ganz wohl dazu stimmt, dass die Universitätsgelehrten
im Grossen und Ganzen einer nicht
blos auf Schein und Spielerei
ausgehenden, sondern ernstlichen Frauenbildung entschieden
ab-
geneigt sind.
In welchem Zusammenhange die dargestellten Ränke am
Lyceum mit dem Verhalten der Berliner Universität gegen meine
vierzehnjährige freie Docentenstellung an derselben gestanden
haben, brauche ich hier nicht zu wiederholen, da ich in meinem
Buch von 1882 „Sache, Leben und Feinde“ auch über jene An-
gelegenheit die erforderlichen Mittheilungen gemacht habe. Diese
Schrift und die vorliegende sind in diesem Punkte für einander
Ergänzungen. In der genannten Schrift kann sich der Leser
überzeugen, wie alle Ränke, die meine Wirksamkeit zu hemmen
und mich in meiner Existenz zu schädigen suchten, wesentlich
von einer Quelle, nämlich aus dem Gelehrtenstande und insbe-
sondere dessen Berliner Universitätsrepräsentantchen nebst deren
Judengenossenschaft herkamen. Die ganze Gesellschaft da, die
sich von der Judenreclame dem Publicum als Professorenelite
vorsetzen lässt, – die Herren Virchow, Dubois, Mommsen, Helm-
holtz und wie sie alle heissen mögen, – das ist vor dem wirklichen
Urtheil der dauernden Wissenschaft weniger als nichts. Der-
artige Leutchen haben nicht Verdienste um, sondern nur Miss-
verdienste gegen die Wissenschaft, und wenn ihre Körper nicht
mehr in den Professorgestellen stecken werden, wird es völlig
aus mit ihnen sein, wie mit Leuten von der Art jenes Göttinger
Professor Kästner des vorigen Jahrhunderts, den man nur noch
als Curiosität und Beispiel dafür anführt, bis zu welchem falschen
Ruf hohle Professorgestelle durch den künstlichen Universitäts-
einfluss und durch Reclame schon damals aufgeblasen werden
konnten.
Doch die Universitäten sind ja schon in einem der vorigen
Abschnitte genugsam gekennzeichnet. Die Männerwelt muss das
Uebel des Bestehens solcher Anstalten noch so lange ertragen,
bis man mit ihnen aufräumt; die weibliche Welt ist aber darin
nicht eingepfercht und kann, wenigstens für sich allein, andere
Wege gehen. Jeder Freistrebende aber, welchem Culturvolk
oder Geschlecht er auch angehöre, kann sich nunmehr durch
Aufklärung über die universitären und überhaupt gelehrten Zu-
stände in die Lage bringen, mit privaten Vorkehrungen vielen
Wirkungen jenes öffentlichen Krebsschadens selber zu entgehen
und bei sich entgegenzuarbeiten.
8. Gesichtspunkte für Selbstausbildung
und Selbststudium.
Solange die bessern Grundsätze des Lernens nicht auch zu-
gleich die des öffentlichen Unterrichts geworden sind, bleibt für
Freierdenkende und Höherstrebende eine Kluft bestehen, die nur
durch Selbstaufraffung unschädlich gemacht werden kann. Die
äussern Berufe kommen hiebei nicht besonders in Frage;
denn was sie an allgemeiner Ausbildung erfordern, wird auch
schon in den allgemeinen Grundsätzen mitberücksichtigt. Ebenso
ist eine Beschränkung des Gegenstandes auf das Fraueninteresse
nicht angebracht; denn die Principien bleiben hier dieselben,
gleichviel ob es sich um männliche oder weibliche Zwecke handle.
Nur in einigen besondern Anwendungen wird sich ein Unter-
schied in der Auswahl der Stoffe ergeben.
Auf eine befriedigende Umgestaltung des öffentlichen Unter-
richts ist vorläufig nicht zu rechnen. Nur eine durchgreifende
Umschaffung des ganzen Systems socialer und politischer Ver-
hältnisse könnte so etwas mitsichbringen. Will man also im
Laufe des jetzigen und etwa auch des nächsten Generationsdaseins
nicht schon mit sehr grossen Wendungen, ja mit gewaltigen Trans-
formationen rechnen, so hat man sich gefasst zu machen, die
gegenwärtigen Zustände verlehrten und verschrobenen Unterrichts
sammt dem zugehörigen Zwange auch fernerhin anzutreffen, ja
gelegentlich auch wohl noch in sogenannten Reformen weiter
ausgedehnt zu finden. Geht man beispielsweise irgendwo mit
Erschaffung neuer Unterrichtsgelegenheiten für das weibliche Ge-
schlecht vor, so geschieht dies regelmässig nur, indem man die
alten Verlehrtheiten und Verschrobenheiten in gewohnter Weise
mitschleppt und in die neuen Institute überträgt. Von dieser Seite
wird also dafür gesorgt bleiben, dass die Kluft sich nicht ausfülle,
sondern eher an Weite zunehme. Es ist nämlich etwas Mon-
ströseres, jene verrotteten Dinge auch noch der weiblichen Welt
bieten zu wollen, die in diese Sphäre erst neu eintritt, als den
mumienhaften Kram nur da beizubehalten, wo die Leute längst
daran gewöhnt sind, in jenem Staube der Jahrtausende und Jahr-
hunderte zu hausen. Die fragliche Ungeheuerlichkeit ist aber allem
Anschein nach zunächst unvermeidlich, und so stellt sich in dieser
Richtung um so mehr das Bedürfniss heraus, ein Correctiv und
Gegenmittel zu besitzen, durch welches die Einzelnen den Haupt-
schaden abzuhalten und die unvermeidlichen Nebenschädigungen
aufzuwiegen vermögen. Dieses Gegenmittel ist nun eben die
Selbstausbildung nach Grundsätzen, die nicht aus der Welt der
Verlehrten, ja überhaupt nicht aus den geschichtlichen Ueber-
lieferungen des dem Mittelalter entsprossenen Gelehrtenstandes
geschöpft sind, sondern den Bestrebungen des freien Geistes und
seiner souverändenkenden Vertreter entstammen.
Wird es auch nicht möglich sein, überall dem äussern Zwange
zu entgehen, so wird es doch auch schon von grossem praktischen
Werthe sein, die innere Freiheit zu wahren. Diese ist nicht nur
an sich das hohe Gut, welches um seiner selbst willen von jedem
Edleren geschätzt wird, sondern sie erspart auch viele unnütze
Bemühungen. Wer sie erringt, kann höchstens von aussen zu
dieser oder jener unnützen Thätigkeit, wie zur Entrichtung eines
Zolles, gezwungen werden; aber er wird sich in der Pflicht und
im Gewissen nicht gebunden fühlen, und dieser Umstand ändert
auch bei der praktischen Ausführung des Aufgenöthigten gar viel.
Hiezu kommt noch, dass der Blick auch für das Bessere frei
bleibt und durch Umschau nach zuträglicheren Stoffen auch positiv
helfen kann. Man unterschätze daher die geistigen Wege zur
Freiheit nicht, weil der Staats- und Gesellschaftszwang zunächst noch
Allerlei mitsichbringt, welchem sich nur der entziehen kann,
der nicht nur über hinreichende Mittel zum Leben verfügt, sondern
auch ausnahmsweise besondere Gelegenheiten antrifft, ganz ohne
Benutzung öffentlicher Schulen und Anstalten seine Zwecke zu
erreichen. Letzteres ist, wie die Dinge heut liegen, freilich das
Beste, aber nur äusserst selten ausführbar. Sonst wird selbst in
den begünstigten Fällen ein Mittelweg eingeschlagen werden
müssen; die Benützung der gegebenen ablenkenden, ja theilweise
gradezu verderblichen Anstalten wird sich mit der Bethätigung
derjenigen Geisteselemente mischen, die aus dem Reiche der Frei-
heit und des Guten durch die eigne Initiative und Selbsthülfe zu-
gänglich werden.
Für die theoretische Ausbildung kommen hauptsächlich zwei
Quellen in Frage, die eigentliche Wissenschaft und die schöne Litera-
tur. Von der praktisch technischen Ausbildung und den Kunstfertig-
keiten, möge es sich dabei um etwas Gemeinsames für Alle oder
um speciellste Fachpraktiken handeln, haben wir hier nicht zu
reden. Unser Ziel ist ein solches, welches wesentlich durch Studium
und Lectüre erreicht werden kann. Die einzige wesentliche Fer-
tigkeit hiefür ist die im Verständniss der Sprache, und es sei
hier nur noch bestimmter, als bereits in den vorangehenden Ab-
schnitten geschehen ist, darauf hingewiesen, dass nach dem heutigen
Stande der Dinge alte Sprachen gar nicht mehr, neuere aber nicht
immer, nicht durchaus oder doch nur in geringem Umfang er-
forderlich sind, um die Früchte der gesammten Wissenschaft und
schönen Literatur einzuernten. Man muss seine eigne Sprache
und vorläufig auch wohl noch für einzelne Gebiete der wissen-
schaftlichen Literatur das Französische gehörig verstehen; das
Englische kann in einigen Richtungen des Studiums nützlich sein,
ist aber, Alles wohl erwogen, auch heute schon entbehrlich. Ueber-
haupt werden die fremdsprachlichen Mittel immer weniger Raum
einnehmen, je weiter der Völkerverkehr fortschreitet, die Ueber-
setzungen zur Regel werden und in die eigne Literatur jedes
höherstrebenden Volks die Errungenschaften der andern schnell
übergehen.
Was an sprachlichen Mitteln gespart wird, kommt dem Sach-
wissen zugute. In einer gewissen Hinsicht ist die Mehrfachheit
der Cultursprachen nur ein Hinderniss des erweiterten Verkehrs,
gleichwie die Verschiedenheit der Maass- und Gewichtssysteme
nur Umrechnungsmühen verursacht. Mit je weniger Bezeichnungs-
systemen man auskommt, um so mehr gelangen die zu erkennenden
Sachen zu ihrem Recht.
Die bisherige Thatsache bestand darin, dass in den Schulen
der allgemeinen Bildung, namentlich auf den Gymnasien, Gering-
fügiges an eigentlicher Wissenschaft gelehrt, dagegen der Last-
wagen mit Sprachen und schöner Literatur, namentlich mit alter
und veralteter, gar gewaltig bepackt wurde. Dem entsprach und
entspricht denn auch das Vorwiegen der hohlen Gelehrsamkeit auf
den Universitäten. Nach einem zugleich modernen und natürlichen
System der Selbstausbildung wird das Verhältniss umzukehren
sein. Die Wissenschaft, und zwar im strengsten Sinne des Worts,
wird an die erste Stelle treten, und die schöne Literatur wird
als blos ästhetisches Bildungsmittel bereits der Pflege der Kunst-
fertigkeiten, wie beispielsweise des Gesanges, nachbarlich nahe-
stehen. Dies ist keine Herabminderung ihres wahren Werthes,
sondern nur die Bestimmung der Rolle, die dem Kern ihrer Natur
entspricht. Wenn sie, wie in der Vertretung durch die Haupt-
grössen des modernen Schriftstellerthums mehrfach der Fall ist,
auch theoretisch Lehrreiches, ja Lebensreformatorisches einschliesst,
so ist dies ein besonderer Umstand, der sich beispielsweise in der
antiken Belletristik nicht vorfand. Dieser Umstand erhöht den
Werth einzelner Erscheinungen und muss veranlassen, diesen eine
grössere Aufmerksamkeit zuzuwenden; aber auch er ändert die
Grundregel nicht ab, sondern bestärkt nur in ihr. Nach dieser
Grundregel wird der Maassstab von Wissenschaft und Wahrheit
auch an die Belletristik gelegt, und je weniger das Schöngeistige
gegen dieses Maass verstösst oder je mehr es sich gar positiv
auf den Wegen der Vertretung und Durchsetzung von wirklichem
Wissen findet, um so höher erhebt sich sein Rang über die Sphäre
blosser Kunstfertigkeit.
