„ Flügel auf ! “
Novellen .
„ Flügel auf ! “
Novellen
von
Ilse Frapan .
Berlin .
Verlag von Gebrüder Paetel .
1895 .
Alle Rechte , vornehmlich das der Uebersetzung
in fremde Sprachen , vorbehalten .
Inhalt .
Seite |
1. Weiße Flamme | 1 |
2. Liebesmühen | 77 |
3 . Der erste Blick hinter die Coulissen | 199 |
4 . „ Die Schöpfung “ | 273 |
5. Symbiose | 301 |
Weiße Flamme .
Und so hatte er denn mitten im Semester den Wirthsleuten das Zimmer kündigen und umziehen müssen . Es war ihm zwar fast ans Herz gewachsen , das Stübchen mit dem weiten Blick über die Stadt hinweg , nach dem schönen , farbenwechselnden Uetliberg drüben , aber im Sommer galt es ja ohnehin die Läden zu verschließen , weil ihm den ganzen Tag die Sonne auf das einzige Fenster brannte . Und dazu der ewige Streit zwischen den Eheleuten , die sich mit jedem Monat schlechter vertrugen – er war froh , als er seinen Trieb , alles beim alten zu lassen , damit es ginge , wie es Gott gefiele , endlich überwunden und die Aenderung getroffen hatte .
Das war nun freilich ein anderes Haus , in das ihn der Zufall geführt . Ein altes vornehmes , weitläufig gebautes Haus mit großen getäfelten Stuben und niedrigen Balkendecken , mit steingepflastertem hallendem Hausflur , kühl und sonnenlos , mit verräucherten Oelgemälden an den Treppenaufgängen ,
eingemauerten Wappenschildern und glänzenden Messingschlössern an den Thüren . Nicht ein einziger Student wohnte darin , sondern lauter solide , wohlhäbige Vollbürger , die ihren guten Wein im Keller hatten und um zehn Uhr zu Bette gingen ; Männer mit ehrfurchterweckenden Uhrketten auf Sammtwesten und Kotelettbärten , Leute , die wenig Mägde hielten , weil ihre Frauen sonst nichts zu thun gewußt hätten – ein stilles , reservirt blickendes Haus , das sich etwas darauf zu gute that , nicht modern zu sein , weil modern ihm soviel wie leichtfertig und armschluckerhaft bedeutete .
Und in diese Umgebung er hinein mit seinen zweiundzwanzig Jahren , seinem Widerwillen gegen das Hergebrachte , das ehrwürdig genannt sein wollte , nur weil es alt war – mit seinem Spürsinn für faule Flecke und unklare Verhältnisse , mit seiner Anbetung der socialistischen Idee , die er idealisirte , zum Evangelium der Zukunft machte , mit seinem jungen Weltverbesserermuth und seinem täglichen , stündlichen Verzweifeln an sich selbst . Es war ihm auch selber jedesmal ein wunderliches Gefühl , die glatt und glänzend braun gewichsten Treppen hinan zu stürmen , und in den ersten Tagen war es ihm sogar passirt , daß er den Schritt unwillkürlich dämpfte , wenn weiter oben oder unten eine Thür geöffnet wurde ; nicht etwa aus Befangenheit , wie er entschuldigend zu sich selber
sagte , sondern aus einem stark entwickeltem Gefühl für das Stylvolle . Es wäre nicht im Charakter des Hauses gewesen , hier studentisch ungebunden mit Pfeifen und in weiten Sätzen , wie er es gewohnt war , aus- und einzugehen . Man war schließlich auch aus guter Familie und über die erste kraftgenialische Periode hinaus – ja , und wenn einmal etwas von seinem Programm verlauten sollte , war es auch nicht übel , diesen Philistern und grassen Bourgeois zu zeigen , daß man Socialist sein und doch die Formen der sogenannten guten Gesellschaft besitzen könne .
So lachte er zu den Bedenken und Abmahnungen seiner Freunde und schwur , daß er sich zum erstenmal in seiner Wohnung behaglich fühle , seit er in Zürich sei .
„ Weil du eben auch schon auf dem Wege bist , ein Philister zu werden , “ hieß es , und da lachte er noch fröhlicher und ließ es dabei bewenden . Eben weil sie alle ihm prophezeiten , er werde es in seiner „ Kapitalistenhochburg “ noch viel weniger aushalten als in der Proletarierspelunke . War es doch immer sein Vergnügen und sein Stolz gewesen , das Gegentheil von dem zu thun , was man von ihm erwartete . Sie konnten ihm eigentlich keinen größeren Gefallen erweisen , als achselzuckend von ihm zu sagen „ Ja , Iversen ist eben unberechenbar . “ Er protestirte dann gleichmüthig : „ Aber nein ! wieso denn ? “ Heimlich dachte er : Nun ja , wenn ich von euch allen ausgerechnet
werden könnte – ein trauriger Tropf müßte ich sein ; da wär ’s gerade Zeit , sich dem Absinth zu ergeben , oder dem Morphium ( auf Wein oder Bier verfiel er schon gar nicht ! ) oder dem Börsenspiel oder einer „ Meitschi mit Batze “ , Mädchen mit Geld . oder dem Antisemitismus , oder irgend einen anderen „ Kühweg “ zu betreten , wie ihr ihn früher oder später alle einmal entlang trottet .
Aber es war nicht allein Trotz , es war auch ein ästhetisches Wohlbehagen an seiner neuen Umgebung . Und dann hatte ihm die Wirthin von Anfang an so gefallen . Ein zartes altes Frauchen , nicht größer als ein vierzehnjähriges Kind , mit einem feinen bleichen Gesichtchen , besonders der Mund mit den ein wenig herabgezogenen Winkeln war so unendlich fein . Und sie hatte etwas Anmuthiges in den Bewegungen und besonders in der Art , den Kopf hinten über zu legen , wenn sie mit ihm sprach , das ihm hier zu Lande noch nicht vorgekommen war . In Deutschland , ja , da kannte er so feine alte Frauen , nur hatten die etwas Starres , Formelles , nicht diese vogelartige graziöse Hurtigkeit , die an ein junges Mädchen erinnerte , diese anspruchslose Freundlichkeit , wenn er ihr auf der Treppe oder im Gang begegnete , diesen ganz zarten , wehmüthigen Duft , wie ihn eine welke Blume aushaucht , die einmal sehr lieblich , sehr schön gewesen .
Und dann war es so wonnig still um ihn herum . Außer der Wirthin und der langgedienten , bäuerlich breiten Magd war niemand im ganzen Stock , und von unten störte kein ungeschickter Laut seine Muße . Die drei kleinen Fenster gingen ins Grüne ; ehemals hatte der schöne baumreiche Garten mit den hohen Thuja- und Cedernwipfeln wohl zu diesem Hause gehört , bis es herunterkam und stockweise vermiethet wurde . Und über den noch märzkahlen Obstbaumkronen hinweg sah man den Kranz der Alpenhäupter , vom Glärnisch bis zum Uri-Rothstock , ganz hoch am Horizont , daß es ihm immer vorkam , als sähe er eine Landschaft von Dürer im drückend engen niederen Fensterrahmen . Er setzte sich auch hin , das abzuzeichnen , aber dann , unwillig über sich selbst , als es ihm nicht gelang , beschloß er , all’ diese Tagedieberei aufzugeben und die seltene Ruhe um ihn her , einzig zur Arbeit aufs Examen zu benutzen . War er doch ohnehin schon sehr alt geworden , fast dreiundzwanzig Jahr , über all’ seinem zersplitterten Interesse , ohne nur einmal so viel wie das zweite Propädeutikum gemacht zu haben . Es gab kühle Mahnbriefe von zu Haus , ironische Erkundigungen nach seinem „ neuesten Steckenpferd “ , wie der Papa Mediciner seine Beschäftigung mit Politik und Literatur nannte , und es kam ihn allmählich hart an , die Widersprüche zwischen seinem bloß genießenden Leben und der socialen Richtung ,
die er mit so viel heftigem Enthusiasmus vertrat , glatt hinunterzuschlucken . Die meisten der „ Genossen “ kannten solche Skrupel nicht ; sie lebten wie die Lilien auf dem Felde von den Monatswechseln der Papas , immer unter der Verkündigung des Prinzips , daß Arbeit die Pflicht aller sei , und daß nur die Ausübung der allgemeinen Arbeitspflicht die Gesellschaft retten könne . Aber er wollte nicht sein wie die anderen , und er ärgerte sich , ärgerte sich , daß er sich füttern lassen mußte wie ein Schulknabe . Füttern und schelten ! Wie viele Jahre das nun schon so ging , es war zum Verzweifeln ! Und bis wir den Zukunftsstaat haben , wo jeder sein Leben verdient , einfach dadurch , daß er täglich drei oder vier Stunden an einer Maschine steht , kann man alt und grau werden . Da blieb schließlich nichts übrig , als sich ans Studium zu halten – es war ihm schon wie eine wohltönende Vorbedeutung , daß die neue Wirthin ihn von Anfang „ Herr Doktor “ geheißen . Er sagte nicht nein , obwohl er roth wurde ; schade , daß sein Papa und der ebenso sarkastische Schwager nicht hören konnten , mit welcher Achtung man ihn hier behandelte ! die hätten sich ein Beispiel nehmen dürfen .
So kräftig war sein Entschluß , daß er bis über die Osterferien anhielt ; er ging nicht heim , wie die Eltern es gewünscht , sondern blieb die zwei stillen langweiligen Monate , wo es in den Züricher Straßen
geradezu unheimlich leer an Studenten war , hinter den Büchern hocken , holte viel Versäumtes nach , ward aber aus Mangel an freundlicher Ansprache ganz öde und in sich gekehrt und fiel von einem „ Moralischen “ in den anderen . Da er nun infolge dessen oft mit gefalteter Stirn , nachdenklichen Mundwinkeln und etwas gebeugter Haltung der überschlanken Gestalt einherging , setzte sich in dem Hause , das sich ganz heimlich hinter dicht zusammengezogenen Gardinen und durch Gucklöcher in den Flurthüren , mit ihm beschäftigte , die Meinung fest , daß „ Frau Doktor Röslin’s Student “ im dritten Stock etwas Rechtes und Vornehmes sein müsse , gar zu eifrig und vielleicht auch ein richtiger Streber , nicht recht jung und duckmäuserhaft , aber jedenfalls , ein solventer Zahler . Diese hohe Meinung bekam das erste Loch nach fast zwei Monaten , als an einem wundermilden Aprilabend , voller Mondschein und Aprikosenblüthenduft , der Einsame seine lang vergessene Geige dem bestaubten Kasten entnahm und bei offenen Fenstern in einem Ruck bis elf Uhr musicirte . Seit er mit Anneli gebrochen , hatte er keine Saite mehr angerührt . Ach , sie war ja nur ein Puppengehirnchen gewesen , aber wie goldig glänzten die Locken auf dem dummen runden Köpfchen , und wie verschmitzt hatte sie ihm zulächeln können , während sie mit der Großmutter die häuslichsten Dinge verhandelte . Und wie nett sie sich auf allerlei Zeichensprache
verstanden , trotzdem . Fünf Finger und einer das hieß : Morgen früh um sechs Uhr geh ich zur Messe ; wer Lust hat , darf mich begleiten . Ach , sie war doch sehr lieb gewesen , so frei und übermüthig , wenn sie ganz allein waren , so ganz „ fromme Helene “ im Beisein der Großmutter . Ja , der Neckname , über den sie fast einen ganzen Tag mit ihm geschmollt , paßte ihr leider wie angegossen ! Ihr letzter Streich – o nein – das war nun einfach nicht zu dulden ! Ihre Sparbüchse leeren , um einem Kunstreiter eine silbernbeschlagene Reitpeitsche zu kaufen , und das Geschenk ihm selber in die Wohnung tragen , vermummt in die Kleider ihres Bruders – das war – er hatte ihr harte Worte gesagt , als er es erfuhr und sie einfach ableugnete , endlich aber lachend zugab . Gewiß , er war für alle Gleichberechtigung der Frau , aber es mußte Grenzen geben . Es war unausstehlich für einen Mann , betrogen zu werden , noch dazu eines Tölpels wegen .
„ Tölpel ? Ach , wenn du nur halb so schön reiten könntest wie der , du könntest zufrieden sein und brauchtest dich nicht mit dem dummen Ding da , mit der Medicin , zu plagen . “
Das schlug den Boden aus . Er , der so oft verkündigt , alle Arbeit sei gleichwerthig , begann mit ungeheurer Verachtung zu predigen gegen alles , was nicht geistige Thätigkeit war . Hatte er sonst genug
gegen „ Receptenschmierer “ und „ gelehrte Industrieritter “ gedonnert , so gab es nun nichts Höheres und Verehrungswürdigeres als die Aerzte , die „ Retter der Zukunft des Menschengeschlechts “ , denen es zu verdanken ist , wenn wir eine wahrhaft hohe Stufe erreichen und die Thierheit immer mehr und mehr von uns abstreifen werden . Die Worte strömten nur so von seinen zornig geschürzten Lippen , über das blonde Anneli , das mit gesenktem Kopf hinduckte und verlegen mit den Bernsteinperlen an dem dünnen Halse spielte . Als er es aber völlig zerquetscht zu haben glaubte , erhob sich ’s mit kalt beleidigter Miene , wischte ein bißchen an den Augen herum , die übrigens nichts von Feuchtigkeit zeigten , und sagte schnippisch : wenn er es denn doch für so arg einfältig halte und sich für so arg gescheit , so wolle es ihn in seinem „ Größenwahn “ nicht weiter stören und bedauere nur , daß sie beide so sehr an den Unrechten gekommen seien . Der Dumme , der für sie passe , sei freilich schon gefunden , er werde es begreiflich schwerer haben , indes „ so eine von d’ Siebengescheite , mit abgeschnittene Haar , wo in d’ Universität laufet , “ könne er vielleicht doch bekommen . Und fort und aus . Das Anneli war gewesen . Seine Betroffenheit über die Verwandlung vor seinen Augen , wo ein leichtherziges unbedachtes Kind sich in ein boshaft freches Weib verkehrte , hielt noch tagelang an . Jetzt erfuhr er ’s einmal selbst , was das heißt : die
Weiber ! Größenwahn ! Und das hatte auf dem Grund ihrer doch so seicht scheinenden Seele geschlummert , diese schöne Meinung von ihm , während sie mit einander scherzten und kos’ten . Er hatte gemeint , sie liebe ihn , er hatte zum mindesten geglaubt , sie seien gut Freund . Aber nun auch nie wieder . Nicht Anneli und keine andere . Und wenn es doch einmal sein sollte in fernen Tagen und das Schicksal es so mit sich brächte , dann jedenfalls kein solch Apfelblüthengesicht , dem man nichts als süße blonde Gedanken zutraut . Mochte sie eher häßlich sein , die Enttäuschung ist dann nicht so groß . Das war die Überlegung der ersten Stunde .
Aber wie er nun an diesem Frühlingsabend , ohne andere Beleuchtung als den vollen Mondschein , Chopinsche Nokturnos spielte , hatte er doch lauter Visionen von Schönheit und in Mädchengestalten verkörpertem Liebreiz , und er empfand Sehnsucht sogar nach dem Anneli , das er , wäre es gerade zur Thür hereingetreten , ohne alle weitere Rederei gewiß ans Herz gezogen hätte . Er war auch rauh und ungut gewesen , hatte nicht verstanden , sie zu halten , hatte immer nur seinen Willen , sein Vergnügen berücksichtigt , obschon er wußte , daß sie ein armes , verkehrt geleitetes , haltloses Gänschen war . Vielleicht war es seine Pflicht , einmal nachzusehen , was aus ihr geworden ; die Geschichte mit dem Kunstreiter war doch eigentlich kein Grund zur
Entzweiung . Sie hatte ihn ja nicht zu Hause getroffen , als sie in dem gewagten Costüm zu ihm ging , und sie hatte sich übrigens nur verkleidet , um nicht als Mädchen erkannt zu werden . Sie hatte gewissermaßen nur ihren eigenen Laufburschen vorstellen wollen , wie jener Geizhals Nachts sein Haus umstrich und bellte , als ob er sein eigener Hund wäre . Die häßliche , die zweideutige Beleuchtung hatte eben er , Iversen , auf die harmlose Dummheit fallen lassen – ja wir Männer sind eben unsaubere Thiere und können uns in ein unschuldiges Irren gar nicht mehr hineindenken . Nun , und als Anneli seine empörenden Insinuationen gehört , wie sollte sie da nicht wild geworden sein ? Und es ist nicht wahr , daß bei einem Streit sich immer der inwendige , sonst verborgene Mensch herauskehrt ! Ganz im Gegentheil ; man sagt Dinge , an die man nie gedacht hat , von denen man später selbst nicht begreift , wie sie einem auf die Zunge kommen . Der Jähzorn , der Rachsinn greift blind nach der ersten schlechtesten Waffe ; die Wunde , die sie verursacht , ist gewollt , und doch nicht immer so gewollt ; Nothwehr entschuldigt selbst den Todtschläger .
Über so hin- und hergaukelnden Gedanken , die sein Spiel nicht störten , sondern sich vielmehr mit den Tönen in ein beziehungsreiches Frage- und Antwortspiel eingelassen zu haben schienen , beachtete er nicht , daß unter ihm geklopft ward , erst dumpfer , dann lauter ,
endlich so stark , daß ihm der Lärm zum Bewußtsein kam ; dazu flog es ihm auch durch den Kopf , das Klopfen gelte ihm . Ja , da war es , unter seinen Füßen , just wo er mit der Geige stand und in die blaue Nacht hinausstarrte . „ Hoho , alter Maulwurf ! “ rief er , aus der Träumerei erwachend , und erwiderte das Klopfen mit dem Stiefelabsatz , „ bist du kein Freund von Chopin ? Vielleicht gefällt dir ’s besser , nach Moszkowskis Takt zu schlafen ! “ Und übermüthig strich er einen spanischen Tanz herunter , wozu er sich selbst , wie angesteckt von dem Tempo , im Zimmer herumdrehte . Aber ein wüthenderes Trommeln an der Stubendecke unterbrach ihn . Ein Fenster unter dem seinigen ward heftig aufgerissen , und ein lautes tobendes Schelten ergoß sich in die sanfte Nachtstille . Die Dissonanz war zu grell . Iversen verstopfte sich die Ohren vor den „ Chaiben “ , die in ganzen Rudeln daherfuhren . Das Schimpfen verstanden die Kapitalisten besser als die Socialdemokraten . Es war am Ende doch etwas dran , er hätte nicht hierher ziehen sollen .
Am Morgen gab es ein weitläufiges Geklingel mit der Thürglocke , die sonst so wenig in Bewegung gesetzt ward . Als Iversen später auf den Flur hinaustrat , kam die breite Magd aus ihrer Küche hervor und meldete ihm mit mißbilligender Miene , „ die Frau “ habe einen arg wüsten Brief bekommen , der Hausherr sei „ schüli bös g’si “ wegen der nächtlichen Ruhestörung .
Achselzuckend und geärgert wollte der Student auf sein Zimmer zurückkehren , als auch die Doktorin vor ihrer Thür erschien und ihn mit ein wenig scheuer und bekümmerter Miene bat , einen Augenblick bei ihr einzutreten .
Jetzt kommt die Exekution , dachte er , und folgte widerwillig in das hübsche Eckzimmer , dessen Fenster so mit Blumentischen voll Palmen und Aralien besetzt waren , daß nur grünes Dämmerlicht in der Mitte des Raumes herrschte .
„ Bitte , daß Sie sitzen , Herr Doktor . “
Sie kann mir ja gleich kündigen , wozu die Liebenswürdigkeit und die Umschweife ? dachte er und lehnte sich an den Bücherschrank , während die Frau an einem winzigen Schreibtisch Platz nahm , der ganz auf ihr Körpermaß zugeschnitten schien .
„ Ich habe Ihnen etwas so Unangenehmes zu sagen , “ begann sie und legte den Kopf in den Nacken , um ihn anzusehen , während ein leises Roth ihr in die Wangen stieg , „ ich für mein Theil habe so große Freude gehabt an Ihrem Spiel gestern Abend , es hat mich in vergangene Tage versetzt , so ich selbst musicirte , aber nun – der Hausbesitzer ist ein roher , widriger Mensch , er sei gestört worden – “ Sie hatte ein grau-braunes Couvert vom Tische genommen , es zitterte leicht in ihrer Hand .
Iversen’s Zorn war verflogen ; das gute Frauchen
das sich so genirte , weil ein anderer es grob angefahren hatte , that ihm leid .
„ So werde ich eben nicht wieder spielen , “ sagte er gelassen .
In das Gesicht der kleinen Dame kam ein fast erschrockener Ausdruck .
„ O nein ! “ rief sie eifrig , „ das wäre zu schade . Es ist mir zwar recht von Herzen leid , Sie wieder zu verlieren , aber ich darf Ihnen keine solche Freiheitsbeschränkungen zumuthen . Wenn ich nicht selber seit dreißig Jahren hier wohnte – “ Sie schlug leicht mit dem groben Couvert auf den Tisch , ihre Lippen zitterten vor Erregung .
„ Sie wollen mich also wieder los sein ? “ fragte Iversen mit schalkhaftem Vorwurf , er wollte sie zum Lachen bringen ; Himmel , wer wird sich denn gleich um solche Kleinigkeit alteriren ! Und schließlich , eine andere Bude war ja leicht zu finden , wenn er die ewige „ Umorgelei “ auch verabscheute .
Die Frau Doktorin sah den Studenten mit ihren großen hellgrauen Augen an . „ Nein , das glauben sie nicht , “ sagte sie und streckte das Händchen aus , ein weißes rundes , gar nicht altes Händchen , das er vorsichtig wie ein Spielzeug drückte . „ Der Herr Hasenfratz , ja denken Sie nur , Hasenfratz heißt er , ist erst seit sechs Monaten unser Hausherr , wenn er ’s aber so weiter treibt – “
Wieder mußte Iversen beschwichtigen . Die Tage all’ dieser Leute waren gezählt , so etwas würde ja im Zukunftsstaat nicht mehr möglich sein ; man konnte Geduld haben und abwarten . Inzwischen versprach er , nicht länger als bis zehn Uhr zu spielen . „ Ich bin ja kein Künstler ; oft vergehen Monate , ohne daß ich die Geige hernehme , es war der reinste Zufall , aber – ich bin nun gleich beim ersten Spintbrot zugelehrt worden , wie wir in Mecklenburg sagen . “ Er konnte sehr geduldig sein , wenn er eben in der Laune war , und dann wäre es ja geradezu ein Verbrechen gewesen , diese arme alte Dame , die ihm gar von einer bekannten Familie sprach , wo er wohnen und gewiß unbehelligt wohnen könne , unritterlich zu behandeln . Eine wohlthuende Atmosphäre verbreitete sie um sich ; er kam sich vor wie zu Hause und war doch nie vorher in ihrem Zimmer gewesen ; er wunderte sich , wie ein so schüchternes weltfremdes Wesen sein Dasein zu behaupten vermochte in dieser rauhen gährenden Zeit , und zugleich war ihm dies alles so bekannt wie ein altes Buch , das er als Kind gelesen . Sogar das Bild überm Clavier glaubte er schon einmal gesehen zu haben . Dies elfenhafte Geschöpf mit dem bläulichen Bande in den Locken , an eine Harfe gelehnt , eine Hand auf den goldschimmernden Saiten , ruhig hinausträumend .
„ Das ist hübsch , “ sagte er und blieb vor der großen Leinwand stehen . „ Ist es ein Porträt ? “
Die kleine Dame nickte ein wenig verschämt . „ Es ist Dilettantenarbeit , mein Schwiegervater hat es gemalt , und aus Pietät für ihn lasse ich es da hängen . Ich habe , glaub’ ich , nie so ausgesehen , “ fügte sie mit gutmüthiger Selbstironie hinzu , „ man hängt ja sonst auch nicht die eigenen Bilder sich ins Zimmer . “
Iversen warf einen überraschten Seitenblick auf das schwarz gekleidete Figürchen neben sich . „ Es ist noch heute eine gewisse Ähnlichkeit , “ meinte er freundlich , „ die Augen und sogar der ganze Ausdruck ; wie lang ist das nun her ? “
„ Vierzig Jahre ! “ Und als sie bemerkte , daß ihm vor der hohen Zahl unwillkürlich schauderte , sagte sie mit einem leisen Seufzer : „ O weh , wie sind verschwunden alle meine Jahr’ ! Ist mir mein Leben geträumet , oder ist es wahr ? “
„ Ja , der Vogelweider hat es auch erfahren , “ fiel Iversen ein , „ aber Sie können wirklich zufrieden sein , verehrte Frau – ach du lieber Gott , wo wird unsereins nach vierzig Jahren sein , und wie wird er aussehen ! “ Er schüttelte sich lachend . Dann sah er noch einmal auf das Bild . „ Und die Harfe ist nur Decoration , oder – “
„ Nein , ich habe ziemlich viel gespielt – “
„ Spielen Sie noch ? “ fiel Iversen ein . „ O , das müssen Sie mich , bitte , einmal hören lassen , das
interessiert mich . “ Was für Antiquitäten in diesem Hause stecken , dachte er sich , wer weiß , am Ende besitzt auch der Herr Hasenfratz noch andere Talente als die gestern producirten .
Sie schieden ganz heiter wie gute Freunde . Abends ward ein schwerer Gegenstand auf dem Flur entlang geschoben .
„ Kann ich Ihnen helfen ? “ sagte der Student , der das Rasseln vor seiner Thür schneller zu beendigen wünschte .
Die kleine Doktorin erröthete ein bißchen . „ Ich dachte , Sie seien ausgegangen . Wir haben die Harfe ausgepackt ; es war auch Zeit , einmal danach zu sehen , sie ist schon ein wenig eingerostet . “ Bedauernd beugte sie den grauen Kopf über die einst so glänzenden Saiten .
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Iversen erzählte sein Abenteuer mit Herrn Hasenfratz . Er hatte inzwischen die weiteren Gründe seines Mißfallens an Chopin erfahren und gab nun an der Mittagstafel zum besten , wie der edle Herr und Hausbesitzer Abend für Abend um neun Uhr über seinem Wein und der Züricher Zeitung einschlafe , um Mitternacht oder eine Stunde später erwache und dann dringend einer Erfrischung benöthigte , aber einer herzhaften . Seine Gattin sei somit verbunden , nächtlicher Weile aus dem Bette aufzustehen , Feuer anzuzünden und dem Hungerleidenden ein „ Güggeli “ zu braten , denn
kalte Speise vertrage sein Magen zu dieser Stunde absolut nicht .
„ Und in solch einem Hause lebt der Mensch ! “ hieß es entrüstet , „ das läßt er sich gefallen , mit seinen Principien ! “
„ Nun , wenn der Herr Hasenfratz seine Frau mißhandeln will , was geht das mich an ? “ lachte Iversen . „ Laßt doch die Todten ihre Todten begraben ; ich finde nur , der Kerl ist mal wieder ein interessanter Typus , und auf der anderen Seite dieser Sclavensinn der Frau , die so etwas ganz selbstverständlich findet . “
Es gab eine längere Debatte . War das angeborene oder angezogene Unterwürfigkeit , diese Unterordnung der Frauen unter Manneswillen ? Anerzogen , ohne Frage , oder vielmehr angeprügelt , um es klarer zu sagen ; hier galt mehr als irgendwo die große Faust , der große Ellenbogen , der Bauernschuh .
„ Aber eine gute Eigenschaft besitzt dein Hausherr doch ! Wetten ? “ rief ein blutjunger Tischgenosse , der an dem Wortgefecht keinen Antheil genommen . „ Er hat eine hübsche Tochter , vielleicht sogar mehrere . “
„ Oder deine Wirthin hat sie , “ sagte ein anderer .
„ Die Frau Doktorin Röslin , bei der ich wohne , hat , soviel ich weiß , keine Kinder . “ Iversen zündete mit kühler Miene seine Cigarrette an .
„ Ach , bei einer Frau Doktorin wohnt er ! Studiengenossin
vielleicht ? Eine gebildete Frau ? Wie alt ist sie , so beiläufig ? “
„ Zwischen fünfzig und sechzig , “ sagte Iversen und klopfte gemächlich die Asche ab .
Es gab ein allgemeines Zurückfahren . „ Brr ! da hört das Fragen auf ! Oder ist sie Millionärin und will dich adoptiren ? “
„ Ihr seid doch furchtbar fad , “ sagte Iversen verächtlich . „ Wollen wir von etwas anderem sprechen ? “
Am nächsten Tage aber ward er mit lebhaften Zurufen von seiner Tischgesellschaft empfangen .
„ Also ! weißt du , bei wem du wohnst ? Weißt du , wie die Frau Doktorin Röslin von den Leuten genannt wird ? “
„ Ach , das ist mir doch gleichgültig ! “ sagte Iversen . „ Die Frau möcht ’ ich sehen , über die ihr nicht etwas zu klatschen wüßtet ! “
Er begann zu essen , während das Lachen noch lauter wurde .
„ Eine alte freundliche Frau , die keinem Menschen etwas zu leide thut ; heute morgen um halb sieben , als ich zum Baden ausging , sah ich sie schon ganz drunten in der Stadt an einem Glockenzug hängen . Immer hat sie Leute zu besuchen , mit denen sie weinen oder sich freuen will . Besonders Mitfreude scheint ihre Specialität zu sein . Fortwährend hat sie Verlobungssträuße und Brautkränze zu binden . “
Nun brach der Lärm erst recht los . Iversen saß betroffen da über das Lachen , das er entfesselt . „ Es ist richtig ! Sie ist es . Eben darum ! Die ewige Braut ! Ja , ja , so heißt sie . Und bei der wohnst du ! “
„ Wahrscheinlich ist es erst noch gar nicht dieselbe , “ sagte Iversen mit entschiedener Gelassenheit ; „ die Doktorin Röslin , bei der ich wohne , hat nichts Lächerliches . “
„ Aber die ewige Braut heißt sie doch . “
„ Unsinn , sie war verheirathet , ist jetzt wohl schon lange Wittwe , wenigstens sprach sie von ihrem Schwiegervater . “
„ Nein , sie war nie verheirathet , sie war nur dreißig Jahre lang verlobt . “
Ein unermeßliches Gelächter erhob sich . Ein kleiner dicker Neunzehnjähriger mußte sich die Thränen abwischen .
„ Der Iversen ! der Iversen ! “ gluckste er krampfhaft .
„ Aber mit welchem Recht nennt sie sich denn Frau ? der Titel kommt ihr doch nicht zu ? “ meinte ein vorsichtiger Jurist .
„ Ja , es gab dann zuletzt noch eine Nothtaufe , wollt’ ich sagen Nothtrauung ; als der ewige Bräutigam auf dem Sterbebett war , glaub’ ich . Aber er war schon ganz blöd und stumpf . “
„ Natürlich ! sonst hätte er sich wohl gedrückt , “ hieß es .
Iversen erboste sich . „ Herrgott , dies öde Gewitzel ! Erstens ist die Geschichte sicher nicht war . Und zweitens scheint sie mir nicht gerade zum Lachen . Diese endlosen Verlobungen sind ja eine der vielen verrückten traurigen Erscheinungen unserer socialen Verhältnisse . Wahrscheinlich so ein armer Kandidat der Theologie , vielleicht Freidenker und deshalb mißliebig geworden , auf der anderen Seite ein mittelloses , aber gebildetes Mädchen – “
„ Aha , Iversen dichtet schon ! “ unterbrach der Neunzehnjährige .
„ Also , stimmt nicht ! die Röslins sind häbige wohlhabende . Leute , “ bemerkte jemand .
„ Und warum hätten sie dann mit der Trauung gewartet , bis es nur noch eine Farce war , die sie dem Tode vorspielten ? “ fuhr Iversen auf .
„ Er war krank , höre ich , epileptisch , der Doktor Röslin , und der Arzt hat ihm’s Heirathen verboten . “
„ Endlich einmal ein vernünftiger Arzt , “ murmelte einer , dann schwiegen alle eine Weile .
„ Jetzt schaut ’s doch es bitzli anders aus mit der ewigen Braut , “ meinte einer der lebhaftesten Lacher von vorhin .
Iversen schüttelte nachdenklich den Kopf .
„ Eine Tollheit bleibt es doch und fast ein Verbrechen . Sich an einen lebendig Todten ketten für lebenslang – wahnsinniger , naturwidriger Altruismus !
Es macht mich wüthend , nur so etwas zu hören . Ihr habt sie mir ganz verleidet ! Wenn ich die Alte jetzt anschaue , immer werd’ ich an den epileptischen Bräutigam denken müssen . Da muß man ’s doch wirklich glauben , daß die Weiber nur so zu Anhängseln bestimmt sind . Bis wir die Rasse verbessern – “
Als er am Abend der Wirthin auf der Treppe begegnete , sprang er mit einem kurzen , undeutlich gemurmelten Gruß an ihr vorüber . Er bemerkte nicht , daß die Frau ihm mit verwundert-besorgten Blicken folgte .
Am nächsten Tage hatte er die ganze Sache schon wieder vergessen , oder wenigstens aus dem Gedächtniß geschoben . Es gab eine wichtige Versammlung , ein bekannter und berühmter „ Genosse “ sollte sprechen , und Iversen rüstete sich beizeiten auf eine Erwiderung . Alle diese alten und älteren Herren waren schließlich retardirende Elemente , und er hielt es für seine Pflicht , sie im Namen der Tugend zu bekämpfen . Eine Oppositionspartei , die aufhört , Opposition zu machen , hört eben auf zu sein . Heiter und gespannt , „ im vollen Turgor “ , wie er sich schon lange nicht gefühlt , verließ er das Haus , um ins Versammlungslokal zu gehen . In solchem Geisteszustand sollte man immer sein ! Man weiß doch dann , daß man lebt . Er war heute nothwendig , denn kein anderer würde sagen , was er zu sagen hätte .
Leider lief es nicht so ab , wie er gewünscht . Der berühmte Redner hatte den allgemeinen Beifall , obgleich er nur Bekanntes sagte . Seine Rede dauerte einige Stunden . Die Diskussion begann auf einer anderen Stelle , als der von Iversen vorausgesetzten . Als er zu Wort kam , war die Zeit derartig vorgeschritten , daß er mit Schlußrufen unterbrochen ward , eh ’ er recht angefangen . An der Glasthür standen ein paar Hausknechte mir aufgekrempten Ärmeln ; sie beförderten an die Luft , wer nicht freiwillig ging ; dies Publikum , das mehr Sodawasser als Bier trank , imponirte ihnen nicht im mindesten . Iversen sprach noch , während diese Räumung des Saales erfolgte . Er sprach gut , und er wünschte , seine Mutter möchte ihn hören ! Sie würde ihm natürlich nicht zugestimmt , aber sie würde Respekt vor ihm bekommen haben . Er sah mehr Rücken vor sich als Gesichter ; einerlei , sie konnten auch so hören . Plötzlich bemerkte er gar nicht fern von der Tribüne ein paar aufmerksam auf ihn gerichtete Augen . Im selben Blick erkannte er den zurückgelegten Kopf , die schwarze Gestalt seiner Wirthin . Sie hörte voll Antheil , kümmerte sich nicht um den Aufbruch um sie herum . Ihr feines helles Gesichtchen im Rahmen der lose geknüpften schwarzen Hutbänder war durchleuchtet von Leben und Interesse . Iversen amüsirte sich , auch über sich selbst , daß er sich unwillkürlich geschmeichelt fühlte . Was nun wohl das Altchen davon versteht !
Ist das nicht eine spaßhafte Marotte ? Als er fertig war , sprang er mit blitzenden Augen von der Tribüne . Ein paar Beifallsrufe wurden hörbar , aber darauf kam es ihm nicht an , er hatte sich von der Seele gesprochen , was ihn beschäftigte . Er war sogleich umringt von den Bekannten , die ihm Glück wünschten . Im Gedränge vorwärts und dem Ausgang zuschreitend , befand er sich plötzlich neben seiner Wirthin . Er streifte sie und zog den Hut : „ Sie hier , Frau Doktorin ? Ja , wie kommen Sie denn nun nach Hause ? “
„ O , ich habe die Kathi mit . Es thut sich schon . “
Iversen war sehr erleichtert , als er die breite Magd hinter ihrer Herrin entdeckte , sie bewegte die in einem ehrwürdigen Umhang eingewickelten Arme wie ein Paar schützende Flügel . Auf ihrem verschlafenen Gesicht erschien ein entschlossener Ausdruck , der Ausdruck einer Schildwache , die man anruft , sowie ihre Frau ihren Namen nannte .