Das weibliche Geschlecht ist nach den herkömmlichen Ge-
wohnheiten von eigentlicher Wissenschaft ungleich entfernter ge-
halten worden, als das männliche, und demgemäss fast ausschliess-
lich auf schöne Literatur angewiesen geblieben, von der aber
auch nur Schulbrocken verabreicht zu werden pflegen, ohne dass
je im Ernst an eine eingehende und sichtende Bemeisterung des
Besten und Wohlthätigsten aus diesem Gebiet gedacht würde.
Die gemeine Schulversimpelung hat hier noch mehr verfehlt, als
in der Vernachlässigung des eigentlichen Wissens. Die schön-
literarische Bildung ist in ihrer Art noch oberflächlicher, als die-
jenige, welche sich wissenschaftlich nennt. Um so nöthiger ist es
daher für die Selbstausbildung, zwei Dinge ins Auge zu fassen,
nämlich zuerst jene Voranstellung der Wissenschaft und dann die
Beschaffung eines Compasses für das Bereich schöngeistigen Wellen-
spiels. Sich ohne feste Richtung der See schöner Literatur
überlassen, ist beinahe noch gefährlicher, als blos der eigentlichen
Wissenschaft fremd bleiben, dabei aber keine Irrfahrten in das
Zwischenreich von spielender Schöngeisterei und ernstgemeinter
Wahrheit anstellen.
Der Gegenstand aller Wissenschaft zerfällt in zwei Haupt-
abtheilungen, die Natur und den Menschen. Das Wissen von
der Gesammtnatur ohne besondere Rücksicht auf den Menschen
ist für die Modernen das Fussgestell alles übrigen genaueren
Wissens geworden; die Wissenschaft vom Menschen und seiner
Cultur wird sich aber über dem naturwissenschaftlichen Postament
als etwas Höheres aufbauen. Der heutige Anschein darf hier
nicht täuschen; denn nicht der besondere Zustand unserer Wissens-
epoche, sondern die dauernden Rangverhältnisse bleiben schliess-
lich maassgebend. Die moderne Aufraffung des menschlichen
Geistes hat ihre sichtbarsten Triumphe zunächst im Bereich eigent-
lichen Naturwissens aufzuweisen gehabt, und man folgt nur der
geschichtlichen Ordnung, wenn man gegenwärtig jene Errungen-
schaften zu Ausgangspunkten einer auf Vollständigkeit angelegten
Selbstbildung macht. Wir beginnen daher mit der
Naturwissenschaft.
Der Mensch ist zwar ein Theil der Natur, uns aber durch
Empfindung von innen bekannt und demgemäss auch durch das
Interesse weit nähergelegt. Dennoch ist die Kenntniss von der
Gesammtnatur in vielen Dingen aufklärender. Diese Kenntniss
ist es, die den Menschen zuerst von dem Betrug und den Ver-
irrungen befreit hat, in die er durch Verkennung seiner Stellung
zum Weltganzen gerathen war. Durch die moderne Astronomie,
die seit Copernicus datirt, ist nicht nur eine der Trugwissenschaften,
die auf das Schicksal der Menschen sterndeutelnde Astrologie,
bald ausgemerzt worden, sondern es haben auch zwei andere
Pseudokünste, Religion und Metaphysik, angefangen, dem Unter-
gang der astrologischen Kunst nachzufolgen. Hiedurch ist ein
Klärungsvorgang des gesammten Naturwissens theils vollzogen, theils
eingeleitet, und wenn sich auch grade heut der Gelehrtentrug in
Naturwissenschaft und Mathematik, ähnlich dem Priestertruge, mit
handwerksgemässen metaphysischen Umnebelungen eitel ausgelegt
und breit gemacht hat, so ist dies mehr eine sociale, auf Verdorbenheit
des Gelehrtenstandes beruhende Erscheinung, als eine der Sache etwa
allzu fest anhaftende Eigenschaft. Das Gegenmittel ist zur Hand.
Für die reine Selbstausbildung bedarf es, um den gelehrten Be-
trügereien von vornherein zu entgehen, nur einer entschiedenen
Hinwendung zu den klaren Bestandtheilen des Wissens und zu
den unbeugsamen Grundwahrheiten. Nun ist es die moderne
Astronomie, die, unbefangen aufgenommen, in ihren wesentlichen
Zügen die Metaphysik des Raumes mattsetzt und den Bewohner
der Erde von Erdichtungen über jenseitige Räume einfürallemal
freimacht.
Auch ist es die Astronomie, die uns mit der grossen um-
fassenden Natur vertraut macht, während unsere gleichsam häus-
lichen Erdangelegenheiten, soweit sie vom Menschen zu beeinflussen
sind, dabei ganz auf sich selbst gestellt, d. h. auf den mensch-
lichen Willen angewiesen werden. Die astronomische Weltansicht
ist überdies darum so wichtig, weil sie keinen Raum für Götter
oder sonst erdichtete Dinge übriglässt und das bedeutendste Bei-
spiel für Allgemeinheit und Regelmässigkeit der Vorgänge liefert.
Einige gründliche astronomische Kenntnisse sollten daher den Aus-
gangspunkt aller wahrhaft orientirenden Geistesführung abgeben.
Einfache Thatsachen aufnehmen, ohne sich um deren Ver-
knüpfung oder Ableitung zu kümmern, mag für Kinder besser
als Nichts sein. Wer auf guten Glauben hin sich vorstellt, die
Erde bewege sich um die Sonne, ist immer noch besser daran, als
wer im alten Irrthum befangen bleibt. Mit blosser Kenntniss
auf rein factische und äusserliche Berichte hin haben sich in
Sachen der Astronomie früher sogar namhafte Denker begnügt,
wie John Locke, weil deren Fassungsvermögen zur Capirung der
erforderlichen paar mathematischen Verknüpfungen nicht zureichte.
Zur Entschuldigung mag hinzugefügt sein, dass die astronomischen
Gelehrten, wie im fraglichen Falle Newton, es auch nicht ver-
standen, von ihrem Handwerkszeug und von ihren gewohnten Com-
plicationen der Darlegung genug wegzulassen, um die Hauptsachen
unmittelbar und für den Nichtfachmann verständlich zu machen. Es
ging ihnen darin, wie es gemeiniglich den Ausübern der verschieden-
artigsten Hantirungen und Künste geht. Diese verstehen ihre Sache
wohl zu machen, nicht aber, sich darüber gehörig auszulassen, und
zwar gelingt ihnen die Mittheilung am wenigsten, wenn sie nicht in
gewohnter Weise mit allem zufälligen Nebenwerk fach- und routine-
gemäss einen Lehrling einweihen, sondern ein ausgewähltes Bereich
bestimmter Gegenstände vom Fach ablösen sollen. Diese Schwierig-
keiten, die in der Gewohnheitsknechtschaft der Gelehrten und in
deren Mangel an Abstractionsvermögen ihren Grund haben, dürfen
jedoch nicht abschrecken. Sie sind ein sociales, aber nicht in
der Natur des Wissens selbst liegendes Hinderniss. Man ent-
schliesse sich daher, sich nicht auf dem Kinderstandpunkt fest-
bannen zu lassen, und man ziehe das, was Seitens der Gelehrten
an Wissen nicht von selber kommt, mit eignen Kräften zu sich
heran. Hiefür ist nun aber einige Mathematik als Instrument
unentbehrlich.
Allgemeine Naturwissenschaft ohne Mathematik ist fast ein
Widerspruch in sich selbst. Wie will man die Anordnungen und
Einrichtungen im Raume verstehen oder gar deren Consequenzen
erwägen, wenn man nicht die allgemeinen Grundsätze und Wahr-
heiten kennt, in die alles räumlich Entworfene sich schicken muss?
Wie will man überhaupt die in der Natur aufeinander wirkenden
Grössen und Mengen in der Art, wie diese sich gegenseitig be-
stimmen, beurtheilen, wenn man überhaupt nicht zu rechnen und
das Rechnen nicht auf Raumverhältnisse und Bewegungen auszu-
dehnen weiss? Will man ein letztinstanzliches Wissen, so ist die
Frage der Unentbehrlichkeit der Mathematik mit jenen wenigen
Hinweisungen entschieden. Nur wer sich mit abgerissenen Er-
zählungen aus dem astronomischen Wissensreich begnügen wollte,
könnte allenfalls ohne eigentliche und specielle Mathematik aus-
kommen. Dieses unreife Verhalten haben wir aber nicht vor Augen, wo
wir auf antiautoritäre Selbstausbildung und auf eigne freie Führung
des Geistes hinarbeiten. So macht denn die Astronomie, wenn sie
ernsthaft zur Bildung nützen soll, von vornherein die Befassung
mit einiger Mathematik unerlässlich. Was aber für diesen Zweck
gewonnen wird, erweist sich weiterhin als weittragendes Mittel
für die wichtigsten andern Naturgebiete. Nur die sozusagen
thierische Wissenschaft, d. h. die Zoologie, und was ihr an sonstigen
Arten beschreibender Naturkunde ähnlich ist, befindet sich noch
in der nicht beneidenswerthen Lage, mit dem Exacten, d. h. mit
Maass und Zahl, keinen wesentlichen Zusammenhang aufzuweisen.
Diese Unabhängigkeit von der Mathematik erniedrigt aber auch
ihren Rang; denn überall, wo sich das Wissen höher entwickelt,
wird die Einsicht in quantitative Verhältnisse und namentlich in
Grössenursächlichkeiten eine wesentliche Angelegenheit.
Unkundigen erscheint die Mathematik nicht selten als Schreck-
bild. Sie vermeinen oder werden dazu von unberufener Seite
verleitet, in der Befassung mit dem mathematischen Rüstzeug das
Aeusserste an Schwierigkeit oder doch unerträglicher Trocken-
heit vor sich zu sehen. Vollends gilt, wenn es sich nicht um
Studien der Männer handelt, grade nach der beschränkten Meinung
der Pedanten selbst, alles Mathematische als ungehörig und un-
bezwingbar. Nun ist aber in Wahrheit die Mathematik die lern-
barste und zugänglichste aller Wissenschaften; ja, sie ist mehr
als jede andere durch blosses Selbststudium, d. h. auf Grund
blosser Buchhülfe, anzueignen, ja umfassend zu bemeistern. Dies
ist schon gegenüber einer unvollkommenen Literatur, d. h. mit
formell und sachlich wenig befriedigenden Lehrbüchern möglich;
wieviel mehr muss es der Fall sein, wenn besondere schriftliche
Anleitung die Wege zeigt und vor Abwegen warnt, oder wenn
gar, wofür freilich erst unzulänglich gesorgt ist, gute Curse
gleich die Einzelheiten in der passendsten Auswahl und Gestalt
vorführen!
Die Schulmathematik ist allerdings gewaltig überladen; ja
die ganze Bescheerung, die heute unter dem Namen von Mathe-
matik, sei es hoher, sei es niederer, angeboten wird, ist eine ver-
worrene Ablagerung der verschiedenartigsten, oft thörichtsten, ja
augenblicklich theilweise sogar unsinnigsten Bestandtheile. Pe-
danten, Wirrköpfe, Metaphysiker und Phantasten haben in der
Rolle von Handwerksmathematikern und neuerdings besonders
von Professurinhabern das Angesicht sogar der reinen, d. h. nicht
angewandten Mathematik in einem andern Sinne des Worts recht
unrein gemacht, nämlich Dummheiten und Hässlichkeiten hinein-
gepinselt. So etwas könnte eher abschreckend wirken; allein es
handelt sich für vernünftige Interessenten niemals um solche Ge-
richte, ja überhaupt nicht um jenen von der Eitelkeit und Be-
schränktheit angerichteten Kohl. Was derjenige Mensch, der sich
mit Schulsottise nicht zum Narren halten lässt, ernsthaft braucht,
ist die echte Mathematik mit ihren erheblichen Errungenschaften
und in ihrer Beziehung zur wesentlichen Erkenntniss der Natur
der Dinge. Hier ist nun keine Noth, dass antikes Pedantenthum
oder neuste Zerfahrenheiten sonderlich schaden. Es wird näm-
lich für den Lernenden zur Reinhaltung des Weges nichts weiter
erfordert, als dass er sich nicht auf hohle und unnütze Dinge
ablenken und nicht von autoritärem, handgreiflichem Unsinn im-
poniren lasse.
Bedenken wir zunächst das, was für gründliche astronomi-
sche Bildung an Mathematik in Frage kommt. Dies ist in der
That, wenn man es nur recht auszuwählen versteht, weder son-
derlich schwer noch sonderlich viel. Vor allen Dingen erfordert
jegliche Orientirung im Raume die Kugel als Mittel, und man
muss mit so etwas, wie beispielsweise Parallelkreisen und Meri-
dianen, auch mathematisch nach Gründen Bescheid wissen, ja
äussersten Falls auch vom Mittelpunkt der Kugel aus körperliche
Winkel und zugehörige sphärische Dreiecke vorzustellen und in
einigen Punkten zu behandeln wissen, wenn man in diesem Ge-
biet zulänglich ausgerüstet sein will. Zur Berechnung der Ent-
fernungen im Weltraum genügt die einfache Berechnung eines
ebnen Dreiecks. Zur Kennzeichnung der planetarischen Bahnen
genügen die analytisch geometrischen Begriffsbestimmungen der
Kegelschnitte, d. h. jener einfachsten Curven zweiten Grades, zu
denen auch der Kreis gehört und unter denen die Ellipse den
wichtigsten Specialfall bildet.
Geht man von dem räumlich Sichtbaren in der Astronomie
zu den hervorbringenden Kräften über, so werden jene Curven
ihrem innersten Wesen nach bestimmbar. Alsdann sind sie näm-
lich als mechanische Erzeugnisse zu begreifen, und diese Art
ihrer Bestimmung ist nicht nur die vollständigste, nämlich die-
jenige mit Rücksicht auf die Zeit, sondern die auch in der ab-
stracten Mathematik von Raum und Zeit am meisten natur-
gemässe. Dieses Stück Studium, versteht sich nach der analytisch
geometrischen Methode, ist ziemlich einfach zu erledigen und
setzt grade zu dem Wichtigsten in den Stand, nämlich zur Er-
fassung der Grundlehren von der allgemeinen Schwere. Eignet
man sich überdies noch ein paar einfache Rechnungsgebilde der
modernen Mathematik, nämlich einige sehr einfache Differential-
und Integralbegriffe nebst ein paar der einfachsten Potentialformen
an, so kann im Bereich der astronomischen Erkenntniss kaum
mehr etwas Erhebliches vorkommen, was sich nicht mit diesen
Hülfsmitteln ableiten und beweisen liesse. Für die fundamentale
Hauptsache kann aber schon die Bekanntschaft mit dem Wesen
und der Berechnung der erwähnten Kegelschnitte genügen. Die
Curven zweiten Grades bilden nämlich einen Markstein, bis zu
welchem die rein mathematische Orientirung ausgedehnt werden
muss, wenn sie für die Anwendungen Früchte tragen soll, und
zwar muss das Wenige, was von diesen Curven zu lernen ist,
sogleich vollständig, d. h. mit Rücksicht auf die Stetigkeit und
mithin auf die geometrischen Differentiale, ins Auge gefasst
werden.
Die vorangehenden Fingerzeige können selbstverständlich
nicht eine eingehende Anleitung ersetzen. Sie sollen nur Er-
läuterungen sein, in welcher Art man sich zu verhalten habe.
Zum vollständigen Studium der Mathematik haben mein Sohn
und ich am Ende unseres Werks „Neue Grundmittel und Er-
findungen zur Analysis u. s. w.“ eine specielle kritische Anleitung
gegeben. Diese, sowie einige der einfacheren und mehr grund-
legenden Lehren des fraglichen Buchs können auch von denen
benützt werden, welche sich auf die äussersten Höhen und in die
entlegensten Regionen der abstractesten, ja zum Theil nur spe-
culativ interessanten Mathematik zu begeben keine Ursache haben.
An Klärung der wesentlichen Begriffe und an Bezeichnung der
einfachsten Studienwege und Studienmittel haben aber Alle ein
Interesse, und das fragliche Werk ist so eingerichtet, dass sich
die Einfachheiten daraus für sich, unter Weglassung der speciali-
stischen Entwicklungen, leicht entnehmen lassen.
Gäbe es einen Cursus der Mathematik in dem zugleich mo-
dernen und einfach praktischen Sinne, wie ich ihn meine, so wäre
das Studium mindestens um das Zehnfache erleichtert. Da eine
solche Bearbeitung aber fehlt, so kommt dem Lernenden unver-
meidlich viel Schutt in den Weg. Ein Conglomerat von zweck-
losen Abstractionen und Ausspinnungen, die nicht mit Rücksicht
auf das wirkliche Bedürfniss gemacht sind, bleibt noch immer die
gewöhnliche Form, in der die Wissenschaft sich seit Euklides
anbietet. Demgegenüber muss ein wahrhaft rationelles System
der Darlegung platzgreifen. Man sollte von der praktischen
Mathematik, also dem jedesmal für die Anwendungen Erforder-
lichen, ausgehen. Man sollte nicht Mehr und nicht Weniger zu-
sammenstellen, als man wesentlich braucht, und die Lehr-
bücher würden auf einige Procente ihres Umfangs zusammen-
schmelzen. Sie würden an Durchsichtigkeit ihres Inhalts ge-
winnen und anstatt, wie jetzt, oft als abschreckende Hindernisse
zu wirken, wahrhaft anziehende, ja im höhern Sinne des Worts
interessante Lernmittel werden. In der heutigen Gesammtmathe-
matik, einschliesslich der erwähnten Hineinpinselungen verstanden,
ist kaum ein Theil auf tausend Theile als wirklich werthvoll, sei
es nun praktisch oder speculativ werthvoll, herauszufinden.
Wer sich im Sinne der obigen Angaben für die Astronomie
mit den mathematischen Orientirungsmitteln ausgerüstet hat, wird
in der übrigen Naturwissenschaft kaum in den Fall kommen,
umständlicher Ergänzungen seines mathematischen Wissens zu
bedürfen. Schon in dem, was man gewöhnlich Physik nennt, er-
mässigt sich bei gesunder Behandlungsweise das mathematische
Bedürfniss und vollends tritt es in der Chemie zurück, einer
hochmodernen und in einzelnen Theilen noch sehr jungen Wissen-
schaft, die in der Reihe der Naturdisciplinen zur Astronomie
gleichsam das andere Extrem bildet. Die Chemie ist heute für
die tiefere Erkenntniss der Dinge wichtiger, als was zwischen ihr
und dem astronomischen Ausgangspunkt in der Mitte liegt, näm-
lich wichtiger als die Physik im engern Sinne des Worts, die
gar sehr überladen und ohne Auswahl auftritt. Was für hohe
und eigentliche Bildungsinteressen von der Physik brauchbar ist,
schliesst sich grösstentheils entweder an die Astronomie an oder
dient andererseits den tiefern chemischen Lehren zur unmittel-
baren Ausstattung. In jener Richtung ist der Inhalt des Welt-
raumes mit seinen Strahlungen der physikalische Hauptgegen-
stand. In der andern Richtung sind der Zusammenhang der
Aggregatzustände, die Abhängigkeit der Processe von den Tem-
peraturen, die elektrochemischen Vorgänge und die Symptomatik
in der Lichtzerstreuung, d. h. die Spectralphysik, entscheidende
Punkte. Was dann als Mittelstück selbständiger Physik noch
übrigbleibt, wie z. B. fast die ganze Akustik, ist im Allgemeinen
am unfruchtbarsten und kann, ein paar Einzellehren, wie etwa
die von der Schallgeschwindigkeit, ausgenommen, auch ein reines
Bildungsinteresse erst an letzter Stelle in Anspruch nehmen.
Experimentalphysik, sowie überhaupt jede Experimental-
wissenschaft, erfordert im Studium vor allen Dingen Beschrei-
bungen der Versuche, unterstützt von Abbildungen, und Zurück-
führungen der Versuche auf ihren wesentlichen Inhalt, unter
sorgfältiger Abstraction von allem Nebenwerk. Das blosse Sehen
von unmittelbaren Experimenten hat bei Weitem nicht die be-
lehrende Kraft, die man ihm gewöhnlich zuschreibt. Im Gegen-
theil steckt darin viel Schein, da die Aufmerksamkeit dem flüch-
tigen Schaustück weniger gut folgen kann, als der standhaltenden
Darlegung des Kernes der Sache in Beschreibung und Bild. Das
Selbststudium hat hier also gute Chancen und wird nicht ab-
hängig von den fast spielerisch zu nennenden Versuchswieder-
holungen des Experimentirtisches. Die Urexperimente consti-
tuiren zuerst die Wissenschaft, aber die Nachahmungen, wenn sie
nicht vom Lernenden in eigner Person gemacht werden, haben
nur geringen Werth. Das eigne Anstellen von Experimenten
aber, zum Zweck der Veranschaulichung im Lernen, ist dem
Nutzen blos gesehener Experimente zwar unvergleichlich über-
legen, wird sich aber meist nur in den allereinfachsten und zu-
gleich nicht kostspieligen Fällen ausführen lassen. Es ist ein
grosser Irrthum, zu glauben, dass zur Selbstausbildung die Buch-
analyse von Experimenten nicht genüge. Wer um jeden Preis
an unmittelbaren Versuchen hängt und sich doch mit dem blossen
Sehen fremder Manipulationen begnügt, dem könnte man nach
seinem eignen Grundsatz auch zur Regel machen, in den be-
obachtenden Wissenschaften, wie in der Astronomie, nur solche
Thatsachen als gut erlernt zu betrachten, die er selber beobachtet
hat. Soweit geht aber Niemand, ja kann Niemand gehen, und
so zeigt sich, dass es ein Vorurtheil ist, die Experimentirtheater
unter allen Umständen besuchen zu müssen. Dem gewöhnlichen
sinnlichen Menschen mögen von den Experimentirschauspielen
mehr bunte Erinnerungen zurückbleiben; die wirkliche und
gründliche Erkenntniss ist aber nur die Frucht ruhiger Betrach-
tung und Erwägung der Bestandtheile und der Verkettungsart
eines Vorgangs. Letztere lässt sich aber auf dem Papier und
am Bilde besser anstellen, als an dem wirklichen, unfixirten, ja
meist äusserst schnell entweichenden Phänomen. Braucht doch
der physikalische Forscher oft selbst erst ähnliche Mittel, indem
er z. B. von Spectralerscheinungen erst Photographien entwirft,
um jene dann an diesen, also erst mittelbar auf dem Papier, zu
untersuchen.