„ Kommen Sie gut heim , “ winkte Iversen , dann schlug er sich seitwärts . Zum Glück hatte niemand die wenigen Worte gehört , war niemand auf die unscheinbare Person aufmerksam geworden . Mit alten Frauen mag doch gewiß kein Mann geneckt werden , selbst nicht von den ödesten Gesellen , und in dieser Doktorin wollte man nun durchaus etwas Lächerliches finden .
„ Nun , wie hat es Ihnen gestern Abend gefallen ? “ fragte er sie den anderen Tag .
Sie zögerte mit der Antwort , erröthend wie ein junges Mädchen .
„ Ich war sehr erschrocken und bin es noch . Ich wußte gar nicht , daß es so traurig in der Welt aussieht , man begreift nicht , wo das einmal hinaus soll ; der erste Redner hat das so düster hingestellt – ich war recht froh , als dann die jungen Leute kamen – ich hoffte so bei mir , nun , die werden doch noch etwas Rechtes ausdenken , daß es weiter geht – “
„ Ja , wenn wir nur die Rechten dazu sind “ , meinte Iversen mit einem halben Seufzer , „ wenn es nur wirklich weiter geht ! “
„ O gewiß ! “ rief die Frau , und es kam ein stilles Leuchten in ihre Augen , das sich allmählich über all ihre Züge verbreitete ; „ immer aufwärts , den Glauben geben wir nicht auf ! Und das ist ja auch der Sinn Ihrer Lehre , wenn ich gestern recht verstanden habe . Wir sehen nie das Ganze , weil wir kurzsichtige Geschöpfe sind . Das sind alles Etappen ; man kann nicht allem zustimmen , aber die Hauptsache ist , daß wir uns nicht zufrieden geben ! “ Sie brach ab und lächelte . „ Ich möcht es wohl erleben , wie Sie die Welt umkrempeln , “ sagte sie lebhaft .
„ Ach wir ! Ich fürchte , wir werden garnichts umkrempeln . Vielleicht unsere Kinder . “ Iversen wurde immer skeptisch , sobald der andere zuversichtlich ward . „ Übrigens , Sie haben recht , das Erreichte – was
liegt daran ? Der Wille zu erreichen , auf den kommt es an . “
„ Nein , am Erreichen liegt nichts . “ Sie versank in Gedanken .
Abends im Theater sah Iversen das Anneli wieder . Es saß sittsam neben der Großmutter , auf seiner anderen Seite ein graubärtiger untersetzter Herr , der ihnen bekannt zu sein schien , denn er sprach über das Mädchen hinweg zu der Alten . Anneli klappte mit einer gewissen stilisirt mädchenhaften Miene den Fächer auf und zu und schien taube Ohren zu machen , weil man es von ihr verlangte . Es hatte einen scharfen Zug um den Mund bekommen , übrigens sah es sehr hübsch aus , ein breiter Spitzenkragen über einem graublauen Kleide stand gut zu dem hellblonden gekräuselten Haar . Iversen horchte auf sein Herz , aber es gab keinen lauteren Schlag . Die da sehen aus wie die verkörperte Langeweile , dachte er . Anneli , das ist die hübsche Langeweile , die Großmutter ist die medisante Langeweile ( übrigens hat das Mädchen diesen Zug von ihr geerbt , und er wird bald all ihre sonstige Lieblichkeit aufgesogen haben ) , der Graubart ist die lüsterne Langeweile , denn daß er das Mädchen anredet , wenn er mit der Alten spricht , ist nur zu deutlich . Und in dies Geschöpfchen hab’ ich einmal Himmel und Erde hineingelegt , und ihr Lächeln war mein Paradies .
Der Vorhang fiel , die Operngläser richteten sich in den Zuschauerraum . Plötzlich trafen sich seine Blicke mit denen Anneli’s durch den Operngucker . Sie ließ den ihren sogleich sinken , wurde feuerroth , verwirrte sich und sank auf ihren Platz zurück . Dem Studenten wurde eigenthümlich zu Muthe .
Schwelte doch etwas in jenem winzigen Vogelherzchen ? Er verließ sie nicht mit den Augen , er wollte sehen , herausfinden . Allerdings war sie ihm gleichgültig , aber doch nicht so gleichgültig wie das Stück , das man dort spielte . Das Schauspiel der Verwirrung auf jenem niedlichen Gesichtchen war jedenfalls für ihn allein berechnet . Es dauerte einen halben Act lang , aber endlich ward ihm sein Lohn , sie blickte ihn noch einmal an . Diesmal also nicht zufällig , sondern voll Absicht . Mit einem kurzen , fragenden , zündenden Blick . Und ein kleines winziges Fünkchen flog doch aus dem blauen Auge zu ihm herüber und stöberte nach einer noch so kleinen Kohle , an der es sich festsetzen könne . Lieber Gott , so kleine herrenlose Kohlen sind immer da , auch in dem allerausgebranntesten Herzen . Iversen fühlte mit Vergnügen , daß ihm etwas wärmer wurde . Und es war ja so ungefährlich , jetzt , wo er sie durchschaute , wo er sie nach Gebühr werthete . Sie wurden nicht müde , herüber und hinüber zu blicken . Zuweilen machte er eine unauffällige Bewegung , die ihnen früher etwas bedeutet hatte . Sie kannte sie
noch , verstand sie noch , er hatte doch tiefere Spuren hinterlassen , das ließ sie merken .
Auch daß sie irgend etwas drücke , quäle . Ihre Treulosigkeit wahrscheinlich ! Nun , das ist keine Todsünde , er wollte nicht den Ungerechten spielen , der nur immer die Männer weiß wusch . Sie machte ihm ein Zeichen . Im Foyer ? Ja im Foyer ! Hastig schob er sein Glas ein ; wenn sie vielleicht abbitten wollte – Er ging in einiger Aufregung durch den kleinen eleganten Saal , öffnete ein Fenster und ließ den weichen duftenden Nachthauch über sein Gesicht spielen . Dann , ganz zwanglos , trat er auf die Großmutter zu , die sich bereits in einem Ecksopha niedergelassen . Anneli stand seitwärts , der Graubart brachte mit Mühe ein Glas Limonade herbei , er schwitzte weidlich bei seinem Ritterdienst .
Großmutter war nicht sehr gnädig : „ So , so , der Herr Iversen . Sie haben sich lange nicht bei uns sehen lassen ? “
Der junge Mann verzog das Gesicht , als habe er auf eine saure Zitrone gebissen . Er hatte diese harte Kehlstimme mit ihrem gezierten unnatürlichen Hochdeutsch immer nur schwer ertragen , und es war wirklich lange her , daß er sie nicht mehr gehört hatte .
Während er eine Entschuldigung murmelte , strich Anneli wie ein schnurrendes Kätzchen an seinem Rockärmel vorbei , sagte in seinem Rücken : „ Es ist jetzt
immer so arg langweilig bei uns , wollen Sie mir nicht noch dieses eine Mal verzeihen ? “ Der bittende Ton berührte ihn tief ; überrascht sah er sie von der Seite an , da schien es von tausend Schelmereien um ihren Mund zu zucken , die Augen waren halb geschlossen .
„ Ah , Fräulein Anneli ! “ machte er , als ob er sie erst eben bemerke , und wendete sich nach ihr um . Sie machte die Komödie mit , reichte unbefangen die Hand , und indem sie einige Schritte seitwärts that , waren sie so gut wie allein in dem Menschenhaufen . „ Man weiß nie , ob Sie im Scherz oder im Ernst reden . “ sagte Iversen mit unschlüssiger Betonung .
Sie deutete mit dem Fächer nach dem Eckdivan . „ Wenn Sie wüßten , wie ernsthaft ich es meine ! Sehen Sie den alten Herrn dort ? Denken Sie sich , ich habe unglücklicherweise zu ihm gesagt , er sei mein einziger und wahrer Freund , und nun geht er gar nicht wieder weg , immer sitzt er uns auf dem Nacken und lauert wie ein Hündli auf einen guten Brocken . “
Ganz weinerlich hatte sie begonnen , sogar mit feuchten Augen die erste Betheuerung gesprochen , allmählich aber gewann der Muthwille die Oberhand , und sie lachte in ihren Fächer hinein .
„ Und das war es , was Sie mir mittheilen wollten ? “ sagte der junge Mann im Präceptorton und sah kühl über sie hinweg .
Schweigend und langsam erröthend spazierte sie neben ihm hin .
Zuletzt glaubte er , der mit gespannten Ohren lauschte , etwas von „ wieder gut sein “ flüstern zu hören . Aber es rührte ihn wenig . „ Wozu ? “ fragte er herb , „ Sie haben beständig Lust zu lachen , und ich habe keine Lust zu lachen ! Wir verstehen uns nicht , und meine Zeit ist mir zu werthvoll , um sie damit auszufüllen , daß ich Ihnen die Ihrige vertreibe . “ Mit Befriedigung bemerkte er , daß sie wieder nasse Augen bekam . Er wurde immer grausamer . „ Und übrigens , was nützt mir Ihre Güte ? Sie wissen , oder können sich ’s denken , daß ich noch nicht heirathen kann . Vielleicht in zehn Jahren , eher nicht . Also ! Und was es sonst noch so gibt , zwischen einem Mann und einem Weibe geben kann , geben könnte , das gibt es für Sie , Fräulein , keinenfalls . Dazu gehört Muth , und wie käme ein “ – er stockte – „ eine gebildete junge Dame der heutigen guten Gesellschaft zu solchem Muth . “ Er warf ihr einen heftig forschenden Blick zu , sie hatte tief den Kopf gesenkt und schien wie erstarrt in jeder Bewegung . Die Glocke zum Wiederbeginn der Scene ertönte . „ Leben Sie wohl und machen Sie sich nach jeder Richtung hin Vergnügen , “ fuhr er sarkastisch fort , „ es war nur ein flüchtiger Irrthum von Ihnen , daß Sie meiner dazu bedürften . “ Er verbeugte sich leicht und trat von ihr weg . Mag sie sich allein zu ihrer
Gesellschaft zurückfinden , dachte er , ganz berauscht von Rachsucht ; einmal mußt’ ich ihr ’s doch sagen , wie ich von dieser Spielerei denke . Jetzt sind wir auseinander und zwar gründlich und auf immer .
Er kehrte nicht auf seinen Platz zurück , ihr Gesicht sollte ihn nicht wieder irre machen . Stolz , als ob er mit einem Löwen gekämpft habe und Sieger geblieben sei , verließ er das Schauspielhaus . Den stillen Wunsch , der ihm immer dazwischen reden wollte , den Wunsch nach ihrer jungen Schönheit , brachte er damit kaum zum Schweigen , aber das ging ja nur ihn allein an , sie hatte er rauh abgefertigt , wie sie’s verdiente . Er redete sich ein , dies unwiderrufliche Ende sei genau , was er gewollt , geplant , selbst herbeigeführt habe . Es fehlte noch , daß man sich in Gedanken und Stimmungen von solch einem abhängigen Geschöpfchen abhängig machte ! Freilich , langweilig war es ohne diese Geschöpfchen , aber er hatte ja nun auch genug freie Bahn vor sich . „ Und mein Herz , was dir gefällt , alles , alles darfst du lieben ! “ Das tröstete immer ; ausgiebigen Gebrauch wollte er von dieser Erlaubnis machen . Etwas wie die Vision einer reizenden Nachbarin schwebte ihm vor , ein nähendes anmuthiges Figürchen zwischen dürftigen weißen Vorhängen , ein schön geschwungener Nacken unter schwarzem Haarknoten , die mußte er doch näher ins Auge fassen . Es war wie der Duft der vielen ungesehenen
Blumen , der ihn auf seinem langen Heimwege begleitete . Hier mußten Magnolien , hier Narzissen , hier Goldlack blühen , und dann wieder tauchte er unter in ganze Wolken von Apfelblüthenbalsam und Syringendüften . Man hat die Auswahl ! Die Blume Anneli war für ihn abgeblüht , aber was bedeutete eine Blume ? Es war noch lange Frühling , er war noch jung .
Alles war still und dunkel in dem großen Hause , das er mit einem großen Schlüssel aufschloß . Nur die Angorakatze aus dem Erdgeschosse sprang mit lautem Miauen gegen ihn , dann auf die Straße , von woher verwandte Stimmen sie kläglich-zärtlich zu rufen schienen . Iversen lachte , wie sie den schönen Schweif aufgeregt um die Hinterbeine tanzen ließ , sie , die sonst ehrbar mit niedergeschlagenen Augen ihre stattliche Schleppe wie eine große Dame hinter sich herzog . Aus den großen Gartenbäumen jenseit der Mauer kam ein verträumter Amselruf . Der Mond schien durch die farbigen Treppenfenster , ein geisterhaft beleuchteter Kopf schwamm oben auf der verräucherten Tafel des alten Ölbildes . Alles was jung , von Frühlingsart , voll Leben war , wachte in dieser Nacht ; der Student trat leise auf , sprang die Treppen im Fluge hinan : „ daß wir nicht wecken , die nicht dazu gehören . “ Wie hart und ungeschickt der zwölfmalige Kuckucksruf hinter Herrn Hasenfratz’s Thür ! Das sah dem Grobian ähnlich , daß er auch grobstimmige Uhren hatte ! Ach so , jetzt
wachte der Patron auf , dehnte sich , streckte sich in seinem krachenden Lehnstuhl , schob die raschelnde Zeitung von seinem feisten Bauch , auf dem sie wie auf einem Tisch geruht und rief die Frau . Nein , er wollte nicht hören , was der rief , es war zu stillos an diesem Maiabend . In seinem Zimmer wollte er horchen – drang nur ein Laut von diesem Hottentottenkerl in seine Einsamkeit , so stahl er sich sofort wieder von dannen . Zu schlafen war ohnehin nicht in solcher Nacht .
Ein starker Syringenduft schlug ihm entgegen , als er die Stubenthür öffnete . Kam das vom Garten drüben ? Nein , es war ja hier drinnen , ein Strauß auf dem Tisch , ein voller Strauß , vom Monde gestreift und hier auf ihn wartend in der Stille . Er hatte doch nicht etwa die Thür verfehlt ? Hastig zündete er eine Kerze an . Nein , alles in Ordnung , nur der Blumenstrauß auf dem Tisch , so groß , daß er den Kopf hinein stecken konnte . Er that es , athmete in vollen Zügen mit offenen Lippen zwischen den Blüthenrispen , ganz verwundert und fragend , wer ihm diese Huld angethan haben könne .
Etwas fremdes streifte dabei seinen Mund , eine feste Kante , ein Blatt Papier . Er faßte es mit den Zähnen und zog es vorsichtig heraus . Wie denn ? was denn ? Ein Liebesbrief ? von wem ? Eine ihm bestimmte Überraschung ? Eine Mystifikation ohne
Zweifel . Er entfaltete das leicht zusammengelegte dünne Blättchen und fand vier Zeilen in großer , kräftiger , ihm unbekannter Schrift , die er beim flackernden Kerzenlicht zwei- oder dreimal las , lachend beiseite legte und wieder las :
„ Dies brach für dich der zartsten Neigung Hand ,
Der Fliederstrauß ist sel’ger Jugend Bild .
Nicht forschen sollst du , wer ihn dir gesandt ,
Genug , wenn er mit Duft dein Zimmer füllt . “
Keine Unterschrift , keine Anrede und , da das Blatt nur ineinander geschoben , nicht couvertirt worden , auch keine Adresse . Der Strauß mußte hier abgegeben , das Verschen absichtlich so tief zwischen die Zweige versteckt worden sein . Eigentlich war es ein Zufall , daß er es gefunden . Wie schade , daß es so spät war ! Die Wirthin , die Magd mußten ihm erzählen , wie der Strauß hier hereingekommen . Vorausgesetzt , daß er überhaupt ihm bestimmt war ! Konnte nicht eine Verwechselung stattgefunden haben ? Etwa mit einem dennoch vorhandenen Fräulein Hasenfratz , das einen poetisch angehauchten Anbeter besaß ? Es schien durchaus eine Männerhandschrift , gewandt , ausgeschrieben . Wer von seinen Bekannten schrieb doch so ? Sollte nicht Hoffmann sich den Spaß erlaubt haben ?
Der Strauß stand in einer großen altmodischen wassergefüllten Vase , die gute Doktorin hatte die Blumen nicht schmachten lassen wollen , das sah ihr
ähnlich , aber ihn wandelte die Lust an , sie zum Fenster hinauszuwerfen , obgleich sie nun in der Lampenbeleuchtung einen zierlichen Schatten an die Zimmertäfelung warfen und etwas festliches über den ganzen Raum verbreiteten . Hoffmann war ihm unsympathisch . Er hatte eine so schafsgeduldige Miene und betrieb den Kommunismus bereits praktisch , während die anderen noch theoretisirten . Auf seiner Bude gab es beständig verlumpte , verhungerte Mitschläfer und Mitesser . Wer in Hoffmann’s Nähe kam , wurde für diese „ Genossen “ unfehlbar angepumpt . Er selbst hatte seine Bedürfnisse auf das Geringste beschränkt . Aber er führte auch Reden wie : „ Unbegreiflich , daß es Menschen gibt , die zwei Stuben haben , drei sogar ! Denkt euch , drei Stuben hat dieser Maler , dieser – ich will ihn nicht nennen , denn ich möchte niemand aufhetzen . Er sagt , er brauche das zum Malen . Wenn er das Geld für all’ den Luxus , Farben , Leinwand , was weiß ich , den Genossen zukommen ließe , wieviel mehr diente er der Menschheit als durch diese Bilder , dieser Porträts , die ihm seine Zeit und sein Geld kosten . “ Iversen hielt sich bei solchen Exkursen die Ohren zu . Auch das vermochte Hoffmann nicht zu kränken . „ Wenn du wieder hören magst , sprech ich weiter , “ sagte er gemütlich . Er hatte Zeiten , wo er Iversen geradezu belagerte . Der hatte schon einmal Blumen gebracht . Und als Iversen ihn kaltblütig fragte , ob
er verrückt geworden sei , hatte der Mensch ungerührt sich vertheidigt : „ Du glaubst doch nicht etwa , daß ich dieses hier , Tulpen , nicht wahr ? daß ich sie gekauft habe ? Nein , ich habe sie in Zahlung angenommen , der arme Gärtnerbursche , weißt du , der eine Zeit lang bei mir hauste und jetzt wieder in Stellung ist . Aber was soll ich mit solchem Zeug ? Ich dachte gleich an dich . Für einen Ästhetiker und Gourmand wie du bist – “
Hätte man nur gewußt , ob wieder Hoffmann ! Freilich das Verschen , und zu einem in „ Zahlung genommenen “ Strauß ?
Plötzlich ward es ihm sonnenklar : dies war einer von Anneli’s Streichen ! Wer weiß , ob sie die Blumen nicht in Verkleidung selber gebracht hatte ! Der Gedanke an diese Möglichkeit , die er durch sein Ausgehen versäumt hatte , erregte seine Phantasie , sein Blut . Vor dem Theater vielleicht . Je abenteuerlicher , desto besser . Und hier , hier in seinem Zimmer wäre sie gewesen , hätte er sie empfangen , in die Arme schließen , küssen können ! War es nicht das , was sie ihm im Foyer hatte sagen wollen , und seine Rauheit hatte das süße Bekenntnis in ihren Mund zurückgeschreckt ? Er war rauh , mehr als das , er war roh gewesen ! Ihr Erbeben und Erbleichen unter seinen grob zutappenden Reden – vorhin hatte er ’s für Komödie genommen , jetzt aus der Ferne rührte es
ihn wie hülflose , gekränkte Liebe . Armes Kind ! „ Nicht forschen sollst du “ – kleiner Schäker ! Wie traurig sie sein würde , wenn er nicht forschte . Aber daß sie auch Verse machte , war ja eine ganz neue Entdeckung ! Nun , so einen brachte er auch geschwind zusammen . Er suchte einen kleinen Briefbogen hervor , sann einen Augenblick lächelnd nach und schrieb dann :
„ Du schenkst so viel , o holde Dame ,
Und nimmst doch wieder halb zurück !
Entschleire dich ! wie ist dein Name ?
Nur die Gewißheit birgt das Glück . “
So , Anneli , jetzt wirst du nicht widerstehen können , wirst des Versteckspielens bald müde sein , dachte er . Und dann , und dann – er breitete die Arme aus und zog sie leer , kopfschüttelnd zurück . „ Sie müßte dann eben eine ganz andere sein , als ich mir gedacht , eine viel freiere , weitere , reifere Kreatur – nein , zu einer selbstständigen That ist sie unfähig , und anders – anders will ich sie nicht haben ! So ein erwürgtes Lamm auf meinem Weg – wie unbequem für alle Zukunft “
Er hatte wunderliche Träume die Nacht .
Am andern Morgen befragte er die Magd . Sie wußte von nichts , war gestern Abend nicht daheim gewesen . „ Die Frau wird ’s wissen . “
Ja , sie wußte es . Iversen bemerkte es sogleich , als sie auf dem Flur , vor ihrem Wandschrank stehend , das Gesicht mit schalkhaftem Lächeln wegwandte .
„ Erzählen Sie mir ordentlich , wie sah die Person aus , die das für mich gebracht hat ? “
Das Frauchen erröthete , wie immer , wenn sie lebhaft angeregt wurde . „ Ich habe versprochen zu schweigen , bitte , fragen Sie mich nicht , “ bat sie ängstlich .
Das blaue Hexchen hat die Güte und Milde hier auf der Stelle herausgespürt , dachte der Student ; kein Zweifel , daß es Anneli ist .
„ Sie müssen mich für einen rechten Gecken halten , “ sagte er , „ daß ich solche Geschenke bekomme . “
„ O nein , “ machte die Doktorin mit dem Kopf in ihrem Wandschrank . Er sah , daß sie auf keine Unterhaltung über die merkwürdige Geschichte zu bringen war . Die Weiber haben doch sonst ein Vergnügen am Klatschen , aber gerade , wenn man auch einmal Lust dazu hätte –
„ Sagen Sie mir nur eins , beste Frau , ein Herr war es nicht ? “
„ Nein , “ war die zögernde Antwort .
Iversen lachte vergnügt auf . „ Und noch eine Frage : Sie wissen also , wer es war ? “
Ein widerstrebendes „ Ja “ kam hinter der Schrankthür hervor .
„ Sie sind die Diskretion selber , “ sagte Iversen lächelnd , „ darf ich Sie um einen Gefallen bitten ? Ich möchte ein Briefchen befördert haben , weiß aber die Adresse nicht – man will doch danken , wenn
man etwas bekommen hat , “ setzte er entschuldigend hinzu . Und als sie nicht gleich antwortete , sondern mit sich zu kämpfen schien , lächelte er wieder : „ Sie können es thun , ohne Ihr Gewissen zu belasten . Es ist etwas so unschuldiges , Sie müssen nämlich wissen , daß es sich im Grunde um einen verabredeten Scherz handelt – ich thue eigentlich nur , als ob ich nicht – “ Ein überlegener , selbstbewußter Zug um die Lippen trat stärker hervor .
Das Gesicht der alten Dame war lauter helle Verwunderung . „ In der That ? “ stammelte sie .
Iversen nickte mit halbzugekniffenen Augen . „ Aber halten Sie mich für keinen schwarzen Heuchler deswegen ! “ reif er und sprang in sein Zimmer , um das verschlossene Couvert zu nehmen . „ In Ihre freundlichen Hände befehle ich mein Schicksal ! Also ! “
Soll ich oder soll ich nicht ? Die Frage stand deutlich auf dem bedenklichen Gesicht der Frau .
„ Aber ich bitte Sie , “ rief Iversen , „ würde ich denn eine Dame wie Sie zur Vertrauten machen , wenn die Sache nicht unschuldig wäre ? “
Mit einem leisen Seufzer nahm sie das Briefchen an sich .
* * *
„ Gefühl ist alles .
Name Schall und Rauch ,
Umnebelnd Himmelsgluth . “
Iversen las es und sprach es vor sich hin , als habe er’s zum ersten Mal gehört . Es war der ganze Inhalt eines Briefchens , das er heute Nachmittag , verschlossen in ein weißes Couvert , auf seinem Tisch gefunden . Dieselbe große Handschrift wie das vorige Mal . Wenn es wirklich von Anneli herrührte , mußte sie einen männlichen Vertrauten haben , den sie an ihrer Statt schreiben ließ . Vielleicht hatte auch der ihr zu dieser Antwort gerathen . Anneli und ein Faustcitat , das ging auf geradem Wege schwerlich zusammen .
So viel ist sicher , bei dem ersten Blick auf diese Zeilen glaubte er nicht mehr , daß sie von ihr seien .
„ Gefühl ist alles “ – das Mädchen würde so nicht sprechen , auch nicht mit den Worten eines Anderen . Später besann er sich : Gerade das sah ihr ähnlich . Eine Maske , eine großartige , vor ihr Schelmengesicht binden und dann dahinter vorkichern : „ Ätsch ! hab ich dich an der Nase geführt “ Oder war er so klein , so kurzsichtig , daß er des Mädchens eigentliche Seelentiefe nicht zu erkennen , zu beurtheilen vermocht hatte ? Auch möglich
Wieder nahm er seine Zuflucht zu der Doktorin Röslin . Sie saß an ihrem Schreibtisch , die Fenster zu beiden Seiten ließen kaum mehr Licht ein , so üppig drängten die Kastanienzweige sich heran . „ Sie haben hier eine ganz tropische Landschaft um sich herum , “ er deutete auf die großen Fächerpalmen , die den Eckplatz
umschatteten . Es war ihm unangenehm , gleich mit der Frage zu kommen , die sie schon einmal unbeantwortet gelassen . Er spürte jedoch in ihrem Benehmen sofort eine befangene Ängstlichkeit heraus , auch wechselte sie mehrmals die Farbe , als er sie ansah . Die Sache ist ihrem Zartgefühl noch peinlicher als mir , dachte er , es ist sicher , sie wittert etwas Unerlaubtes , und es wird ihr schwer , dazu die Hand zu bieten . Endlich fragte er doch . Sofort ward das feine , von kurzen grauen Locken umhangene Köpfchen ihm abgewendet .
„ Ich bitte Sie herzlich , nicht in mich zu dringen . Ich habe feierlich Schweigen gelobt und – “
Iversen ließ einen Ton des Unmuths hören .
„ Wer wird es groß sein ? “ murmelte die Frau , „ irgend jemand , der Sie – gern hat . “ Sie machte sich an ihren Papieren zu schaffen .
„ Glauben Sie , daß das so häufig ist ? Das ist ja das Seltenste , was es gibt ! “ rief der junge Mann , die Arme erhebend , „ es regt mich auf und reizt mich , meine erste Vermuthung scheint nicht mehr zu stimmen – also keinen Ton dürfen Sie mir verrathen ? “
„ Nein , nein “ sagte sie hastig , fast flehend .
Er sah sie scharf und nachdenklich an . Die Sache schien sie fast persönlich anzugehen , sie hatte doch nicht etwa eine Nichte oder Verwandte , die sie ihm verkuppeln wollte ? Ach , Unsinn , es war eine so edle Anmuth ,
ein so feiner Takt in ihren Worten , wie durfte man ihr eine so niedrige Absicht zutrauen ?
„ Sie wollten mir einmal Harfe vorspielen , das haben wir ganz vergessen ! “ sagte er in seinem einschmeichelndsten Ton .
Ein beruhigtes Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück . „ Und Sie spielen mir dafür Geige ? “
Nun war ein zutrauliches musikalisches Gespräch im Gange , die Kathi brachte den Thee , und Iversen nahm die Einladung , zu bleiben , ohne Umstände an . Spät erst kam er ins Café zu den Freunden .
„ Wo bleibst du denn ? “ hieß es von allen Seiten , „ wir öden uns schon einander an , nicht zum Aushalten . “
„ Ich habe mich bei meiner Wirthin festgeschwatzt . Warum lacht ihr ? Ich sage euch , man dankt manchmal Gott , wenn man ein gescheites Frauenzimmer findet . Es ist doch ein viel feineres Instrument als unsereins . Jetzt starren sie mich mit offenem Munde an ! Ja , ihr , das weiß ich wohl , seid zufrieden , wenn ihr nur immer Speck und Bohnen kriegt , und es ist ja auch ein nahrhaftes Futter . Aber ich – “
„ Ja , ja , du bist ein Gourmand ! “ höhnte es in der Runde .
Iversen blickte herausfordernd um sich : „ Freilich bin ich ein Gourmand , und ich rechne mir ’s noch zur Ehre ! Das Feinste und Seltenste und Pikanteste für
mich ! Und übrigens , für wen wär’ es denn da , wenn nicht für unsereins ? “
„ Na , daß aber die alten Weiber zu den Leckerbissen gehören , hab ich noch nicht gewußt ! “ schrie der Neunzehnjährige .
„ Ihr habt eben ewig Hunger , ganz gemeinen gefräßigen Hunger , und den hab ich nicht ; “ er blickte achselzuckend in sein Glas ; „ der Kaffee ist schal wie euer Witz – kommt auf den Zürichberg , hier halt ich ’s nicht länger aus . “
Auf dem mondbeschienenen weglosen Wege , den sie dann einschlugen , besann er sich auf eine Antwort . Sie fiel ihm schwer . Besser vielleicht , das schelmische Mädchen bei der Großmutter aufsuchen ? ihr zu verstehen geben , daß er gut wisse , woran er sei ? Aber es that ihm leid um das Spiel , das dann auf einmal aus sei . Gerade Spiel hat man so selten , und der Teufel hole den Ernst , oder das , was die Philister darunter verstehen . Eine andere Art von Ernst aber besaß doch das Anneli ohne Frage nicht . Ernst machen hieß ihr so viel , wie heirathen , brr ! Eine der lächerlichsten Handlungen begehen , deren ein moderner Mensch sich schuldig machen konnte . Nein Anneli .
Zu Hause dann schrieb er auf ein sorgfältig parfümirtes rosa Blättchen :
„ Schelmische Rose !
So nenn ich dich mit keinem Menschennamen ,
So nenn ich dich : die holde Namenlose .
Roth Fingerhut !
Und nicht ein Stäubchen mehr will ich begehren ,
Als : Sei mir gut !
Blühende Ranken !
Und weil du nicht mich selber hast geladen ,
So send ich dir die zärtlichsten Gedanken .
Duftende Beeren !
Nicht immer bin ich sanft und zahm wie heute ,
Doch immer weiß ich zarten Sinn zu ehren .
Syringenstrauß !
Sitzt nicht am End’ der Welt ein feines Weiblein
Und lacht mich aus ?
Darauf wird sie doch auch ein bißchen an zu kichern fangen , und dann hab ich sie . Und viel werther und süßer fand er sie wieder , als er sie damals verlassen . Die Beschäftigung mit ihr wärmte ihm das Herz ; er hatte Mühe , den gewissen blasirten dekadenten Zug , der zum Zeitkostüm gehörte und den er sonst sehr gut herausbrachte , im Kreise der Bekannten festzuhalten .
Schon fielen Bemerkungen ; seine Photographie , die in den Tagen von einem Amateur gemacht ward , sah „ gar nicht aus wie die eines modernen Menschen , “ viel zu wach und lebensfroh ! „ Zu wenig Nachtcaféstimmung im Gesicht , “ hieß es . Iversen zuckte die Achseln . Und wenn es ihm morgen einfiel , sich als dionysisch heiterer Übermensch frei nach Nietzsche zu proklamieren , so mußten die guten Leute auch zufrieden sein !
Einige Tage mußte er auf Antwort warten . Dann stand eines Abends ein neuer Strauß auf seinem Tische ; der scharfe , feine Duft der Maiglöckchen empfing ihn , ein Briefchen stak zwischen den Blumen . Darauf die Verse :
„ Wie ist’s nur gekommen , so still über Nacht ?
Ach , ist denn noch einmal der Frühling erwacht ?
Maidüfte wehn lockend ins Fenster herein ,
Die Sonne winkt schmeichelnd mit Goldfingerlein .
Es summt mir im Kopfe von Lenzmelodien ,
Es webt um die Stirne sich thaufrisches Grün ,
Vergangene Tage , sie kehren zurück –
O , einmal noch Jugend , o , einmal noch Glück ! “
„ Das ist doch sonderbar ! Das kann doch nimmermehr das Anneli sein ! “
Die große Handschrift sah fast ungeschickt auf dem kleinen Briefbogen aus – wieder kam ihm der Verdacht , ein Mann sei der Absender . Ein widerwärtiger Gedanke , der auch nicht standhielt . Schon dieser reizende , von Farrenblättern und Venushaar umbundene Strauß widersprach . Wer also ? Es wurde ihm bei seiner Grübelei zu Muthe wie dem Hans im Märchen , der einen Wunsch frei hat . Die Schönste alsdann ? Die Klügste , Heiterste ? Er schüttelte heimlich den Kopf : Nur mich lieb haben , weiter ist alles eins . Aber freilich , die das geschrieben – scheint mir gut zu sein , und daß sie klug und lieb und heiter ist –
Dann wieder schien es doch so wenig ! Zu wenig für den Ernst . Wie kann man nur so genügsam sein ! Sie kannte ihn wenigstens , aber er war sehr im Nachtheil . So gar nichts Greifbares , nicht der kleinste Anhalt . Es war ein offenbares Ausweichen , Abgleiten da ! Das erinnerte wieder an das übermüthige Mädchen . Aber es war ein prosaischer Übermuth , eine Unfähigkeit , sich selbst zu bändigen , in Anneli – das hatte ihm schon manchmal zu denken gegeben . Eine gewisse Derbheit der Empfindung , und hier – das gerade Gegentheil ! Die Bekanntinnen seiner Bekannten , die Studentinnen , mit denen er verkehrte – bah ! auch nicht eine darunter , der diese Verse zu Gesicht gestanden hätten . Die hübsche Nachbarin am Dachfenster fiel ihm ein – der mußte er doch einmal nachfragen , das war so ein poetisches Figürchen , – ein bißchen schwärmerisch und verträumt – das muß die Handarbeit so mit sich bringen .
Inzwischen gab er seinen Wünschen Ausdruck .
Er schrieb :
„ Was nennst du Glück ? den wesenlosen Traum ?
Ich weiß nicht einmal , ob du wirklich lebst !
Ein Schmetterling ist körperhaft , doch du
Bist nur sein Schatten , seines Schattens Schatten .
Sieh , das Geheimnis lockt und reizt und quält
Und quält und reizt , bis man es müde wird !
Was treibt dich , mir so lieblich zu begegnen ?
Was treibt dich , mir so scheu sich zu verbergen ?
Weißt du wohl selber , was dich zu mir drängt ?
Sprich , kennst du mich ? und bin’s auch wirklich ich ,
Zu dem die zarte Blumenlippe flüstert ?
Was wär ich dir , der Fremde einer Fremden ,
Wo sich so wenig , ach , die Nächsten sind ? “
Mit dem gewöhnlichen Zaudern übernahm seine Hauswirthin die Besorgung .
„ Sind Sie sicher , daß immer eine Antwort erwartet wird ? “ meinte sie , „ mir schien – “
„ O , wir haben es mit einem sehr klugen Wesen zu thun , “ fiel er lebhaft ein , „ scheinbar ganz klar wie Wasser , aber auf den Grund sieht man weniger denn je ; ich bin überzeugt , daß auch Sie von ihr getäuscht werden . “
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
In einem Lädchen der Nachbarschaft , wo er seine Zwickerschnur kaufte , machte er unerwartet die Bekanntschaft der hübschen Erscheinung aus der Mansarde . Sie sprach mit großer Zungengewandtheit in dem munteren anheimelnden Dialekt der Steirer von ihrem Mann und ihrem herzigen „ Bubn “ , die bei der Großmutter waren und nun bald heimkommen sollten . Sie hatte nicht wegkönnen wegen der vielen Saisonarbeit . Ein allerliebstes Frauchen , dessen braune Augen lustig herumfuhren , auch über Iversen hin , der sich ein wenig gewaltsam ins Gespräch gemischt hatte . Mit großer Unbefangenheit brachte sie ein paar Sprachschnitzer
vor und erörterte die Verhältnisse ihrer Wirthsleute , bei denen es des Tags viermal Zank und nur zweimal zu essen gäbe ; sie zählte die am häufigsten fallenden Schimpfwörter an den Fingern her und meinte , das sei allemal das erste , was sie sich merke an einem neuen Ort . Sie thue es nicht mit Absicht , aber es bleibe halt hängen , ganz wie bei ihrem Buben , dessen erstes Wort nicht Mama oder Papa gelautet habe , sondern : „ dummi Chaibe . “
Es war viel natürliche Koketterie in dem hübschen Geschöpf , und Iversen nahm nur widerwillig Abschied von seiner angenehmen Einbildung .