Der grosse Vortheil des Genügens blosser, aber guter Bücher-
verkörperungen des experimentellen Naturwissens leuchtet ein.
Die Erfahrungswissenschaft reiht sich auf diese Weise nachbarlich
an die Mathematik an, und für das ganze Bereich der Bildungs-
wissenschaft kann mit Lettern und Abbildungen bedrucktes Pa-
pier an die Stelle der Schulen treten, deren Rolle hienach natur-
gemäss weniger auf das Lernen selbst, als auf das Ueben des
Selbsterlernten sich erstrecken sollte. Zur Einübung von Fertig-
keiten ist eher ein persönlicher Lehrer nöthig, als zu der blossen An-
eignung von Wissensstoff; jedoch auch hier ist die Mathematik
bereits ein schönes Beispiel, dass auch in der selbstthätigen
Anstellung von Uebungen die Emancipation vom persönlichen Lehrer-
thum sogleich mit dem Abc der Wissenschaft, d. h. mit dem ersten
und elementarsten Rechnen, beginnen könne.
Ist das Studium durch blosse Buchhülfen möglich, so ent-
scheidet nicht mehr die Beschaffenheit der Lehranstalten oder
der ausnahmsweise zu habenden Privatlehrer, sondern einzig und
allein die Literatur. Wie ungenügend sich auch letztere ge-
stalten möge, so ist sie doch immer eine etwas freiere Sphäre, die sich
nicht absperren und in der auch die Concurrenz unabhängiger
Geister nicht ganz unterdrückt werden kann. Das weibliche
Geschlecht hat noch ganz besondere Ursache, diesen Umstand im
Auge zu behalten; denn Angesichts der Hindernisse, die sich ihm
aus dem alten Regime sogar gegen eine blos geistige Emanci-
pation aufthürmen, bleibt der Zugang zu den Büchern der nächste
Ansatzpunkt, bei welchem die geflissentliche Geistesbevormundung
aus den Angeln zu heben ist. Auch wo die Sitte sich entgegen-
stemmt oder im persönlichen Verkehr noch wirklich berechtigte
Anstandsrücksichten die freiere Bewegung einschränken, da ist
der Verkehr mit Büchern eine sicherlich unschuldige Zuflucht
und noch dazu eine solche, die thatsächlich nicht leicht gänzlich ver-
wehrt werden kann.
Leider schmeckt nun freilich die Bücherwelt einigermaassen
nach den Personen, die auch hier, wenn auch nur indirect
vermöge des Einflusses ihrer Aemter auf den Absatz, das Monopol
haben und den Markt mit ihrer scholastischen Waare über-
schwemmen. Für die bisherigen und heutigen Zustände in dieser
Beziehung habe ich nun in meinen verschiedenen Studienan-
leitungen und dahin gehörigen gelegentlichen Fingerzeigen einige
Sichtung und Orientirung zu schaffen gesucht. Speciell enthält
auch jede meiner naturwissenschaftlichen Schriften etwas dahin
Gehöriges, sei es nun eine ganze Anleitung, wie die am Ende
der zweiten Auflage der Geschichte der Principien der Mechanik,
oder einen Inbegriff einzelner Studiengesichtspunkte, wie in be-
sondern Ausführungen der Schrift „Neue Grundgesetze zur Phy-
sik und Chemie“, oder endlich eine Kennzeichnung des Gelehrten-
standes und seiner Erzeugnisse und Literaturmanieren, wie in
der Schrift über Robert Mayer (vgl. auch die letzten drei Seiten des
Anhangs vorliegender Schrift). Wer sich den Geist der That-
sachen zu eigen macht, wie sie in diesen und andern meiner
Schriften bezüglich der Gelehrteneigenschaften und der Beschaffen-
heit der literarischen Hülfsmittel enthüllt sind, wird sich auch in
solchen Fällen selber rathen und helfen können, wo die einzelnen
auf besondere Erscheinungen gerichteten Auskünfte etwa auf-
hören. Jedoch auch an solchen Einzelangaben und sozusagen
bestimmten Bücheradressen, die noch für eine lange Zeit ihren
Nutzen behalten, fehlt es dort nicht. Wohl werden die wissens-
reformatorischen Anregungen früher oder später bessere Buch-
hülfen zu Tage fördern, als ich beispielsweise in Physik und
Chemie für die laufenden Jahrzehnte als am wenigsten unzu-
länglich signalisiren konnte. Auf solche Zukunftsdinge kann
aber Niemand warten. Mit dem Maasse in der Hand, mit welchem
ich das Vorhandene gemessen habe, wird man jedoch etwa sich
Darbietendes darauf untersuchen können, ob es eine der vielen
Unterschiebungen sei, oder .ob einmal ausnahmsweise wirklich
etwas, ich will nicht sagen Echtes und Gelungenes, sondern nur
Besseres vorliege.
Die Wissenschaft, und zwar auch speciell Naturwissenschaft
wie Mathematik, ist voll von Gelehrtenbetrug. Ausser dem me-
taphysischen, von der Religion vererbten Betruge, der an sich
noch keineswegs der gefährlichste ist, macht sich der von der
Eitelkeit und dem Diebstahl ausgehende am meisten breit. Die
Gelehrteneitelkeit will etwas zu haben scheinen, wo sie nichts
hat, und betrügt daher das Publicum oft genug durch erlogenes
Scheinwissen mit vollem Bewusstsein. Der gelehrte Diebstahl
aber entstellt das Andern entwendete Gut, damit es weniger
kenntlich sei. Diese Entstellungen werden theils durch formelle
Verzerrung, theils durch Einmischung von materieller Unwahr-
heit bewerkstelligt, und so kommen wesentliche Stücke der
Wissenschaft zuerst oft nur umhüllt und verdunkelt, also weit
unverständlicher als in den originalen, dem Publicum verhehlten
Fassungen, in gemeinen Curs. Die in Eitelkeit und Verlogen-
heit der Gelehrten wurzelnden Fälschungen der Wissenschaft
sind die schlimmsten. Die in Metaphysik bestehenden Faseleien
verunstalten und umnebeln zwar viel; aber sie rangiren im Ge-
lehrtentrug erst an zweiter Stelle, ausser wenn sie, wie jetzt viel-
fach der Fall, als blosse Mittel figuriren, jene Eitelkeit in ihrem
betrügerischen Handwerk nähren zu helfen.
Die Physik ist im letzten Menschenalter besonders ein
Tummelplatz von Metaphysik, ja bisweilen sogar von Spiritistik
geworden. Sogar an eine gute und bedeutende Sache, die
Mayersche Auffindung des mechanischen Kraftwerths der Wärme,
hat sich von vornherein die Unwissenschaft der Metaphysik ge-
heftet und sich namentlich unter den Händen der bornirten Ent-
wender breit gemacht. Ein förmliches Krafterhaltungsgefasel ist
in die Physik eingedrungen und müsste schliesslich jenen ersten
an sich soliden Kern von Wahrheit mit in Misscredit bringen,
wenn nicht kritisch gesichtet und der metaphysische Kohl, der
seit der Leibnizschen Zurichtung gelegentlich immer wieder auf-
gewärmt wird, aus der Reihe der schmackhaften, ja überhaupt
geniessbaren Gerichte entfernt würde. Die Beispiele der Verun-
sauberung der Physik mit hohlen Eitelkeitsausgeburten und Me-
taphysik liessen sich häufen und mit denen der Mathematik
in Parallele stellen; hier jedoch, wo Einzelheiten nicht viel be-
rührt werden können, mag lieber an den Gegensatz und die vor-
theilhaftere Stellung erinnert werden, durch welche sich die
Chemie vermöge ihrer praktischen Richtung und ihres auch theo-
retisch ansehnlichen Maasses von Wirklichkeitssinn in ihrer
modernen Gestaltung auszeichnet.
Fehlt es auch in der Chemie nicht an Thorheiten, Erdich-
tungsvelleitäten und falschen Uebernahmen von der Physik her,
so ist sie doch schon lange keine Alchymie mehr und theilt mit
der Astronomie die Eigenschaft, den mittelalterlichen Trug grund-
sätzlich abgestreift zu haben. Sie steht überdies in eminenter
Weise mit dem Leben in Beziehung, stellt aber auch eine theo-
retische Vertiefung in Aussicht, durch welche sie das Innerste
der Materie erschliesst. Wenn uns also die Astronomie einen
Ueberblick über die Verhältnisse der grossen Massen gewährt
und uns in die Verfassung des Weltbaues einführt, so dringt die
Chemie bis zu denjenigen Regungen der Materie vor, bei denen
das eigentliche Leben beginnt. Es ist daher auch die organische
Chemie, d. h. die Chemie der Kohlenstoffverbindungen, welche
seit einem halben Jahrhundert sich zur höheren und interes-
santeren Stufe der Chemie entwickelt hat. Sie hat nicht un-
mittelbar mit den Organismen zu thun, sondern mit einem Reich
von Verbindungen der Atome, wie sie überwiegend durch Kunst
dargestellt, übrigens aber fast ausschliesslich in den Organismen
angetroffen werden; aber eben um ihrer freien Combinationen
willen, die sie selbst auffindet und in denen sie gar nicht nach
den Organismen fragt, erhebt sie sich sowohl theoretisch als
praktisch zur gegenwärtig folgereichsten und aussichtsvollsten der
modernen Wissenschaften.
Es sei hier nur beispielsweise darauf hingewiesen, dass in
den mittleren Jahrzehnten unseres Jahrhunderts von der organi-
schen Chemie vier Erfindungen ausgegangen sind, die man prak-
tisch als ihre epochemachendsten Leistungen ansehen kann. Es
sind dies die Herstellung und der praktische Gebrauch des
Chloroforms, des Chloralhydrats, des Nitroglycerins und der
Sprengbaumwolle. Zwei Mittel zur Mässigung oder Aufhebung
des Empfindens und Schmerzgefühls, einschläfernde Mittel, wenn
man sie so nennen will, auf der einen Seite, und zwei gewaltige
Kraft- und Sprengmittel auf der andern Seite von einer nicht
blos die Technik aufrüttelnden Tragweite, – das sind Ergeb-
nisse, deretwegen die Menschheit allein schon Ursache hätte, die
zunächst blos wissensschaffende Gedankenkraft nicht gar so ohn-
mächtig zu wähnen. Die Sprengbaumwolle ist die ältere Er-
findung; in der Aufzählung bin ich aber der chemischen Rang-
ordnung gefolgt, zumal die drei ersten Stoffe sich auch rein
theoretisch zur Erläuterung der neuern Lehre von der Atomver-
kettung gut eignen. Soweit der Gedanke der Atomverkettung
nichts weiter einschliesst , als was ihm entsprechend die Er-
fahrungsthatsachen wirklich repräsentiren, ist er dasjenige Princip,
durch welches im Bereich auch der complicirteren Verbindungen
Licht geschafft wird und der Anfang gleichsam zu einer höheren
Chemie, d. h. zu etwas gemacht ist, was sich zur sonstigen Chemie
in seiner Weise ähnlich verhält, wie die Mathematik mit Diffe-
rential- und Variationsrechnung zu derjenigen ohne diese mäch-
tigen Hülfsmittel.