Von Anneli kam in diesen Tagen eine große goldberänderte Karte . Sie hatte sich verlobt . Nach der glänzenden Anzeige war es eine gute Partie . Iversen hatte den Namen des Majors Soundso nie gehört ; er vermuthete , daß es der Begleiter aus dem Theater sein müßte . Die Angelegenheit war ihm so gleichgültig , daß er sich nicht einmal darüber Gewißheit verschaffte . Und doppelt freute er sich seiner Unbekannten . Er war ja auch immer überzeugt gewesen , daß sie etwas Besonderes sein müsse , nicht nach dem gewöhnlichen Frauentypus Geformtes . Er war auch nicht gewöhnlich , und sie hatte doch an ihm Gefallen gefunden , schon das sprach für die höhere Natur . Wenn sie doch endlich ins Tageslicht träte ! Er hatte nun ziemlich direkt gefragt . Spiel ist lieblich , aber es muß doch einmal
ein Ende haben . Das wäre doch dann auch ein ganz anderes Zusammentreffen , ein Wiederbegegnen , nachdem man sich schon innerlich kennt , sich schon zärtliche und intime Dinge gesagt hat .
Als er längere Zeit ohne Erwiderung blieb – sein erster Blick , wenn er nach einem Ausgang sein Zimmer betrat , galt immer dem ersehnten Briefchen – , fing er an , kühl und skeptisch zu werden . Es hat sich da Jemand einen Witz mit ihm erlaubt , aber er ist nicht der Geck , der sich nasführen läßt . Seine Doktorin Röslin , die ihm jetzt zuweilen Harfe vorspielte und mit einer kleinen , etwas zitternden Stimme italienische Liedchen dazu sang , war eigentlich viel poetischer , so als Figur betrachtet – diese preciöse und capriciöse Unbekannte stand doch ganz in der Luft . Lieber Gott , was für ein Leben die alte Dame geführt hatte ! Sie erzählte ihm , wie das mit dem Bräutigam gewesen war . Der Vater hatte sie verlobt , sie kannte ihn wenig , aber man sagte ihr , daß er sehr zart und schwächlich sei und sterben würde , wenn sie ihr Jawort nicht gäbe . Da war sie schnell bereit gewesen und hatte ihn lieb gewonnen ; es hieß , ihr heiterer Einfluß werde ihn gesund machen . Aber eben , als alle die besten Hoffnungen hegten , hatte er die furchtbaren Anfälle bekommen , das erste Mal vor einem Gartenfest , das dem Brautpaar zu Ehren veranstaltet wurde . Man fand ihn nach langem Warten besinnungslos und blutend in
seinem Ankleidezimmer . Der Arzt schob die Heirath hinaus , der Vater des Unglücklichen nahm ihr das Versprechen ab , zu warten , bis sein Sohn gesund sei . Jede Aufregung – und was hätte ihn mehr aufregen können als die Untreue des geliebten Mädchens – konnte verhängnißvoll werden . Und so hatte sie denn dreißig Jahre gewartet . Als sie getraut wurden , war er überhaupt kein zurechnungsfähiger Mensch mehr , aber er streckte noch immer die Arme nach ihr aus . Ihren Namen hatte er vergessen , aber ihre Gegenwart beruhigte ihn besser als ein Schlafmittel . In den letzten zehn Jahren seines armes Daseins war sie seine Pflegerin gewesen , dann hatte sie noch weitere fünf Jahre mit seinem Vater hausgehalten , der ganz vereinsamt und beraubt mit eigensinniger Liebe an ihr gehangen . Iversen konnte nicht herausbringen , ob sie es empfand , daß man sie aufgeopfert habe ; sie erzählte alles wie ein zwar trauriges , aber doch unabänderliches Schicksal . Er wollte ihr sagen : eine neue Zeit ist angebrochen , wir Jungen finden das , was du erzählst , lächerlich , fast empörend , und jedenfalls unnatürlich . Er brachte es nicht über die Zunge ; es half ja nicht mehr . Und etwas wehmüthig Hübsches haben sie unleugbar , diese epheuumsponnenen romantischen Ruinen aus einer zahmeren Zeit . Halb neugierig halb bewundernd steht man davor und sucht nach einem Zusammenhang dieser Erscheinungen mit der Gegenwart ,
findet keine , zuckt die Achseln und – geht . Aber manchmal , im Traum , oder wenn man nervös , so recht drunten ist , fällt einem so ein Ruhefleck wieder ein , und man kann sogar Sehnsucht danach empfinden , eine halbe Stunde lang oder gar noch länger . Man braucht sich deshalb nicht zu schämen , das kommt bei den modernsten Menschen vor !
Eines Abends kam ein zugereister Bekannter mit Iversen herauf . Sie hatten sich im Café verschwatzt , und es war spät geworden – wozu verschlafene Hotelleute herausklingeln , wenn man ein Sopha und ein Bett besitzt ? Und gerade heute mußte sich ’s treffen , daß wieder Blumenduft ihm entgegenquoll , lauter frühe Rosen , und daß ein weißes Briefchen vom braunen Tischteppich leuchtete . Iversen wurde befangen , steckte hastig das Schreiben zu sich und stellte die Vase in eine dunkle Ecke . Das ungeschickte Manöver fiel auf , der „ Genosse “ machte zudringliche täppische Bemerkungen ; Iversen mußte an sich halten , um den Gast nicht zu beleidigen ; am liebsten hätte er ihn vor die Thür gesetzt . Wie kann man nur auf den verrückten Gedanken kommen , mit einem halbfremden , gleichgültigen Menschen das Zimmer zu theilen ! Er getraute sich nicht , den Brief zu lesen , mußte die Kerze nehmen und damit in die Küche gehen , die er noch nie betreten hatte . Auf dem Herde sitzend , unter der ärgsten Selbstverspottung , las er die folgenden Zeilen :
Froh tret’ ich in mein trauliches Gemach ,
Der Mondschein begrüßt mich an der Schwelle .
Wie ruht in seiner silberblauen Helle
So still da Haus vom Garten bis zum Dach .
Verschwiegener Sehnsucht unerschöpfte Quelle ,
Nun wirst du wieder mir im Busen wach .
Den schnellen Wolken ziehn die Wünsche nach :
Ich selber , baumgleich , wurzle an der Stelle .
Ein Wort ! ein Wort nur ! nur nicht stumm ertragen !
Da horch , wie süßer Ton die Luft durchzieht ;
Es schluchzt und klagt die Nachtigall ihr Lied :
Ich darf nicht , laß von ihr dir alles sagen !
Als er zurückkam , schnarchte der Gast bereits und zwar in Iversens Bette . Der nahm zornig den Strohhut und ging ins Freie . Schnarchende Leute waren ihm zuwider , und eine dicke Luft nach getragenen Kleidern war auch da drinnen . Es war dunkel , trotz der Sommernacht ; die Amseln schliefen nicht fest , alle Augenblick hörte er ihr unterdrücktes kicherndes Plaudern im Traum . Die Brunnen an der Zürichbergstraße unter den Bäumen waren um so gesprächiger , je mehr die Blätter schwiegen .
Der Student wanderte wie in halbem Schlaf , es war den ganzen Tag schwül gewesen . Und sein Abenteuer – „ Möchte wissen , wo die Nachtigallen singen gehört hat ! ’s gibt hier doch keine ! “ sagte er einmal laut und verächtlich . „ Niemand kann von der Luft leben , nicht einmal die sogenannte Liebe ! “ Statt
ihn so aus der Wolke anzusäuseln , sollte sie nun einmal herunterkommen , sollte so mit ihm durch die verschwiegene Sommernacht wandern , sollte ein Mensch sein und kein Phantom ! Natürlich würde sie ihm auch dann halb verleidet sein , wenn sie nicht etwas ganz Besonderes wäre . Es war sein Unglück , daß ihm alle so bald verleidet wurden , aber er trug es als Zeichen einer höheren Natur . Zudem hatte er noch kein Weib wahrhaft besessen , es war ein kurzer Rausch oder eine eitle Komödie gewesen , man konnte nicht wissen , ob etwas an der Sache wäre oder nicht . So wenig Neigung er fühlte sich zu binden , so gern hätte er doch ein Weib gebunden , um einmal diese Nation genauer zu beobachten . Aber es schien , daß Spiegelfechterei ihre Hauptkunst war .
Lange hielt die Enttäuschung nicht Stich . Er genoß die seltsame , unklare Geschichte , genoß sie wie die herrlich weiche dunkle Nacht . Und dann freute er sich über sich selbst , daß er etwas so Aetherisches , Sublimirtes zu genießen vermöge , und fand sich höchst bedeutend . Aber halt ! sollte es nicht unmodern sein ? Nein , er brauchte sich wirklich nicht zu beunruhigen , er brauchte nur an die Symbolisten zu denken . Wer war transcendenter als sie ! Von dem großen , tiefen , brausenden Liebesstrom , der durch die Wesenwelt geht , war ein heller klingender Tropfen auf ihn gesprüht – woher ? wozu ? nur Thoren fragen ! Genug , daß
es Liebe ist . Er begann vor sich hinzusummen : „ O fürchte nicht , ich bin verschwiegen ! “ bis ihm das weitere einfiel und er seine Antwort improvisirte :
O fürchte nicht , ich bin verschwiegen !
Dem eignen Herzen sag ich ’s kaum ;
Mir bangt , er möchte mir entfliegen ,
Der flaumenleichte Maientraum .
Man darf die Geister nicht erschrecken :
Ein lautes Wort – sie sind entrückt !
Froh bin ich , daß aus allen Ecken
Mir noch dein Elfenköpfchen nickt .
Und nachts am windumspielten Fenster ,
Mit zücht’gen Schleiern angethan ,
Seh ich die zierlichsten Gespenster ,
Und du , du führst den Reigen an .
Dann breit ich sehnsuchtsvoll die Arme :
O komm zu mir , ich bin dir gut !
Reich mir die Hand , die menschenwarme !
Doch du , du lachst : ich hab kein Blut .
In den Schluß war nun fast gegen seinen Willen doch etwas Ironisches , Bitterliches gekommen . Nun , mochte es dabei sein Bewenden haben . Sie würde schon fühlen , daß es nicht schlimm gemeint war . Seine Empfindung für sie , seine mystische Neigung ins Blaue , Unbegrenzte stieg mächtig an in dieser Nacht . Er war ihr so dankbar für jeden halbvertrauten Vogellaut , der sein Ohr entzückte , für jeden blitzenden Stern , dessen vertrauter Strahl zwischen den schwarzen Zweigen
hervorbrach . Ein starker , voller Donner , der über ihn hinfuhr , durchzuckte ihn froh , und wie der Wind zu sausen anhob und nun alles stumme Gras und Laub Sprache bekam , neues Donnerorgeln folgte und endlich das vollstimmige Orchester eines nächtlichen Gewitters ihm alle Sinne füllte , kam über ihn jene auflösende , die Persönlichkeit auflösende Empfindung , welche doch wieder nur das höchstgesteigerte Gefühl der Persönlichkeit ist , und er schrie und sang in den Chor hinein , machte Sprünge wie ein Knabe und fühlte Thränen des Entzückens , der überschlagenden , gestaltlosen Lust , über seine Backen rinnen . Unter seinem großen Hute , von dem der Regen wie aus einer Dachrinne herabgoß , war ihm zugleich so heimlich , so unendlich behaglich ; klein zusammengekauert in eine enge Ecke saßen Urtheil und Selbstbetrachtung , die ihm ewig sonst zu schaffen machten .
Inzwischen gab es in seiner Behausung eine Tragikomödie , und er fand eine ganz verzettelte Wirthschaft , als er nicht eben früh des Morgens heimkam : in einer Scheune im Heu hatte er sich verschlafen . Der Genosse lag noch immer im Bett und empfing ihn mit einer Leidensgeschichte , die ihm ein tolles Lachen entlockte . Er lief hinaus , um die Wirthin zu sprechen , und wurde mit so reuevoller verlegener Güte aufgenommen , daß er auch hier trösten mußte . Nein , nein , sie war nicht schuld , die gute kleine Doktorin , daß
sie das abgetragene Beinkleid des „ Genossen “ , das vor der Thür zum Ausklopfen gehangen , heute schon in aller Herrgottsfrüh einem reisenden Handwerksburschen geschenkt hatte . Warum auch hatte Kathi es mit aufgegriffen und unter Kleidungsstücken aus des seligen Doktors Garderobe auf die engere Wahl gebracht ? Nun freilich war es der eifrigen Wohlthäterin klar , warum nur dies eine Stück der kurzen Statur des Bittenden entsprochen , während ihm alle anderen Hosen zu lang gewesen ! Und sie hatte sich gerade noch so sehr über diese kurze gefreut und sich gar nicht den Kopf zerbrochen – „ ich glaubte , die Herren trügen sie lang oder kurz , je nach der Mode , “ sagte sie erröthend und mit leise gerungenen Händen .
Der beraubte Zugereiste hatte nun schon die gesammten vorhandenen Stücke durchprobirt , erst des verstorbnen Doktor Röslins und dann Iversens , aber der Unterschied lag vor allem in der Weite , und muthlos war er wieder ins Bett zurückgestiegen . Er nahm Iversens Bemerkung , die Wirthin sei eine reizende alte Frau , gerade als eine Beleidigung für sich , um so mehr , da er durchaus weiterreisen , abends an einem anderen Orte in einer Versammlung sprechen mußte . Kathi lief auf den Straßen umher nach dem Handwerksburschen , Iversen selbst mußte in irgend eine „ Goldne Neun “ oder „ Zweiundzwanzig “ wandern , um nach einem passenden Beinkleid auszuschauen . Der
Wunsch , den ihm unangenehmen Fremden aus seinem Zimmer los zu werden , feuerte seine Dienstwilligkeit an , die kleine Doktorin legte eine schwärmerische Dankbarkeit deshalb an den Tag , dazwischen aber lachte auch sie mit einem schalkhaften unwillkürlichen Lächeln , das sie merkwürdig verjüngte . Iversen kaufte für sie eine Handvoll schöner halboffener Marschall-Niel-Rosen , um ihr zu zeigen , daß er der Lauferei wegen nicht unwillig geworden sei . Ihre Hand zitterte in der seinen , als er ihr die Blumen überreichte , sie wechselte die Farbe und athmete ein paarmal heftig . Der Student beugte sich besorgt zu der kleinen Gestalt . „ O , es ist nichts als mein altes Herzklopfen , “ sagte die Frau leise abwehrend . „ Ob ich einen Herzfehler habe , meinen Sie ? Ja , es ist so etwas , ich habe einen langen Zettel voll Vorschriften – “
Iversen gab ihr noch einige dazu . „ Man kann zum Glück alt dabei werden , “ meinte er .
„ Zum Glück ? “ Es klang ganz melancholisch .
Dann ging er in sein Zimmer und war glücklich , daß er wieder allein war , niemand darin als er und seine liebe körperlose Unbekannte . Sie nahm so wenig Platz weg , war so anspruchslos und bequem , viel bequemer als die volle Anwesenheit . In Damengesellschaft hätte er sich doch nicht so längelang aufs Sopha strecken können , wie er ’s jetzt that .
Nach einigen Tagen , in denen er immer mehr
und mehr in nahen und vertrauten Verkehr mit der Namenlosen gerieth , schrieb er , zum erstenmale aus vollem Gefühl heraus , die folgenden Zeilen :
Der Tag weiß nichts von dir und lärmt und schreit ,
Doch wenn die Nacht kommt , herrschest du allein .
Dann sitz ich dir zu Füßen , und so weit
Wir sonst geschieden sind , dann bist du mein ,
Und jenseits liegt das Maß für Raum und Zeit .
Seltsam berührte es ihn aber , noch ehe er der Doktorin Röslin das Briefchen wie gewöhnlich anvertraut , schon auf seinem Tische die Antwort zu finden . Sie lag da und wartete geduldig , bis er die Oberhemden und Taschentücher weggeräumt haben würde , die von der Waschfrau oben darauf gelegt worden . Blumen waren diesmal nicht dabei , die innige Schwärmerei der Worte bedurfte auch deren nicht . Sie machte einen ganz besonderen Eindruck auf den jungen Mann , es war ein unverdientes Zuviel darin , immer noch viel mehr , als er empfinden konnte . Es klang :
Und bist du auch für mich nicht da ,
Ich freu mich deines Daseins doch ,
Und bist du nur im Traum mir nah ,
Du hellest meine Träume noch .
Du Stern in meiner Winternacht ,
Mein Auge hängt an dir in Ruh ;
Die ganze Welt verschwindet sacht ,
Und was noch bleibt , bist einzig du .
Es verhauchte wie ein Kuß . Lange saß er in Gedanken . Eine Furcht überfiel ihn , daß ihn Jemand so lieb haben sollte , ohne daß er etwas dazu gethan . Und sie steckte ihn schon an : konnte es auch nicht eigentlich Liebe heißen , es umspann ihn doch mit einem Netzwerk voll seiner Widerhäkchen ; er war gezwungen , beständig an etwas zu denken , das sich ungerufen , eigenmächtig und hartnäckig in sein Leben gedrängt hatte . Dieses fremde , viel zu warme , viel zu liebevolle Empfinden eroberte ihn geradezu , entfremdete ihn sich selbst , machte ihn weich , sentimental , weiblich . Er mochte nicht erobert werden . Das gewisse Fräulein hätte hübsch warten sollen , wie es sich für ihr Geschlecht ziemte . Er wäre dann schon gekommen und hätte alles Nothwendige gesagt . Das war doch Männersache . Diese modernen Emancipationsgelüste waren in der Praxis entschieden demüthigend für die Männer . Und so schlau verfuhr diese Unbekannte , daß sie mit ihrer Person ganz dahinten blieb . Das war das Aergste . Sie hatte wohl eine Ahnung , daß ihr Hervortreten das Ende ihrer Macht bedeuten würde . Dann würde das normale Verhältnis sich gleich herstellen , dann hieße es „ Mannshand haben “ , und man küßte sich , hätte sich , und ließe die schönen Gefühle auf sich beruhen . Sie kämen dann gewiß nicht so an die Oberfläche ; diese ewige Verpflichtung , etwas Zarteres , Edleres vorzustellen , als er eigentlich war , konnte zu
einem Alp werden . Eine Strophe von Tennyson fiel ihm ein :
Should I not take care of all that I think ,
Yes , even of wretched meat and drink ,
If I be dear , if I be dear to someone else ?
Sehr schön ! immer besser ! Auch noch auf seine Gedanken acht geben ! das möchte sie wohl . Flugs nahm er sich vor , an etwas ganz Gemeines , Unsauberes , Ekelhaftes zu denken . Er wollte sich beweisen , daß er noch frei war , das zu thun . Es machte ihm nicht das geringste Vergnügen ; aber er trotzte , rief alles ins Gedächtniß , was solch ein delikates Wesen hätte empören oder doch entsetzen müssen . Nachher guckte er sich um , bubenhaft , scheu , erröthete so zu sagen inwendig .
Er hörte eine leise Musik über den Korridor herüber . Die Doktorin Röslin spielte Harfe . Er klopfte an und bat , sich in eine Ecke setzen zu dürfen . „ Bitte , thun Sie garnicht , als ob ich da wäre . “
Sie spielte sehr schön , und es war wie ein Bild , die kleine Gestalt in der Ecke unter den Palmen . Das Lampenlicht schimmerte sanft auf den Saiten . Nur hatte Iversen die Empfindung , als ob ihm dabei alle Gelenke weich würden . „ Es ist das alles so süß und gut , das halte der Teufel aus ! “ murmelte er vor sich . Auf irgend einem geheimnisvollen Wege merkte die Spielerin , daß es ihm zu viel wurde , und brach
ab . Sie plauderten dann , und wider Willen – er hatte übrigens seine zuletzt geschriebenen Verse in der Hand – sprach Iversen einige Worte über das seltsame Verhältnis .
„ Denken Sie sich , ich kenne meine Korrespondentin bis zur Stunde nicht , “ sagte er zutraulich . „ Aber ich werde sie kennen lernen , und dann soll sie mir büßen für alle diese Wochen , “ setzte er übermüthigen Tones hinzu . Ihr verwunderter , verlegener Blick machte ihn lächeln . „ Wenn Sie eine Tochter hätten , könnte sie Ihre Tochter sein . “ Er überraschte sich selbst mit diesem Einfall ; irgend eine plötzliche Kombination , deren Glieder ihm selber dunkel waren , hatte sich da vollzogen . Von der Doktorin hatte er nur einen unbestimmten Laut als Erwiderung gehört . „ Ich habe Sie doch nicht beleidigt ? “ sagte er lebhaft nach einer Pause . „ Sie brauchten sich wahrhaftig nicht zu schämen , wenn Sie solche Tochter hätten , oder finden Sie , daß eine Dame überhaupt nicht comme il faut ist , wenn sie an einen Mann schreibt ? “ Er beugte sich neugierig vor , um ihre Antwort zu hören ; sie blickte nicht von ihrer Handarbeit auf , er fand sie blaß und erschöpft aussehen und schloß aus ihrer Einsilbigkeit , daß er sich empfehlen solle . „ Ich glaube , die Frauen und Mädchen sind furchtbar engherzig gegen ihre eigenen Geschlechtsgenossinnen , “ bemerkte er etwas hochfahrend , während er aufstand , „ ich wette ,
Sie denken nichts Gutes von meiner armen Unbekannten . “ Er erschrak , als er ihre Augen feucht werden sah . „ So böse war ’s nicht gemeint ! Ich kenne doch Ihre Nachsicht . Ich soll Ihnen übrigens einen respektvollen Gruß von Mordtmann sagen , das bewußte Kleidungstück bewähre sich ausgezeichnet , und ich vermuthe , wenn er wieder einmal ein Paar alte Hosen gegen neue los werden möchte , beglückt er uns mit seinem Besuch . “ So gingen sie lächelnd auseinander .
Nachts hörte Iversen Thüren öffnen und schließen , ein schnelles Laufen auf dem Korridor . Kathi erzählte ihm Morgens mit langem Gesicht , die Frau Doktorin habe einen argen Herzkrampf gehabt , doch wisse man schon die Mittel . Iversen ließ anfragen , ob er die Patientin sehen dürfe . Nein , die Frau ließe bitten , erst morgen – sie hoffe dann wieder das Bett verlassen zu dürfen . Er wollte ihr Blumen mitbringen – die Rosen neulich hatte er tagelang auf ihrem Schreibtisch stehen sehen , aber jetzt , gegen Ende des Monats , hatte er kein Geld mehr . Mit Erstaunen bemerkte er , daß er sich darüber ärgerte – dies Haus hat mich vollständig umgewandelt , ich werde noch nächstens als kleines Mädchen aufwachen ! Er war sehr unzufrieden , daß er so suggestibel sein sollte : nächstes Semester wohne ich wo anders ; nur nicht zu vertraut mit den Wirthsleuten werden ! beschloß er .
Die Doktorin war nach wenigen Tagen beweglich und beschäftigt wie immer . Er sah sie zuerst auf der Straße wieder ; sie trug einen großen weißgrünen Blumenkranz . In aller Geschwindigkeit erzählte sie ihm , daß ihre alte Putzfrau gestorben sei , die gewiß von Niemand sonst einen Kranz bekomme . Sie sei ein wüstes trunkfälliges Weib gewesen , hörte Iversen mit halben Ohren ; die Geschichte war ihm sehr gleichgültig .
„ Ich finde Sie angegriffen aussehen , und da laufen Sie nun schon wieder für fremde Leute herum , und noch gar für todte ! “ zankte er , um nur etwas zu sagen .
„ Verzeihen Sie , daß ich Sie neulich nicht empfangen habe unter meinen Kolben und Mixturen , “ sagte sie ; „ aber wenn man dreiundsechzig und immer noch ein bißchen eitel ist “ – sie schüttelte das Haupt , ihr Lächeln hatte etwas Sonderbares , als könnte es leicht in Weinen umschlagen . Der Student lief schnell davon , um es nicht zu erleben .
Die heißen Tage kamen . Wie ein Dampfbad war die Luft , denn es gewitterte jede Nacht . Iversen saß den ganzen Tag in seiner Stube , die grünen Läden geschlossen , den Zimmerschlüssel umgedreht . Abends trieb er sich auf dem See herum , meistens allein ; er war in der letzten Zeit wortkarg geworden . Eigentlich apostrophirte er fortwährend die Unbekannte , laut , leise , oder nur in Gedanken , in Prosa , in Versen ,
im Guten wie im Bösen . Namentlich auch im Bösen , denn sie ließ ihn wieder warten . Das Frauenzimmer hatte Launen . Vielleicht bereue sie auch ihren letzten , zu zärtlichen Erguß . Vielleicht wollte sie aufhören ?
Hoffmann kam eines Tages , um ihn zu einem mehrtägigen Ausflug in das Berner Oberland aufzufordern . Er griff den Plan auf , um sich selber loszuwerden . Es war nachgerade unerträglich langweilig , so von einem anderen Individuum abhängig zu sein . Sie machten einige tüchtige Märsche , ein paar berggewandte Schweizer Bekannte führten sie in die weniger begangene , vom Fremdenstrom noch kaum berührte Hochgebirgswelt . Es gab harmlose Abenteuer und mannhafte Strapazen . Iversen versuchte auf dem Rhone-Gletscher sich die geheimnisvolle Korrespondentin vorzustellen , gerade hier oben , in der herben , dünnen Luft , unterm unverfälschten Himmelblau , beleuchtet von dem klar blickenden , scharf bohrenden Sonnenauge . Er hoffte , daß hier alles zergehen werde , drunten bleiben im Thal mit dem Rauch der Kamine , dem Nebel der Wiesen . Aber wie ein Vogel flog es mit scharfem lustigen Schrei neckend ihm über den Kopf und stieg mit silberblinkenden Flügeln höher und höher . Der ins Thal zurück mußte , war er selber – sie aber schien durch nichts mit dem gemeinen Hüttenrauch verknüpft .
Voller Erwartung kehrte er heim , ob er nicht
schon etwas versäumt habe . Und dann wollte er auf seine kleine Wirthin eindringen und sie zum Reden veranlassen . Sie ist ja weich wie Butter , warum sollte sie nur mir gegenüber unerbittlich sein ? Einen Anderen würde er sicher verlacht haben , wenn er sich so wie ein kleines Kind beschwichtigen ließe .
Auf der braunen Tuchplatte seines Schreibtisches leuchtete es schon von weitem . Es lagen dort drei weiße Lilien , ein wenig matt , dazwischen ein Brief . Warum sie nur nicht ins Wasser gestellt worden sind ? dachte er , ob die schon lange hier liegen ? Der gelbe Blüthenstaub lag über das Tuch verstreut , der starke Duft war im ganzen Zimmer verbreitet . Es sah so feierlich aus , wie bei einem Grabmahl . Wenn ’s nur keine traurige Endschaft bedeutet ! Dann die Worte :
Der Tag ist hingegangen ,
Verklungen Lust und Weh :
Das kalte blasse Mondlicht
Schläft auf dem schweigenden See .
Im Garten blüh ’n die Lilien ,
Sie schimmern bleich wie Schnee ;
Bald blüh ’n sie auf meinem Grabe
Drunten am schweigenden See .
Als die erste Verwunderung vorüber war – Iversen fand es sehr unbequem , immer von einer Stimmung in die andere geworfen zu werden – , tröstete er sich damit , daß es jetzt erst interessant
werden dürfte . Es stand ihm nun fest , daß die Schreiberin eine unglücklich verheirathete Frau war – gibt es überhaupt glücklich Verheirathete ? daß sie Gewissensbisse hatte , weil sie zu weit gegangen ; er hoffte , daß dieser Anfall vorübergehen und sie ihm zuführen werde , wenn nur er die Krise richtig benutzte . Und dazu fühlte er sich durchaus aufgelegt . Froh , daß auch ihm einmal wieder etwas zu thun blieb , und mehr denn je von dem Wunsch erfüllt , sie zu halten , dachte er sogleich auf eine Antwort , und die Worte glitten ihm warm vom Herzen in die Feder , ein volles Glücksgefühl kam über ihn , während er schrieb :
Wer ist es , der dich für die Todten wirbt ,
Du wundervolle weiße Blume ?
Mit Unrecht ist’s ! du blühst im Heiligthume
Sehnender Liebe , die aus Sehnsucht stirbt .
Denn süße Leidenschaft enthüllt dein Duft ;
Du strömst ihn aus , als gält es , zu verbluten ,
Jäh zu vergeh’n in deinen weißen Gluten –
Und du verschmähst mich ? sprichst von Tod und Gruft ?
Kennst du das Leben ? Wende dich nicht ab .
Sieh , meine Wangen glühen purpurroth !
Gib dich mir heute , morgen sind wir todt !
Ich liebe dich ! o wende dich nicht ab . “
Den folgenden Tag ging er in einem Rausch umher , der ihn trieb , sich vor keinem der Bekannten blicken zu lassen . Am Waldrand lag er , sah eine
unbeschreibliche Verklärung über dem Thal ; die erhöhte farbenbrennende Föhnstimmung über dem bronzenen Grün und dem türkisblauen See war ihm ein Spiegelbild seines Inneren . Lange hielt es ihn nicht draußen , er mußte wieder heim , mußte sehen , ob kein Brief für ihn da sei , ein hastiger Blick in die Thür , ein Kopfschütteln und Herumsuchen unter den Papieren des Schreibtisches , und dann wieder hinaus , denn es litt ihn nicht im geschlossenen Raum . Er hoffte zuversichtlich auf einen krönenden Schluß . Irgendwo wird sich doch eine Thür aufthun und sie hervorgehen , geradeswegs in seine Arme . Er brauchte diesmal nicht lange zu warten . Am zweiten Tage schon lag die ersehnte Antwort für ihn da . Sein Herz schlug , da er sie in die Hand nahm . Er ging an die Thür , schob den Riegel vor , wusch sich die heißen Hände und warf sich aufs Sopha , um in aller äußeren Ruhe zu lesen ; er hatte sich , seit er das Couvert gesehen , fortwährend wiederholt , daß sich jetzt sein Schicksal entscheiden wolle . Er las :
Eine arme Seele sitzt gefangen .
Draußen singt es vor den Kerkerwänden .
Nimmer wird ins Freie sie gelangen ,
Bleigewichte trägt sie an den Händen .
Bleigewichte trägt sie an den Füßen .
Draußen liegt das Land , das sie verbannte ,
Draußen lockt die Stimme , die bekannte ,
Nur ihr Seufzer darf hinüber grüßen .
Ach wer zählt die Thränen , hört die Klagen ?
Kalte Mauern haben sie getrunken .
Nirgends bleibt , wenn sie ins Nichts versunken ,
Eine Spur von ihren Lebenstagen .
Ohne Zukunft , ohne Hoffnungsschimmer
Sag ich lebewohl in tiefem Leide .
Letzte Thorheit , lebe wohl für immer ,
Lebe wohl , du meine letzte Freude .
Das war sehr unerwartet . Der Student ließ das Blatt auf den Tisch fallen , schob es dann noch ein bißchen weiter fort . Echt ? oder Koketterie ? Besonders das Wort von der Thorheit mißfiel ihm . Er die Thorheit eines Frauenzimmers ? Es war diese Strophe , die ihm im Gedächtniß blieb und darin heumbrummte wie eine gefangene Hummel in einem Glas . Abgedankt , ehe es noch recht angefangen hatte ? Und doch war etwas in den klagenden Tönen , was sich an sein Mitleid wandte . „ Entweder kommt ’s jetzt erst recht , oder es ist aus , “ sagte er unsicher . Allmählich aber schien es wirklich aus zu sein . Er fühlte nämlich zum erstenmal nicht die geringste Neigung zu antworten . Ihm kam auch kein Einfall . Es war ein feierlicher Ernst in ihren letzten Worten , ein Ernst , der ihm fremd war , der ihm unnatürlich , forcirt vorkam . Er mochte auch nicht das Klavier machen für die ersten besten musikbedürftigen Hände und dann in den Winkel gestellt werden . Und wie gehorsam hatte er getönt , was sie anschlug . Aber
nun war es zu Ende mit der Resonanz . „ Zum Teufel auch , so hätte sie mich in Ruhe lassen sollen von Anfang an ! “ Resignation – nein , die war entschieden unmodern , da konnte er nicht mehr mitthun . Oder sollte die „ letzte Freude “ etwa andeuten , daß er eine Reihe von Vorgängern gehabt hatte ? Das wäre dann allerdings pikant , sogar stark für ein Weib , das so offen zu berufen , ehe es danach gefragt ward . Die Kerkerwände – nun , die mochten ihre Ehe bedeuten – das Land , das sie verbannte , war einfach die Freiheit über die eigene Person . Das kam von diesem ewigen Drauflosheirathen . Wenn er doch nur gewußt hätte , wie sie eigentlich aussah ! Das war doch die Hauptsache . Man hätte dann wenigstens beurtheilen können , ob es sich lohnte , Himmel und Erde in Bewegung zu setzen . Aber in solch einem Briefwechsel in Versen geht es doch nicht gut , sich die Photographie auszubitten . Da nimmt man unbesehen das Angenehmste an .
Der Aerger verschwand . Er schrieb nicht mehr , wo er ging und stand , brüske Prosabillets in zehn Worten , Aufforderungen , sich zu erklären , Vorwürfe , daß sie eine Komödie mit ihm gespielt habe .
Nun kam die Leere . Er wollte sie wieder haben . Es war nicht viel gewesen ; aber sie hatte ihm doch Sensation verschafft , und er hatte sich den Wunsch nach Sensationen nicht bloß angelesen , wie seine Bekannten ,
es lag in seiner Natur , sie zu suchen . Er schrieb nun Verse , Klagen über seine Verlassenheit , die ihn selber bewegten ; er sagte der Doktorin Röslin eines Tages : „ Morgen werd ’ ich mir wieder erlauben , Ihnen ein Briefchen anzuvertrauen , meine Korrespondentin wartet schon seit vierzehn Tagen . “
Die Doktorin war von ungewohntem Ernst : „ Ich habe versprechen müssen , nichts mehr anzunehmen ; ich dachte , Sie wüßten es . “
Iversen blickte sie durchdringend an . „ Ich wußte es nicht , “ sagte er langsam , „ aber , Sie scherzen nicht ? Sie würden kein Billet mehr annehmen ? “
Die Frau verneinte stumm .
„ Aber , mein Gott , was ist denn vorgefallen ? Warum werde ich so im Dunklen gehalten ? Glauben Sie denn , daß es mir gleichgültig ist ? “ Eine ungewohnte Wärme war in seiner Stimme , sein Gesicht hatte sich gefärbt , deutliche Spannung sprach aus seinen Augen .
„ Ich darf Ihnen nichts verrathen ! Verzeihen Sie mir ! “
Die Frau ergriff die Klinke ihrer Schlafzimmerthür , sie hatte mit tief bewegtem Ton gesprochen , er zweifelte nicht , daß sie ihm alles mitgetheilt , wenn sie gedurft hätte .
Dennoch kam er sich wie ein Narr vor , wie ein Kind , das man weggelockt hat und das den Weg nach Hause nicht mehr findet . Und diese Weiber hängen
auch alle zusammen wie die Kletten ! Es heißt da immer , sie seien schwatzhaft , könnten kein Geheimniß bewahren ; auch eine Wahrheit , die schon so abgenutzt ist , daß sie nicht mehr taugt .
Dann kamen Tage , wo das Bedauern , sie verloren zu haben , alles andere überwog . Er stürmte eines Abends in das Zimmer seiner Wirthin , aufgeregt wie ein verliebter Knabe , der seine Sehnsucht nicht länger bezwingen kann .
„ Helfen Sie mir meine Unbekannte finden , “ bat er in dem Ton , in dem er vor fünfzehn Jahren seine Mutter um ein Spielzeug gebeten haben mochte . „ Sie haben ein so gutes weiches Herz für alle Menschen , thun Sie mir auch einmal etwas zuliebe . “
Blaß bis in die Lippen , mit kämpfendem Athem und flehend sah die Frau zu ihm in die Höhe . „ Nein ! nein ! “
„ Aber Sie sehen doch , daß ich daran zu Grunde gehe ! “ rief er heftig .