Merkwürdigerweise sind die zwei Wissenschaften, von denen
die eine formell und die andere materiell am weitesten vorzu-
dringen vermocht haben, auch die beiden einzigen mit eignen
originalen Zeichensprachen. Die Mathematik hat sich in der
Analysis eine besondere Formelsprache geschaffen, und die Chemie
hat je länger desto besser gelernt, den Kern ihres Wissens immer
bestimmter in Formeln darzulegen, die nicht blos den Inhalt,
sondern auch die Art der Zusammensetzung der verschiedenen
Stoffgebilde angeben. Man beachte daher diesen aus den That-
sachen selbst sich ergebenden Fingerzeig und pflege vor allen
Dingen die beiden vollkommensten Ansatzpunkte des Erkennens,
nämlich an dem einen Ende das analytische Rechnen und an
dem andern die rationelle chemische Construction der mannich-
faltigen Stoffe und Körper. Ersteres setzt in den Stand, Massen
und Kräfte des Universums in ihren gegenseitigen Beziehungen
zu ergründen; letztere führt dazu, vermittelst des uns Nahe-
liegenden in das Wesen aller Materie und aller Vorgänge am
innerlichsten und tiefsten einzudringen, ja mit dem Gewinn an
theoretischer Erkenntniss und Geistesfreiheit auch das unmittel-
barste praktische Wirken zu verbinden.
Bildung zur Freiheit und zum Wirken, – das ist der ein-
heitliche, aber doch doppelseitige Gesichtspunkt, der bei allem
echten Studium festgehalten werden muss. Bei der Bildung zur
Geistesfreiheit ist das Wissen an sich selbst die Hauptsache; bei
der Bildung zum Wirken wird auch noch die Kunstfertigkeit in
der Bethätigung des Wissens von entscheidender Bedeutung. Zur
Ausübung eines bestimmten Berufs gehört mehr als blosse Ein-
lassung mit den wissenschaftlichen Bildern der Dinge; man muss
sich unmittelbar mit Dingen selbst vertraut machen, und es wäre
beispielsweise für den Arzt anatomische Kenntniss ungenügend,
wenn sie nicht zugleich mit der eingeübten Fähigkeit verbunden
wäre, die Verhältnisse am wirklichen Körper im einzelnen Fall
sofort zu beurtheilen, ja, was noch mehr erfordert, in diese Ver-
hältnisse chirurgisch einzugreifen. Dagegen kann der allgemeine
wissenschaftliche Lehrerberuf sich fast ausschliesslich auf das
Wissen an sich selbst stützen und er bedarf nur einer einzigen
formellen Kunst, nämlich derjenigen des geschickten Lehrens
selbst und des zugehörigen Einübens. Unser leitender Grundsatz,
dass sich das Wissen wesentlich durch Bücher aneignen lasse,
bleibt daher für alle Lehrstoffe bestehen, und nur für die aus-
übenden Kunstfertigkeiten gesellt sich noch die andere Noth-
wendigkeit hinzu, die jedesmal erforderlichen Fähigkeiten durch
unmittelbare Thätigkeit an den Dingen besonders auszubilden.
Eigne Erfahrung und Erprobung wird aber auch hier das För-
derndste werden, und persönliches Lehrerthum sowie Anstalts-
zurüstungen werden wenig helfen, wenn dabei vornehmlich von
blossem Zusehen gelernt werden soll.
Mit dem Wege zur gesammten Selbstausbildung wäre es übel
bestellt, wenn er nicht zum höchsten Maass innerer Freiheit und
äusserer Wirkungsfähigkeit führen könnte. Hiezu ist aber die
Kenntniss der menschlichen Beschaffenheiten und Verhältnisse un-
mittelbar noch nöthiger als die der Natur. Es wird also die
Wissenschaft und Lehre vom Menschen,
soweit sie nur wirklich etwas Echtes weiss und zu lehren hat, in
der Berücksichtigung den ersten Rang in Anspruch zu nehmen
haben. Wenn gegenwärtig die Theilnahme dafür noch etwas
zurücksteht, so liegt dies daran, dass grade dieses Gebiet mit den
schlechtesten Ueberlieferungen versetzt ist, das meiste unnütze
Gerölle conservirt und dem öffentlichen Betruge am widerstands-
losesten preisgegeben ist. Auch muss hier die Theilnahme eine
doppelte Richtung haben; erstens geht sie auf das Wissen von
dem, was ist oder war, und zweitens geht sie auf eine Lehre
von dem, was fernerhin gut ist und ausgeführt werden soll.
Solche Lehre ist in diesem Sinne offenbar mehr als blosse Wissen-
schaft; sie betrifft das Streben des Einzelmenschen und der Ge-
sammtheit, sowie gleichsam die Zukunftsverbindlichkeiten. Frei-
heit und Leben der Einzelnen und der Völker, und zwar glück-
liches Leben, – das sind die hier maassgebenden Gesichtspunkte.
Fehlt es nun aber in der einen Hinsicht vielfach an echtem
Wissen, so steht diesem Mangel in der andern Hinsicht ein selbst-
ständiges Deficit an echtem Streben gegenüber, und selbst wo
wirkliche Energie hervorbricht, geräth sie nur allzu oft gar wüst
und chaotisch. Letzteres Fehlgreifen rührt durchaus nicht immer
vom Mangel eigentlicher Wissenschaft, sondern oft genug von
verderbten Antrieben, von desorientirten Gemüthskräften und
von abseits gerathenen Kraftgefühlen her. Freilich ist Derartiges
besser, als was sich auf der entgegengesetzten Seite an Wurm-
stichigkeit und Siechthum des Lebens, etwa gar mit dem pessi-
mistischen Krebs behaftet, an der Oberfläche so viel vertreten
findet. Auch ist gegenwärtig grade das am interessantesten, was
nicht bei dem passiven Wissen stehen bleibt, sondern, wenn auch
zunächst noch wildwüchsig, eine durchgreifende Umgestaltung der
Zustände in unmittelbar thatkräftigen Angriff nimmt.
Wir wollen nun sehen, was sich von der angedeuteten Seite
für die Selbstausbildung von Verstand und Muth gewinnen lasse;
denn diese beiden Factoren sind in der Geisteshaltung gleich
nothwendig. Zunächst ist es richtig, dass neben der Natur-
wissenschaft die socialen Wissenschaften und Lehren bei den am
meisten entwickelten Elementen des Menschengeschlechts im
Vordergrunde stehen. Den Menschen in seinen Gesellungsver-
hältnissen studiren, muss mit Recht als eine lohnende Aufgabe
auch denen gelten, die von der geschichtlichen Ueberlieferung
kaum ein Hundertel als weiterhin berechtigt anzuerkennen ver-
mögen. Eben ein solches Studium, wenn es auf die Dinge in
ihrer Wirklichkeit gerichtet ist, lässt die emancipatorischen Wege
besser auffinden und sicherer verfolgen. Hier ist es nun aber
nicht blos der Mensch im Allgemeinen, sondern der Mensch in
seiner Mannichfaltigkeit und Unterschiedlichkeit, namentlich nach
Geschlecht und nach Race, was mit vollem Bewusstsein ins Auge
gefasst werden muss.
Dem weiblichen Geschlecht braucht es wohl nicht erst be-
sonders nachgewiesen zu werden, dass es im Studium des Men-
schen sich selbst, also die eigne Beschaffenheit, die eigne Lage
und die eignen Schicksale nicht blos im Unterschiede von denen der
allgemeinen Menschennatur, sondern von vornherein in bevor-
zugter Weise zu ergründen hat. Dazu werden ihm nun wahrlich
die Amtsgelehrten mit ihrer bornirenden und stets socialreactionär
interessirten Scholastik nicht nur nichts helfen, sondern im Gegen-
theil die Wege noch verdunkeln. Ein offener Blick für die ein-
fachsten gegebenen Thatsachen und ausserdem allenfalls noch ein
wenig Umschau nach der Vergangenheit der Cultur reichen hier
zu, um die Hauptpunkte festzustellen. Speciell ist dabei eine
Untersuchung des Charakters der Ehe unerlässlich. Namentlich
ist sie schon von vornherein in der Geschichte auf zwei Eigen-
schaften anzusehen, die, obwohl voneinander trennbar, doch that-
sächlich miteinander verwachsen sind. Was sich in allen ersten
rohen Gestaltungen am sichtbarsten vordrängt, ist die Herrschafts-
form. Diese befestigt sich später politisch, und es gilt alsdann
der Satz, dass die Ehe eine Herrschaft des Mannes über das
Weib und zwar eine äusserliche, im allgemeinen Zwangsrecht
garantirte Herrschaftsform sei, so lange fast als selbstverständlich,
bis bei den freier strebenden Menschen die zweite Eigenschaft
deutlicher ins Bewusstsein tritt. Diese zweite Eigenschaft ist die
natürlich sittliche Gesellung, zu der ein weiter ausgedehntes
Maass der Lebensgemeinschaft folgerichtig gehört. Die Con-
stituirung der Familie ist weder von Natur noch von Cultur wegen
etwas Willkürliches; für den entwickelteren Menschen müsste sie
unter allen Umständen zur Sitte werden, auch wenn ein juristi-
scher Zwang nicht vorhanden wäre. Aus diesem Grunde lässt
sich nun daran denken, einmal auf der Grundlage einer edleren
Cultur und unter der Einwirkung verallgemeinerter besserer
Neigungen und Gesinnungen den Zwang selbst auszumerzen. Der
Gesichtspunkt also, von dem man bei dem Studium der ver-
schiedenen Ansichten und Lehren socialer Reformatoren über die
Ehe auszugehen hat, ist die angegebene, für alles Uebrige ent-
scheidende Spaltung des Gegenstandes. Ob Moral oder Justiz,
ob Sitte oder Politik den Verkehr und das Zusammenleben der
Geschlechter zu ordnen haben, – das ist der Kern der Grund-
frage, welche die aufgeklärtesten Elemente der Menschheit bewegt.
Ueber die Wichtigkeit des Racengesichtspunkts für das Ver-
ständniss der Zustände kann ich mich hier in Kürze, brauche
mich aber auch nicht weiter auszulassen; denn grade ich habe
in den verschiedensten Schriften Racenkritik, und zwar sowohl
an der Wissenschaft wie am Leben, in ganz neuen Richtungen
geübt. Um aber hier wenigstens die Frauenwelt an das ihr am
nächsten liegende Beispiel des Racengeistes zu erinnern, so möge
sie nur sich umsehen und an den Thatsachen selber studiren,
welchen verzerrenden, degradirenden und corrumpirenden Einfluss
die unverhältnissmässige Betheiligung von Hebräerinnen an Agi-
tationen, Vereinen und Instituten auf die Frauenfrage geübt hat.
Eine an sich edle Angelegenheit, die in Judenhände geräth, muss
entarten. Unsere Lehre von der Racenschädlichkeit zeigt dies
auf jedem Blatte; vollends zur Wissenschaft können Juden nichts
weiter beitragen, als den Schaden, den sie mit deren Verzerrung
und geschäftlicher Ausbeutung anrichten.
Wenden wir uns jetzt noch zu einer kurzen Berührung der
allgemeinen Verschiedenheit thatsächlicher oder möglicher socialer
Verfassungen. Hier ist es für das Studium in erster Linie nöthig,
das zu erkennen, was auch bei noch so grossen Veränderungen
als bedingungslose Wahrheit formulirt werden kann. Unsere
letzten Principien für höhere weibliche Berufsbildung liefern hier
gleich ein Beispiel. Der Satz, dass ärztliche Functionen an
Frauen grundsätzlich und vorwiegend auch von Frauen auszu-
üben sind, ist ein höheres Sittenprincip, welches bestehen bleibt,
wie sich auch ökonomisch und social die künftige Gesellschaft
gestalten möge. Es würde sogar auch dann gelten, wenn es gar
keine privatim erwerbenden Aerzte mehr gäbe, sondern der be-
treffende Beistand, sei es beamtenartig oder in ganz freier gesell-
schaftlicher Function, sozusagen von ohnedies gleich allen Andern
ernährten Gesellschaftsbürgern ausgeübt würde. Ich trete hier
nicht für eine solche Fiction ein, sondern mache sie nur, damit
sich zeige, wie die obersten Principien unseres Entwurfs der
höhern weiblichen Berufsfunctionen nicht an die heutige und
überhaupt nicht an eine specielle Gesellschaftsordnung gebunden
sind. Sie haben einen allgemeineren, weitertragenden Sinn, von
dem jeder eine Anwendung machen kann, je nachdem er die
Bilder anderer ökonomischer und socialer Regulirungen ins
Auge fasst.
In Bezug auf die öffentlichen Zustände hat es bisher nur
ein einziges Kenntnissgebiet gegeben, welches zum Theil als
eigentliche Wissenschaft gelten kann. Es ist dies die Volks-
wirthschaftslehre, die den fraglichen Vorzug insoweit hat, als sie
einige Wahrheiten enthält, die von der Veränderung socialer Zu-
stände unabhängig sind. Beispielsweise haben die Natur- und
Culturgesetze, die sich aus den Entfernungen und der Transport-
nothwendigkeit ergeben, einen allgemeinen Kern, der unter allen
Umständen bestehen bleibt und sich geltend macht, welche sociale
Organisation man auch ins Auge fassen möge. Von der Seite
solcher durchgreifender Wahrheiten genommen, bringen die Be-
trachtung der Volkswirthschaft und das Studium der zugehörigen
Theorien wirkliche Frucht. Durch solche Unterscheidung kommt
man hinter diejenigen Bestandtheile, die an der Wissenschaft von
dem, was wirthschaftlich besteht, unrichtige Erklärungen und
Gesetze enthalten, weil stillschweigend oder ausdrüklich falsche
Voraussetzungen über die Wirkung der socialen Zustände zu
Grunde liegen.
Uebrigens ist es an der Volkswirthschaftslehre am sichtbarsten,
wie eine modeme Wissenschaft den Universitäten nicht nur nichts
zu verdanken hat, sondern auf ihnen nur verdorben worden ist.
Die Nachweise dafür habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten,
am übersichtlichsten aber in der von mir geschriebenen Geschichte
der Nationalökonomie und des Socialismus geführt. Keine einzige
wirklich bedeutende Vertretung des Faches hat sich je auf Uni-
versitäten vorgefunden. Alle grossen Namen und Grundwerke
der Volkswirthschaftslehre gehören der freien Literatur an. Dahin
wende man sich, wenn man das Studium bis zur unmittelbaren
Kenntnissnahme von den verschiedenen Systemen ausdehnen und
seine Vorstellungen durch umfassendere Lectüre bereichern will.
Heute aber kann der entwickeltste Standpunkt nur ein System er-
geben, in welchem die eigentliche Socialität mitberücksichtigt wird.
Was ich in meinen Grundwerken socialitäre Volkswirthschafts-
lehre genannt habe, ist die Vereinigung der socialen Kritik und
der positiven Lehren von socialer Umschaffung mit den Natur-
nothwendigkeiten aller Volkswirthschaft.
Es giebt auch menschliche Natumothwendigkeiten, und auf
ihnen beruht dasjenige an den geselligen Einrichtungen, was sich
nicht abändern lässt. Es giebt aber noch eine andere Art von
menschlichen Nothwendigkeiten, die erst aus dem gereiften Be-
wusstsein stammen und daher erst entstehen, sobald Menschen
die betreffenden Einsichten in sich ausgebildet haben. Solche
Nothwendigkeiten treiben alsdann im edelsten Sinn zur Um-
schaffung der Verhältnisse. Von Freiheit und Gerechtigkeit hat
man zu den verschiedensten Zeiten einige Begriffe gehabt; aber
im höchst entwickelten Streben und Denken sind davon jetzt
vollkommenere Vorstellungen vorhanden, als jemals sonst in der
antiken oder modemen Geschichte. Der antike Mensch war in
seinem Charakter zu unzulänglich, um sie zu entwickeln, und
doch hat man sich in dieser Beziehung so sehr an Griechen und
Römer gehalten.
Die Gerechtigkeit ist als etwas anzusehen, dessen Unter-
suchung vom höhern Standpunkt nur dann lohnt, wenn dabei
eine Sicherheit der Grundsätze und Folgerungen erzielt werden
kann, die derjenigen der Mathematik gleicht. Derartiges ist aber
erreichbar, wenn man nur will. Mein leitendes Princip der
vom Wissen beleuchteten Rache ist ein entscheidender Anfang.
Jedoch muss man überhaupt davon ausgehen, dass nicht allge-
meine Schablonen, sondem, wie in der Mathematik, die Unter-
suchungen des Besondern und Einzelnen die absoluten Wahr-
heiten liefern, unter denen man dann die Axiome schon von
selbst herausfinden wird. Was man Jurisprudenz nennt, und
was, nebenbei bemerkt, grade mein eigentliches Fachstudium ge-
wesen, ist eine beschränkte autoritäre Disciplin und keine Wissen-
schaft. Ueberhaupt meine ich hier die Gerechtigkeit in jenem
weiten Sinne, in welchem sie über allen Einrichtungen steht und
nicht blos, wie man das nennt, von der Geschichte, sondern, wie
ich es verstehe, auch vom Einzelnen in souveräner Weise geubt
wird. Die hiezu erforderliche Aufklärung und Einsicht hat nun
aber mit Juristerei, Politik und Geschichtsdarstellung im her-
kömmlichen Sinne nichts zu schaffen. Sie hat sich gegen die
Falschheiten dieser drei Dinge zu setzen und sich so zu dem
höchsten Standpunkt der Freiheit zu erheben.
Politik ist, wie schon das Alterthum zeigt, bisher wesentlich
eine Kunst der Andere unterwerfenden Selbstsucht gewesen, und
ihre Mittel, ob nun brutal oder geistig, waren jederzeit danach
und zwar in den Thaten wie in den Lehren. Ein antipolitischer
Standpunkt ist demgegenüber von nun an das einzig Gerechte.
Um mich jedoch bestimmter auszudrücken, erinnere ich daran,
dass jegliche Zuschreibung von Gewalt, d. h. jegliche Verwand-
lung einer blossen Macht in angebliches Recht, vom Standpunkt
unserer heutigen höhern Einsicht bereits verwerflich ist. Von
der Autokratie bis zur Demokratie giebt es eben nur Kratien,
d. h. Gewaltzuschreilbungen, und in diesem Sinne sind alle Herr-
schaften schon als solche unberechtigt. Die Zustände wollen
daher, wie ich es nennen möchte, im antikratischen Sinne studirt
und behandelt sein, mag es sich nun um Gegenwart und Zukunft
oder um die Kritik und das Verständniss abgelaufener Geschichte
handeln. Der Umstand, dass eine Anzahl dem Einzelnen gegen-
übersteht, macht diese, auch wenn sie die Gesammtheit wäre,
noch nicht zu etwas, was sich, blos weil es eine grössere Zahl
oder Mehrheit ist, seinem Willen aufdrängen und sich über ihm
als eine sogenannte Obrigkeit constituiren dürfte. Vielmehr ist
es die erste und oberste Lüge aller politischen Theorie, an die
Nothwendigkeit einer solchen Ueberordnung glauben machen zu
wollen. Das antikratische Princip ist nunmehr das Einzige,
welches diesem proton pseudos, dieser Urtäuschung, den Krieg
macht. Von diesem Princip hängen die vollkommene Freiheit
und Gerechtigkeit ab. Freilich ist es bei dieser kurzen Erwähnung
des noch sehr neuen Gegenstandes nicht möglich, allem Miss-
verständniss zu begegnen.
Einige Frucht kann aber dennoch nach der theoretischen Seite
hin sofort erzielt werden. Es fällt nämlich eine Menge Stoff-
gerölle, mit dem man sich sonst befasst, hiemit hinweg. Nament-
lich wird auch der geschichtliche Kram mehr als blos decimirt;
nicht etwa ein Zehntel davon ist es, was bei Seite zu thun,
sondern es ist kaum ein Zehntausendtel, was davon noch anzu-
sehen und zu honoriren übrigbleibt. Mit einigem positiven
Nutzen lässt sich allenfalls noch französische Revolutionsgeschichte,
namentlich das erste Halbjahr von 1793, eingehender studiren,
und überdies sind ein paar Vorkommnisse in unserm Jahrhundert
hier und da von Interesse. Uebrigens ist aber auch die Cultur-
geschichte gar zu embryonisch; sie ermangelt des Compasses
wahrer Cultur. Selbst ein Buckle, der doch gegenüber den
Staats- und Geschichtsbedienten noch ein wahres Licht ist, hat
gar viel, was hinfort die entwickeltsten Elemente der Menschheit
nicht mehr interessirt. So legt er noch Werth auf das Verhalten
der Religionsbedienten und behandelt die Kämpfe verrotteter
politischer Parteien und entsprechender Gesellschaftsclassen um
die Stücke des Regierungsmonopols wie Angelegenheiten, an
denen man heute noch theilnehmen könnte. Erst eine richtige
Vorstellung von wahrer Cultur kann auch nützliche Rückblicke
auf die Vergangenheit ermöglichen. Alle solche Rückblicke haben
aber nur Sinn und Berechtigung, wenn sie im Dienste der Vor-
blicke und der Thaten stehen, die dem noch kommenden Leben
der Menschheit gelten.
Religion und Metaphysik kann man sich sparen. Sie haben
die Bedeutung von Astrologie und Alchymie. Das Wesen beider
ist Trug, einmal in gröberer und dann in feinerer Gestalt. Die
erste ist vornehmlich semitischer, die zweite hauptsächlich alt-
griechischer Trug. Was aus beiden zusammencopulirt ist, heisst
auf Universitäten Philosophie, und unter diesem Namen trifft man
dort und auch in der verwandten. Literaturumgebung ausseruni-
versitärer Art nichts Gediegenes an. Im Hinblick hierauf ist
das Wesen der Philosophie heute in allen Ländern, diesseits und
jenseits des Oceans, in Europa und in Amerika nichts als Meta-
physik, Hohlheit und Betrug. Soweit die Specialwissenschaften
davon inficirt sind, taugen sie nichts. Man hüte sich also vor
Zeitvergeudung und dem moralischen Gifte metaphysischer
Spitzbüberei und Narrheit. Ganz besonders werfe man aber
Alles zur Seite, was sich Psychologie nennt; denn unter dieser
Rubrik ist in der Welt noch nichts Gescheutes geschrieben und
docirt worden. Der metaphysische Ichwahn steckt speciell dieser
Disciplin nicht blos im Titel, sondern auch regelmässig im Leibe.
Man könnte den entschieden materialistischen Standpunkt
ausnehmen wollen; aber er wird von den Universitätlern ohnehin
gar nicht zur Philosophie gerechnet, was ihm zur Ehre gereicht.