Sie legte ihm die Hand auf den Arm : „ Nein , sagen Sie das nicht . Liegt – liegt Ihnen denn wirklich so viel daran ? “
Ihre Stimme schwankte , die letzten Worte erstarben in ihrem Munde .
Die groß verwunderten grauen Augen gaben ihm plötzlich eine Ueberlegenheit . „ Die Frauen sind , glaube ich , so eine Art Eispasteten , wissen von gar nichts , “
sagte er halb zu sich selbst . „ Gute Nacht , und nichts für ungut . “ Er schüttelte ihr die Hand , die schwach und leblos an ihrer Seite niederhing .
Dann traf er seine Reisevorbereitungen . Er wollte sich entschädigen für all’ die Anläufe des Fleißes und für diese unterirdischen Monate . In wenigen Tagen war Semesterschluß ; er gedachte nicht , so lange auszuhalten . Und ob ich nachher hier zurückkomme ? Schwerlich . Ich brauche wieder einmal andere Luft . Aber ich kann’s ihr von unterwegs und schriftlich anzeigen , möglich auch , daß ich mich noch anders besinne .
Eines Morgens – er war noch nicht lange eingeschlafen – weckte ihn Klopfen und Geschrei vor seiner Zimmerthür .
Es war Kathi , die ihn rief , doch um Gotteswillen schnell aufzustehen und zu kommen .
Ohne sich recht zu besinnen , fuhr er in die Kleider ; draußen stand die breite bäuerliche Person , die Schürze vor den Augen , lief ihm vorauf nach dem Wohnzimmer der Frau , die Thür stand offen , das Putzgeräth lag im Weg .
„ Was ist ? “ wollte Iversen fragen ; da sah er schon : die Doktorin Röslin saß zurückgelehnt in ihrem Schreibstuhl ohne Bewegung . Erschrocken trat er näher , rief sie an , berührte ihre Hände , die gefaltet im Schoß lagen .
Es waren die kalten Hände einer Todten . Das
Gesicht war friedlich , um die klare Stirn und die leicht geschlossenen Augen schwebte ein sonderbarer Schimmer . Die Unterlippe war ein wenig eingezogen , wie im letzten Schmerz . In ihrem gewohnten schwarzen Kleide saß sie da , mußte sie die ganze Nacht so gesessen haben . „ Ein Herzschlag , “ sagte der Student , und er schickte die Kathi nach dem Arzt .
Dann setzte er sich auf das Sopha in dem hübschen grünen Zimmer und betrachtete die Todte . Sie sah so klug aus . Er dachte auch an das Geheimniß . Nun gibt sie ’s gewiß nicht mehr heraus , diese kleine sanfte Alte , und so – Ein leichter warmer Windstoß fuhr durchs offene Fenster über den Schreibtisch und blies ein Blatt hinunter ; es tauchte auf wie ein Schmetterling , dann huschte es auf den weichen Teppich und lag bewegungslos zu den Füßen des Studenten . Er haschte verloren danach , blickte darauf , staunte , blickte noch einmal und las die Seite hinunter , dann die folgende halbe .
Sein Wesen war verwandelt , er sprang auf , lief an den Schreibtisch , überflog hastig die dort verbreiteten Papiere . Da ! auseinandergestreut neben dem Bronzeleuchter , auf dem die Kerze ganz herabgebrannt war , bekannte Züge – seine Gedichte ! Die Schieblade stand noch offen , der Schlüssel hing daran – eben entnommen , wahrscheinlich um verbrannt zu werden , seine Verse an die Unbekannte ! Also wer war sie nun gewesen ?
Rathlos und beklommen flogen seine Blicke durch den Raum , eine eisige Hand hatte sich auf sein warmes junges Herz gelegt . Und hier die andere Handschrift ? In seinen Ohren war ein Klingen und Klirren wie von tausend zersplitternden Glocken . Ihm war , als müsse er lachen und auf einmal wach sein ; aber er hatte einen Kinnbackenkrampf , es kam nur ein blödes Grinsen heraus . Dann meinte er , daß er ’s ja längst gewußt habe , wollte sich mitten in seiner ungeheuren Betroffenheit einreden , daß er gar nicht überrascht sei , gar nicht . Er schaute hinter sich ; da müßte doch jetzt die Welt stehen , müßte ihn ausspotten , Rübchen schaben ; Ätsch , ätsch , du Tropf !
Da sah er im Morgenstrahl das weiße Kleid der jungen Harfenspielerin aufleuchten ; mit einem Schrei der Erlösung flog er zu dem Bilde , dessen süße graue Augen so tief , so jung , so innig ins Leben zu blicken schienen . Er betrachtete es hingerissen , er konnte sich nicht wegwenden . Du ! du ! hauchte es in seinem Inneren ; dann scheu blickte er sich um nach dem zusammengesunkenen kühlen todten Häufchen Asche im Lehnstuhl . „ Nein ! nein ! nicht die ! “
Und doch . Es war dieselbe Handschrift auf jenen Papierblättern , wie die all jener Verse , die er bekommen . „ Und es soll doch nicht wahr sein ! “ Aber dann hier ? Und er las noch einmal die Worte , die der Wind ihm geschenkt hatte :
Wie schwer die Wolken gehen ,
Wie trüb die Welle schäumt !
Mir ist ein Weh geschehen ,
Das Glück hat mich versäumt .
Es kam daher gefahren
In Frühlingsduft und Licht ,
Mit Rosen in den Haaren ,
Jugend im Angesicht .
Ich rief in seligen Thränen :
O , warst du je so schön ?
Mir bricht das Herz vor Sehnen ,
Mußt du wieder vorübergehn .
Da nickte süß und schmerzlich
Das wohlbekannte Stück ,
Und sandte mir so herzlich
Den alten Trost zurück :
Und darf ich auch nicht weilen ,
Und findst du nimmer Ruh’ ,
O glaub’ auf hundert Meilen
Kennt keiner mich wie du .
Nur du siehst dieses Funkeln ,
Nur du mich unverhüllt !
Wie trügen jene Dunkeln
Das schattenlose Bild .
Sähst du mich draußen wandeln ,
Vermummt , verschrumpft und klein ,
Du gönntest mich den andern ,
Du riefst mich nicht herein .
Empfinde dein Geschicke
Demüthig , ohne Leid :
Dir ward im Augenblicke
Die volle Ewigkeit . – –
Und wie ein Regenbogen ,
Leuchtend und farbenfroh ,
Ist es vorüberzogen –
O Herz , was blutest du so ?
Der Schlüssel der Flurthür krachte im Schloß , Kathi kam mit dem Arzt . Iversen raffte alles , was er der Unbekannten geschrieben , mit dem letzten Blatt von ihrer Hand zusammen und verbarg es in seiner Brusttasche . Nach kurzer Begrüßung mit dem Doktor ging er in sein Zimmer , schloß sich ein und hörte nichts mehr als eine inwendige Frage , die er , die Faust an die Stirn gepreßt , vergeblich zu beantworten trachtete : Wo find ich nun ? Ja , wo find ich nun ?
Liebesmühen .
Neun Uhr dreißig ? Also in dreiviertel Stunden ? Nein , da geh’ ich lieber zu Fuß . “ Der Frager trat vom Bahnhofschalter zurück , das Fenster klappte herunter , die kleine Lampe ward weggenommen . In ihrem verschwindenden Schein bemühte sich der Draußenstehende , die lange gehäkelte Geldbörse wieder in die Tasche zu versenken . Eine unglaubliche Einrichtung , diese dünnen Schläuche ; unbequem genug , um sie nur an hohen Sonn- und Feiertagen zu gebrauchen wie der heutige ! Er streichelte die knisternde seidene Schlange in seiner Tasche , – Toni’s verwöhnte weiße Fingerchen hatten sie für ihn gearbeitet , und mit verliebten Blicken war er damals den Verschlingungen der dunkelrothen Fäden gefolgt . Zwei Jahre waren ’s nun , seit er das Abschiedsgeschenk von ihr empfangen und treulich im Koffer überall mit sich herumgetragen hatte : nach Jena , nach Wien , nach München , wie es einem sehnsüchtigen Bräutigam und zukünftigen braven Ehemann ziemte .
In fröhlicher Eile schritt er aus dem kleinen Bahnhof , wo schon die Gasflammen aufzuckten , hinaus auf die halbdunkle dörfliche Straße , an den Gärten vorbei , wo zwischen dem Grün bunte Ampeln leuchteten , aus den Lauben Plaudern und Mädchenlachen , Zitherklang und Klaviergeklimper aus offenen Hausthüren und Fenstern drang . Mit graurothem , drohendem Gewölk , dunstig und sternenlos lag der heiße Sommerabend über dem schwarzblau schimmernden Wasser des See ’s . Die Abkühlung mußte doch noch bald kommen ; schon mischte sich hie und da ein schneller frischer Zug vom Wasser her in die stummen Lüfte , und das Laub am Waldesrand bebte und seufzte . Der Gang durch die Nacht mußte heute etwas besonderes Lockendes , Heimlichsüßes haben für den , der mit sich allein , die Geliebte im Herzen , dem Wiedersehen mit ihr entgegenwanderte . Er dachte mit Widerwillen an die sonnedurchheizten dumpfen Coupés , in deren staubigen Ecken noch die ganze Schwüle des langen Tages hocken mußte . „ Wie thöricht , dort hineinzukriechen , – wie sonderbar , daß es immer das erste Vehikel ist , an das der moderne Mensch denkt , selbst wenn er ein Paar so langer und solider Beine besitzt wie ich ! “ – Ein glücklicher Zufall , daß ihm Toni’s Briefchen nach Leoni nachgesandt worden . Toni und ihre Mutter in München , plötzlich , ohne lange Vorberathung und Verabredung ! Hoch schlug ihm das Herz . Heute zwar würde es zu
spät sein , sie zu sehen , leider ; aber gleich morgen früh hoffte er die Langentbehrte in die Arme zu schließen . Und es fiel ihm Mörikes liebliches Gedicht ein , wie der früh zu seinem Mädchen kommt , sie aber , „ das schlanke Bäumchen “ , vor dem Spiegel steht
„ – und wascht sich emsig .
O wie lieblich träuft die weiße Stirne ,
Träuft die Rosenwange Silbernässe , “
Ja , wer ’s auch so gut hätte ! Er seufzte , da ihm das Bild der Braut in so blumiger Morgenfrische vor Augen trat .
„ Hangen aufgelöst die süßen Haare ,
Locker spielen Tücher und Gewänder – “
Was wohl die Mama sagen würde zu solch einem Einbruch ! Und Toni selbst ! Sie war nur siebzehn Jahre alt gewesen , als er sich mit ihr verlobte , aber wie schnell würde sie ihn seiner Wege gewiesen haben , wenn er – –
Nun freilich , in einem städtischen wohlgeordneten Haus wär ’s ja auch kaum denkbar und erhört , solch ein Vorfall wie der in dem Gedicht ; so unschuldig reizend dort alles klingt , es ist doch ein weiter , weiter Abstand zwischen Wirklichkeit und Poesie . „ Uebrigens , zu denken , daß ich diesen Mörike erst seit vier Wochen kenne – es ist eine Schande ! Man bleibt doch ein Barbar in so einem Laboratorium . Gut , daß ich eine
Frau bekomme , die mir auch einmal etwas zutragen kann . Mit den Kollegen hat man ja doch nichts als Fachsimpelei . Bin neugierig , ob Toni den Mörike kennt ! Ich wette , nein . Muß ihn aber lesen und dann – – Ach ja , das Wiedersehen mit dem kleinen Schatz wird recht anders werden , als bei dem naiven , blutwarmen , schalkhaften Dichter ! Ehe die blonden Löckchen , die ich so liebe , nicht alle schön gekräuselt sind , kommt das Kind gewiß nicht zum Vorschein , und da Mama das Frühaufstehen schon ein paar Mal mir gegenüber als eine Angewohnheit der ‚ niederen Klassen ’ bezeichnet hat , so darf ich keinesfalls vor zehn Uhr an ihre Thüre klopfen . Gut , daß ich den weiten Marsch vor mir habe , das wird meine Sehnsucht zerstreuen und mich rechtschaffen müde machen . Vielleicht schlaf’ ich selbst bis in den hellen Morgen hinein , und die Stunde ist da , eh ich ’s gedacht . “
Wohlgemuth schritt er weiter , immer dem Seeufer entlang , umfächelt von dem Duft ungesehener Gärten , denn der Julitag war nun ganz verglommen . Als er in den Wald eintrat , hauchte ihm unter den dichten Schirmkronen der Kiefern und Buchen erstickende Schwüle entgegen , er mußte den Schritt verlangsamen . Aufathmend stand er dann unter den letzten Bäumen des Forstes über Starnberg und sah das grüne Licht des Salondampfers wie ein langsam kriechendes Glühwürmchen über den dunkeln See ziehen .
Ein Käuzchen schrie hinter ihm , ein Zweig knackte , von einem Nachtvogel berührt , sonst war es athemlos still . Von den Sommergästen drunten am See war nichts mehr zu spüren , nur oben hinter einem Fenster des epheuumkränzten alten Schlosses blinkte die Lampe eines einsamen Kanzlisten . Gemächlich schlenderte er abwärts über den von Baumwurzeln holperigen Fußpfad . Es roch moosig und pilzig . „ Schade , daß es nicht Frühling ist , – hier blüht es im April von Leberblumen und blutrother Erika , da hätt’ ich selbst in aller Dunkelheit wohl einen Strauß zusammengebracht . Nun müssen es Gartenrosen sein , – wenn nur recht frische morgen früh im Laden zu bekommen sind ! Eine Kollektion Pilze , wie sie in ganz München nicht leicht einer so schön und gelehrt zusammenstellen könnte , wie ich , darf ich ihr doch gewiß nicht bringen . Sie würde mir ’s als Pedanterie auslegen , wenn sie nicht etwa denkt , ich komme wie der Herr Nudelmeier daher mit einem Haufen selbstgelesener Schwammerling für die Küche ! “ Er lachte laut auf über die heraufbeschworene Vorstellung . „ Eigentlich sollt ’ man mal so etwas machen , um zu sehen , ob das Herzenskind Humor hat ! Aber vielleicht ist Humor kein so Frühlingsgewächs , zumal bei den Mädchen ? “ Er konnte sich nicht klar werden , in der Erinnerung hatte er ein kleines , zartgefärbtes , blondes Wesen , reizend in jeder Bewegung , aber auf ihren gewöhnlichen Gesichtsausdruck besann
er sich nicht . „ Ein kleiner , ernsthafter Peter , glaub’ ich , “ sagte er halblaut . Dann , schon bereuend , als habe er etwas Unrechtes zugefügt , zog er die Geldbörse hervor und vergnügte sich damit , sie zu streicheln und zu drücken . „ Süße Toni , ich komme mit leeren Händen , und du hast mir gewiß wieder eine reizende , nichtsnutzige Sache gestickt mit deinen niedlichen Pfötchen , die ich schon jetzt in Gedanken zärtlich küsse . “ – Es blinkte etwas zwischen seinen Fingern und entrollte , ehe er es fassen konnte . Er rieb ein Streichholz an , aber das erste versagte , der Boden war unsichtbar , tiefe Dunkelheit ringsum . Viel Geld konnte es überdies nicht gewesen sein , er trug wenig bei sich . „ So bleib’ , wo du bist , “ rief er übermüthig , „ und möge dich morgen ein anderer finden , der weniger reich ist als ich ! “ Und im Vorgefühl seines nahenden Glückes sprang er in tollen Sätzen den Abhang hinunter , bis er mit flatternden Rockschößen auf der breiten Promenade zwischen einer Damengruppe landete , die , ihre Unterhaltung jäh beendend , mit Gekreisch auseinanderstob .
Da sie auf keine Entschuldigung hörten , sondern mit einer Eile davonliefen , als würden sie erst am Ende der Welt stillstehen , gerieth er immer mehr in eine ausgelassene Lustigkeit , sprang vorwärts , und pfiff und sang alte Studentenlieder , als ob er wieder zwanzig Jahre alt wäre , statt achtundzwanzig . Er dachte flüchtig an gestern , vorgestern . Lieber Gott , der alte eingefrorene
Mensch mit den knarrenden Gelenken und dem langen , nachdenklichen Gesicht , der hier ein paar Wochen herumgestelzt war , abgearbeitet und nervös , war das wirklich er gewesen ? Er , Richard Hausdörffer , der Greuel der sommerfrischen Damen , denen er auswich , wo er konnte , das Angstgespenst seiner Hauswirthin , der er das feierliche Versprechen abgenommen , allem Umgang mit Musikinstrumenten für die Dauer seines Aufenthalts zu entsagen „ wenn ihr das Leben lieb wäre ! “ Solch ein unausstehlich anmaßender Patron war er geworden , und warum , wenn man fragen darf ? Als Assistent mit tausend Mark jährlich und der Hoffnung , in einigen Jahren Extraordinarius zu werden ? Er mußte lachen , wie gut er damit durchgekommen war , – die Leute schienen einen schauderhaften Respekt vor ihm zu haben . Ja , so ein langes Gesicht , das ist imponirend . Sie wußten ja nicht , daß er’s eigentlich aus lauter innerer Langweile und Herzensmuße gemacht hatte . Eine Braut in Karlsruhe – pah – eine Taube auf dem Dach ! Was hat man davon , als die Verpflichtung , fein sittsam und ehrbarlich zu wandeln und Briefe zu schreiben , die Toni zur Noth der Mama zeigen kann . Ganz abgesehen davon , daß man sich so in diesem Verhältniß – genau genommen – von seinem eigentlichen Leben schriftlich doch sehr wenig sagen kann ! Ja , ja , so hatte er noch gestern gedacht und mit einer Art Resignation auf seine eigenen wohltemperirten Gefühle
geblickt , als wären es die eines andern , und war dabei zu dem Schluß gekommen , daß er seine abgeschmackten , abenteuerlich geformten Knabenschuhe mit den unnützen Schnabelspitzen und dem bunten , phantastischen Troddelwerk nun endlich , endlich ausgetreten habe . Und heute ? Heute fühlte er sie von neuem an den Füßen , und die Dinger waren schneller als Schlittschuh und Ski ! Er glitt auf ihnen über jedes Hinderniß hinweg , über jeden Graben und jeden Abgrund , glatt und beschwingt , ein köstliches Fliegen ; er trat die Luft , und sie trug ihn ; er wandelte auf dem Wasser und sank nicht . Aber immer sprach es dabei in ihm : halte die Stimmung fest , schlag nicht um , laß dich durch nichts beirren , das Schönste in der Welt ist der Ueberfluß , und der schönste Ueberfluß ist dies frohe unbändige Lebensgefühl , laß es dir nie wieder nehmen . „ Sie muß mir mein Glück endlich ausliefern , mein Glück , Toni ! Man ist nur immer zu zaghaft , – ach , wir Jammermänner mit unseren tausendfältigen Ansprüchen , und darüber geht uns die Fähigkeit zu Grunde , voll zu genießen ! Aber heute – heute – Gott sei Dank , daß ich mich noch so freuen kann ! “
Daß es so schwül und dunkel war , dämpfte ihn nicht , reizte ihn vielmehr , – es schien ein geheimnißvolles Fluidum auszugehen von diesen bleichen Waldwiesen , das ihn aufregte . Es wetterleuchtete jetzt bald hier , bald dort hinter den Bäumen ; anfangs nur röthlichblau ,
wie von einem angeriebenen Streichholz , dampfte es an einem Wolkenrande hin , dann kam es schneller und voller , ein fahlblauer Lichtstrom , der zwischen ein paar Riesenmuschelschalen hervorbrach , die sich eine schmale Spalte weit öffneten und lautlos wieder zuklappten ! Wie schön das ist , solch eine Nacht ! Wie dumm , sie im heißen Bette zu verschlafen , oder hinter Büchern und Apparaten zu verwachen , wie er ’s im letzten Jahre nur zu oft gethan . Die einsame Kanzlistenlampe im Schloßfenster hatte ihn an seine eigene erinnert , die auch so Nacht für Nacht bis ein , zwei Uhr hinausgeflimmert hatte zum Aerger seiner Wirthsleute , die immer in Angst vor einer Feuersbrunst waren . Besonders der Hausherr : „ Ja , wenn Sie noch im Wirthshaus säßen und ihr Spiel machten , wie andere junge Herren , – wir haben doch mehr so Doktoren gehabt , aber die sind bereits alle Abend – – und wenn Sie nur auch e guets Glasel Wein trinken würden , – wozu wachst er denn ? und kein Bier ? wo doch jeder Säugling bei uns sei ’ Maß trinkt – ganz grau und gelb werden Sie im Gesicht , meine Frau hat ’s auch schon bemerkt . “ Und das mußte sich ein alter Alpentourist wie er sagen lassen ! Aber das mit der grauen Farbe hatte gestimmt . Pah , halt Stubenfarbe ! „ Wenn ’s nur ’ was Rechtes einträgt , so hab’ ich nichts gesagt , “ hatte Strohmeier begütigt . Das war nun erst vollends zum Wildwerden . „’ was einträgt ? Ja freilich , man
schafft und experimentirt den ganzen Tag , und wenn die Woche herum ist , hat man ein paar Zahlen . “ – „ So , so ! Weiter nichts ? Da thät’ ich ’s aufgeben . “ – „ Wissen Sie denn , was ich mache , Herr Strohmeier ? “ – „ Nein , Gott soll mich bewahren ! “ – „ Ja , wie denn reden über Dinge , die Sie nicht verstehen ? “ Er hatte das Glück , man nahm ihm nichts übel , mocht’ er so grob werden , wie er wollte . Keiner nahm es für bös ; – sogar wenn er sarkastisch sein wollte , kam es anders heraus . Die Natur hatte ihn nicht zur Respektsperson geschaffen ; es hieß stets hinter seinem Rücken : mit dem Hausdörffer ist gut umgehen . Als ganz junger Mensch hatte ihn das oft geärgert , und auch jetzt , der zukünftigen Schwiegermutter gegenüber quälte ihn das Gefühl , keine rechte Autorität zu besitzen . Ja , was denn ? Soll man aufspringen , die Augen rollen , die Löwenkralle zeigen , ein Machtgebrüll ertönen lassen , und das gegen eine Frau ? Geschmacklos und roh ! Mamachen wird ihn schon achten lernen auch ohne das . Ein bißchen äußerer Erfolg , eine Professur , eine Arbeit , die Aufsehen macht , und sie wird sogar auf ihn stolz sein .
Dann , als die Frau Strohmeier auch anfing mit den „ Löchern in den Backen “ , die er durchaus haben sollte und so weiter , hatte er aufgepackt und war nach Leoni gegangen . Und dort hatte er „ fortgewurzelt “ . Was wissen die Leute davon , wenn
man etwas fertig haben will ! Da muß man ’s halt in Gottesnamen machen ; er hatt ’ es auch der Strohmeier zum Abschied noch gegeben . „ Bin ich denn zu nichts Gescheiterem auf der Welt , als um Ihnen mit rothen Backen eine Freude zu machen ? Da würd’ ich mir leid thun . “ Aber nun , seit Tonis Ankunft bevorstand , war all die Kümmerei und „ Grantigkeit “ verflogen . Im allerersten Augenblicke , ja , da hatte er freilich gedacht , schade , daß sie nicht vierzehn Tage später kommen , da wär’ ich fertig gewesen ! Aber jetzt fand er das unerträglich pedantisch und wunderte sich selbst über diesen Tropfen Tinte in seinem sonst gesundem Blut . Arbeiten , leben – – nein , es ist doch zweierlei , was auch die großen Moralisten und Arbeitsapostel sagen mögen , – eins stört das andre – und das Schönste , das Schönste ist Muße ! Hat man keine , so nimmt man sich eine , – man ist doch glücklicher Weise weder Fabrikler noch Börsenmann , sondern freier akademischer Bürger der internationalen Gelehrtenrepublik , der weltumspannenden glücklichen Minorität , Unsterblichkeitsanwärter , Vollkommenheitsanbahner der Menschheit , Hebel der Zivilisation und vor allem Unternehmer , Unternehmer in eigener Person ! Wer lacht da in dem verwachsenen Unterholz ? Ach so , da spukt wohl der „ unbestechliche Martinez “ , der behauptet , unsere Laboratorien und psychophysiologischen Versuchsstationen
seien auch nur kapitalistische Unternehmungen ? Für die Assistenten die Mühe , für den leitenden Professor der Ruhm ! Nun , wissen Sie , mein Bester , für unsern Chemiker mag das mit Fug gesagt sein , und es ist sogar nicht der Ruhm allein , den er sich vorbehält , ’s sind auch die blanken Goldstücke , die ihm der Fabrikant für die technisch verwerthbare Entdeckung zahlt , die sein Praktikant gemacht hat , – aber bei uns – nein , wie kommen Sie darauf , Martinez ? so mag ’s wohl bei Ihren Tschechen zugehen , aber an unsern Anstalten – –
Es fiel ihm ordentlich aufs Herz , daß er dem Martinez nicht kräftiger entgegengetreten war ; in der frohen Spannung war es ihm so wehrhaft , so kampflustig zu Sinn , verächtlich kam es ihm vor , daß er auch schon die bequeme Wendung angenommen hatte . „ Aber , Freund , wozu sich aufregen , wenn man zum voraus weiß , daß man nicht übereinkommt ? “ Im letzten halben Jahre hatte er ’s oft gesagt , und es war verteufelt mattherzig und grau ! Sich aufregen ? und warum nicht ? Nur so lebt man , fühlt sich leben , fühlt es klopfen und stürmen , und daß man noch nicht alt ist , trotz der Stubenfarbe auf den hohen Backenknochen und den Löchern darunter . Was so ein kleines Mädchen alles machen kann ! Und da hocken sie jetzt zusammen und wollen noch mehr , wollen Theil an unsrer Arbeit , die uns vor der Zeit dörrt oder versteinert oder in lauter nervöse Fetzen zerreißt , wollen
das Recht haben , uns zu Gemeinderäthen oder Steuereinnehmern zu wählen , und besitzen dabei seit uralten Zeiten die Kraft , uns zu Königen zu machen , wenn sie uns lieben ; und sehen nicht ein , daß das mehr ist ! Ein Glück , daß die Toni meine Braut ist , meine süße , mädchenhafte , dummliche , schlichte Toni , die nicht einen Schritt aus dem ihr natürlichen Lebenskreis gemacht hat ! Das ist’s , was ich brauche . Wenn mich die Sonja nicht abgewiesen hätte , Gott weiß , wie mir’s gegangen wäre : eine russische Studentin , und ich ! Übrigens eine dumme Ausrede von ihr : „ ich heirathe keinen Deutschen “ , – wenn sie mich geliebt hätte – – Aber es war nichts , und dann , wie ich das unglaubliche Kollegienheft fand , da war auch ich kuriert . – Ach , meine Toni , meine süße Taube , was für ein Glück , daß du nicht Tintenflecke an den Pfötchen hast , wie die dumme , großäugige , breitnasige Sonja , die mich nicht gewollt hat ! Und war doch sonst ein gutes Frauenzimmer . Auch intelligent , obwohl das Kollegienheft dagegen sprach . Aber zum Teufel auch , sie haben keinen Duft , sie haben keinen Schmelz ! Küchenkräuter oder offizinelle Pflanzen sind sie , aber keine Blumen . Buben in Unterröcken ! Sie kennen alles , was wir kennen , wissen von allem , was wir wissen , – man kann sie nicht verblüffen , erschrecken , nicht einmal erröthen machen . Das Kontrastvergnügen geht völlig in die Brüche . Die Noth der Zeit mag’s
entschuldigen , aber geschmackvoll ist ’s nicht , die Menschheit so zu uniformiren !
Wieder preßte und streichelte er das Beutelchen in seiner Tasche , als wär ’s etwas Lebendiges . Er entsann sich der Worte , die er an Toni gerichtet : „ Studieren Sie auch , mein Fräulein ? “ und ihres erschrockenen „ O nein ! “ Es war ordentlich , als hätte er ihr etwas zugetraut , das nicht „ ladylike “ ist . Und es war auch eine alberne Frage an ein junges Mädchen in feschem Touristenkostüm , wenn man ihm zum erstenmal auf dem Ütliberg begegnet , und wenn dieser Ütli auch zehnmal oberhalb Zürichs und seiner gepriesenen Hochschule liegt . Aber seine Phantasie war damals so angefüllt mit Studentinnen , kurzgeschnittenen und langhaarigen , daß er jedes junge flottgeschürzte weibliche Wesen für eine von der Zunft nahm . Natürlich , als dann die Mama auftauchte und der ganze Hofstaat der Verwandten , war’s ihm klar , daß er sich mit seiner Frage blamirt hatte . Und schlimmer als das , diese Frage hatte ihm das reizende Geschöpf mit dem langen geschmeidigen Hälschen kopfscheu gemacht ; es bewegte sich hurtig von ihm weg , antwortete kurz und befangen , lauter „ ja “ und „ nein “ und „ o gewiß “ und „ selbstverständlich “ und blickte ihn nur zuweilen mit zusammengezogenen Brauen trotzig , herausfordernd an , – o der süße , dumme Backfisch ! Toni ! Toni ! und immer Toni !
Wie sie ihn heut Abend wieder verjüngt , verzaubert hatte ! Es war doch sonst nicht seine Art , so ins Blaue hinein vorwärts zu marschieren , einfach der Nase nach , ohne eine Hand vor Augen zu sehen , wie ein verliebter Auerhahn . Die Gelegenheit , sich zu orientieren , war ungünstig , kein Frage . War das überhaupt , was er unter den Füßen hatte ?
Mechanisch hatte er zusammentretende Zweige beiseite geschoben , war über Wurzeln und Gestrüpp gestiegen und den Felsbrocken ausgewichen , mit jenem Instinkt , den er längst bei seinen Bergwanderungen an sich ausgebildet hatte , und der wie ein sicher funktionierender Apparat ihm immer zur Hand war . Wenn es nur nicht so dunkel gewesen wäre ! Jetzt , wo er begann , auf die Umgebung zu achten , ward ihm diese Unsichtigkeit lästig , er fühlte sich wie in einem Käfig , dessen Wände zwar vor seinen tastenden Händen zurückwichen , aber nur , um sich eine Spanne weiter von neuem um ihn herum aufzubauen . Das schöne Wetterlicht , das von Zeit zu Zeit den Wald erhellt hatte , war erloschen , kein Hauch ging durch die Bäume , der Auskunft gegeben hätte über eine Lichtung oder offenes Land – eng und schwül brütete es zwischen den nah aneinandergedrängten Stämmen – , das Wachszünderchen zeigte ihm nichts als Bäume , Bäume , dazu einen jäh abwärts führenden , schmalen , holperigen Holzweg , den er nun schon lange verfolgt haben mußte .
Er ließ einen Jauchzer los , vielleicht , daß von irgendwoher eine Antwort käme , denn ihm stiegen nun doch Zweifel auf , ob er nicht etwa in der Unachtsamkeit die Richtung verändert habe . Sein Ruf verhallte , ebenso noch eine Reihe von Jodlern , die er kräftig im Abwärtsschreiten hinausstieß . Dann kam plötzlich ein vertrauter Ton , weit aus der Ferne noch , aber so verständlich wie eine Menschenstimme : das Bellen eines großen Hundes . Sie antworteten sich eine Weile , ganz wie zwei Wanderer , die sich aus der Ferne zurufen .
„ Wo bist du ? “
„ Hier ! “
„ Rechts ? “
„ Hier ! “
„ Links ? “
„ Hier ! “
„ Ist da ein Gehöft ? “
„ Hier ! “
Das arme Thier konnte doch nur ziemlich einsilbige Auskunft ertheilen , und als sie sich endlich ganz nahe waren und das Bellen in ein Knurren der Vorsicht und des Abwartens überging , befand sich Hausdörffer vor einer Gatterthür , hinter der aber kein Haus , sondern nur eine Waldwiese mit wiederkäuenden , glockenklingelnden Kühen lag . Immerhin war das eine Andeutung , daß hier ein Dorf , ein Weiler folgen
konnte , aber kein Hirt war zu errufen . Der Hund war der einzige Hüter .
Er stellte sich auf das „ Überstiegel “ neben dem hohen Thor , der Hund war von der anderen Seite heraufgesprungen , daß sein keuchender Athem gegen ihn strömte , zwei helle Punkte aus dem dunklen Gesicht ihn anflimmerten . Ein paar sanfte Worte , eine beruhigend auf den lockigen Kopf gelegte Hand besänftigten das verständige Thier . Es hatte schnell erschnuppert , daß der Eindringling keine von den Kühen zu stehlen gedenke , die sich alle hinter ihm an das Gitter gedrängt hatten . Er gab ihm sogar das Geleit bis zum Ende des Weideplatzes und hielt ihm mit Bellen und Umspringen den Weg offen ; die Kühe trotteten bimmelnd und mit aufgeregtem Schnaufen hinterher . Beim Abschied sprang der Hund mit kurzem Winseln an ihm hinauf und ließ sich streicheln .
„ Gelt , du bist noch jung im Hüterberuf und möchtest lieber einen Menschen zum Reden , als das dumme Kuhvolk . “ Der Hund schien ihm seufzend recht zu geben ; er winselte ihm noch eine Weile nach , als ob er ihn gern begleitet hätte . Ein Gefühl der Einsamkeit und Enttäuschung beschlich den Wanderer ; der Wald begann von neuem , und kein Haus ließ sich blicken . Dagegen gab es jetzt ein Wasserrauschen , dicht vor ihm und zu den Seiten , ein kräftiges stilles Dahinfließen – das war kein seichter Bach – , in
dieser Hochsommerzeit mochte auch all das kleine Wassergeäder ausgetrocknet sein . Was für einem Fluß konnte er hier begegnen ?
Seine Geographie ließ ihn im Stich . Es ging steil in eine Schlucht hinab , ein Blitzzucken zeigte ihm einen Thalgrund , Wiesen mit Baumgruppen , aber keinen Wasserspiegel . Und doch rauschte es , und lauter und näher . Er fühlte nachgiebigen und moorigen Boden unter den Stiefel , einen feuchten Hauch und den Duft von Heu und Wasserminze . Dann fand er eine Art Damm , die Bäume traten zurück , und er stand zwischen zwei Weihern , einer größer als der andre ; sein Streichholz beleuchtete nur eine kleine , dunkle Fläche ; aber eben zerriß eine messerscharfe blaue Linie den dunklen Himmel , und er übersah die tief ringsum herabhängenden Weiden , einen halb mit Wasser gefüllten Kahn und , weiter fort in der Mitte des großen Weihers ein geisterhaft weißes unerkennbares Etwas , das über dem schwarzen Grund zu schweben schien .
Zurück ? Oder vorwärts ?
Die Möglichkeit , sich vollends zu verirren und im Walde den Morgen erwarten zu müssen , machte ihn zaudern . Und das Rauschen kam nicht von den Teichen , die lagen träg und schläfrig .
Der Morgen wird kommen , und Toni wird ihn vergebens erwarten , – wer hat denn auch denken
können , daß es solch eine Finsterniß geben würde ? Bei all seinen Bergtouren war ihm nicht so etwas begegnet . Man durfte es ja nicht einmal sagen , denn es war lächerlich . Und einer Braut gegenüber , die so viel jünger ist , darf man doch nicht lächerlich erscheinen . Le ridicule tue , tötet vor allem die Überzeugung der Frau von der unbedingten Überlegenheit des Mannes . Früher – ja , da legte er kein Gewicht auf diese Überlegenheit . Sonst wäre er mit Sonja überhaupt nicht soweit gekommen , wohl nicht einmal recht bekannt geworden . Aber wer weiß – vielleicht war gerade dies die Klippe . „ Ich heirathe keinen Deutschen ! “ – wenn sie mehr Respekt vor ihm gehabt hätte , hätte sie sich vielleicht nicht so unumwunden , nicht so beleidigend deutlich ausgedrückt .
Bei Toni wollte er mehr auf der Hut sein , wollte nicht allzu kameradschaftlich mit ihr werden . Dankbar und erleichtert gedachte er von neuem ihrer erschrockenen Antwort : „ O nein ! “ als er sie nach etwaigem Studium fragte . Das liebe Kind ! Hier wäre es jedenfalls leichter , sich im Respekt zu halten . Aber freilich , vor Dummheiten hat man sich auch bei ihr zu hüten , – die Mama hat jedenfalls einen mokanten Zug in ihrem noch immer schönen Gesicht , und so etwas erbt weiter . Was sie mir am wenigsten durchgehen ließe , die Mama , ist all das , was an Überschwenglichkeit streift . Nein – wenn es in den Sternen geschrieben
stand , daß er hier in diesem fettigen Morast bis zum Morgen herumtappen sollte , wenigstens würde er sein komisches Mißgeschick für sich behalten , das war nun beschlossene Sache . Vorsichtig tastet er weiter , das Rauschen kommt näher , – er wird im Augenblick an irgend einem Flußufer stehen und dort jedenfalls Halt machen müssen , bis ihm der schwarze Himmel wieder solch ein kurzes , aber mächtig erhellendes Phosphorlicht sendet .
Da tritt sein Fuß auf etwas Festes , er fühlt Steine unter der Sohle , sicher schreitet er aus , und unter ihm wühlt und plätschert das Wasser , während er es auf der Brücke überkreuzt .
„ Das haben wir einmal gut gefingert ! Wenn man nur jetzt wüßte , was für ein Fluß oder Bach das hier ist . “ So geschwätzig die Wellen strömen , sie plaudern nichts aus , auch über das sehr solide Etwas da plötzlich vor ihm , an das er mit dem Hutrand gestreift hat , das er nun mit vorgestreckten Händen abfühlt , haben sie ihm nichts verrathen . Jetzt wird’s gefährlich . Er lacht sich selber aus . Wie in einem Kindermärchen läuft er herum , ohne Wehr und Waffe , im wilden schwarzen Wald , oder ist das ein Haus , ein Hütte , was er da mit Stirn und Händen gefunden hat ? Es scheint so , aber Fenster hat ’s nicht , ist ganz klein und von Holz , soweit er fühlen kann . Jetzt fehlen nur noch die Räuber , dann ist’s vollständig .
Wie geschickt das übrigens wäre ! Ein Räuber ist doch wenigstens ein Mensch und würde ihm sagen können , was für ein Fluß das hier ist . Das Weitere würde sich dann schon finden . Aber alles stumm und dunkel , und das Hüttchen , – wenn es eine Thür hat , so ist sie verschlossen , und es heißt weiter stapfen . Es steigt jetzt wieder unter seinen Füßen , und was kann er thun ? Er steigt mit , eine ziemliche Strecke . Und dann steht es plötzlich wieder wie eine Wand vor ihm , und seine Hände greifen in stachliges Nadelgebüsch . Ein neuer Waldrand ? Eines jener eng bestandenen Stangenholzreviere , in denen es schon bei Tage schwer ist , ohne Anstoß vorwärts zu kommen ?
Zweifelnde Schritte macht er daran hin , und plötzlich leuchtet es ihm wie ein röthlicher Stern in die Augen : Ein Licht hinter der Wand , die nun keine Wand und kein Wald mehr ist , sondern eine hohe , weit über Manneshöhe hinauf ragende Fichtenhecke mit einer Lücke darin , die ihm das freundliche Licht gezeigt hat . Woher es kommt , ist noch nicht zu unterscheiden , aber genug , daß es da ist . Was für ein Geschenk es doch ist für die Menschheit , das Licht ! Tag und Nacht , der Unterschied hat aufgehört seitdem . Für uns alte Menschenkinder ist nur alles alltäglich geworden , da ist dann solch ein einfaches Erlebniß wie eine Offenbarung , ein Zurückversetzen in die Zeit und Stimmung der Alten , die eigentlich die
Jungen waren und das Licht anbeteten als Himmelsfunken .
Das Reflektiren läßt ihn heut Abend keinen Augenblick in Ruh , aber jetzt ist’s thatsächlich wachgerufen durch die wohlige Empfindung , die sich vom Auge aus über alle Nerven verbreitet . Und dort kommt eine noch größere Lücke , da sieht er das Fenster , aus dem der Schein fällt , davor Bäume und Büsche wie Coulissen ; es muß ein Park , ein Baumgut drinnen sein . Mit einem kräftigen Griff packt er die Fichtenstämme rechts und links , biegt sie auseinander , ohne der Risse zu achten , die seine Haut schrammen , fühlt , wie ihm der Hut vom Kopfe gestreift wird , läßt ihn vorläufig im Stich und findet sich , froh wie ein Bub , hindurch gezwängt , im Bereich des Lichtfensters , geschieden von der ungastlichen , trostlosen Finsterniß . Und sogar der Hut ist nicht verloren gegangen , er hängt eingeklemmt zwischen den oberen Zweigen . Fest drückt er ihn in den Nacken und macht die letzten Schritte fast springend über den rothen , holprigen , phantastich beleuchteten Waldboden , – wie geisterhaft das Grün leuchtet , wie lieblich der ganze Anblick ist ! Wie Hänsels und Gretels zuckeriges Häusel steht es gelbroth und klein unter den großen Bäumen , ein niederes Holzhaus mit rundumlaufender geschnitzter Altane und äußerer Treppe im Berner Styl . Vier Fenster im Erdgeschoß , eines nach jeder Seite , und aus allen
fällt Licht ; aus dem nur lose angelehnten Thürchen klemmt sich ein schmaler heller Streifen über die rothe Sandsteinschwelle mit den drei ausgetretenen Stufen . Da darf man anklopfen , da sieht’s heimelig aus . Während er an die Thür pocht , blickt er zugleich durchs Fenster , es geht fast nicht anders , es ist Alles so niedrig und so zugänglich wie ein offenes lächelndes Menschengesicht ; kurze , durchsichtige Vorhänge vor den kleinen Scheiben , Blumenkränze am Fensterkreuz , in der Mitte ein runder gedeckter Tisch , Stühle umher , wie flüchtig beiseite geschoben , in einer Ecke ein Spinnrad , in der anderen eine Staffelei , darauf ein umgedrehtes Bild , alles rosig überhaucht von dem zarten Lampenschleierlicht . Und an der Hausthür , vor der er steht , ein großer trockener Kranz mit der Inschrift : Willkommen ! Er hat Muße , sich alle Einzelheiten genau anzusehen , denn wie er auch klopft und ruft , – nichts regt sich . Nun prüft er endlich die Klinke , und wie es aussah , so ist ’s auch – die Thür gibt gleich nach , und er steht auf einem schmalen halbhellen Gang ; durch die offene Stubenthür sieht er gleich ins Innerste des Zimmers .
Er klopft , ruft , zaudert – tritt endlich in die Stube . Man kann ja sitzen , warten , der Besitzer wird nicht weit sein , und endlich braucht man doch Auskunft . So sitzt er am Tisch , den Hut auf den Knieen , starrt die Blumenkränze an , von denen ein süßlich aromatischer
Heugeruch ausgeht , den altmodischen Regulator , der wahrhaftig schon auf elf zeigt , endlich die zierlichen Brotscheiben im chinesischen Bastkörbchen , den angeschnittenen Schinken auf hölzernem Brett , die flachen braunen Landjäger , von denen einer in Stücke zertheilt ist – so ein Landjäger sieht doch aus , als ob er auf Bäumen wachsen müßte , eine Art gesalzenes Johannisbrod ! Und plötzlich bekommt er solch eine Lust , den Landjäger da zu probiren . Es ist mehr eigentlich , es ist ein herzhafter Appetit , dessen er sich bewußt wird , und fast ohne es zu wollen , hat er die Hand nach einem Scheibchen Wurst , nach einer Brodschnitte ausgestreckt und ist ordentlich überrascht , daß es sich greifen und in den Mund schieben läßt und sogar sehr gut schmeckt , so gut , daß er noch weiter zugreift , halb im Traum .
Wenn nur auch etwas zu trinken da wäre ! Aber die Theekanne zwischen den zurückgeschobenen Gedecken fühlt sich kalt an , und das Restchen , das er sich daraus in seinen Reisebecher gießt , ist dunkelbraun und schmeckt nach Gerbsäure . Sie müssen also doch schon ziemlich lange fort sein , – er nimmt die Karte vom Starnberger See und Umgebung aus der Brusttasche , entfaltet sie auf der leeren Hälfte des Tisches und versucht sich zu orientiren .
Mühlthal ? sollte dies Mühlthal sein ? Und der Fluß wäre die Würm ? Freilich , freilich , daß einem
so etwas völlig entschwinden kann ! Wenn ich hier diesen Weg gekommen bin und dann – dort – –
Das durchdringende amtseifrige Gebell eines kleinen Hundes unterbricht seine Betrachtung , und da steht er auch schon auf der Schwelle , ein winziges schwarzes Pinscherchen , zitternd vor Aufregung und Entrüstung , und hinter dem Thierchen in der offenen Thür – er hat keine Schritte gehört – erschien eine Dame , die gleich dem Hündchen stutzt und zaudert und ihn aus dunklen Augen verwundert anstarrt .
Hausdörffer ist aufgesprungen und steht , die Karte in der Hand , ohne Hut , neben seinem Stuhl .
„ Halten Sie mich für keinen – ich bin Privatdozent aus München , auf einer Fußwanderung und habe mich verlaufen – – “ Er sprach das hastig und mit abbittendem Blick in das Bellen des Hündchens hinein , das ihn herausfordernd umsprang und vor Zorn keuchte .
Die Dame , die einen breiten Florentiner Strohhut etwas verschoben auf dem Kopf trug , kam einige Schritte vorwärts , ohne das brennende Laternchen aus der Hand zu setzen . Sie ließ , indem sie es hob , den Schein voll in das fremde Gesicht fallen und beäugelte es mit kaum merklich zusammengezogenen Braunen :
„ Aber Nolz ! was für Spektakel ! schäme dich , Nolz , komm her ! “ murmelte sie während dieser Besichtigung dem Hündchen zu , das sein Lärmen und Zappeln übrigens keinen Augenblick unterbrach .
„ Wenn ich Ihnen meine Karte geben darf , gnädige Frau ? – ich fürchte , Sie halten mich immer noch für einen reisenden Handwerksburschen , “ sagte Hausdörffer verwirrt .
Die Dame nahm die Karte , während sie endlich ihre Leuchte auf den Tisch stellte . Mit der linken Hand griff sie halb mechanisch nach dem Pinscher , faßte ihn am langen Nackenbehang und setzte ihn sich auf den Arm , doch bellte er auch noch von dieser Stelle auf den Gast ein . Hausdörffer sah , daß die feingliedrige Hand mit den schmalen Fingern leicht zitterte , als sie die Karte hielt .
„ Ich fürchte , ich habe Sie sehr erschreckt ; vielleicht haben Sie nur die Güte , mir ein andres Haus zu bezeichnen , wo ich mich nach dem Wege erkundigen könnte – “ er suchte mit den Augen nach seinem Hut .
Die Dame hob den Kopf : „ Bitte , nehmen Sie Platz , ich war nur so im ersten Augenblick – war denn die Thür offen ? Ich hatte doch Gretel gefragt – – “
„ Ja , offen . Nein , wissen Sie , gnädige Frau , die Gretel ist unzuverlässig . “
Sie blickte ihn von der Seite an , als wollte sie sagen : was wissen Sie denn davon ? Dann nahm sie den Hut herunter , fuhr sich flüchtig über die „ klassische Frisur “ , wie Hausdörffer diese einfach gescheitelte , halb die Ohren versteckende Haartracht mit dem Knoten tief
im Nacken bei sich genannt hatte , und erzählte , im Zimmer auf und ab gehend , daß die Gretel entschieden krank sei und nothwendig morgen zum Arzt müsse , daher habe sie das arme Ding noch schnell ins Coupé gesetzt und einer Freundin in München telegraphirt , daß sie das Mädchen abholen lassen möchte .
Sie schien von dieser plötzlichen Erkrankung stark in Anspruch genommen , und Hausdörffer , den die Erzählung weit weniger interessant dünkte als die Erzählerin , stand , die Arme aufgestützt , hinter einem kattungepolsterten Stuhl und betrachtete das scharfe , feine , blasse Gesicht mit den starken , geschwungenen Brauen und dem kleinen dunklen Schatten über der schmalen Oberlippe . Schön nicht , aber ein Rassekopf ; nur die klare , eingerahmte Stirn und die stillen schwarzen Augen waren schön zu nennen . Die unmerklich vorstehende Unterlippe dagegen und die etwas zu breiten Schultern – – wenn dieser energische Kopf auf einem höheren Halse säße , die ganze Gestalt gereckt wäre – – und plötzlich fiel es ihm ein , daß er diesen Eindruck schon einmal empfangen haben müßte , und zwar von dem gleichen Kopfe , und blitzschnell war auch die Combination fertig .
„ Ich habe Ihr Selbstporträt in der Diesjährigen gesehen , nicht wahr ? “ fuhr es ihm heraus .
Die Dame unterbrach ihr Umherlaufen im Zimmer und ihren Bericht . „ So , haben Sie es gesehen . “ Eine
Anfrage lag nicht in dem Ton , eher eine fertige , etwas pessimistische Überzeugung .
„ Aber geschmeichelt haben Sie sich nicht , gnädige Frau ! “
Sie lächelte mit krausen Brauen : „ Ich hoffe , nicht ! “ Plötzlich lachte sie gerade heraus : „ Oder sollte das ein Kompliment sein ? “
„ Sie waren unter den Secessionisten , gnädige Frau , ich werde doch nicht so geschmacklos sein – – “
„ Ja , Namen haben wir schon mehr als genug , wenn damit etwas gethan wäre ! “ fuhr sie lebhaft fort , „ aber es ist doch eine anregende fruchtbare Zeit , wenn man nur nicht den beständigen ’ Moralischen ’ hätte . “ Der Seufzer klang sehr echt .
Hausdörffer machte verwunderte Augen . „ Kennen Sie das Gewächs auch ? Ich dachte , eine Künstlerin , und noch dazu eine von den modernen , die wäre so felsenfest auf ihrem Wege , so sicher in ihrem Schaffen – – “
„ Das ist doch nun der blanke Hohn , “ sagte sie ruhig , „ aber ich habe wenig Vergnügen am Sarkasmus . Ich möchte etwas Tüchtiges machen , das Übrige ist mir alles gleichgültig , vor Allem das Urtheil der Herren Gelehrten , die ja wohl wieder mal bewiesen haben , daß die Frauen eine untergeordnete Spezies sind . Lombroso , nicht ? Ich habe so etwas klingen hören , na ! “
Sie betonte das „ na ! “ und befühlte dabei die Theekanne .
„ Ich kann Ihnen eine Tasse Thee machen , wenn Sie auch so durstig sind wie ich ; mir mach’ ich eine . “
Hausdörffer verbeugte sich : „ O gnädige Frau , ich habe tausend mal um Entschuldigung zu bitten , ich habe Ihnen ein paar Stück Brod und einige Scheiben Wurst entwendet . “
Sie stutzte ein bißchen und blickte wie unwillkürlich auf den Tisch . Dann begann sie zu lachen : „ Das war recht , das war gescheit , Sie scheinen ein vernünftiger Mensch zu sein . “
„ Also stehlen heißt Ihnen vernünftig handeln ? “ lachte Hausdörffer , „ Sie machen einem armen Spitzbuben das Leben leicht . Die That zog übrigens die Strafe auf dem Fuße nach , – der Landjäger war zäh wie eine alte Darmsaite . “
Jetzt erröthete sie langsam . „ Wenn Sie lieber den Schinken gegessen hätten , Landjäger , das ist Specialität , dazu gehört – – “
„ Ihre Specialität , gnädige Frau ? “
„ Gretels , sie ist aus dem Appenzell , – bedienen Sie sich , bitte . “
Der Ardentherd auf dem Servirtisch ward entzündet und brummte aufdringlich in dem niedern Raum , Hausdörffer fühlte eine sonderbare Neigung zum Sitzenbleiben , obgleich er sich keiner Müdigkeit
bewußt war . Die Malerin kam ihm wie eine längst bekannte Person vor , ihre Freiheit und Sicherheit war ihm aber doch in solcher Kombination noch nicht vorgekommen . Er hatte erfahren , daß die nächste Bahnstation Gauting hieß , und daß er nur noch etwa drei Wegstunden bis München hatte ; es war später Mondschein zu erwarten , die kleine Verzögerung konnte also nur nützlich sein . Der Thee war gut , und das Gespräch interessirte ihn . Er hatte den Rahmen auf der Staffelei umgedreht , über die markig und kantig entworfene Porträtskizze eines Mannes , die erst in Kohle angelegt war , einige anerkennende Worte gesagt .
„ Es sieht alles so ehrlich aus , was Sie machen , keine Schönfärberei , aber auch keine Schmutzfärberei , nichts auf den Effekt , “ rühmte er .
Die Malerin blickte ihn forschend an . „ Ja , ich bin bieder , “ seufzte sie und riß plötzlich den Rahmen von der Staffelei , um ihn hart aufstoßend in die Zimmerecke zu werfen . „ Das Wort verfolgt mich seit meinen ersten Strichen , es klebt mir an , jeder Neue sagt mir dasselbe . Bieder – das heißt talentlos , phantasielos , platt , unkünstlerisch ! Und mein Geschmack wäre das Skurrile , Ausgefallene , Tolle , Wilde , das wäre mein Geschmack . “
„ Also lieber verblüffen , als gefallen , “ fiel Hausdörffer sarkastisch ein .
„ Lieber Gott , warum soll ich denn dabei immer ans Publikum gedacht haben ? “ rief sie trotzig . „ Muß man einem denn fortwährend Gedanken unterschieben ? dürfen wir nicht einmal etwas uns zur Genüge thun , uns selbst ? “
„ Nun , wenn wir auf die Motive blicken – “ begann er .
„ So , jetzt halt’ ich mir aber die Ohren zu . “ Sie machte eine entsprechende Gebärde . „ Sind Sie auch so ein Motivenschnüffler und Witterer ? Wissen Sie , daß das langweilig wird , Ihre Maschinentheorie vom Menschen ? Wenn es etwa einer wäre , der das sagte , gut – hab’ deine Meinung , – aber ich höre das nun schon seit Jahren , die reinste Kleinkinderschule , jedes sagt denselben Vers her , nur daß die Betonung etwa wechselt ! bah ! “
„ Ja Originalmenschen , wo finden Sie die ? “
Hausdörffers Ton war etwas kleinlaut . Sie fuhr mit einer gewissen Heftigkeit fort : „ Schulen , Schulen , nichts als Schulen ! Cliquen , nichts als Cliquen ! Wie langweilig das ist ! Und am spaßhaftesten , wenn sie , – nein verzeihen Sie , ich redete niemand an , – sich dann auch noch die großen freien selbstständigen Geister einfangen wollen , um sie , nominell wenigstens , ihre Schulmeister , Präsidenten , Cliquenobersten zu nennen ! Böcklin als Vereinsmitglied ! Gottfried Keller als Vereinsmitglied ! Kerle von einer Saftfülle , von einem Phantasieüberschwang ,
von einer goldenen Lebensfreude – ganz Sonne , ganz Gluth ! Sie haben nicht mehr Schuld an den Thaten derer , die sich Arm in Arm mit ihnen präsentiren möchten , als der liebe Gott ! “
Damit sprang sie vom Tische auf und schob die Tasse zurück , daß sie klirrte . Das Hündchen schien das für ein Zeichen zu nehmen , daß nun das Parlamentiren zu Ende sei und der Kampf beginne . Es stieß ein jauchzendes Kriegsgeschrei aus und stürzte auf Hausdörffers vorgestrecktes Bein los , um nach Kräften daran zu zerren .
„ Wie Sie sich aufregen “ sagte der junge Mann mit verwundertem Kopfschütteln . „ Sie nehmen alles mit dem Gefühl , die Damen , sogar die Kunstgeschichte . “
„ Und Sie ereifern sich niemals ? “
„ Ich ereifere mich niemals . “
„ Ha , “ machte sie nach kurzer Überlegung , „ glauben Sie , daß das sehr imposant ist ? “
„ Aber wir sind einmal so , gnädige Frau . “
„ Ich bin keine gnädige Frau , ich bin unverheirathet , und ich sage übrigens niemals ‚ wir ‘ , ich sage immer ich . Wir ! wir ! dies Generalisiren ! Wollen Sie noch Thee ? Es macht mich so wüthend ! “
Hausdörffer setzte sich in Positur .
„ Ich habe nicht den Ehrgeiz , mich für eine ganz funkelnagelneue Schöpfung anzusehen , wie Sie , gnädiges Fräulein . Ich bin mit den hunderttausend andern
meines Standes und Berufs Produkt eben dieser gleichartigen Bildungs- und Anschauungssphäre , ich bin Naturwissenschaftler , Anhänger der Evolutionstheorie – – “
„ Aber daneben doch auch ein Mensch ? “
Er machte eine Bewegung , als ob er eine Fliege verscheuche , die ihm um die Nase summte . „ In erster Linie und wohl auch in letzter Gattungsgeschöpf , “ schloß er emphatisch . Als er merkte , daß sie verstummt war , kam ein befriedigtes Lächeln in sein Gesicht . „ Ja , ja , wir müssen unseren Stolz dahin fahren lassen , mein Fräulein , und wenn Sie mich auch noch so zornig anblicken aus Ihren schwarzen Augen . Der Einzelne hat heut keine andre Bedeutung , als in der Masse aufzugehen . Wir sind nur Durchgangspunkte . Unsere Wissenschaft macht sehr bescheiden . “
Sie schüttelte ernst den Kopf . „ Mich nicht ; mich interessirt nur das Individuum , nur der Einzelfall uns , ob es ein Bild gibt , ein Höheres , Bleibendes nach der flüchtigen sterblichen Erscheinung . Massenindividualitäten – dabei kann ich mir nichts denken . Es müssen doch immer einzelne Köpfe hervorragen , auf die das Licht fällt . Und diese bestimmen die Physiognomie des Haufens , nicht der Haufe ist’s , der sie ihnen gibt – “
„ Sie leugnen den Einfluß des Milieus , des Zeit- , Orts- , Berufs- , Bildungsmilieus , das den Menschen macht ? “ rief er bestürzt , fast mitleidig , als ob er sie auf einer falschen Kasusbildung ertappt hätte .
„ Für die Ausnahmsmenschen ja , – fürs Gros mag’s natürlich gelten . “ Sie warf ein wenig den Kopf in den Nacken und richtete sich auf .
„ Ich bin kein Ausnahmegeschöpf , ich bin vom Gros , gut und gern , “ sagte er , während seine Stirn sich röthete , „ ich bin ein einfacher Arbeiter . Ich mache keine Ansprüche , dem Wissenschaftler ist diese Vorstellung fremd . Sein weiterer Blick läßt ihn auch seine Stellung klar übersehen . Sie stehen auf dem ästhetischen Standpunkt , Ihr Gesichtswinkel ist der des Künstlers . Ich kann nicht umhin , Ihnen mitzutheilen , daß die Tage dieser einst bevorzugten Kaste gezählt sind . Sie entsprechen einer niederen Kulturstufe und werden dahin gehen wie so viele andre schöne und bestechende Erscheinungen . “
Die Malerin forschte in seinem Gesicht ; als noch immer kein Muskel zuckte , schlug sie in die Hände und brach in ein herzliches Gelächter aus .
Sie vernahm dazwischen sein wiederholtes : „ Ja , ja , “ das sie immer von neuem reizte ; endlich fand sie Worte : „ Und das freut Sie ? O Sie bescheidener Jünger der bescheidenen Wissenschaft . “
Er zuckte die Achseln und sah etwas säuerlich drein . „ Es freut mich ganz und gar nicht , aber wir werden den Gang der Entwicklung nicht ändern . “
„ Aber wir vielleicht ! “ warf sie mit aufblitzenden Augen ein .
„ Wir ! ich verstehe nicht – – “ machte er höflich . „ Wer wir ? “
„ Wir Frauen . “
„ Ah . “ Sie maßen sich eine Weile , sein anfangs geringschätziger Blick wurde ernst , dann unsicher . „ Glauben Sie das im vollen Ernst ? “
Eine so achtungsvolle Manier mit der ganz feinen Nuance der Autorität , wie sie etwa der Arzt dem Patienten gegenüber hat ! Die Malerin machte kein Hehl aus ihrer Erregung , sie fächelte sich mit der gefalteten Serviette und trank hastig ihren Thee aus .
„ Wir werden uns die Schönheit nicht nehmen lassen , wir werden nicht dulden , daß Sie uns die Welt grau und kalt machen . Und übrigens – Sie könnten’s ja nicht , wenn Sie auch wollten ! Es ist ja alles so schön , so unendlich reich , so überquellend herrlich ! Die Sonne , unsre liebe schöne alte Sonne ! Ist ja eigentlich genug für einen Menschen , daß er die hat ! Und den Frühling , bedenken Sie doch ! Und die Menschengesichter , haben Sie schon mal darüber nachgedacht ? Da sind immer nur zwei Augen , Nase , Mund , Wangen , Stirn , Haaransatz – und dazu diese Mannigfaltigkeit des Ganzen ! Keine Künstler mehr ? Sollen die Menschen der Zukunft taub und blind werden ? Was nie versagt , soll versagen ? Ach nein , das glauben Sie ja selber nicht , sonst müßten Sie trüb und gebückt
und mit Kassandrablicken und Furchtfalten auf der Stirn daherkommen , statt so ! “
Sie ahmte alles nach , was sie sagte , und war mit dem Ausdruck der Ahnung vor kommendem Schreckniß wie eine Statue der Angst anzusehen .
In Hausdörffers Gesicht stand eine ehrliche Bewunderung . „ Mit Ihnen kann man nicht streiten , “ lächelte er , „ die Waffen sind zu ungleich ; Sie haben Gaben zur Verfügung , wo ich nur Worte gebrauchen kann . Wenn es viele Frauen gibt , wie Sie , dann kann vielleicht später einmal eine solche Differenzirung eintreten , daß dem Manne die spezifische Verstandsthätigkeit verbleibt – “
„ Dem Manne , der zum Künstler zu klug geworden ist ? “
Hausdörffer blinzelte , das Unterbrechen war doch nun wirklich gegen alle parlamentarische Sitte – „ und daß die Kunst mehr oder weniger in die Hände der Frauen geräth , “ schloß er .
Eine Pause .
„ Das müßte Sie doch gewiß befriedigen ? “
„ Nein , “ sagte sie , „ gar nicht , dann würden wir einander noch weniger gerecht werden , als jetzt . “ Und dann plötzlich : „ Menschen gibt es bei Ihnen nicht ? “
„ Wieso , Menschen , Fräulein ? “
„ Menschen schlechthin ? “
„ Männliche und weibliche Menschen , mein Fräulein . “
„ Aber nur so Menschen ? “
„ Nein . – Und verzeihen Sie , daß ich Sie auf eine Inkongruenz aufmerksam mache . Vorhin forderten Sie nur Individualitäten , sagten , daß nur Individuen , nicht Gattungswesen Sie interessirten – “
„ Allerdings , und – “
„ Wie können Sie vom Individuum den Geschlechtsbegriff trennen ? Wenn Sie ein Bild malen , können Sie ein Menschenbild machen ? Mann oder Weib , Kind oder Greis ’ aber nur Mensch ? Das gibt ’s nicht ! “
Sie erröthete flüchtig .
„ Gibt es doch . “
„ Ich wäre neugierig ! “ Er rückte sich zusammen .
„ Ich rede nicht von Bildern , aber es gibt doch Dinge , – Empfindungen , allgemein Menschliches , wo das Geschlechtsbewußtsein gar nichts dreinredet . “
„ Ich glaube , das Bewußtsein ist immer gefärbt – “
„ Und so vergessen Sie in keiner Sekunde , daß Sie ein Mann sind , fühlen sich nie als Mensch ? “
„ Mann und Mensch bedeutet dasselbe , gnädiges Fräulein . “
„ Und Weib und Mensch etwa nicht ? “
„ Nein , das habe ich nie für gleichbedeutend genommen . “
„ Und wenn Sie vom Menschen als Gattungsbegriff sprechen , als Produkt der verschiedensten Einflüsse , wie Sie vorhin sagten , wenn Sie sagen : der
Bauer , der Arbeiter , der Gelehrte und so fort , so ist immer nur der Mann gemeint ? “
„ Allerdings . “
„ Und das Weib , was thut das ? “
„ Es thut nichts Besonderes , mein Fräulein , es geht mit . “
„ Nein , es thut mit , mein Herr , “ – die Malerin sprang einmal wieder auf und lief umher – „ und es thut in den meisten Fällen die sauerste , gleichgültigste , undankbarste Arbeit , denn man rechnet , man nennt es nicht einmal ! Sie haben noch nie eine Ziegelträgerin unter ihrer schmutzigen Last zusammenbrechen sehen , aber ich ! Sie haben noch keine Kellnerin über ihre eigenen müden , wunden Füßen fallen sehen , aber ich ! Sie haben noch keine Künstlerin , keine Studentin hungern und darben sehen , um sich Farben und Bücher statt Brod zu kaufen , aber ich ! Sie haben keine Augen für die Menschen , und Ihre Massen können mir gestohlen werden ! So ! “
„ Aber mir ja auch ! “ Hausdörffer strich sich den Schnurrbart , er verneigte sich leicht . „ Gnädiges Fräulein , ich bin vollkommen Ihrer Meinung und konnte nur der Versuchung nicht widerstehen , Sie etwas zu frozzeln , wie sie in Wien sagen . Sie nehmen alles so ernst – das muß einen doch reizen – “ Er unterbrach sich , denn das Mädchen , das ihn einen Augenblick verständnißlos angestarrt , stieß plötzlich einen Laut der Empörung
aus und erhob den Kopf , wie zu einer heftigen Entgegnung . Doch sagte sie nichts , sondern zerbiß sich die Lippen und wandte ihr zorniges Gesicht weg . „ So etwas können Sie doch nachfühlen , nicht wahr ? “ fuhr er mit einschmeichelnder Schelmerei fort , „ oder halten Sie mich für einen solchen Barbaren – ? “ Auf einmal sah er in ihrem großen dunkelen Auge einen hellen Tropfen stehen . Es ward ihm schwer , ein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken . „ Jetzt sind Sie mir aber böse , “ sagte er mit weicher , bittender Stimme .
Sie antwortete nichts , sondern machte sich im Zimmer zu schaffen . Nolz kam aus seinem Eckchen hervor und betrachtete ihn von weitem mit mißtrauischem , lauerndem Blick , als ob er gleich knurren wolle . Es ward dem jungen Mann doch unbehaglich . Er griff nach seinem Hut . „ Also wenn Sie nur die Güte hätten , mir zu sagen – die Station heißt Gauting ? “
„ Ja , “ erwiderte sie gleichgültig .
„ Und wo bin ich hier , bitte ? “
„ Im Park des Schlosses von dort unten . “
„ Ich war gänzlich verirrt , mein gnädiges Fräulein , aber wenn Sie mir die Richtung angeben möchten – “
„ Hier durch den Park , dann durchs Dorf , über die Brücke und durch die Felder links hinauf zur Station , es ist eigentlich nur eine Wärterbude . “
„ Und wann geht ein Zug ? “
„ Morgen früh um halb fünf , soviel ich weiß . “
„ Ach , das ist aber ! Und der Fußweg nach München ? “
„ Über Planegg , weiter weiß ich nichts . “
Nolz fuhr auf einmal laut bellend zur Thür , dann gegen die Wand an , hinter der es raschelte , und darauf begann rechts und links und von oben und allen Seiten ein lautes gleichmäßiges , schweres Prasseln .
„ Was ist das ? “
„ Ein Landregen vermuthlich . “
„ O weh ! “ Hausdörffers Gesicht ward lang und länger . Er trat an die Hausthür und kehrte mit Tropfen in den Haaren zurück . „ Vielleicht könnte ich im Schloß Unterkunft finden , der Name klingt so vielversprechend , so geräumig . “
Die Malerin zuckte die Achseln .
„ Die Baronin hat dort sechs alte Damen zur Sommerfrische , um neun Abends sind alle in den Federn . “
„ Abermals o weh ! Gibt es denn nicht draußen irgend eine geschützte Stelle , wo ich ein paar Stunden schlafen – ich habe Sie schon so lange aufgehalten – nur irgend ein Schuppen , eine Laube – “
Die Malerin zeigte mit dem Finger nach dem breiten Schlafdiwan hinter dem runden Tisch . „ Wenn sie damit vorlieb nehmen wollen – “
„ O , zu gültig ! “ Er trat hastig zurück , ein lauernder Blick streifte das Mädchen .
„ Draußen holen Sie sich eine Krankheit , und es ist ja alles da , was Sie brauchen – wenn Sie das
Kopfpolster aufschlagen – nun , Sie kommen schon zurecht . “
„ Aber das geht doch nicht , “ stammelte er .
Sie fuhr in dem gleichgültigen Ton fort , den sie seit seiner Erklärung angenommen . „ Bitte nur die Lampe löschen , ehe Sie einschlafen . Der Hausthürschlüssel bleibt im Schloß . Verzeihen Sie , daß ich Ihnen weiter keine Bequemlichkeiten bieten kann , aber gerade heute – schlafen Sie wohl . “
Sie nahm das Hündchen in den Arm und ging an die Thür .
„ Aber Sie ? “ stotterte der Gelehrte , über und über erröthend .
„ Ich wohne oben , wir stören einander nicht im mindesten ; gute Nacht . “
„ Sie sind von einer rührenden Güte , – erlauben Sie , daß ich Sie in München besuche ? “ Er streckte ihr die Hand hin , sie berührte aber nur flüchtig seine heißen Fingerspitzen , während sie unmerklich den Kopf neigte .
„ Und verzeihen Sie mir all mein loses Geschwätz , ich wollte Sie nur ein bißchen ärgern ! “ rief er ihr offenherzig nach . Dann sah er das gelbe Kleid auf dem Treppchen verschwinden und hörte oben eine Thür öffnen und schließen . Langsam kehrte er in das heiße Zimmer zurück und warf sich aufs Sopha , den Arm unterm Kopf . Um ihn rauschte und klapperte der schwere
Regen , dicke Güsse aus der Dachrinne , rings die vielen vielen ausgespannten Baumblätter . Er horchte auf einen Laut von oben , doch bleib es still . Erst später erinnerte er sich der Weisung , die Lampe zu löschen . Doch schlief er auch dann noch nicht , sondern blieb in einer sonderbaren Verfassung zwischen Aufregung und Unlust wach . Seine Bräutigamsstimmung war wie weggeblasen .
Der erste Dämmerschein des Morgens trieb ihn auf . Es regnete nicht mehr , schwarzes und fahlgelbes Gewölk in zerrissenen Streifen stand im Süden und Osten . Wie er aus dem kleinscheibigen Fenster zwischen den Fichten und Eichen über die weichen , zum Bach abfallenden und jenseits wieder aufsteigenden Rasenflächen blickte , erkannte er auch das „ Schloß “ dort drüben , sein grauer epheuumsponnener Erker war hierher in den Park gerichtet . „ Das Beste ist , ich schleiche mich davon , was brauchen die dort mich zu sehen . “
Er sah sich nach einem Schreibgeräth um , riß einen Zettel aus seinem Taschenbuche und schrieb darauf :
„ Mein hochverehrtes Fräulein !
Ehe Sie erwachen , eile ich davon . Nie habe ich herrlicher geschlafen , als auf ihrem kurzen Sopha , und den Eindruck einer unbeschreiblichen Güte Ihres Wesens nehme ich mit fort . Ich fühlte mich nach Indien oder Arabien oder in eine brasilianische Hazienda versetzt ,
so wenig war mein Eindringen hier und Ihre Gastfreundschaft im Stil unseres alten Europas .