Jedoch ist er meist roh und überdies leicht mit einer eignen Art
Metaphysik der Materie behaftet. Aber auch dann, wenn er sich
rein hält, kann er nur die unterste Grundlage abgeben. Eine
echte Weisheitslehre kann sich mit diesem Piedestal nicht be-
gnügen. Sie richtet sich auf die Wirklichkeit nicht blos im
Untergrunde, sondern auch auf den Höhen. Eine von philoso-
phastrischem Gespensterglauben freie und überdies redliche Wirk-
lichkeitslehre kennt anstatt Metaphysik nur Seins und Sach-
schematik, ein klares Gebiet, welches allenfalls auch Sachlogik
heissen könnte, obwohl auch der Name Logik nicht blos durch
Hohlheit, sondern auch durch metaphysische Verzerrung als ge-
meiniglich prostituirt gelten muss. An Stelle der abergläubischen
und ungediegenen Psychologie tritt Bewusstseinslehre, ein deut-
liches, von der Selbstwahrnehmung getragenes und glücklicher-
weise auch nicht sehr umfangreiches Gebiet.
Doch ich kann hier nicht weiter auf Philosophie eingehen.
Den Namen habe ich auch in den Titeln meiner eignen Bücher
zu brauchen gehabt; die Sache aber ist doch etwas wesentlich
Anderes geworden, ais sie in der bisherigen Geschichte, selbst in
den verhältnissmilssig besten Vertretungen, irgend gewesen. Wenn
Jemand; wie ich, sein ganzes Leben dazu aufgewendet hat, nicht
nur echte Aufklärung grade in den am meisten umdunkelten
und mit dem feinsten Truge verschleierten Gebieten zu schaffen,
sondern vor allen Dingen auch neue positive Wahrheiten auf-
zufinden, so muss ihn schon der blosse Name Philosophie, auch
wenn er ihn selber des Herkommens wegen nicht immer ver-
meiden kann, unter den heutigen Verhältnissen anwidern. Das
möge man nun, als sehr ernstgemeint, bei allem Studium be-
herzigen und Dinge, die dem frischen Leben und der Zukunft
angehören, nicht mit den geistigen Verwesungsresten eines ab-
gestorbenen Zustandes der Menschheit oder gar mit dem, was
jederzeit Lug und Trug war, zusammenwerfen.
An die Wissenschaft und Lehre vom Menschen grenzt nach-
barlich die
Schöne Literatur
als ein Gebiet der Geistesbethätigung, welches in seiner modernen
Gestaltung einen grossen Theil der Aufklärung und des Refor-
matorischen in sich aufgenommen, ja in wesentlichen Beziehungen,
wie bei Voltaire und Rousseau, erst neu herausgearbeitet hat.
Auch die geniessbarere Geschichtsschreibung, die nicht den ver-
lehrten Stempel trägt, gehört einigermaassen hieher, und hiefür
ist Voltaires Buch über Geist und Sitten der Nationen die noch
heute werthvollste Beurkundung. Jedoch auch die Poesie hat
seit der Einlenkung in das mehr Moderne, also auf deutschem
Boden mit dem 18. Jahrhundert, sich den reformatorischen An-
trieben nicht entziehen können. Im 19. aber ist sie in ihrer Ver-
tretung durch dessen Hauptgrössen, Byron und Shelley, gradezu
in den Kampf der Menschheit miteingetreten.
Geht man also von der Schwelle der neuern Zeit aus, indem
man auf Cervantes und Shakspeare blickt, und schreitet dann
fort, bis man über die glacirte und verschnürte, kaum in der
Komik aufathmende französische Hofpoesie hinweg zur verstand-
begabten Prosa Voltaires und Rousseaus gelangt, so befindet man
sich schon bei der entschiedenen Eröffnung etwas ernsterer mo-
derner Gänge im leichten belletristischen Gewande. Gemischter
und weniger deutlich gestaltet sich die eigentliche Poesie auf
deutscher Erde in Goethe und Schiller. Der Uebergang nach
England, also vor Allem zu Byron, als dem internationalen
Dichter, der die geistige Revolution mit seiner poetischen Gesell-
schaftskritik fortsetzt, bietet wieder mehr Sicherheit und Ent-
schiedenheit dar. Selbst die nebenhergehende und sich vor-
nehmlich in Deutschland breitmachende Verzerrung der Literatur
durch Juden, wie Börne und Heine, hat nicht umhin gekonnt,
sei es polternd, sei es hanswurstartig, hinter dem Wagen freiheit-
licher und menschheitlicher Ideen sich ein Geschäftchen zu
machen, welches gern als Stossen und Mithülfe angesehen sein
wollte.
In aller Poesie walten die Gemüthskräfte vor, und es ergeht
sich die Phantasie in Arten und
Weisen, die einer eigenthüm-
lichen Gattung von Correctiven bedürfen. Ausser den
Nebeln,
in welche die Dichtung von Resten der Religion und Metaphysik
gehüllt wird,
verfällt sie auch noch einer ihrem Gebiet eigen-
thümlichen und ausschliesslich angehörigen Art von Täuschung.
Sie
übt daher vielfach einen Trug, welcher zu dem der Religion
und dem der Metaphysik als ein
Drittes hinzutritt, was man bis-
her noch nicht ins Auge gefasst hat. Bei der Herausgabe
meiner
Arbeit über die Grössen der modernen Literatur wird sich grade
dieser
Trugbestandtheil in der Poesie als ein wesentlicher Gegen-
stand durchgreifender Kritik
offengelegt finden. Hier aber kann
keine Untersuchung angestellt, sondern es kann nur darauf
hin-
gewiesen werden, wie ein Compass für die Befassung mit dem
belletristischen
Gebiet unentbehrlich sei. Die Ruhe des Gemüths
und die Klarheit des Verstandes werden in der
Ueberlassung an
die poetischen Eindrücke nur dadurch gewahrt, dass man an die
dichterischen Affecte und Phantasien das Maass der Wahrheit
und zwar der Wahrheit aus allen
Gesichtspunkten anlegt. Es
giebt mehrere Seiten, von denen die modernen Literaturgrössen
noch nicht betrachtet worden sind, und grade auf diese Seiten habe
ich seit ein paar
Jahrzehnten besonders geachtet. So bin ich
schliesslich zu der Ueberzeugung gelangt, dass eine
Darstellung
und Kritik des Wesentlichen der schönen Literatur, wenn dabei
alle Mittel des
Wissens, Strebens und Empfindens vereinigt zu
Hülfe genommen werden, einen wesentlichen
Fortschritt der
Selbstausbildung bewirken muss. Einerseits wird ein neues und
populär sehr
weittragendes Stück Emancipation von solchen
Bildungsfesseln durchgeführt, die man als solche
noch am wenig-
sten erkannt hat. Andererseits aber wird die Möglichkeit eröffnet,
unter Meidung des Schadens und mit gehöriger Unterscheidung
an das wirklich Wohlthätige
heranzutreten, was für Sinn und
Herz zur Verfügung steht.
Schriften desselben Verfassers.
1. Philosophische:
De tempore, spatio, causalitate atque de analysis infini-
tesimalis logica. Berlin 1861. 3 M.
Natürliche Dialektik, neue logische Grundlegungen der Wissen-
schaft und Philosophie. Berlin 1865. 4 M.
Der Werth des Lebens, populär dargestellt. 3. Auflage. Leipzig
1881. Fues. 6 M.
Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung
und Lebensgestaltung. Leipzig 1875. Heimanns Verlag. 9 M.
Logik und Wissenschaftstheorie. Leipzig 1878. Fues. 9 M.
Kritische Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen
bis zur Gegenwart. 3. Auflage. Leipzig 1878. Fues. 9 M.
2. Volkswirtschaftliche und socialitäre:
Carey's Umwälzung der Volkswirthschaftslehre und Social-
wissenschaft. 12 Briefe. München 1865. Merhoff. 2 M. 50 Pf...
Capital und Arbeit, neue Antworten auf alte Fragen. Berlin 1865.
3 M. 50 Pf.
Kritische Grundlegung der Volkswirthschaftslehre. Berlin
1866. 8 M. 40 Pf.
Die Verkleinerer Carey's und die Krisis der Nationalökonomie,
sechzehn Briefe. Breslau 1867. Trewendt. 3 M.
Kritische Geschichte der Nationalökonomie und des Socia-
lismus. 3. Auflage. Leipzig 1879. Fues. 9 M.
Cursus der National- und Socialökonomie, einschliesslich der
Hauptpunkte der Finanzpolitik. 2. Auflage. Leipzig 1876. Fues.
9 M.
3. Vermischte:
Die Schicksale meiner socialen Denkschrift für das Preus-
sische Staatsministerium, zugleich ein Beitrag zur Geschichte
des Autorrechts und der Gesetzesanwendung. (1868.) Heimanns
Verlag in Leipzig. 1 M.
Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit
einer weltgeschichtlichen Antwort. 3. Auflage. Karlsruhe 1885.
Reuther. 3 M.
Die Ueberschätzung Lessing's und dessen Anwaltschaft für
die Juden. Karlsruhe 1881. Reuther. 1 M. 80 Pf.
Sache, Leben und Feinde. Als Hauptwerk u. Schlüssel zu seinen sämmt-
lichen Schriften. Mit seinem Bildniss. Karlsruhe 1882. Reuther. 8 M.
Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres und die
Ausscheidung alles Judenthums durch den modernen Völkergeist.
Karlsruhe 1888. Reuther. 4 M. 50 Pf.
4. Mathematische und naturwissenschaftliche:
Neue Grundmittel und Erfindungen zur Analysis, Algebra, Functions-
rechnung und zugehörigen Geometrie, sowie Principien zur mathe-
matischen Reform nebst einer Anleitung zum Studiren und Lehren
der Mathematik. Von Dr. E. Dühring und Ulrich Dühring. Leipzig
1884. Fues. 12 M.
Neue Grundgesetze zur rationellen Physik und Chemie.
Erste Folge. Leipzig 1878. Fues. 8 M.
Robert Bayer der Galiei des neunzehnten Jahrhunderts.
Eine Einführung in seine Leistungen und Schicksale. Mit seinem
Portrait in Stahlstich. Chemnitz 1880. Schmeitzner. 4 M.
Kritische Geschichte der allgemeinen Principien der Mecha-
nik. Von der philosophischen Facultät der Universität Göttingen
mit dem ersten Preise der Beneke-Stiftung gekrönte Schrift. Zweite
theilweise umgearbeitete und mit einer Anleitung zum Studium der
Mathematik vermehrte Auflage. Leipzig 1877. Fues. 9 M.