In Dank und Verehrung
Ihr
Doktor Rich . Hausdörffer . “
Einen Vers , der ihm noch in halber Schlaftrunkenheit ums Ohr gesummt hatte , schrieb er ebenfalls auf , doch getraute er sich nicht , ihn auf den Tisch zu legen . Er befestigte das Blatt mit einer Nadel an dem ersten Fichtenstamm vor der Hausthür und schritt dann träumerisch und noch mehrmals umblickend über die nassen moosigen Matten hinweg ; auf dem Kreuz oben auf der Kirchthurmspitze funkelte der erste weinerliche Morgenstrahl . – – –
Frau von Götzendorff hatte ihren asthmatischen Anfall . Pünklich um halb vier jeden Morgen trat dieser Unverschämte an das Lager der würdigen Dame , preßte ihr Kehle und Brustkorb zusammen , hielt ihr die Nase zu , schnitt ihr jede berechtigte Klage kurz vor dem Munde ab und trieb sie , die ihre Ruhe und Bequemlichkeit über alles liebte , mit den Sperlingen aufzustehen , „ avec les moineaux et les paysans , savez-vous , “ und sich ans Fenster anzuklammern , um nur wieder zu Athem zu kommen . Das war nun schon so seit den sieben Jahren , wo sie ihre Sommerfrische im Erkerzimmer des Schlosses abhielt , und genau so lange hatte ihre liebe Bekannte , die Frau
Titularräthin , das große Nebenzimmer mit der Preisermäßigung inne . Aber in all der Zeit war es nicht geschehen , daß Frau von Götzendorff Athem und Stimme wieder bekam unter einer halben Stunde , und heute war es kaum zehn Minuten über halb vier , und schon tönte ihr wohlverständlicher , wenn auch gurgelnder Ruf durch die Thürspalte : „ Ach , meine liebe Frau Titularrath , sehen Sie doch geschwind aus dem Fenster , vers le chalet , savez-vous ! ah ! ah ! ah ! “
„ O ! o ! o ! ich sterbe ! “ echo’ te es aus dem Nebenzimmer , die Titularräthin hatte gesehen . „ Ein Mann ! “
„ Un jeune homme ! “
„ Es kann doch nicht der Bäcker gewesen sein ? “
„ Aber ich muß sehr bitten , der kommt ja mit Korb und weißer Schürze “
„ Vielleicht der Doktor ? la bonne est malade . “
„ Ein junger Herr ohne Krückstock , schlank wie ein Adonis . “
„ Ach , meine liebe Frau von Götzendorff , da fällt mir etwas ein , – die Gretel ist gestern abend fortgeschickt worden ! “
Ein Schrei beantwortete diese Notiz . Halbbekleidet näherten sie sich von beiden Seiten der Thür zwischen ihren Zimmern , erweiterten den Spalt , drückten sich die Hände und verdrehten die Augen .
„ Vielleicht ein Dieb , ein Mörder , Frau von
Götzendorff ? “ Die Titularräthin bekam plötzlich ein Zittern .
„ Aber , meine Liebe , Mörder heften keine Zettel an die Bäume ; un jeune homme comme il faut ! “
„ Zettel ? Aber meine liebe Freundin , den müßten wir doch bekommen , im Interesse der Wahrheit , der – “
„ De la moralité , Sie sprechen mir aus der Seele , – wenn Sie hinuntergehen möchten – “
„ Auf alle Fälle ! Es ist mir nur um meine gestickten – Sammet ist so empfindlich ! “
„ Nehmen Sie meine Galoschen , Liebe ; mais cette peintre , qu’ en dites-vous , hain ? “
„ Ah , diese Emanzipierten , was kann man davon erwarten ? Wird auch die Hausthür nicht indiskret knarren ? “
„ Le bon Dieu wird es verhüten , Liebe , wir sind ja so völlig désintéressées bei der Sache ! “ – – –
Da ist der „ Saal “ der Baronin , halb Trödlerbude , halb Museum . Silberschränke mit Glaswänden in allen Ecken , weiß- und goldlackirte magere Stühlchen und formlose rothe Plüschfauteuils , zweisitzig , groß wie Betten . Eine schwere , tief herabhängende Stuckdecke mit verschwommenen Rosenguirlanden und Amoretten in Pfropfenzieherstellung . Die Mitte des Raumes ist frei gemacht ; dort liegt ein alter Teppich , fadenkahl wie eine abgegraste Wiese , und darauf steht die Staffelei – die Staffelei der Malerin Lore Berth , die mit
geschwärzten Fingern unter den Pastellfarben umhergreift . Durch das einzige unverhüllte Fenster – die fünf übrigen sind unter Läden und Vorhängen doppelt versiegelt – fällt ein grünlich gedämpfter Ton auf das gesund rothe Gesicht der Baronin , die in einem süßlila Foulardkleid mit tiefem Ausschnitt Modell sitzt .
Die Sitzung dauert erst zehn Minuten , und Lore hat schon mehrmals Gelegenheit gehabt , die Geduld zu verlieren . Sie schneidet dann Grimassen , rückt mit dem Kopf , sagt wohl auch ein kurzes Wort , so höflich sie ’s herausbringt . Die Baronin ist heut so steif wie eine gefrorene Wurst , äugelt an der Malerin herunter bis zu den kleinen festen Lederschuhen , in denen diese sicher und aufrecht steht , sieht fortwährend nach der Thür hinter sich , wobei sie so aus der Pose kommt , daß sie sich allein nicht wieder zurecht finden kann , fächelt sich mit einem Spitzentaschentuch , das etwas löcherig ist , allen Puder vom Gesicht , so daß es um sie stäubt wie in einer Mühle .
„ Bitte schön , ein bißchen mehr links ! “ und dann in fast flehendem Ton : „ aber nicht wahr , die Nase nicht so einkneifen ! “
Die Baronin sitzt stumm und kneift sie erst recht zusammen , nicht aus Widerspruch , sonder aus sittlicher Größe , sie muß das heute thun . Da klopft’s , und über Lores Gesicht fliegt ein Zornesschatten . Die sechs Tanten rücken an . Jeden Morgen , wenn sie
kaum an der Arbeit ist , stelzt die Krähenschar herein , um ihr Gutachten abzugeben . Es gehört das zu den Beschäftigungen ihrer Sommerfrische , die gar zu langweilig wäre ohne diese kleine , „ emanzipierte Malerin “ . Im Anfang hat sich Lore gesträubt gegen diese Besuche , aber die Baronin hat ihr dann Hoffnung gemacht : da ist diese Frau von Hechingen , die schon immer davon gesprochen hat , ihre „ Phine “ malen zu lassen , die kleine gute Phine , die aussieht , als ob sie vor zwanzig Jahren in eine Schachtel gelegt und erst eben wieder herausgenommen worden sei , zerdrückt und zerknittert an Falten , Schleifen , Haaren und Gesicht . Oder hat sie dies chiffonnierte Aussehen , weil die Mutter fortwährend an ihr zupft und zaust mit Berufen und Ermahnen ? Aber was hilft’s , Auftrag ist Auftrag ; wenn man nur schöne oder interessante Köpfe malen dürfte , dann wäre das Leben zu golden , um ertragen zu werden . So ist’s freilich das Gegentheil , die interessanten Köpfe haben kein Geld , und man kriegt meistens Porträts zu malen , wie das der Baronin hier , vor der Lore schon manchmal „ verzwazzelt “ ist , noch nie aber wie heut . Jene , gänzlich vergessend , daß sie „ sitzt “ , hat sich völlig zu den sechs Tanten umgewandt , mit denen ein halblautes scharfes Gezischel und Getuschel losgeht , ein Rascheln mit einem Papierblatt , das von Hand zu Hand wandert . Was für eine Wohlthat es ein müßte , jetzt einmal mit dem
Fuß aufzustampfen und dazwischen zu donnern ! Ach , wer das dürfte !
„ Wünschen Sie also eine Pause zu machen , Frau Baronin ? “ fragte Lore mit zitternden Nasenflügeln .
„ Bitte , Fräulein Berth , machen Sie immer fort , “ erwidert die Dame über die Schultern weg ; so völlig wie heut hat sie noch nie die Rücksicht beiseite gelassen . Lore wirft hastig die Farben in den Kasten und klappt geräuschvoll mit dem Deckel .
„ Ich komme wieder , wenn Sie mehr Zeit haben , Frau Baronin . “ Damit reißt sie die Thür auf . Da ruft’s :
„ Noch einen Augenblick , Fräulein Berth , es würde mich interessieren , Ihre Meinung zu hören , verzeihen Sie , daß ich so vertieft war , pardon , wirklich , aber die Sache – “
Lore hätte dieses Lächeln falscher Bonhommie dem ländlichen Gesicht gar nicht zugetraut . Die Baronin hält das Papierblatt mit den Fingerspitzen ihr entgegen , die sechs Tanten drängten sich auf aufgeregt hinter ihr .
„ Kennen Sie diese Handschrift ? “
Lore blickt flüchtig hin und erkennt sie sofort . Es ist ja kaum ein paar Stunden her , seit diese feine kleine rückläufige Rundschrift ihr vorgelegen . Aber gleichzeitig durchzuckt sie die Vorstellung : was geht mein gestriges Abenteuer diese Gesellschaft an ? und sie sagt mit würdevoller Zurückweisung im Ton : „ Wie
kommen Sie zu dieser Frage , Frau Baronin ? “ Dabei hebt sie die klaren offenen Augen und sieht fest in das gespannte Gesicht , das sich zu einem neuen malitiösen Lächeln verzieht .
„ Pardon , ich fand das Blatt dicht neben Ihrem Häuschen auf dem Rasen , “ unterbricht die Titularräthin gleichfalls lächelnd , „ oder vielmehr , es hing an einem Baum , ja , so war es , Baronin , auf einer Stecknadel ! “
Lore schweigt , aber gemüthlich ist ’s ihr nicht . Der unvernünftige Mensch hätte was Besseres thun können .
„ Was steht denn darauf ? “ sagt sie endlich , ein wenig rauh .
Ein Gekicher aus sechs Kehlen antwortet ihr , nur die kleine Phine steht neugierig , aber ausgeschlossen abseits . Ihre Mama hat ihr energische Zeichen gemacht , sich zurückzuziehen .
„ Verse , ein verliebtes Gedicht wie es scheint – Ach geh , Phine , hol mir mal mein Strickzeug von oben , den italienischen Shawl ! – Ist sie weg ? Ist es unmoralisch ? Bitte lesen Sie flink ! Ich bin so gespannt . Fräulein Berth wird sich wohl nichts daraus machen . “ Das ist die mecklenburgische Gräfin , Phines Mutter , Lores Antipathie .
„ O , Fräulein Lore kennt die Welt , “ ruft die Titularräthin , und dann liest sie mit geziertem Schmachten :
„ Rothes Häuschen grüne Matten ,
Schlaft und träumt in sichrer Hut .
Unterm duftgen Fichtenschatten
Ach , wie ruht’ ich hier so gut !
Grüßt die Herrin , stolze Bäume ,
Sie wie ihr so herb und schön ;
Segen über ihre Träume –
Mir ein freundlich Wiedersehn !
Himmel , dieser Mensch ! Lores Herzschlag setzt aus , sie wartet , ob er nicht etwa gar noch seinen Namen darunter geschrieben habe . Aber es kommt nichts weiter .
„ Glauben Sie nun , Fräulein Berth , daß dies ein Bauernbursch geschrieben hat ? “ Die Baronin fixiert Lore wie ein Untersuchungsrichter .
„ Na , dann will ich aber gleich im Augenblick auf’m Kopf stehn ! “ ruft die Frankfurterin .
„ Ein Bauernbursch ? Nein ! “ sagt Lore ruhig , „ ’s ist aber auch eins , scheint mir . “
„ Ja , wenn sich’s um ein Bauernmädel handelte , aber das kann ja nicht sein , sie haben dahier sonst eine schöne Sitte , wissen Sie ’s , Fräulein Berth ? Haben Sie ’s nie gehört ? Das geht nämlich so her : wenn einer bei seinem Schatz fensterln gegangen ist , schleicht ihm ein andrer nach und streut auf den ganzen Weg Häckerling , von seinem Haus bis zu ihrem Kammerfenster , den ganzen Weg , denken Sie , Fräulein Berth , und morgens weiß dann gleich ein jeder , –
es ist skandalös , aber sehr moralisch , eine gute Einrichtung – Und Sie waren zufällig ganz allein , vergangene Nacht , Ihr Mädchen nach München – haben Sie sich nicht gefürchtet ? Nein ? Aber , liebes Fräulein , Sie sind wirklich verwegen ! Ich glaube , ich kann es nicht länger verantworten , Ihnen das Häuschen zur Miethe zu lassen . Es liegt gar zu einsam . Sie sind nicht sicher dort ! In Ihrem eigenen Interesse : ziehen Sie ins Schloß , ich habe zwei Mansarden frei – aber dort – nein – ich ertrüge es nicht , Sie länger dort zu wissen . Ein Ehepaar , Fräulein Berth , à la bonheur ! Aber einzelne junge Damen – es geht nicht ! “
Ton und Worte – wie das klirrt ! Die Malerin steht mit starren Blicken neben der Staffelei . Plötzlich ergreift sie einem umfangreichen Mallumpen und fährt damit klatschend über das fast vollendete Pastellbild der Baronin .
„ Ah , was machen Sie ? “ rufen die Tanten herzuspringend .
„ Ich verabschiede mich , “ sagt sie kalt , nickt hochmüthig den Damen zu und verläßt den Saal , den bunten Lumpen hinter sich schleudernd .
* * *
„ Guten Tag – Toni ! Fast hätt’ ich gesagt Fräulein ! “
„ Sieh , das ist ja sehr nett ! Mama , da ist er ! Richard ist da ! “
„ Laß die Mama in Ruh , und gib mir die Hände . Ordentlich ! Beide ! Nun ? “
Sie lächelten sich halb verlegen , halb spitzbübisch an , Hausdörffer erhob den Arm , um ihn der Braut um die überschlanke Taille zu legen , ließ ihn aber auf halbem Wege sinken ; noch einmal drückten sie sich die Hände , dann traten sie auseinander , und Mama erschien unter der Portiere .
Es ist doch eine verlegene , nichtssagende Geschichte , solch ein Wiedersehen nach zweijähriger Trennung .
„ Hier hast Du Deine Rosen , Toni ! “
„ O danke , wie schön ! Sieh Mama , lauter Malmaison ! “
Ihre Blicke gingen über den Strauß weg und glitten musternd über die Gestalt des Verlobten , bis sie mit seinen ebenso prüfenden Blicken zusammenprallten . Da faßte er sich gewaltsam und fing an zu plaudern .
„ Vor allen Dingen , wie geht es Euch , Ihnen ? “
„ O , gut , wie Du siehst , uns geht es immer gut , nicht , Mama ? Wollen wir jetzt frühstücken ? “ Pause .
„ Ich finde Toni blaß – was sagen Sie , Mama ? “
„ Sie hat die zarten Farben unserer Familie – aber Sie sind dafür um so sonnverbrannter , lieber Doktor . “
„ Ich glaube , Toni hält das für sehr garstig – sag mal Schatz . “
„ O , wie kann man so etwas sagen ! “ Pause und neue Musterung .
„ Eine indiskrete Frage , Mama : hat sich Toni auf das Wiedersehen gefreut ? “ Es will ihm gar nichts einfallen .
„ Du sagst ja auch nicht , ob Du Dich gefreut hast , “ macht das Mädchen mit einer schnippischen Bewegung .
„ Aber Kinder , das alles ist doch in Eurem Verhältniß selbstverständlich , “ bemerkt Mama verwundert , würdevoll , „ ich begreife nicht , was diese Fragen sollen . Wollen Sie nicht Thee bestellen , lieber Doktor ? Ißt Du Eier , Kind ? “
„ Soll ich die Teller dazu geben , Mama ? Du weißt wohl ! “ Toni begann am Koffer zu knieen und mit Papier zu rascheln . Richard’s Hülfe ward mit verschmitztem Lächeln abgewehrt . Endlich waren sie draußen , zwölf goldgeränderte Porzellantellerchen , die schon von weitem grünlich , bläulich und rosenröthlich schimmerten .
„ Was ist das ? “ sagte Hausdörffer im Ton des Entsetzens , „ ein Frosch oder ein Mensch ? “ Er wies Toni das erste Figürchen auf dem gerade vor ihm stehenden Teller .
Toni erröthete tief . „ Mama , “ sagte sie im Kleinkinderton , „ hör mal , Richard ! Den Engel da ! “
„ Hast Du sie gemalt ? “ rief der Bräutigam mit herzlichem Lachen . Er verstummte aber schnell , als er die zwei Gesichter sah , beugte den Kopf über die Malereien und murmelte etwas , das nach „ niedlich “ klang .
„ Toni hat nur sechs Stunden gehabt . Sie konnte es sofort , “ sagte Mama herausfordernd .
„ Konnte ? Was ? “ lächelte Richard .
„ Na , Porzellanmalen , wie Sie sehen , lieber Schwiegersohn . “
„ So schnell kann man dergleichen wohl nicht lernen , “ versuchte der Gelehrte einzuwenden .
„ O , wenn man so viel Talent hat wie meine Toni – all’ unsre Bekannten in Karlsruhe waren außer sich . Nach sechs Stunden ! “
„ Wenn Richard sie nicht leiden mag , kann ich sie ja nur wieder wegpacken , Mama . “ Das Mädchen sah so enttäuscht und gekränkt aus , als habe es die größte Ungerechtigkeit erduldet . Daher bestand der Bräutigam darauf , die kleinen Mißgeburten auf dem Tisch zu behalten .
„ Es hat so etwas Behagliches in dem dummen Hotelzimmer , “ meinte er , „ weißt Du auch , Schatz , daß wir uns immer nur in so dummen Hotelzimmern gesehen haben ? Nun , das wird doch jetzt endlich anders . “
„ Wieso ? “
Toni packte sechs der Teller mit größter Sorgfalt wieder in das raschelnde Seidenpapier .
„ Wir müssen doch endlich mal Ernst machen , “ sagte Hausdörffer erröthend .
Mama rückte sich mit geschmeicheltem Gesicht auf dem Sopha zusammen .
„ Sie haben gewiß schöne Neuigkeiten für uns , ich seh’ es an Ihrem Lächeln , lieber Schwiegersohn . Haben Sie Aussichten auf eine Professur ? Das wäre ja reizend , denn allerdings ja , Sie haben vollkommen recht , diese lange Verlobungen – Toni war in Karlsruhe so recht der Mittelpunkt , ihr wurde allgemein gehuldigt . Und dann immer sagen zu müssen : meine Tochter ist verlobt – “
„ Ach , Mama , das wußten Sie ja schon Alle ! “ rief das Mädchen naiv .
Ueber Hausdörffers eben noch so gequältes Gesicht flog plötzlich ein froher Schein , ein Abglanz von Glück .
„ Hast es ihnen gleich erzählt , daß Du nicht mehr zu haben seiest , nicht wahr , mein treues Mädchen ? “ Er streckte die Hand nach ihr aus . Toni nahm sie und setzte sich einen Augenblick neben ihn , zum ersten Mal heute .
„ Das hat gewöhnlich die Fehling besorgt , die hatte immer Angst , ich käme ihr ins Gehege . Sie ist dreiundzwanzig und noch nicht verlobt ; wir hörten
immer so viel Rühmens von ihr , sie sollte so hübsch und elegant sein – na – nachher “
„ Ihre Toni hat sie völlig ausgestochen ! “ sagte Mama triumphirend zu ihm hinüber . Es lag ein liebenswürdiger Nachdruck auf dem Worte Ihre , es klang wie eine Galanterie für ihn .
Seine Toni ! Die Mama legte sie ihm zum ersten Mal selber in die Arme . Aber er war sich leider bewußt , daß diese Arme nicht so weich gepolstert waren , wie die Mutter es für ihre Tochter wünschte , und so glitt die schöne schlanke Puppe , in diesem Augenblick wenigstens , daraus fort und irgendwohin auf den Boden . Mit einem Ruck stand er auf , schüttelte das helle , wollige Haar aus der Stirn und sagte mit etwas knarrender Stimme :
„ Ich denke , wir wollen nach Nymphenburg , nicht ? Dies ist doch kein Thema für einen ersten Tag – schön heiß wird es auch sein , ah ! “
Er reckte die Arme und starrte auf Toni , die ihm fremd geworden war . Und er ihr auch , das war deutlich genug . Hübsch war sie , sehr hübsch , aber doch ein bißchen wie der schöne Wachskopf im Friseurladen . Die dunklen Brauen über den hellen Augen und zu dem röthlichen Haar sahen ihm heute wie gemalt aus ; die feine längliche Nase , die kurze Oberlippe – all das so regelmäßig , so ganz und gar nicht aufregend , so gleichmüthig und selbstbewußt und
enttäuschend , wie ein kalter Maitag . Und seit wann geht sie denn mit solch einer unvernünftigen Taille umher , von der er , der Mediciner , der Physiolog doch keinen Augenblick geblendet sein kann ? Zum Abknicken ! Den Teufel auch , wenn ich denn doch schon mal heirathe , will ich gesunde Kinder haben , wozu wäre sonst der ganze Handel ! Das will er ihr jedenfalls auch sagen . Oder besser der Mama – diese jungen Mädchen der guten Gesellschaft müssen ja wie rohe Eier behandelt werden vor der Hochzeit . Nachher – nein , da werden sie bedeutend anders ; die Kollegen Spezialisten haben ihm genug aus ihrer Praxis erzählt . Jedenfalls hatte es sein Gutes mit der Toni , daß sie noch so jung , so unselbständig ist . „ Mama “ , das ist das dritte Wort . Jetzt muß man ’s nur machen , daß ihr drittes Wort „ Richard “ heißt , und das kann doch bei einem solchen neunzehnjährigen Seelchen keine zu schwere Operation sein . Die weiblichen Wesen im Allgemeinen lechzen ja nach Unterordnung . Es gibt Ausnahmen . So die Sonja . Aber das war kein deutsches Mädchen . Freilich , die Malerin von gestern sah auch nicht danach aus . Je nun – eine selbständige Person wie die zählt ja kaum mit – der künftige Staat wird drei Menschengattungen haben : Männer , Frauen und Neutren . Die Malerin wird wohl ein Neutrum sein , das heißt , mit dem Temperament –
„ Wie sagst Du , Richard ? “ Toni blickt höflich zu ihrem Verlobten auf , „ sagtest Du mir etwas ? “
„ Hab wohl wieder für mich gebrummelt ? Ach , Kind , das macht das ewige Alleinsein . Man wird ganz öd’ davon , Du kannst Dir ’s nicht denken – “
„ Nein , ich bin ja immer mit Mama zusammen . Armer Peter ! “
Schüchtern legt sie einen Moment ihre Finger auf seine Hand . Ein Sonnenstrahl schleicht zwischen den grünen Jalousien herein über den blinkenden Frühstückstisch und streift Toni’s Kameenprofil ; die Flaumhärchen der Wange schimmern golden .
„ Möchtest mir Gesellschft leisten , möchtest bei mir bleiben , ja ? “ flüstert Richard näherrückend . Mama macht sich diskret an den Koffern zu thun , und dabei greift er nach den streichelnden Fingern .
„ Gewiß , gern , “ zischelt Toni erröthend .
„ Gewiß , gern , “ äfft er nach . „ Du kleiner Fisch ! Sag , bist Du ein kleiner Fisch ? “
Toni blinzelt vergnüglich .
„ Ich bin alles , was klein ist ! ‚ Die Goldfische ‘ – haben sie die hier auch gegeben ? Reizend waren die , nicht ? “
„ Aber Kind , solchen Schwof ! Da ist mir meine Zeit zu schade . “
„ Du hast es also nicht gesehen ? “
„ Ich werde mich hüten ! “
„ Aber dann hast Du ja gar kein Urtheil darüber ! Ich muß Dir sagen , alle unsere Bekannten in Karlsruhe waren entzückt davon . “
„ Na , wart’ nur , wenn wir verheirathet sind , nehm’ ich Dich in die Lehre ! Jede Woche eine ästhetische Vorstellung bei Deinem Mann . “
„ Aber das ist doch gar nicht Dein Fach , Richard ! “ Es klingt verwundert und rechthaberisch . Hausdörffer lacht nervös .
„ Ach , Du Schäfchen , ich bin doch nicht bloß so’n Fachsimpel ? “
„ Wenn man sich zersplittert , bringt man es nicht weit , heutzutage . “ Toni spricht sehr würdevoll jetzt , Richard stutzt .
„ Na , wo hast Du das aufgeschnappt ? “
„ Unser Hausarzt in Karlsruhe war ein sehr gescheiter Mann , der hat das jeden Tag gesagt . “
„ Liebe Toni , ein gescheiter Mann sagt nicht jeden Tag dasselbe , am wenigsten etwas so Gemeinplätziges . “
Nun schweigt sie verletzt , und er ist auch verstummt . Nein , gewiß , so kommen sie sich nicht näher .
„ Seid ihr fertig , Kinder ? “ ruft Mama aus dem Alkoven . Beide springen erleichtert von den Sitzen , froh , daß das Frühstück vorbei ist . Im Tramwagen kann man kaum mit einander reden , und das ist vortheilhaft . Man lächelt sich an , spricht ein halbes Wort , nickt , freut sich , das lang entbehrte Gesicht
ungestört ansehen zu dürfen . Das Mädchen ist wirklich schön : die rosenfarbene Straußenfeder schwippt graziös um das zarte Oval des Gesichts , in ihrem rosa Zephirkleide sieht sie aus wie eine Meißener Porzellanfigur . Mama lächelt den Schwiegersohn an : nun , was sagst du von ihr ? bist du nicht entzückt ? Ich bin es den ganzen Tag lang , und besonders , wenn viele Leute rundum sind . Schade , daß Mutter und Tochter sich , so beisammen gesehen , etwas sehr ähneln . Dieselbe röthlich-blonde hohe Frisur , nur bei der Mama etwas fadenscheinig um Stirn und Schläfen , dieselbe Hautfarbe , ursprünglich , aber diese zarten Blondinen verblühen so schnell , jetzt sieht sie ein wenig unwahr aus bei der Mutter , ihr Teint hat einen Stich ins Mehlige , Bläuliche , vom Puder . Dazu der lila Hut mit dem violetten Halbschleier bis über die Nase , und die Brillantohrringe , die bei jeder Kopfbewegung auffunkeln . So wird Toni besten Falls einmal aussehen , wenn sie in Ruhe gelassen wird . Richard kann selbst nicht sagen , weshalb ihm die Vorstellung unbequem ist . „ Mondaine “ ! Aber das ist es nicht allein . „ Leer “ ! Ja , das wäre vielleicht die Hauptähnlichkeit . Und dann - Mama ist ihm nie recht sympathisch gewesen . Es ist noch jetzt ihr höchster Stolz , für die ältere Schwester ihrer Tochter zu gelten .
„ Fehlt Dir etwas ? “ sagt Toni , als sie endlich aus dem Omnibus heraus sind und im Gänsemarsch die
schattenlose Chaussee überschreiten , wo die Staubwirbel noch nicht zur Ruhe gekommen sind . „ Fehlt Dir etwas ? Du machst immer solch Gesicht ! Ist es nicht wahr , Mama ? “
„ Ihr zwei Turteltauben ! “ zärtlich klopft Mama dem Schwiegersohn mit dem Sonnenschirm auf die Schulter .
„ O , die Tauben sind schlimme Thiere ! Grausame Thiere ! Neidisch , rechthaberisch , eifersüchtig , “ ruft er zwischen Spott und scheinbarem Ernst .
Toni kichert . „ Das ist ja ganz was Neues ! Wer hat denn das wieder entdeckt ? “
„ Vor unserer modernen Wissenschaft ist nichts verborgen , “ fährt er spöttelnd fort .
„ Eure moderne Wissenschaft ist sehr klug , ihr hört wohl das Gras wachsen ? “
„ O , das schon sehr lange . Dieser Marsch in der Sonne ist aber entschieden zuviel für unsere verehrte Mama ; sobald wir ein Schattenplätzchen gefunden haben , muß Mama ruhen , wir beide laufen dann in den Park und füttern die Schwäne . “
„ Was wird da bestimmt ? Ich nicht mitkönnen ? Aber , lieber Schwiegersohn , das wäre das erste Mal . Wo meine Kinder bleiben , da bleib’ ich auch . “
Heroisch stapft Mama durch den Sand , vorüber an der mühsam sickernden Fontaine ; der Teich liegt regungslos unter der dichten Decke von Wasserlinsen .
Mittagstille über den Bäumen und Wirthschaftsgebäuden . Wie eine schattige Oase dunkelt des Controlleurs Garten , als sie an der Pforte vorbeischreiten . Alle drei zieht es hinein , aber Richard hat sich jetzt vorgenommen , die Mama müde zu laufen , die Mama fühlt ihre Jugend und Leistungsfähigkeit in Zweifel gezogen , und Toni läuft mit , die hat nur den Willen ihrer Umgebung .
Sie schreiten unter den grünumsponnenen Bogen in den Park . Wohl oder übel hat Hausdörffer der Mama den Arm geboten . Damit aber scheint eine ungeheure Elasticität in ihre Glieder gefahren zu sein , sie geht vortrefflich neben ihm im gleichen Schritt , plaudert beständig und wirft ihm jugendliche Blicke zu , ohne sich um Toni zu bekümmern , die gelangweilt und schmollend zurückbleibt . An der Biegung einer langen Platanenallee bemerkt sie erst , daß die Tochter fehlt . Zum Glück ist eine Bank da , sie sinkt darauf hin und macht unwillkürlich Platz neben sich .
„ Oder wollen Sie nach meiner Toni sehen ? “ flötet sie .
„ Nach meiner Braut ! Adieu , Mama . “
Fort ist er mit fliegenden Rockschößen , mit langen Stelzbeinen rennt er davon , daß es um ihn wirbelt , wie um einen rollenden Wagen .
Nun wird die Situation schon annehmbarer . Rings nichts als weißes klares Mittagslicht , kein Menschenauge ,
das ihn stören könnte , ihn und sie , die da am Ende der Allee zierlich und nicht zu schnell ihm entgegenkommt , wie eine Rosenwolke . Auch der Sonnenschirm ist zart zu dem Kleide gestimmt . Jetzt kann er ihr Gesicht erkennen , ihr Schelmenlachen , das gewiß seinen beschwingten Rockschößen gilt . Ein glücklicher Uebermuth , eine knabenhafte Ausgelassenheit überfällt ihn .
„ Mein Schatz ! Mein Rosenlieb ! “ jubelt er durch den schweigenden Baumgang , und mit ausgebreiteten Armen fliegt er auf das Mädchen zu , um es fest an sich zu pressen , und nun küssen sie sich , daß ihr der Athem vergeht und sie die Hand hebt , um zu winken : ich kann nicht mehr . „ Das war doch endlich mal ein Kuß ! Dein Hut verrutscht ? Ach , laß ihn doch , ’s ist ja bloß ’n Deckel . Warum bist Du nicht gelaufen ? Geht so pomadig , als begegneten wir uns alle Tage ! Gradaus ? Nein , Schatz , da sitzt Mama und wartet auf uns ; aber die nächste halbe Stunde kriegt die uns nicht zu sehen , wie ? O , sie sitzt da ausgezeichnet , ein dicker Baum , und daneben ein kühler Brunnen . Prachtvoll , sag’ ich Dir ! Nein , keine Sorge um Mama – “
„ Aber ich kann doch nicht so allein herumlaufen ! “ Toni hat die Augen niedergeschlagen , um ihre Lippen spielt spitzbübisches Zucken , sie athmet schwer .
„ Allein ? Wenn Du mit mir bist ? Mit deinem Mann ? “ Er zieht sie an sich .
„ Ein Brautpaar – das ist – Mama sagt – “
Sie bricht stotternd ab , aber leise sucht sie sich los zu machen .
Nun ist sein Trotz aufgestachelt , er schmeichelt und bittet , wie er noch nie gebeten hat . „ Liebst Du mich denn nicht , Toni ? Liebst mich so kalt ? Sind wir zwei Frösche , wie Deine Engel da auf den Tellern , oder sind wir zwei Menschen , die einander mehr sein wollen , als die ganze Welt ? “
„ O Gott , gewiß , Richard , und ich thäte es Dir auch gern zu Gefallen , aber sieh mal , wir verheirathen uns ja doch , und nachher sind wir immer zusammen . Aber so , jetzt – Du glaubst nicht , wie streng Mama ist , sie hat es mir immer wieder eingeschärft – und – man hört ja auch so viele Geschichten – “
Toni ist sehr roth , Richard sehr blaß geworden , er läßt ihren Arm aus dem seinen gleiten . „ Was für Geschichten meinst Du , Kind ? “
„ Ach , so allerlei – wiedererzählen kann man sie nicht , aber Mama behauptet immer , ein junges Mädchen könnte nicht vorsichtig genug sein . “
„ Auch ihrem Bräutigam gegenüber ? “
„ Ja , da am meisten . “ Toni zuckt die Achseln und läßt die Lippen hängen .
„ Saubere Bande ! “ grollt Richard zwischen den Zähnen .
„ Wie meinst Du ? “ macht Toni kläglich .
„ Die Leute , die so was predigen ! Uebrigens , Toni , kannst Du Dir denken , weshalb ? Was sie meinen ? “
„ N – n – ein . “ Ueber ihr Gesicht fliegt ein Purpurschatten . Richard athmet auf .
„ Nicht wahr , Du weißt es nicht , und sieh , ich weiß es auch nicht ; ich weiß nur , daß es Schmutzfinken gibt , für die nur die gemeine Seite aller Dinge , aller Gefühle , aller Verhältnisse existirt . Und nun sage mir , mein liebes Mädchen , mein armes , verschüchtertes Vögelchen , sollen wir beide uns von Leuten dieser Sorte unser Thun und Lassen bestimmen , unsre Empfindungen beeinflussen lassen ? Wäre das nicht die verkehrte Welt ? “ Er drückte heftig auffordernd ihre Hand .
„ Ja , “ hauchte Toni widerstrebend , „ aber sieh mal , Mama – “
„ Liebst Du mich , Toni ? “
„ Ach , das ist doch selbstverständlich , wenn wir verlobt sind . “
„ Etwas mehr , als diese selbstverständlichen Brautgefühle , Kind ! Bin ich der Mensch , der Dir der liebste ist auf der ganzen Welt ? “
„ Ja , gewiß , Richard , nur noch Mama – “
Er unterbrach sie hastig . „ Bin ich Dein Ideal , Toni ? “
„ Ja , aber warum quälst Du mich so , und warum bist Du so aufgeregt ? Ich bin auch schon ganz aufgeregt worden ! So mußt Du nie mehr mit mir sprechen ,
Richard . Was soll Mama denken , wenn wir so echauffirt ankommen ? „ “
„ Aber sie weiß doch , daß wir uns gut sind . Sei nicht so hasenherzig , kleine Maus . Vertraust Du mir denn nicht ? Ist es möglich , daß Du mir nicht vertraust ? “
Sein Ton war sehr ernst , gekränkt . Toni hatte Thränen in den Augen , aber sie drängte vorwärts .
„ Ich versteh’ Dich nicht recht . Was soll ich denn ? Jetzt bin ich schon ganz niedergeschlagen . Vor zwei Jahren warst Du viel rücksichtsvoller und so nett mit mir ! O , so nett ! “ Sie schluckte und sah unglücklich aus . Plötzlich schlug ihr Ton um : „ Mama ! Sie kommt uns entgegen , Gott sei Dank ! So hat sie sich geängstigt , arme Mama . “
Sie winkte mit dem Sonnenschirm , und Mama winkte wieder ; Richard überkam es , als möchte er davon laufen .
„ Wo bleibt ihr , Kinder ! “ rief Mama zärtlich besorgt , „ aber lieber Doktor , das ist ja die reinste ‚ Wildgoose-chase‘ ! Jetzt hätte euch nur Tante Fehling begegnen sollen , dann wäre der Klatsch fertig gewesen . “
„ Tante Fehling ? “ brummte Richard .
„ Ja , das ist die , von der immer allerlei Geschichten in Umlauf gesetzt werden . Ein Horreur , diese Person . “
„ So , die erzählt Geschichten ! “
Er fixirte Toni , die sich jetzt , eng und schwer für ein so luftiges Püppchen , an seinen Arm gehängt hatte .
Da blieb sie denn auch für den Rest des Tages hängen , aber sie hatten beide kein rechtes Vergnügen davon . Kein Wort , das recht einschlug , keins , das einen Widerhall fand . Dafür trat das stumme Mustern und Abschätzen aufs neue hervor . Redselig war nur die Mutter , und sie ermahnte zur Nachahmung . Auf ihrem verbindlich lächelnden Gesicht stand aber trotzdem die Klage : lieber Gott , ist so ein Brautpaar sterbenslangweilig ! Sogar photographieren ließen sie sich zu dritt , und zwar hatte der Momentphotograph ein sonderbares Dekorationsstück da , ein Boot mit der Aufschrift „ Amor “ . Unten besaß es Rollen , die hinter blaugemalten Wellen aus Pappe versteckt waren . Der ambulante Künstler versetzte Mama ans Steuer , das Brautpaar sollte sich zärtlich umschlingen . Jetzt war es aber Hausdörffer , der das abgeschmackt und unpassend fand . Ein fingirtes Boot auf einem fingirten Wasser , mit einem fingirten Steuermann – nicht bestimmt sich auf den lebendigen Wellen zu tummeln , sondern ewig da zu hocken , gestrandet , versandet . Er sagte so etwas und fand , daß es ein sehr trauriges Sinnbild sei . Aber die Damen begriffen nicht , wie man alles so schwer und wichtig nehmen könne und fanden die Idee allerliebst . Folglich kam das Bild zu stande , und zur Belohnung ihres guten Willens waren denn auch Mutter und Tochter überraschend gut gerathen ; Richard aber hatte zwei Gesichter bekommen , wie der Gott , der in Vergangenheit
und Zukunft schaut , sie waren aber beide unkenntlich . Die Damen steckten seelenvergnügt ihre Blechtäfelchen ein , Richard ward sehr bemitleidet :
„ Armer Peter , bist so gräßlich geworden ! Aber warum hast Du auch so gezappelt ? “ Gerade , als ob ihm die Verzerrung Schmerz machen müßte ! Aus was für Gründen alles man bedauert werden kann !
„ Versuch ’s doch , mich zu retouchieren ! Du weißt ja jetzt so tapfer mit dem Pinsel umzugehen , “ sagte er sarkastisch . Aber Toni mochte nicht geneckt werden , sie war dann wie auf Glatteis .
Nach vier Tagen fast ununterbrochenen Zusammenseins in Restaurants , Galerien , Cafés und Hotelzimmern empfand Hausdörffer eine unwiderstehliche Sehnsucht nach seiner Arbeit . Er sagte sich , daß er an solch ein Herumlungern mit Damen nicht gewöhnt sei und auch nicht die Verpflichtung habe , sich daran zu gewöhnen . Waren sie einmal verheirathet , so hatte ja auch jedes seine Arbeit , man traf sich dann nur in den Mußestunden . So war es das Normale und konnte trotz alledem sehr hübsch werden . Er deutete seiner Braut an , daß er jetzt an den Vormittagen nicht frei sein , sie erst zum Speisen abholen würde .
„ Aber Du hast doch Ferien , “ hieß es .
„ Liebes Kind , vierundzwanzig Stunden Liebe jeden Tag , das ist zuviel für den Menschen , “ lachte er .
„ Aber wir sind ja kaum zwölf zusammen , mein kleiner Peter ! “
„ Gut , so bring’ ich meine Korrekturbogen mit zu Euch und sehe sie hier durch ; willst Du das ? “
Toni fand die Fahnen aber äußerst langweilig und konnte nicht glauben , daß etwas Interessantes darauf stehen könne .
„ Eigentlich solltest Du es lesen , da es doch von Deinem Bräutigam ist , “ scherzte Richard .
Toni ward sehr ängstlich : „ Im Ernst ? Thun das alle Gelehrtenfrauen ? Über Eiweißkoagulationen ? Ach Gott , Richard , das kann ich ja aber gar nicht ! “ Sie lief zu ihrer Mutter , die mit einem Roman in Schaukelstuhl saß , und zeigte ihr die Abzüge .
„ Gib her , liebe Puppe , und plappere nicht jetzt , Du störst mich ! “ rief Richard herrisch , „ wenn Du auch nicht verstehen kannst , was da steht , – so viel Verständniß sollte eine Gelehrtenfrau allerdings haben . “
Toni wagte nicht mehr zu mucksen , so hatte er sie noch niemals angefahren . Wie eine Feder sprang sie auf , als es an die Thür klopfte , ein halb scheuer , halb schadenfroher Blick flog zu dem Schreibenden am Fenster .
„ So , jetzt kommt Besuch ! Mama , es sind die Wagners , alle drei . “
Richard sprudelte einige lebhafte Worte heraus , er hatte gleich zusammengepackt und sah sich nach seinem Hut um .
„ Doktor Hausdörffer , mein Schwiegersohn , “ stellte Mama mit zärtlichem Tonfall vor .
„ Ich bedaure unendlich , aber ich habe zu arbeiten , “ sagte Richard , als die ersten Worte gewechselt waren ; die drei gleichgültigen Leute , die ihn aufhielten , aber nicht im mindesten interessirten , kannte er von der Straße her : es waren zwei gigerlhaft gekleidete Brüder und die Frau des einen , eine bekannte Modeschönheit .
Am Nachmittag fand er einen kühlen Empfang , vor allem bei Mama . „ Sie waren wirklich nicht sehr rücksichtsvoll , lieber Doktor , ich fühlte mich peinlich berührt , als Sie so schnell aufbrachen . Wagners sind gegen Toni unbeschreiblich zuvorkommend , sie haben ihr für den ganzen Fasching eine Einladung gebracht – sie wohnt dort – , solche Konnexionen sind doch gewiß nicht zu verachten . “
„ Leere Bälge , Haubenstöcke ! Nein , dahin geht Toni nicht ! “
„ Lieber Himmel , ihr seid doch noch nicht verheirathet ! “ rief Mama .
Diesmal war Toni die Klügere . „ Wir können später darüber sprechen , es ist ja noch ein halbes Jahr hin , “ aber ihr Gesicht wurde nicht sehr weich , selbst als nachher ein harmloseres Gespräch aufkam , und Richard sich großer Liebenswürdigkeit befliß .
Er nahm ihr Stickscherchen fort und schnippte tändelnd nach ihren Stirnlocken , er wickelte ihr den
Faden , mit dem sie stickte , unter den Händen um einen Taillenknopf , er bemühte sich , ihre eifrig hantirenden Finger zu küssen , es half alles nicht viel . Erst als er beim Nachtessen feierlich erklärte , er würde nichts genießen , falls ihm nicht Toni jedes Stück auf den Teller lege , die Butterbrödchen eigenhändig streiche und die Birnen schäle und zertheile , fing sie heimlich an , über ihren tyrannischen Sklaven zu lächeln , und gab ihm alles so zierlich und appetitlich vorgerichtet , als ob er wirklich keine Hände besitze .
„ So ist ’s recht ! So hab ich ’s auch gemacht , so lange mein Mann lebte ! “ nickte Mama wohlgefällig , „ sogar an der Table d’hote mußte ich ihm jedes Stück vorlegen ! Ich sah auch immer die besseren Stücke ! Ach , wenn man so allein nachbleibt später , es ist zu traurig ! “
Von jetzt an verbrachten sie nur die Nachmittage und Abende zusammen , die Frauen baten selbst nicht wieder , daß er seine Arbeit zu ihnen mitbringe . Sie hatten viel Besuch und gingen auf Einkäufe . Er sollte dann loben , den Preis errathen , mit demselben Interesse womöglich wie sie bei den Gegenständen sein .
„ Ist es nicht fürchterlich , was so kleine Frauen alles zum Leben brauchen ? “ sagte er dann wohl , „ wenn ich denke , wie platonisch unsereins vor diesen Schaufenstern stehen kann , die Euch zu lauter Fallgruben werden ! “
Es sollte scherzend klingen , machte sie aber doch vorsichtiger . Von jetzt an gab es ein Tuscheln und In- die-Ecken-räumen , eh’ er erwartet wurde .
„ Wenn man den Männern die Augen zu groß macht , das thut auch nicht gut , es hat noch keinen gegeben , der ganz mit Offenheit behandelt werden wollte , “ sagte ihm die Mama sanft und überlegen . Sie fürchtete sich eigentlich vor ihm , so gut wie Toni , die schon angefangen hatte , einen vollkommenen Popanz aus ihrem künftigen Ehemann zu machen .
„ Dies mag Richard gern , und das mag er nicht , “ und „ das sollte Richard nur hören , wie böse er dann wohl würde , “ und „ damit dürfte man Richard nicht kommen , “ und „ laß das nur ja nicht Richard merken , dann brummt er gewiß . “
„ Wie wird das werden , wenn ihr verheirathet seid ! “ warnte oft die Mama . Dann lachte Toni zuversichtlich :
„ O , ich kann den kleinen Peter um den Finger wickeln , er muß es nur nicht merken Er ist gräßlich verliebter Natur , von solchem Mann kann man alles haben , was man will . “
„ Wie klug Du sprichst , Kind ! Sei so zurückhaltend wie möglich , das ist doppelt angebracht . Aber daß er nie von seinen Aussichten spricht , das gefällt mir nicht . Die Geschichte zieht sich für Dich viel zu sehr in die Länge . Deine besten Jahre sind im Nu vorbei . “
Toni wollte selbst das Gespräch auf die Zukunft bringen . Der Gedanke an verschwindende Jahre , an eine mögliche Verminderung ihrer Jugendfrische , das war für die Neunzehnjährige ein erschreckendes Gespenst . Als Richard am Nachmittage ins Zimmer trat , fand er Toni in Thränen über einer Spitzenarbeit , Mama rief ihm aus dem Nebenzimmer zu , daß sie sogleich erscheinen werde . Verwundert und bestürzt fragte er die Braut , was denn geschehen sei . Toni stützte zierlich den Kopf und verweigerte die Auskunft mit leichtem Zittern der Stimme .
„ Sag ’s mir doch , ehe wir wieder gestört werden “ bat er eindringlich .
Da kam es tropfenweise , gepreßt , halb schluchzend heraus , daß sie doch so – so oft voll Angst und Sorge vor der Zukunft sei – niemand habe als die Mama – und die werde auch täglich älter – und er – sie hätten doch keine Aussicht bis jetzt , sich zu vereinigen – bald müßten sie wieder fortreisen – die Zeit verginge – keinen Ball besuchen dürfen als verlobte Braut – und gerade in Karlsruhe , wo es so reizende Geselligkeit gibt ! – Hausdörffer hatte athemlos zugehört . Etwas Bitteres und Verächtliches war in den Blicken , mit denen er das weinende Geschöpfchen betrachtete . Als sie aber zum Schluß zaghaft die Hände nach ihm ausstreckte und flüsterte : „ Wenn ich meinen kleinen Peter nicht mehr zu verlassen
brauchte – “ riß er entzückt die Augen auf und meinte , es sei alles nichts als vorahnendes Trennungsweh und grenzenlose Liebe zu ihm , und sein erster widriger Eindruck habe ihn schändlich irre geführt . Geschmeichelt und zärtlich wie nie zuvor wandte er nun alle Beredtsamkeit auf , um sie zu trösten , sie zu überzeugen , daß sie noch kinderjung , die Mama im kräftigsten Frauenalter , er ihr treuer Verlobter und Gatte sei .
„ Ach , aber wie lange kann es noch dauern ? “ seufzte Toni verwirrt , „ es ist wirklich zu unangenehm , und wenn es Dir möglich wäre , diese Zeit abzukürzen – “
Schon erschien Mama auf der Schwelle , sie hatte einen so wissenden Zug um den Mund , und ihre Augen befragten die Tochter , obgleich ihre Lippen von lauter unbefangener Freundlichkeit für den Schwiegersohn überflossen . Tonis geröthete Augen schien sie nicht zu bemerken .
„ Wagners sind auch wieder da gewesen ; Sie finden keinen Geschmack an den Leuten ; aber ich muß sagen , es sind höchst liebenswürdige , reizende Menschen . “
„ Toni kann ja ihn heirathen , es sind ja doch zwei so reizende Menschen da ! “ fuhr Hausdörffer tückisch heraus .
„ Richard ! Und das sagst Du mir ! “ Die Braut war glühend roth geworden .
„ Ich höre jeden Tag , wie reizend sie sind , da fällt einem so allerlei ein . “
„ Aber , Lieber Doktor , Sie haben Talent zur Eifersucht ? Sie ? Ein Philosoph ? Ein Gelehrter ? “ Mama lächelte ironisch .
„ Das muß mein lieber Peter sich abgewöhnen ! “ schmeichelte Toni . Sie setzte sich zu ihm . „ Sieh , wenn wir morgens ein bißchen Zerstreuung haben , das ist doch nett , nicht ? Weil Du nicht immer kannst . Jeden Tag wissen sie Neues , sehr amüsant . “
„ Das heißt , heute – das war nun die richtige Skandalgeschichte , “ begann Mama ; „ es ist wirklich kaum wiederzuerzählen . “
„ Was dieser reizende Herr Wagner Ihnen beiden erzählt hat ? “
„ Nein , die Frau fing davon an , “ riefen die Damen gleichzeitig .
„ Also etwas Unpassendes ? “
„ Furchtbar unpassend , aber wissen Sie , lieber Doktor , es betraf kein Mitglied unserer Gesellschaft , schon mehr so da unten , in der Bohême . “
„ Eine Geschichte mit einer Malerin , “ murmelte Toni verschämt .
„ Oho , hier in München gehören die Maler sicher zur Gesellschaft , aber sehr , mein Schatz ! “
„ Ja , Sie denken an Lenbach oder so , aber nein , dies war nur eine ganz arme , ganz untergeordnete , stark emanzipirt natürlich – “
„ Schon ’n bißchen mehr als das ! “ lachte Toni .
„ Na , was hat sie denn angestellt , so erzählt doch . “
„ Ach – sie – Frau Wagners Tante war nämlich hier wo auf dem Lande , in einem Nest , und da war die auch – eine alleinstehende Person – malte da die Leute um ein billiges Honorar – sie war , wie gesagt , ganz untergeordnet – und die Baronin – ich weiß nicht , wie sie noch heißt – hatte ihr aus Gnade und Barmherzigkeit freie Wohnung gegeben , wirklich nur aus Gefälligkeit gegen ein paar Bekannte , die sich da malen lassen wollten . Aber man kann in solcher Lage nie vorsichtig genug sein , nie , nie , nie ! “
„ Hat sie das Haus angezündet , oder der Baronin einen zu großen Mund gemalt ? Auf etwas Fürchterliches darf man gefaßt sein . “ Richard hatte einen seltsam gespannten Ausdruck im Gesicht , etwas Feindseliges , Widerwilliges .
„ Nein , nein , sie hatte ganz plötzlich Herrenbesuch , und zwar zu einer Zeit – “
„ Bitte ! “ rief er ungeduldig .
„ Nun , was ist da weiter zu berichten ? Am andern Morgen machte man ihr einfach den Standpunkt klar , sie mußte sofort abziehen – dergleichen konnte doch die Baronin unmöglich dulden ! Oder sind Sie vielleicht anderer Meinung , lieber Doktor ? “
„ Wissen Sie den Namen der – Sünderin ? “
„ So etwas wie Berg oder Berth , ein ganz unbekannter Name , beruhigen Sie sich ! Gott , es ist ja
nichts an der Geschichte , wenn man das so trocken weitergibt . “
„ Es kam doch auch noch ein Gedicht darin vor , das an einen Baum geklebt war , Du läßt immer das Beste aus , Mama . “ Toni amüsierte sich .
Hausdörffers Gesicht war hart zusammengezogen , er stützte den Kopf auf und klopfte mit dem Fuß auf den Boden , Mamas fragenden Blick bemerkte er gar nicht .
„ Fräulein Lore Berth ist übrigens keine unbekannte Größe , sondern eine viel versprechende Künstlerin , “ sagte er matt .
„ Na ja , vielversprechend nach mehr als einer Richtung , “ lachte Mama . „ Sie nennen sie hier nur die Vierkreuzergräfin , so hochmüthig ist sie . “
„ Das wird sich jetzt geben – Wagners sagen , nach dieser Geschichte sei sie ganz unter die Füße gekommen , die kriegt so bald keinen Auftrag wieder . “
„ Lieber Gott , um die Dummheit ? “ Hausdörffer sprang ungestüm vom Tische auf .
„ Ihr Männer habt doch eine laxe Moral ! “ bemerkt die Mama , „ Gott sei Dank , daß wir besser wissen , was sich schickt ! “
„ Ihre Schuld ist also fest erwiesen ? Ihr verdammt , ohne zu hören ? “
„ Du , Mama , Richard kennt sie gewiß , daß er so für sie Partei nimmt , “ fiel Toni ein .
Hausdörffer wandte sich gegen das junge Mädchen . „ Ja , ich kenne sie , und ich halte sie für eine ausgezeichnete Person . Ausgezeichnet und ungewöhnlich . Höchst wahrscheinlich ist ihr Unrecht geschehen . “ Er stockte , erröthete und wandte sich ab .
„ Ach , weil Du sie kennst ! “ rief Toni wegwerfend .
„ Wie sprichst Du mit mir ? “ entgegnete er mit sprühenden Augen .
„ Aber , lieber Doktor , Sie werden doch nicht mit Toni zanken um ganz wildfremder Leute wegen ? “ jammerte die Mama .
Sie standen jetzt alle drei , Richard senkte den Kopf und wich gegen die Thür zurück . „ Ich kann ehrlich nicht mehr , “ sagte er tonlos , „ ich kämpfe jeden Tag , ich habe seit acht Tagen keine Nacht mehr geschlafen . “
„ Was heißt das ? Was bedeutet dieser Ausdruck ? “ stammelte Mama in tiefer Verwunderung .
„ Wir reden – wir wollen morgen weiter sprechen – ich kann nicht mehr ! “ Mit einem bittenden Blick nach Toni , die regungslos in der Fensterecke stand , ergriff er seinen Hut und Stock und war mit einem Sprung draußen .
Drei Tage warteten Mama und Toni vergeblich auf sein Wiederkommen . Sie schrieben ihm , das heißt Mama schrieb ihm , Toni saß niedergeschlagen in den Ecken , weinte täglich einige Tropfen und wurde nur munter ,
wenn Wagners kamen . Keine der zwei Frauen hatte eine Ahnung , was dem Bräutigam fehle ; sie nannten ihn sonderbar , rücksichtslos , launenhaft , aber kein tieferer Grund ging ihnen auf .
Mama behauptete , er sei nichts als eifersüchtig . „ Das gibt sich , wenn ihr verheirathet seid . Wenn er nur endlich einmal eine feste Anstellung hätte ! Diese langen Verlobungen , das ist ein Elend , verdirbt die besten Menschen . Was hat er Dir denn eigentlich geantwortet neulich ? “
Da Mamas Brief ohne Erwiderung blieb , zog große Unruhe in die Gemüther der beiden .
„ Vielleicht ist er doch nur krank ! Könnten wir nicht den Hausknecht von unten fortschicken ? “ rieth die Mama . Aber Toni war für eine Depesche .
„ Rückantwort bezahlt , weißt Du. O Mama , ich habe Angst , daß etwas passirt ist ! Aber keine Krankheit . Ich weiß nicht , was ich denken soll , er war zu sonderbar das letzte Mal . “
Zwei Depeschen , und noch immer keine Antwort . Das wurde unerträglich , um so mehr , als man sich niemand mittheilen , niemand um Rath fragen konnte , sondern sorgfältig und ängstlich bedacht war , den Besuchern gegenüber heiter und unbefangen zu erscheinen , wie immer . Endlich , nach fast einer Woche , traf ein Brief ein , datiert aus Dachau , und an die Mutter gerichtet . Richard schrieb :
„ Verehrte Frau !
Mein Seelenzustand ist seit einigen Wochen ein derartiger , daß Sie Mitleid mit mir haben würden , wenn Sie in mich hineinsehen könnten . Ich fühlte es schon in den ersten Stunden des Wiedersehens , daß zwischen Toni und mir etwas zerrissen ist , das nie wieder angeknüpft werden kann . Ich fühlte , daß ich sie frei geben müsse , um uns beide vor einem traurigen Schicksal zu bewahren . Wollen Sie , können Sie mir verzeihen , daß ich so lange nicht den Muth fand , es zu sagen ? Ich bin hierher geflüchtet , um mit mir ins Reine zu kommen , ich glaube nicht , daß ich Sie und Ihre Tochter mit meinem heutigen Geständniß überraschen werde . Sie und ich , wir gehören zwei verschiedenen Welten an , das ist uns in diesen unglückseligen gezwungenen Wochen stündlich klarer geworden . Daß ich es trotzdem als schwere Schuld empfind , mein gegebenes Wort zurückzuziehen , daß ich Sie , verehrte Frau , inständig bitte , Toni von meinem mühsam errungenen Entschluß auf die schonendste Weise in Kenntniß zu setzen , wird vielleicht Ihren berechtigten Groll mildern gegen Ihren unglücklichen
Richard Hausdörffer , Dr. med . “
Toni sah ihrer Mutter vom Gesicht ab , was der Brief enthielt . Sie brach in verzweifeltes Schluchzen aus : „ Mama , Mama , sag es mir gleich ! Nicht wahr , er läßt mich sitzen ? O ! O ! O ! “
„ Und er irrt sich sehr , wenn er glaubt , wir ließen uns das so schlankweg gefallen ! Toni , mein armes , süßes Kind , verdirb Dir die Augen nicht , ich zieh’ mich an und gehe sofort zum Advokaten ! “
Aber dann erschienen die Wagners und plauderten viel , und als sie gingen , hielt Mama ein Papierblatt in der Hand , daß sie der Kuriosität wegen mitgebracht hatten , und neben sich hatte sie Richards Brief gelegt und blickte prüfend hinüber , herüber . Ein verständnißvolles Aufleuchten , ein ironisches Mundwinkelzucken , ein optimistisches Lächeln , das war das Resultat . Toni lag derweil mit einem nassen Stirnumschlag auf dem Bette im Alkoven . Sie seufzte , als sie der Mutter Schritt auf der Schwelle hörte .
„ Seufze nicht , Toni , und vor allen Dingen weine nicht mehr ! Wer gibt Dir nachher etwas dafür ? Ich glaube – nein , nicht aufrichten ! – ich habe dieses Räthsels Lösung entdeckt , und es wird doch alles gut werden ! “ So entschlossen und zuversichtlich !
„ Ein Räthsel ? Höchstens , daß er noch bis zum letzten Tage so nett mit mir war , sonst wüßt ’ ich keins ! Ja , Mama , den letzten Nachmittag sagte er noch , er wäre mein treuer Verlobter und Gatte ! “ Ein lauter Thränenausbruch .
„ Siehst Du ! siehst Du ! das stimmt vollständig mit meiner Entdeckung ! “ triumphirte Mama . „ Kind , ich habe morgen einen schweren Gang vor , aber ich hoffe – “
„ Du willst doch nicht nach Dachau , Mama ? “
„ Ja , Toni , ich fahre nach Dachau , Du solltest es nicht wissen , aber es ist schon so , hab nur guten Muth ! Willst Du nichts zu Nacht essen ? “
Toni erklärte , daß sie unter diesen Umständen aufstehen könne . Sie saß dann in einem bänderbesetzten zierlichen Schlafrock mit dem Tuch um die Stirn in einem tiefen Lehnstuhl , wurde mit Bouillon und Pastetchen gepflegt und knabberte Bonbons bis Mitternacht .
„ Wenn der dumme überspannte Mensch Dich nur so sähe , er würde etwas andres thun , als so schnell von Aufgeben sprechen ! Der kann lange suchen , bis er etwas so Reizendes wiederfindet , “ nickte Mama .
Toni glänzte sie an , ihre Augen und Backen waren etwas fieberhaft heute Abend , sie sah wirklich ungewöhnlich reizend aus .
Ein schwarzes Spitzenkleid schien Mama das einzig Richtige für eine solche Expedition , und so fuhr sie denn in ihrem schwarzen Spitzenkleide und kokett ernsthaftem schwarzen Hütchen nach Dachau , um dem „ lieben Doktor “ den Kopf zurechtzusetzen . Da er seine Wohnung nicht weiter bezeichnet hatte , war die Sucherei mühselig , und das dörfliche Wirthshaus , in das sie endlich gewiesen wurde , flößte ihr geradezu Abscheu ein . Ein dunkler , dumpf riechender Gang , an dessen Ende eine Thür – das sollte Hausdörffers Wohnung
sein . Auf ihre Bitte , sie anzumelden , hatte man ihr gemächlich bedeutet , nur selber anzuklopfen , der Herr sei vor einer Stunde heimgekommen . Sie pochte zwei- , dreimal , zaghaft , mit schalldämpfendem Handschuh .
„ Was ist da los ? “ rief es plötzlich drinnen , und ein Stuhl fiel um .
Das war ein Empfang ! Die stattliche Dame prallte einige Schritte zurück , dann rückte sie wieder heran . Sie hatte in der burschikosen Anrede deutlich Richards Stimme erkannt . „ Könnte ich Sie nicht einen Augenblick sprechen , lieber Doktor ? “ sagte sie laut und süß . Himmel , da lachte es hinter der Thür ! Der Unmensch konnte lachen , während Toni den ganzen Tag über ihr zerstörtes Leben jammerte .
„ O je , nein , jetzt nicht ! “ schrie Hausdörffer , als sie noch einmal , und nun mit der Sonnenschirmkrücke , klopfte , „ machen Sie mich nicht unglücklich – ich komme sofort hinunter , das heißt – “ Neues Lachen .
Zornig und ganz aus der Fassung stieg die Besucherin die knarrenden drei Stiegen hinab , um unten zu warten . Aber wo unten ? In dem qualmigen Schenkzimmer unter den biertrinkenden Bauern ? Oder auf dem Hof , wo die Hühner im Dunghaufen pickten und der Hund an der Kette knurrend gegen sie fuhr ? Sie stellte sich zuletzt an die Kegelbahn und sah gedankenlos die Kugeln rollen , hörte das Poltern an den losen Planken , und dachte , daß er vielleicht nicht so unrecht
habe mit den zwei Welten : eine solche Geschmacklosigkeit , hierher zu ziehen ! Äußerst verwirrt sah er aus , als er endlich erschien , mit Backen , die vor Verlegenheit brannten , und wild um den Kopf stehendem Haar . Wahrhaftig , er paßte in diese Umgebung . Wie ein verhungerter Dorfschulmeister !
„ Aber , lieber Doktor ! “ begann Mama vorwurfsvoll . Nun war sein Gesicht ernst genug , er begrüßte sie stumm und bat mit einer Handbewegung : „ Gehen wir vielleicht der Landstraße nach ? “ Sie gingen .
„ Aber , lieber Doktor , ich begreife Sie nicht ! Was ist das für eine Marotte ? “
Er murmelte , es sei sehr gut so , er kenne Dachau in- und auswendig , da oben in seiner Mansarde sei es ruhig und billig .
„ Und lustig scheint es auch herzugehen , nach Ihrem Lachen zu schließen . “
Nun glitt ein Zwinkern um seine Lippen .
„ Wenn Sie ’s denn wissen wollen – ich lag gerade im Bett , als Sie klopften , hatte mich todtmüde gelaufen . “
„ Ach so ! “ und dann , in mütterlich besorgtem Ton : „ Wie haben wir uns um Sie geängstigt ! Was für Geschichten machen Sie uns ! “
„ So haben Sie meinen Brief nicht bekommen ? “ stotterte er mit neidischen Blicken nach den Spatzen , die so gute Flügel hatten , und so tapfer Gebrauch davon machten .
„ Ach , der Brief – an den glaub’ ich nicht mehr . “ Mama suchte ihm ins Gesicht zu sehen , überlegen , ohne Wimperzucken . „ Gestehen Sie nur , daß Sie plötzlich den Muth verloren hatten ! “ drängte sie .
„ Nun ja den Muth verloren , das ist es ja , “ machte er kläglich .
Vor ihnen lag eine große Pfütze von dem gestrigen Landregen ; Mama ergriff mit energischer Gebärde Richards Arm und hing sich daran . „ Lieber Doktor , das geht nun wirklich über meine Kräfte , ich habe keine Nagelschuhe an , gibt es denn keinen trockenen Fleck in diesem ganzen öden Moordorf ? “
Hausdörffer bedeutet ihr , daß es droben am Schloß besser werde . „ Auf meine Bude kann ich Sie leider nicht einladen , und in den Wirthschaftsgärten wären wir nicht ungestört . “
Resignirt setzte Mama einen Fuß um den andern in den grundlosen , von Geleisen durchschnittenen Weg . Der Mann an ihrer Seite , so nah , sie brauchte ihn nur festzuhalten , um ihn ihrem Kinde wieder zuzuführen ! Sie war nicht gewillt , allein nach München zurückzukehren ; er machte auch ein so verschüchtertes Gesicht , als wisse er genau , was sie vorhabe .
„ Ich bin gekommen , um mich persönlich mit Ihnen auszusprechen , lieber Doktor , “ begann sie in leichtem Ton , „ Briefe sind mir überhaupt odios , und von Mund
zu Mund wird man viel eher fertig . Also , um den Anfang zu machen : ich weiß alles ! “
Sie blieb stehen und nöthigte auch ihn zum Anhalten . Mit hohen Augenbrauen sah Hausdörffer auf sie nieder . „ Ich bedauere , Sie nicht zu verstehen , gnädige Frau . “
Mama griff mit nervöser Handbewegung nach dem eleganten Juchtentäschchen , das sie am Mittelfinger baumeln hatte , und zog ein Blatt Papier heraus . „ Mein lieber Doktor , ehe wir weiter sprechen , der Zufall hat mir ein Blättchen zugespielt , sehen Sie’s einmal an , nicht wahr , das ist doch Ihre Handschrift ? “
„ Wie kommen Sie dazu ? “ rief Richard unbedacht und heftig erschreckend .
Es waren die Reime von jenem Morgen in Gauting . Ohne Umstände entriß ihm die Dame das Papier , um es wieder in der Tasche zu bergen . Dann streckte sie ihm mit einer großen liebevollen Gebärde die Hand hin : „ Und darum ? “ sagte sie schmelzend , vorwurfsvoll ; „ o , mein lieber junger Freund , besser wäre es zwar gewesen , wenn die Geschichte nicht ans Tageslicht gekommen wäre , dergleichen Geschichten sollen niemals an die Öffentlichkeit gelangen , denken Sie an Tonis zarte Mädchenohren ! Aber eine solche Verirrung ist noch kein Grund , an seiner Zukunft zu verzweifeln und auf ein Glück zu verzichten , dessen Sie trotzdem – mein mütterlicher Instinkt täuscht mich da nicht – trotzdem noch heute würdiger sind als viele andre . “
„ Aber was – was trauen Sie mir denn zu ? “ rief er mit halberstickter Stimme .
Ein strafender Blick fuhr über ihn hin . „ Zwingen Sie mich , Ihnen die Geschichte noch einmal zu wiederholen ? Das ginge doch wohl zu weit . Aber diese Liaison ist jetzt endgültig abgebrochen , nicht wahr ? Das darf ich doch von Ihrer Ehrenhaftigkeit erwarten , hoffe ich ! Ich lege kein zu starkes Gewicht auf diese Dinge , “ flüsterte sie dann , und ihre Miene ward mild und nachsichtig , „ wenn man selbst verheirathet gewesen ist , und – ach , du mein Gott , man weiß es ja leider , wieviel leichtfertige Frauenzimmer es gibt , und wie die Verführung in jeder Gestalt an so einen jungen Mann herantritt . “
Hausdörffer erinnerte sich blitzartig schnell , daß auch er zuweilen geprahlt , man könne sich der Weiber kaum erwehren , in diesem Augenblicke gab er der Wahrheit die Ehre , ein ungeheurer Ekel packte ihn . „ Und Sie kommen zu mir , zu mir , von dem Sie in diese Weise denken , “ zischte er , „ um mir Ihre Tochter von neuem anzutragen ? Ist das nicht über alle Begriffe ? “
Er wollte noch mehr sagen , aber er sah die Frau blaß werden und zittern , und er bezwang sich .
„ Ich habe es für Toni gethan ; was thut eine Mutter nicht für ihr Kind , “ flüsterte sie mit einem Blick der Furcht und des Hasses . „ Das Mädchen
geht mir zu Grunde , sie ist um ihre schönsten Lebensjahre – “ , nun kamen die Tropfen , sparsam und brennend , und diesmal echt . „ Was wissen Sie von den Gefühlen einer Mutter ! Wir haben kein Vermögen , wie Sie wissen , die Pension reicht jämmerlich für uns beide . Ich glaube , daß es nur übertriebenes Pflichtgefühl ist , was Sie zu dem Brief an Toni veranlaßt hat . Sie konnten es nicht ertragen , daß Ihre Braut von der Liaison mit der Malerin erfuhr – mein Gott , es war ja auch ungeschickt – “
Richard lachte wüthend und gell . „ Aber es ist ja kein Liaison da ! Seid Ihr denn alle verrückt ? Aber das ist ja , um selber toll zu werden ! “
Die Frau maß ihn verächtlich von oben bis unten . „ Ja , wenn Sie so anfangen , wenn Sie leugnen – “
„ Hören Sie , “ rief Hausdörffer und packte ihren Arm , den sie angstvoll zurückzog , „ man hat Sie belogen , ich könnte Ihnen eine Geschichte erzählen , so harmlos , so unschuldig , aber Sie sind nicht die Dame , um harmlose , unschuldige Geschichten zu glauben ! Nein , es nutzt nichts “ rief er heftig , „ und darum zur Hauptsache . Toni ist frei , weil wir nicht zueinander passen . Ich kann sie nicht heirathen , weil ich sie nicht liebe , und weiter hatte ich keinen Grund . Die Unentschlossenheit hat mich fast krank gemacht . Wenn das so fortgeht , geb’ ich mich in eine Nervenheilanstalt – “
Mama faßte sich an die Stirn , eine große Ermüdung
hatte sich über ihre Züge gebreitet . „ Vor einer Woche sprachen Sie noch von Ihrer unverbrüchlichen Treue – “ Sie schlug die Hände zusammen . „ Gott im Himmel , wird denn solche Perfidie auch an geschützten jungen Mädchen verübt ? Ach , wenn mein Mann noch lebte ! “
Hausdörffer ließ nun auch den Kopf hängen . „ Und mit mir haben Sie kein Mitleid ? Bin ich nicht auch enttäuscht ? Ja , wenn ich ein leichtsinniger Mensch wäre ! Aber sehen Sie , grade dann würde ich Toni unbekümmert heirathen , obgleich sie mich nicht liebt – “
„ Toni , die bereit ist Ihnen ihr junges Leben zu widmen ! “ fiel Mama grollend ein .
„ Und die nicht einen Funken Vertrauen zu mir hat ! Ich bin ihr wie der erste Mensch von der Straße , irgend ein Mordbrenner ! Dabei zufällig ihr Bräutigam ! Nein – thun Sie mit mir , was Sie wollen , jetzt kann ich ’s nicht ! “
„ Vertrauen ! Und verdienten Sie es denn , Herr ! “ schrie die Mutter , „ liefern Sie mir nicht den Beweis , daß ich recht that , mein Kind noch immer zu warnen ? Zwei schöne gestohlene Jahre ? “ Sie verstummte . „ Gut ! “ sagte sie plötzlich eiskalt , „ die Sache ist erledigt . Ich kann mich nicht weiter wegwerfen . Das übrige wird mein Sachwalter mit Ihnen auszumachen haben , Sie sollen nicht zu leichten Kaufs davon kommen . “
Sie hatte hochrothe Flecke auf den Backen , und
ihre Hand zitterte , als sie sich ohne Abschied von seinem Arm losmachte und umkehrte . Sie war schon einige Schritte fort , als Hausdörffer ihr nacheilte – , er war zuerst mechanisch gradeaus gegangen . Stumm schritten sie nebeneinander durch das Dorf zur Bahn . Es hielt gerade ein Zug , bereit abzufahren .
„ Daß Sie so in bitterem Groll von mir gehen – “ begann Richard .
Die Frau blickte ihn nicht mehr an , hörte nicht mehr zu . „ Adieu ! “ machte sie heftig über die Schulter weg , stieg ein und war verschwunden . Der Zug hielt noch ein paar Minuten , und Hausdörffer , unschlüssig und mit bleicher Armsündermiene , stand sogar noch da , als er abgefahren war und den kleinen Bahnhof in Qualm und widrigem Steinkohlenrauch zurückgelassen hatte . Darauf ging er in seine Mansarde und legte sich für vierundzwanzig Stunden ins Bett , nach seiner Meinung das einzige Mittel , um über widersprechende Empfindungen Herr zu werden und Bitternisse zu vergessen . Aber so bitter wie heute war ihm noch nie zu Sinn gewesen . Er wollte die Glieder recken und rufen : „ Frei ! Frei ! wieder mein eigen ! “ aber das Wort erstarb ihm auf der Zunge , und ein lähmendes Verbrecherbewußtsein trat ein an die Stelle des Freiheitsgefühls . Lauter Leute , die nun so schlimm wie möglich von ihm dachten , ihn verachteten , ihn verfolgen und bedrohen wollten ! Dazu die arme kleine hirnlose Puppe in
Thränen und Verzweiflung ! Wenn ein erwachsener Mensch mit tragfähigen Schultern leidet , nun , das ist einmal das Leben , dafür ist er auf der Welt . Aber solch eine arme Eintagsfliege , widerstandslos und zerbrechlich , die goldig schillernden Häutchen zerfetzt , der Glanz abgestreift , die zarten Flügel verbogen und zerknickt , und all’ das durch ihn – schändlich ! Als ob er eine Vivisektion vorgenommen hätte , und die Mutter des unglücklichen weißen Kaninchens schriee ihm plötzlich mit menschlicher Stimme in die Ohren : „ Was hast du meiner Einzigen angethan ! “
Schlaf und Appetit nahm ihm die Vorstellung , zwischendurch huschten auch Bilder mit Lore Berth im Mittelpunkt . Noch eine gekränkte , mißhandelte , falschen Gerüchten ausgesetzte Frau und abermals durch ihn ! Wenn man ’s recht besah , konnte man sich etwas einbilden auf seine Macht . Bah , die Malerin , das war ein tüchtiger Kerl , die würde sich schon durcharbeiten , an die verschwendete er kein Mitleid ; die besaß sie ja , die starken , tragfähigen Schultern . Aber einmal besuchen – jawohl ! Sie hatte vielleicht ein vernünftiges , tröstliches Wort für ihn in Bereitschaft . Er wünschte sich Freunde jetzt , und wenn er sich’s überlegte , sie waren damals an dem verhängnißvollen Abend doch merkwürdig rasch ins Gespräch gekommen , in ein tieferes , inhaltreiches . Eigentlich hatten sie gestritten , aber doch war so eine Art Freimauerei zwischen ihnen gewesen ,
etwas , das zwischen ihm und Toni nie bestanden hatte . Und langsam begann ihm eine Ahnung zu dämmern , ob nicht vielleicht Toni ihn nur deshalb so sehr enttäuscht , weil er sie zufällig nach dieser Begegnung wiedergesehen und unbewußt immer an der Malerin gemessen hatte . Allmählich fing er an , sich in der Phantasie mit Lore Berth zu beschäftigen .