In dem Urtheil der Göttinger Universität, die den Namen des Verfassers
nicht wusste, heisst es:
„Mit vollständigster und freiester Beherrschung der Sache und erstaunlicher
Ausdehnung genauester literarischer Kenntniss sind nicht nur alle wesentlichen
Punkte erörtert,
sondern eine grosse Anzahl kleinerer Discussionen, welche die
Facultät nicht für unerlässlich
gehalten hätte, aber mit Dank anerkennt, da sie
überall dem volleren Verständniss des
Gegenstandes dienen, bezeugen zugleich
die grosse Liebe und die Umsicht, mit welcher der
Verfasser sich in seine Auf-
gabe vertieft hat. Dem ausserordentlichen so aufgehäuften
Stoffe entspricht die
Fähigkeit sn seiner Bewältigung. Durch feines Gefühl für klare
Vertheilung
der Massen ist es dem Verfasser gelungen, zugleich auf die ganze geistige
Signa-
tur der Zeitalter, auf den wissenschaftlichen Charakter der leitenden
Persönlich-
keiten und anf die fortschreitende Entwickelung der einzelnen Principien
und
Lehrsätze ganz das belehrende geschichtliche Licht fallen zu lassen, welches die
Facultät vor allem gewünscht hatte. Die ursprünglichen Aufgaben, an deren
Behandlung jedes neue
Princip oder Theorem entstand, sind überall mit voll-
endeter Anschaulichkeit
reproducirt und die allmälige Umformung, die jedes er-
fahren hat, durch alle
Zwischenglieder sorgfältig verfolgt. Die Berührungen der
mechanischen Gedanken mit der
philosophischen Speculation sind nirgends ver-
mieden; sie sind nicht nur in eigenen
Abschnitten entwickelt, sondern der feine
philosophische Instinct, der den Verfasser auch auf
diesem Boden leitet, ist
ebenso deutlich in einer grossen Anzahl aufklärender allgemeiner
Bemerkungen
sichtbar, welche an schicklichen Stellen in die Darstellung der mechanischen
Untersuchungen verflochten sind. Den angenehmen Eindruck des Ganzen voll-
endet eine
sehr einfache, aber an glücklichen Wendungen reiche Schreibart.
Voll Befriedigung, sich als die
Veranlasserin dieser schönen Leistung zu wissen,
durch welche ihre Aufgabe vollständig gelöst
und viele Nebenerwartungen über-
troffen sind, zögert sie nicht, dem Verfasser den ersten Preis hierdurch
öffentlich zuzuerkennen.“
Für das mit einem * bezeichnete Buch ist die Verlagshandlanlung eingegangen und befinden sich
die wenigen restirenden Exemplare bei dem Verfasser, Adresse Zehlendorf bei Berlin, von wo solche
gegen vorgängige Einsendung des Betrages zu beziehen sind. – Die mit einem bezeichneten Bücher
sind vergriffen.
Bemerkung zum Schriftenverzeichniss
über die Plagiirung der neuen Grundgesetze zur Physik
und Chemie.
Die im Verzeichniss aufgeführte Schrift „Neue Grundgesetze“ etc.
erschien
im Mai 1878 und erhielt sofort durch den Buchhandel eine umfassende Ver-
breitung im Inlande und nach Verhältniss der Sprache auch im Auslande. Ueber-
dies waren
schon vorher Prospecte derselben an zahlreiche Fachgelehrte, sowie
an Akademien des In- und
Auslandes versendet worden. In diesen Prospecten
war insbesondere das von meinem Sohn Ulrich
entdeckte und von ihm in der
Schrift selbst mit einer vollständigen Theorie und praktischen
Anwendungen aus-
gestattete Siedegesetz wörtlich formulirt.. Die einzige Aufmerksamkeit
jedoch,
welche die Gelehrten dieser Schrift widmeten, bestand darin, dass sie dieselbe
recht erfreulich kauften, sich aber, wie des Näheren nachher deutlich werden
wird, auch
nachträglieh deren neuen Inhalt für sich, wie der Volksausdruck lautet,
zu kaufen versuchten.
Sie schwiegen Jahr und Tag über die Schrift in den Fach-
journalen, gaben aber mündlich
die Parole aus, es sei in der Schrift nichts
Neues enthalten, das darin Enthaltene vielmehr
schon überall zu lesen, und ich
hätte mich mit dieser Schrift ganz besonders blamirt. Dies war
die eine Seite
des liebenswürdigen Gelehrtenverhaltens, dessen allgemeine moralische
Signatur
in früheren berühmten Fällen seit meiner Schrift über Robert Mayer auch dem
weiteren Publicum eindringlicher bekannt und durchschaubar geworden ist. Die
andere, noch
unwürdigere Seite, die das Zubehör hiezu bildete, zeigte sich bald
und zwar zuerst in
Deutschland, dann aber auch im Auslande. Als Beispiele,
führe ich nur folgende Fälle an, weil
sie sich weniger auf das von mir Her-
rührende, als vielmehr speciell auf das ebenso
einfache als wichtige, darum aber
auch handgreiftich verständlichere und zu handgreiflicher
Aneignung äusserst
bequeme Gesetz meines Sohnes über die correspondirenden
Siedetemperaturen
beziehen. Ich für mein Theil bin an die edlen Manieren der Gelehrten, an
gleichzeitige Verschweigung und Plünderung meiner Schriften durch sie, genugsam
gewöhnt und
hätte viel zu thun, wenn ich Derartiges im Einzelnen verfolgen wollte.
Zuerst ist ein Theil des Gesetzes der correspondirenden Siedetemperaturen
seitens eines Professors Winkelmann durch Vermittlung eines Mitgliedes der
Münchener Akademie, eines Professors von Jolly, als neue und angeblich Herrn
Winkelmann gehörige Entdeckung Juni 1879 jener Akademie vorgelegt und in
deren Abhandlungen in Gestalt eines Aufsatzes des Herrn Winkelmann ver-
öffentlicht worden. Obenein ist die Aufnahme einer sachgemässen Reclamation,
die mein Sohn an Herrn von Jolly eingesendet hat, von diesem Herrn verweigert
worden. Schon kühner geworden, hat später Herr Winkelmann in einer Abhand-
lung der Wiedemannschen „Annalen der Physik“ (Jahrgang 1880) sich wesentlitch
den Hauptinhalt des Gesetzes der correspondirenden Siedetemperaturen unter
Umhüllung mit einer unerheblichen Abänderung angeeignet und diese Manipu-
lation dadurch gekrönt, dass er zugleich das Gesetz dem Publicum gegenüber
ostensibel als unwahr signalisirte. In diesem Fall gelang es meinem Sohn, wenig-
stens einen Artikel zum Schutz seines Gesetzes in die Annalen eingerückt zu erhalten.
Das vollständige Gesetz auch ohne den Schein einer Abänderung ist im
Februar 1880 der
Pariser Akademie der Wissenschaften als die neue Entdeckung
eines Herrn P. de Mondesir durch
ein Mitglied dieser Akademie, den bekannten
Chemiker H. Sainte-Claire Deville vorgelegt worden,
und ist der betreffende
Artikel des Herrn de Mondesir auch damals in den „Comptes
Rendus“ erschienen.
Alsdann wurde das Gesetz meines Sohnes in dem Incognito einer
französischen
Entdeckung in deutsche Fachzeitschriften übernommen, wogegen er zunächst im
„Chemischen Centralblatt“ (December 1880) reclamirte. Dieselbe Reclamation,
nur
in französischer Sprache, war von ihm dem betreffenden Secretär der fran-
zösischen
Akademie mit dem Ersuchen um Aufnahme in die „Comptes Rendus“
zugesendet worden.
Sie fand sich aber nur in wesentlicher Fälschung der
Worte und des Sinnes (ebenfalls December 1880) zum Abdruck gebracht, so
dass
mein Sohn für diese ihm untergeschobene Fassung nicht verantwortlieh ist.
Später
haben sich zu den Genannten auch noch Andere gesellt, welche mit jenen
und unter sich nunmehr
über die Priorität der Aneignung markten mögen. So
haben beispielsweise auch ein holländischer
Professor Waals und ein preussischer
Professor Clausius unter verschiedenen aber schlecht
verhüllenden Masken, in
ihrer Manier das Gesetz als ihr eignes reproducirt. Bezeichnenderweise
ist die
verzerrte Reproduction des letztem Herrn frischweg auch schon collegialisch
nachtreterisch in Lehrbücher aufgenommen worden, wie z. B. gehorsamst in den
Nachtrag des
Jaminschen Cursus der Physik (1883), welches Buch auch übrigens
in seiner 3. Auflage
durchgängig unsolider und unbehülflicher gerathen ist als
in seiner ersten Bearbeitung durch
den ursprünglichen Verfasser.
Die Thatsachen, aus denen mein Sohn das Gesetz erkannte, standen seit
mehreren Jahrzehnten in Fülle Jedermann zur Verfügung; aber erst als seine
Entdeckung veröffentlicht war, sprossten in den darauf folgenden Jahren aller-
orten die Nachentdeckungen hervor. Er selbst konnte es nicht eher finden, als
geschehen; denn er ist erst, als schon die Thatsachen vorhanden waren, geboren
und hat dieses Gesetz, welches von grosser physikalischer und chemischer Trag-
weite ist, in seinem 15. Lebensjahre aufgefunden. Wenn nun, nachdem er die frag-
liche sehr umfassende Wahrheit, um die sich 70 Jahre früher ein Dalton vergebens
bemüht hatte, gesehen, auch andere ältere Leute, die schon Jahrzehnte vorher sie
hätten sehen sollen, nun plötzlich sehen lernten, so ist dies wohl verständlich genug.
Es ist aber in derartigen Dingen oft noch mehr Komik, als schon der Rück-
import deutscher Originalwaare aus dem Auslande in sich schliesst, wie er auch
einst R. Mayer gegenüber prakticirt worden war. Es hat nämlich die Münchener
Akademie in der ganzen Plagiatangelegenheit nicht blos die Palme der Priorität
für sich, sondern offenbar auch den Apfel der höchsten Komik abgeschossen. Bei
allem moralischen Ernst der Sache hat sie dennoch, wie die Leser der Gruppe
meiner mathematisch naturwissenschaftlichen Schriften wissen, schon einmal den
Humor rege gemacht. Die Akademie der alten Mönchestadt hatte nämlich einen
Dr. G Berthold mit der Abfassung einer Geschicltte der Physik beauftragt und
dieser nichts Besseres zu thun gewusst, als sich unbekannterweise an mich zu
wenden, um dazu Disposition und Materialien von mir zu bekommen, die ich
selbstverständlich nicht verabfolgt habe. So ist der Münchener Akademie das
Schicksal erspart worden, auf jene Weise vom Vater zu zehren; indessen der
Sohn ist, wie erwähnt, nicht ganz heil davongekommen. Jedoch auch er weiss
sich gegen Anzehrungen zu wehren, und das Schicksal des zu wenig wehrhaften
R. Mayer ist ihm ein zur Warnung leuchtendes Beispiel geworden. Auch bei
diesem hatten die Thatsachen, auf Grund deren er seine neue grosse Wahr-
heit entdeckte, mehrere Jahrzehnte lang aller Welt zur Verfügung gestanden;
aber erst als er sie 1842 veröffentlicht hatte, schossen in den nächsten Jahren
im In- und Auslande eine ganze Anzahl Nachentdecker auf. Im Fall R. Mayers
gesellte sich aber zu den Beraubungen noch ein besonderes Gelehrtenverbrechen,
welches schlimmer war als das gegen Galilei verübte und in meiner Schrift über
R. Mayer dem Publicum dargelegt worden ist. Diese Schrift hat ausser ihrem
persönlichen Gegenstande überhaupt noch die allgemeinere Bedeutung, die tiefe
moralische Verderbniss und intellectuelle Verkommenheit der gewerbsmässigen
Gelehrtenclasse sichtbar zu machen und zu zeigen, wie diese Classe gegenwärtig
eine ähnliche Rolle spielt, wie vor ihr ausschliesslich die Priester. Es ist daher
kein Wunder, wenn der mit allen Mitteln betriebene und, wenn verübt, mit allen
Mitteln aufrechterhaltene Ehrendiebstahl und andere verwandte saubere Stück-
chen in der Gelehrtenclasse mehr grassiren, als in der ungelehrten der gemeine
Diebstahl und die sonstigen Gaunerstreiche.