An einem trüben Septembertage – es war schon längst kühl und regnerisch geworden – kehrte Hausdörffer nach München und in sein altes Logis beim Herrn Strohmeier zurück . Die akademischen Ferien gingen in vierzehn Tagen zu Ende , das Geld war verbraucht , die wissenschaftliche Arbeit bereits im Druck erschienen , – keine Veranlassung war vorhanden , in diesen Nebeltagen länger in Moor und Heide zu sitzen . Eine Sehnsucht nach Gaslicht , nach Musik , nach dem Lärm und Gedränge des Viktualienmarkts , nach seinem Laboratorium und nach einer freundlichen Ansprache hatte ihn ergriffen . So überwand er seine Furcht , Toni oder die Mama irgendwo in der Stadt anzutreffen , und fühlte sich sehr erleichtert , als er seinen Koffer wieder ausräumte . Er hatte für das Wintersemester zwei Vorlesungen angekündigt und lief jeden Tag auf die Universitätskanzlei , um zu sehen , ob der Anmeldebogen schon einige Namen mehr zeige . Die Maximilianstraße vermied er ängstlich , wie er als Student die Straßen vermieden hatte , in denen Gläubiger von
ihm wohnten . Auch dort wohnte ja ein Gläubiger – vorausgesetzt , daß die Damen noch nicht nach Karlsruhe zurückgekehrt waren . Er führte eine ganz unterirdische Existenz , um ihnen nicht zu begegnen ; schließlich , nachdem er tagelang mit Niemand gesprochen , als mit seinen wackeren Strohmeiersleuten , begab er sich auf die Suche nach der Malerin . Eine Adresse hatte er nicht , aber dies Hineingucken in allerlei Wohnungen , in allerlei Ateliers hatte auch seinen Reiz , da er sich gerade so sehr vereinsamt fühlte . Er redete sich ein , er mache psychologische Studien , wenn er sich in irgend einer Miethskaserne von irgend einem leidlich hübschen Fabrikmädchen die Chronik des Hauses und seiner Insassen deuten ließ , wenn er aus eigener Anschauung beurtheilen lernte , wie das Mittagessen im fünften Stock zusammengesetzt war , – dazu wunderte er sich auf Schritt und Tritt über die Summe von Lebensmuth , gutem Willen und gutem Humor in jenen Schichten , wo er nach den Büchern , die er gelesen , nur Bitterkeit oder stumpfe Verzweifelung zu erwarten geglaubt . Er erhielt mehr als eine Lektion .
Und endlich fand er auch Lore Berth in einem Mansardenatelier in der Theresienstraße , Hinterhaus . Ihre Karte war mit zwei Haftnägeln an der Thüre befestigt . Der Hund bellte , ein gleichgültiges „ Herein “ ertönte , und zögernd trat er in den bunten , winkligen , oberlichterhellten Raum , – es war ihm mit einem
Schlage wieder alles gegenwärtig , was man über ihn und sie ausgesprengt .
Die Malerin streckte den Kopf hinter der Staffelei hervor und rief verwundert seinen Namen .
„ Ah ! Aber die Hand kann ich Ihnen nicht geben , die sieht aus wie gewöhnlich . “
Sie hielt die grün und blau betupften Fingerspitzen in die Höhe und lächelte flüchtig , während sie auf einen Sitz wies . Hausdörffer fand sie so blaß , so dürftig in Kleidung und Gestalt , mit so mühsamem Lächeln , so freudlosem Ausdruck auf den scharf gewordenen Zügen , in den tiefliegenden Augen , daß er die alltägliche Frage nach ihrem Befinden mit Antheil im Ton und einem sorglichen Blick vorbrachte .
„ Danke ! wie geht es Ihnen ? “
Sie wehrte also ab , freundlich , aber entschieden ; die hat viel durchzumachen gehabt , dachte Hausdörffer .
„ Sie malen jetzt Blumen ? “
Auf einem Bauerntischchen stand ein feingestimmter Strauß langwimpriger Chrysanthemen , ein Nachmittagssonnenstrahl streifte daran hin , es gab eine besonders interessante Wirkung . Lore Berth hatte die Augen auf ihre Malpappe gerichtet .
„ Was zu haben ist . Und es reizte mich , wirklich . Ueberdies , wenn die Menschen verrückt werden – “
Sie ging an die Waschschüssel in der Ecke , um dort in aller Unbefangenheit ihre Finger zu säubern . Die
Dachbalken hingen so tief , daß sie den Kopf bücken mußte . In dieser Haltung mit den vorgestreckten Händen schien ihm etwas traurig Resignirtes zu liegen . ‚ Wenn es nur keine Auseinandersetzung gibt ! Macht sie mir Vorwürfe , so lauf’ ich fort‘ , sagte er sich . Er war seit dem Erlebniß mit Toni’s Mutter ganz empfindlich und scheu geworden . Hastig wandte er alle Aufmerksamkeit auf die Bilder und Skizzen an den Wänden .
„ Viel Neues hinzugekommen ? “
„ Nicht eben viel . Das Stillleben da hab’ ich ausgeführt und verkauft . “
Er blickte sie rasch an , sie sprach das Wort „ verkauft “ mit einer so lebhaften Betonung .
„ Und da ist das Beste , was ich diesen Sommer gemacht habe . “
Sie zeigte nach einer Oelskizze ; es war das verlorene Profil und der volle feste Nacken eines rothhaarigen Mädchens , es schien geradezu weißes Licht von dem frischen Fleisch auszugehen .
„ Schade , daß es nicht fertig ist . “ Hausdörffer war ganz gepackt .
Die Malerin zuckte die Achseln . „ Darum ging ich überhaupt nach diesem dummen Gauting , “ sagte sie zornig , „ das heißt , das war mein künstlerischer Antrieb . Ein sehr schönes Modell , – sie war unser Zimmermädchen dort , ich sah ihr einmal zu , wie sie sich bei offenem Fenster wusch . “
„ Und danach haben Sie die Studie gemalt ? “ rief er bewundernd .
Lore Berth lachte etwas geringschätzig .
„ B’ hüt is ! Danach hat sie mir viermal gesessen . Na , die Baronin – “
„ Ja , was sagte wohl die dazu ? “
„ O , die sagte unter Anderm allerlei , aber es ging dann in einem hin , wissen Sie . “
„ Ich glaube , Sie haben dort ganz scheußlich gelitten , “ sagte Richard mit einem verzweifelten Entschluß , „ und sehen Sie , Fräulein , wesentlich darum bin ich heute zu Ihnen gekommen . Es lag mir schwer auf der Seele , seit ich gehört habe – “
„ Was haben Sie gehört ? “
Ihre Augen bekamen einen zornigen Glanz , die bleichen Nacken erglühten .
„ Wenn Sie mir wenigstens nicht grollen möchten ! “ bat er herzlich mit gesenktem Kopf .
„ Ihnen ? Ach nein ! Nur – die Verse hätten Sie damals weglassen können , das war dumm . “
„ Ach ja , unmenschlich dumm ! Aber wer konnte ahnen – und ich war so frappirt von dem Begegniß . So etwas war ja noch nie dagewesen . “
„ So , jetzt kann ich Ihnen auch eine Hand geben , “ machte sie erröthend , „ ich war Ihnen zwar sehr böse , als wir uns damals trennten , – Sie waren nicht recht ehrlich zu Werk gegangen , mit richtigen Advokatenkniffen ,
ich kann auch so herum , “ – sie drehte blitzgeschwind die Daumen umeinander – „ das mag ich nicht . – Wollen Sie Thee haben ? Mich dünkt , es ist Theewetter ! Einen Augenblick . “
Sie verschwand in einem Nebenraum ; er hörte durch die dünnen Bretterwände ein Blech- und Tassenklappern . Als sie die Spiritusmaschine herausbrachte , trat er ihr hülfreich entgegen , um ihr etwas abstellen zu helfen .
„ Bei Ihnen ist man immer gleich zu Haus , “ sagte er fröhlich , „ aber lassen Sie mich helfen ! Ich bin Chemiker , soll ich die Milch verwellen , wie man hier sagt ? “
Lore belehrte ihn , daß man erstlich zum Thee keine verwellte Milch brauchen könne , und daß zweitens überhaupt keine Milch vorhanden sei . Dennoch gab es ein ganz behagliches Theetrinken mit Brod und Butter und einigem Zwieback . Der kleine eiserne Ofen , von Hausdörffer sündlich überheizt , fing an , eine singende Hitze auszuspeien , und als die Malerin dann eines der großen Dachlukenfenster öffnete , flogen ihnen ein paar zierliche Schneeflocken in die Tassen , schöne sechseckige Sternchen , um die es nur schade war , daß sie in der Wärme so schnell zergingen .
„ Werden Sie auch den Winter hier hausen ? “ fragte Richard etwas ängstlich .
„ Ja , “ sagte sie , den Nolz streichelnd , der sein
schwarzes Köpfchen zärtlich an ihr Knie drückte , „ ich will’s probiren . Jetzt , wo ich ganz allein bin , genügt mir ’s schon . “
„ Ist die Gretel nicht zu Ihnen zurückgekehrt ? “
Ein Lächeln spielte um ihre Lippen .
„ Wir müssen uns diesen Winter einschränken , nicht war , mein Nolz ? “
Das Thierchen erhob die Ohrspitzchen und bewegte den Schwanzbüschel .
„ Was ist denn das , die sonderbare netzartige Zeichnung dort ? “ begann der Gelehrte nach einer etwas beklommenen Pause . Er hob ein Blatt auf , das zum größten Theil mit einem Gekräusel bedeckt war aus Tintenstrichen , bald dick , bald dünn , wie die Feder sie hergegeben hatte .
„ Ach , lassen Sie . “ Sie wollte ihm das Blatt aus den Händen ziehen , sie war roth geworden . „ Nur so eine Dummheit ! “
„ Ich kenne nichts heraus , “ bemerkte er verwundert , „ oder sind es – sind es nicht Fragezeichen ? “
Sie nickte und schob den langen Zettel beiseite . „ Man hat doch stets so allerlei zu fragen . “
„ Wen ? “
„ Nun – Und wie ist es Ihnen ergangen ? “ begann sie unvermittelt .
„ O , eigentlich mordschlecht . Wir waren da Kameraden . “ Ihre Blicke trafen sich einen kurzen Moment .
„ Hat man Sie auch beschimpft ? “ sagte sie mit zuckendem Munde .
„ Mich ? Beschimpft ? O , scheußlich ! Ich laufe eigentlich noch herum wie ein begossener Pudel ! Es gab Augenblicke , wo ich mir vorkam wie im Tollhaus “
„ Wie ich , “ machte die Malerin .
„ Die Menschen sind doch gemein , wie ? “ drängte er , „ und sehen Sie , das waren noch Leute , die mich besser kennen sollten . Meine Schwiegermutter – “
„ So ? Sind Sie verheirathet ? “
„ War ! Und nur verlobt , glücklicherweise ! So , hatt’ ich Ihnen das nicht erzählt damals ? Es muß ein gesunder Instinkt gewesen sein , denn die Geschichte war ein totaler Mißgriff . Hören Sie nur ! “ Und er rückte heran und erzählte von Tonis Schönheit und Hohlköpfigkeit so kühl , so ganz unbetheiligt , daß er sich selber darob verwundern mußte . Auch die Malerin blickte ihn ein paar Mal fast erschrocken an . Von der Rolle , die seine harmlosen Reime bei der Auflösung der Verlobung gespielt , wollte er auch noch reden , aber da kam ihm plötzlich so allerlei Andres in den Sinn , daß er es für sich behielt . Er deutete nur Mamas Versuche , ihn zu halten , an .
„ For shame ! “ rief Lore Berth und sprang empört von ihrem Stuhl auf .
„ Ja , ja , und glaubte doch , daß ich ihre Tochter belogen und betrogen hätte . “
„ Erzählen Sie mir das nicht ! So etwas kann ich nicht hören . “ Ihre heftigen Handbewegungen schienen einen unsichtbaren Gegner in den Abgrund zu schleudern . Nolz bellte voll Sympathie mit seiner Herrin gegen die verurtheilte Stelle dort unter den Dachsparren . „ Auf alle Fälle wünsch’ ich Ihnen Glück ! “ sagte sie , noch ganz erhitzt und ernsthaft .
Sie drückten sich die Hand , fest , brüderlich ; zögernd ließ er ihre Finger wieder fahren .
„ Ich mache mir doch noch Gewissensbisse . Das heißt , “ fuhr er fort , „ nicht Ihretwegen , Fräulein , Sie werden schon mit dem Leben fertig , nicht wahr ? Ich habe ordentlich eine Genugthuung an Ihrer Kraft . “
Sie antwortete nichts , er glaubte fast einen schwachen Seufzer zu hören ; aber es mußte doch Täuschung gewesen sein . Wie paßte das ihr zu ihr !
„ Darf ich wiederkommen ? “
„ So oft Sie wollen . “
„ Aber nächstes Mal muß ich auch meine Künste zeigen , ja ? Dann kochen wir Kaffee , und ich verwelle die Milch ! “
„ Und wenn ich keins von beiden habe , so biete ich Ihnen ein Glas Wasser an , “ sagte sie lächelnd .
Sollte sie so – schoß es ihm durch den Kopf , aber nein , sie lächelt ja ! Ein Mensch , der in Noth ist , wird doch nicht lächeln .
„ Von Ihnen nehm ich Alles ! “ und übermüthig sprang er die steile Treppe hinab .
Das nächste Mal , als ihn Nolz mit Gebell anmeldete , fand er Besuch bei der Malerin , ein phantastisch und schäbig zugleich angezogenes Dämchen , das ihm Lore mit schelmischem Gesicht als „ Fräulein Phine “ vorstellte . Sie gab keinen Ton von sich , außer einigem ängstlichen Gekicher , und Hausdörffer bemerkte eine kleine Sammlung bemalter Porzellanteller , die sie gebracht hatte , und die ihn bedenklich an Tonis Versuche erinnerten . Um so mehr fiel es ihm auf , wie nachsichtig die sonst so kurz angebundene Malerin diese Pinseleien beurtheilte . Sie sprach mit Fräulein Phine wie mit einem zehnjährigen Kinde und gab ihr die schönsten Anweisungen . Als Lore ins Nebengemach geschlüpft war , wendete Phine ihre schwimmenden Aeuglein Richard zu und sagte mit gerührter Stimme : „ Fräulein Berth ist reizend , nicht ? “
Er hatte noch nie eine so abgeschmackte Person gesehen , und als sie abging , gab er seiner Freude darüber mit einigen launigen Worten Ausdruck .
Lore schalte ihn sogleich : „ Ein gutes dummes Ding ! “ sagte sie . „ Eine arme Person , durch und durch hysterisch , von ihrer Mutter gedrückt , niedergehalten , als Baby behandelt , bis sie für Alles unbrauchbar geworden ist . Seit sie nun mich kennt , will sie durchaus auch malen und denkt nur noch an
Porzellanteller ! Nein , lachen Sie nicht , es ist schon ein Fortschritt , früher dachte sie an gar nichts ! Und dann dieser Heroismus , jede Woche zu mir laufen , ohne Wissen der Mutter Baronin , – das muß auch angeschlagen werden ! “
„ Sie liebt Sie schwärmerisch , “ meinte Richard ironisch .
Lore schüttelte den Kopf . „ Sie sind ein schlechter Mensch , denken Sie sich doch einmal hinein in solch eine vergitterte , enge , arme Seele ! Das ist doch nichts zu verspotten ? “
„ Ich kann es einfach nicht , Fräulein , “ er sah sie mit schalkhaft leuchtenden Augen an , „ und ich bin doch sehr vergnügt , daß sie weg ist ! “
„ Aber Kaffee gibt ’s nicht , “ – eine leichte Befangenheit machte sie stocken – „ nehmen Sie mit meinem Thee ohne Milch vorlieb , nicht einmal Zwieback kann ich Ihnen heut anbieten . “ Es klang ein bißchen betrübt . Er wollte sie trösten , aber das gab nun erst recht eine verlegene Rederei .
„ Ach , “ sagte sie , den Kopf zurückwerfend , „ was drücken wir uns da um diese einfache Thatsache herum . Sie wissen’s ja schon , daß ich arm bin , es ist nicht das erste Mal , daß mir ein erwartetes Honorar ausbleibt , und daß ich mein Brod ohne Butter esse ! “
Hausdörffer starrte sie entsetzt an . „ So von der Hand in den Mund ? “ stammelte er .
„ Ja ! Regen Sie sich nicht auf , ich bin das gewöhnt ; ich hab’ das mit offenen Augen auf mich genommen , als ich Malerin wurde . “
„ Aber das ist ja schrecklich , Fräulein ! “
„ Warum schrecklich ? Ich weiß ja nicht , ob ich morgen lebe , weshalb muß ich ’s denn ganz genau wissen , daß ich morgen esse ? “ Ein kühner stolzer Ausdruck verschönte ihr Gesicht . „ Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben , der täglich sie erobern muß . “
Sein Blick glitt über ihr blasses Gesicht , über die dünnen Kleider , über dies malerische , aber winddurchpfiffene Gelaß unterm Dach , und Theilnahme , dazu Besorgniß , sie zu beleidigen , schlossen ihm den Mund .
„ Es kommt wieder besser , “ sagte sie , als müsse sie ihn ermuthigen , „ im Ganzen hab’ ich nie besonders Pech gehabt . Nur in diesem Gauting “ – sie stampfte mit dem Fuß auf – „ und ich hatte so schöne Pläne für den Winter , der nun recht dürr und kümmerlich vor mir liegt . “
„ Schöne Pläne ? “
„ Sehen Sie , ich hab’ eine Schwester in England , die ist Lehrerin da , sehnt sich aber seit Jahr und Tag hierher zurück , – wir wollten zusammen leben , ich hätte Jemand gehabt , der sich mit mir freut , wenn mir etwas gelingt , oder wenn ich etwas verkaufe . Es ist so langweilig , sie immer dort , ich hier allein – “
„ Ja , ja ! Gewiß . “
„ Und es ließ sich verlockend an . Fünf Aufträge in Sicht . Fünf Porträts in dem Gautinger Kreis . Eins scheußlicher als das Andere freilich , aber dafür hatte ich doch das Extravergnügen an der schönen Vroni , dem Zimmermädel . Und dann diese Enttäuschung ! Meiner armen Clothe abschreiben müssen , – und wir zählten schon die Tage ! So arg ist mir ’s noch nie ergangen . “
„ Und daran bin ich Schuld , “ sagte Richard mit gepreßtem Ton .
„ Ach , seien Sie kein Philister ! Es kommt wieder besser . Wir sparen jetzt mächtig , Clothe dort und ich hier . Sie hofft , hier später als Telephonistin angestellt zu werden . Wenn einem nur die Geduld nicht ausgeht . “
„ Sie sind tapfer , Fräulein . “
„ So ? Was wissen Sie von meiner Tapferkeit ? Wenn ich kein Geld habe , mein Modell zu bezahlen , ist mir ’s schon oft zum Heulen gewesen . Dann muß ich brach liegen . Aber ich hab ’s doch nicht gethan , “ schloß sie trotzig .
„ Aha , dann kommen die Blumen und Stillleben daran . “
„ Ja , – auch die Blumen sind verhältnißmäßig noch billig . Beim Kapuziner – wissen Sie ! – Aber wenn man keine Postmarke nach England kaufen kann , – dann wird ’s fad ! Ist mir auch schon passirt . “
Hausdörffers Gesicht war so lang und jammervoll geworden , daß Lore lachen mußte . „ Nein , gewiß , ich hab’ auch schon gute Zeiten gehabt ! Hab’ eine herrliche Fußwanderung gemacht bis zur Tiroler Grenze . Sehen Sie , das ist meine Geldkiste , die war mal ganz voll . “
Sie nahm aus einer Ecke einen alten Federkasten , wie ihn die Schulkinder benutzen , klapperig und ohne Schloß natürlich .
Richard schüttelte den Kopf . „ Aber Sie sind ja der reinste Student , Fräulein , so was hätt’ ich bei einem deutschen Mädchen für ganz unmöglich gehalten . “
„ Ach , Sie haben wohl Ehrfurcht vor dem Geld ? “ sagte sie geringschätzig . „ Ich hass’ es geradezu ! Weil man es so braucht und ewig daran denken soll , es zu kriegen . Einmal hab’ ich ein paar kleine Aquarelle gemacht zur Vervielfältigung in England . Die Zahlung kam nicht in Geld , das man gleich ordentlich ausgeben konnte – wie ich doch mußte – sondern so dumm auf einem Zettel , einem Check , und der ging dann noch mal auf die Wanderung nach der Londonbank oder so – kurz , ich wartete damals vierzehn Tage , Brod und Kakao , weiter hatt’ ich nichts . Meinen Sie , ich hätte mich gefreut , als diese schmutzigen Papierfetzen endlich ankamen , um mich zu erlösen ? Gezittert hab’ ich vor Wuth bei ihrem Anblick , geweint und die Fäuste geballt , um ein Haar hätte ich sie zerrissen !
Davon das Leben abhangen lassen ! Ob man solche scheußliche Lappen hat , oder ob man sie nicht hat – “
Sie blickte wild um sich , auch jetzt mit geballten Händen .
„ Aber es ist ja nur der greifbare Ausdruck für geleistete Arbeit , “ berichtigte Hausdörffer , lächelnd wie über eines Kindes Zorn .
„ Für geleistet Arbeit ? Aber will ich denn etwa nicht arbeiten , das heißt malen , modelliren , zeichnen , so lange meine Hände und Augen aushalten ? “ rief das Mädchen . „ Hab’ ich denn etwas Schöneres als das ? Weiß ich denn irgend Besseres ? Und wenn ich solche Säcke voll Geld hätte ! “ Sie zeigte bis an die Decke hinauf in ihrer ungestümen Art . „ Nein , wissen Sie , ich habe schon oft gedacht , Essen und Trinken sollte frei sein für alle ! Ganz wie die Luft , die man auch nicht bezahlen muß , merkwürdigerweise . “
„ Das würde eine schöne allgemeine Faulenzerei geben ! “ wehrte Richard .
Lore blickte ihn empört an . „ Und so etwas sagt ein Gelehrter ? Ja , arbeiten Sie denn nur , um Geld zu verdienen ? “
„ Nicht nur , “ machte er gedehnt , „ nicht einzig , aber ob ich so Tag für Tag über dem Mikroskop hängen würde , wie jetzt , wenn ich – “
„ Pfui , Sie machen sich schlecht ! Ich glaub’
Ihnen nicht ! Die Arbeit ist ja das Leben selbst . Meine Malerei ist mein Leben . “
„ Ja , die Kunst – wenn man so etwas sieht und hört , – da kommt einem die eigene Arbeit dürr vor . “ Er seufzte leise , während er mit Neid in ihre glänzenden Augen blickte . „ Es hätte vielleicht auch so etwas in mir gesteckt , aber es ist erdrückt worden . Ich mußte ein Brotstudium wählen , und die Wissenschaft – die hat ja auch immer ein schönes Auge – “ Er verstummte ; es war Zeit zu gehen , aber er kam schwer los .
Als sie sich zum Abschied lange und warm die Hand drückten , sagte er plötzlich mit einem Anlauf :
„ Aber Fräulein , nicht wahr , wenn einmal dort in der Geldkiste gar nichts mehr ist – “ Sie wollte ihn unterbrechen ; er fuhr hastig fort : „ Ich meine , wenn wieder ein Honorar so lange auf sich warten läßt , – darf ich Ihnen etwas – “
Lore machte ein unwilliges Gesicht .
„ Ich bin selbstständig – ich – “
„ Nun , sagen wir , wenn Sie einmal keine Freimarke nach England mehr haben ! “
„ O , ich hab fünf Stück im Vorrath jetzt ! Ich bin sehr haushälterisch geworden ! Danke Ihnen . “
Sehr nachdenklich und etwas niedergeschlagen ging er seiner Wege . Lore Berth blickte noch eine Weile mit Lächeln die Thüre an , hinter der er verschwunden
war . Dann fing sie an , beim letzten Tageslicht neue Fragezeichen zu den alten zu setzen , der Bogen war bald voll , sie schrieb sie vorsichtig , aber äußerst emsig , immer eins neben das andre .
Sie sahen sich häufig jetzt . Richard pflegte besonders dann zu ihr zu gehen , wenn seine Stimmung gedrückt , sein Humor in die Brüche gegangen war . Und solche Zeit kam nun oft . Seine Vorlesungen mußten wegen Mangel an Theilnehmern aufgesteckt werden , seine Arbeit befriedigte ihn nicht , dazu kamen Briefe über Briefe von Advokaten , Tonis Mama verlangte eine Entschädigung von fünfzehntausend Mark wegen des Bruches .
„ Aber so lachen Sie doch und eröffnen Sie den Spekulanten , daß Sie nichts haben , “ rieth Lore eifrig . Sie hatte gut reden . Hausdörffer schämte sich ganz einfach , seine Verhältnisse vor diesen Augen aufzudecken , er sah sich lieber im Licht des Besitzenden betrachtet .
„ Wie verschieden wir doch denken , “ meinte die Malerin nach solchen Gesprächen – es klang bedauernd .
Richard wollte es nicht gelten lassen . Er bemühte sich , bei jeder Gelegenheit hervorzuheben , daß sie wundervoll übereinstimmten . Das bezog sich meistens freilich auf den Kuchen , den er zum gemeinsamen Thee mitbrachte und den sich Lore mit einigem Widerstreben gefallen ließ . Es waren hübsche Nachmittage , und das Lampenlicht machte das buntscheckige Atelier unterm
Dach gar behaglich . Lore verstand sich aufs Drapieren und Arrangieren , auch mit den bescheidenen Mitteln ; der Ofen sang , das Kesselchen summte , der Nolz schnarchte auf Richards Knieen , der sich nicht wenig auf solche Zutraulichkeit einbildete , und Lore , die den ganzen Tag allein gesessen , hatte nun so viel zu reden , daß die Zeit immer zu kurz wurde . Hausdörffer pflegte sich im Taschenbuch zu notieren , was er mit ihr sprechen , was er sie fragen wollte . Sie lachte über solche Pedanterie und hatte besonders ihren Spaß an seiner Vorliebe für kleine Bleistifte . Er schätzte diese Stummel , die er kaum zwischen den Fingern halten konnte , über alle Gebühr und konnte , wenn einer ihm zu Boden fiel , eine Viertelstunde danach herumkriechen . Das zeichnete sie dann in den kühnsten , von keiner Rücksicht auf die Wirklichkeit beschränkten Umrissen , bis sie beide in tolles Gelächter ausbrachen , all ihren Sorgen zum Trotz . Lore hatte ein Bild auf der Reise , ihr beständiges Angst- und Hoffnungsbild . Sie fürchtete , daß es auf der Tournee beschädigt werden möchte , einem Bekannten war es vor kurzem so ergangen . Sie hoffte , daß es verkauft werden möchte , knüpfte ein ganzes Knäuel von Erwartungen daran : Clothe zurück , Reise nach Venedig , Gott weiß was alles . Eines Abends , kurz vor Weihnachten , fand Hausdörffer das Mädchen in jubelnder Aufregung . Es war ein Brief vom Kunsthändler gekommen , etwas
geheimnißvoll , aber unzweifelhaft das Schönste verheißend . Richard mußte ihn sogleich lesen und begriff ihre Begeisterung nicht recht . Sie kreiste fortwährend um den Tisch herum und sprach wie im Fieber . Einige Damen wünschten ihre Bekanntschaft zu machen , der Kunsthändler lud sie zu morgen Mittag in seinen Salon ein . Lore dichtete eine lange Geschichte dazu . Sie hatten wahrscheinlich jenes wandernde Bild „ Am Brunnen “ gesehen , wollten aber mit der Malerin persönlich unterhandeln und waren deshalb nach München gekommen . Das schien ihr ganz selbstverständlich . Hausdörffer verschwendete eine Menge Worte , um sie vor zu großen Erwartungen zu behüten , aber er hatte nie Glück mit solchen Vorstellungen .
„ Rabengekrächz ! “ machte sie ärgerlich , „ komm , Nolz , beiß ihn , er will mir die Freude verderben ! “
Nolz knurrte ihn an , als habe er nie auf seinen Knieen geschnarcht .
„ Sie kommen doch morgen jedenfalls wieder ? Sie müssen doch hören , “ rief ihm die Malerin über die Treppe nach .
„ Ja , ich werde zwei Taschentücher einstecken , “ brummte er zurück .
Am andern Morgen sollte die Begegnung stattfinden . – Hausdörffer machte sich um sechs Uhr , nach Schluß des physiologischen Instituts , mit einer unbestimmten Unruhe auf den Weg nach der Theresienstraße .
Er schauerte im eisigen Wind trotz seines großen grauen Mantels und verschrieb sich im Gehen ein Gramm Brom vor dem Schlafengehen , denn er fand sich entschieden nervös aufgeregt .
Auf sein Anklopfen antwortete nur Nolz ’ durchdringende Stimme , das Herein mußte sehr matt gewesen sein . Er trat hastig ein und sah sich um , – es war fast dunkel im Atelier , nur durch die angelehnte Thür des Nebenzimmers fiel ein Lichtstreifen .
„ Sind Sie es ? ich komme gleich ! “ sagte es müde und halblaut drinnen .
„ Aha ! Nun wer hat recht behalten ? Es ist nichts mit dem Bild , “ rief er , fast wider Willen , im Schulmeisterton .
Darauf kam keine Antwort , nur ein unartikulirter Laut , dann trat die Malerin heraus , die Lampe in der linken Hand , mit der rechten ihre Augen schützend .
„ Was ist geschehen ? Sie haben doch nicht geweint ? “ sagte er , ihr die Lampe abnehmend .
„ Ach ! “ Sie drehte den Kopf weg , aber er hatte doch schon gesehen , daß ihr Gesicht ganz verzerrt war .
Er nahm sie an der Hand und führte sie zu der improvisirten Chaiselongue , – es war ein großer Lederkoffer mit einer Matratze darauf , über die eine buntgestreifte italienische Decke gebreitet war . Für sich selbst zog er einen Hocker heran und setzte sich , immer ihre Hand festhaltend , dicht vor sie .
„ Jetzt sehen Sie mich mal an , Fräulein , thun Sie , als ob ich ihr Augenarzt wäre . “
Aber sie verzog schmerzlich den Mund . „ Lassen Sie mich in Ruh , mein Kopf ist wüst . “ Sie griff sich an die Stirne .
„ Was hat Ihnen der unverschämte Mensch gethan ? “ fragte er in sanft liebkosenden Ton .
„ Ach , ich mag nicht . “
„ Soll ich denn gar kein Recht haben , mich mit Ihnen zu ärgern ? “ flüsterte er , über ihre Hände gebeugt .
„ Da waren drei Damen , “ begann Lore Berth ; plötzlich stürzten ihr wieder Thränen aus den Augen , sie machte ihre Hände los und sprang von dem Sitz auf , um wegzulaufen .
Auch Richard stand auf , ganz verstört und rathlos . „ Wollen Sie mich denn durchaus jetzt los werden ? Soll ich weggehen ? “
„ Ja , “ murmelte sie abgewandt .
Er griff nach seinem Mantel , zog aber gleich wieder die Hand zurück .
„ Nein , “ sagte er herzlich , „ ich thu ’s nicht . Ich will wissen , was man Ihnen angethan hat . Und Sie sollen davon sprechen , desto eher werden Sie’s überwinden . “ Er streckte die Hand aus . Lore setzte sich auf den ersten besten Stuhl , ohne seine Hand zu beachten .
„ Der Kunsthändler ging natürlich fort , und ich blieb mit diesen Damen allein . ‚ So , also Sie sind die Malerin Lore Berth ? ‘ sagte die eine und nahm ihre Lorgnette vor die Augen , die Zweite setzte einen Zwicker auf , die Dritte war ganz jung , aber impertinent schaute sie auch her . Es waren nur drei Stühle da , ich stand vor ihnen und ließ mich beäugeln , wunderte mich , wollte rabiat werden , bezwang mich , weil ich dachte , nun kommt die Frage nach dem Bilde . “ Hausdörffer ließ einen grollenden Ton hören .
„ ‚ Die bekannte Lore Berth aus Gauting ? ‘ begann jetzt die mit dem Zwicker – es waren nicht die Worte , es war die Betonung ; das war doch mehr als schlechte Erziehung , die wollten was von mir . Ich sagte , daß München meine Heimath sei , nicht Gauting . ‚ Aber Sie sind diesen Sommer dort gewesen ? ‘ fiel die Kleine ein . ‚ Sie haben dort interessante Bekanntschaften angeknüpft und fortgesetzt ,‘ – und dann nannten die drei Frauenzimmer Ihren Namen und fragten mich nach Ihrer Adresse , ‚ da Sie mit dem Herrn sehr intim sind , wie ich weiß . ‘ “
Lore hatte ihr Gesicht in die Hände versteckt und stöhnte . „ O , es war so unsäglich widrig und schändlich , daß ich es gar nicht ausdenken kann . Und ich dummes Ding stehe da , stumm und verdutzt , und lasse mir all das an den Kopf werfen und besinne mich immer , was die von mir wollen , und sage nur mechanisch :
‚ Bemühen Sie sich auf die Polizei , ‘ und dabei muß ich immer das Haar von der Kleinen ansehen , so ein schönes Rothblond , und der ganze abgeschmackte Salon fängt an , sich mit mir zu drehen , und ich lehne mich an eine Wand – da nehmen die drei mit höhnischen Gesichtern ihre Kleider zusammen , rauschen an mir vorbei und hinaus und – – fertig ! Den ganzen Heimweg hab’ ich sie verschimpft , ihnen alle Schand ’ gesagt , aber drinnen – kein Wort – o – o – o – kein Wort ! “
Hausdörffer stand sprachlos ; er glaubte zu ersticken . „ Haben Sie die Namen – – “ begann er heiser .
„ Semen oder Seven und Wagner , glaub’ ich ; ich höre nie hin bei Vorstellungen . “
Richard fühlte , daß ihm alles Blut aus dem Gesicht wich . „ Das befürchtete ich . “ Er stockte .
„ Kennen Sie sie ? “ schrie die Malerin .
„ Toni , ihre Mutter und Freundin , nicht anders , “ sagte er ; „ ja , das ist Frauenrache . “
Lore raffte sich auf , um etwas zu sagen , aber sie schüttelte den Kopf .
Eine Pause entstand , eine lange , wo nur das Stoßen des Windes gegen die Ziegel am Dach und das gepreßte Athmen drinnen hörbar waren .
„ Lore , “ murmelte Hausdörffer endlich , „ sind Sie mir sehr böse ? “
Sie bewegte verneinend den Kopf , aber sie blickte
nicht zu ihm auf , der noch immer dicht vor ihr stand . Er machte eine verzweifelte Gebärde .
„ Ich könnte mich zerreißen , daß ich Sie in diese Lage gebracht habe , ich weiß mir nicht zu helfen , mir nicht und Ihnen nicht . Das heißt , es gäbe wohl eine Art , – eine sehr einfache Art , – wenn ich nur wüßte – aber ich wage nicht – – Sie sind solch ein besonderes Wesen – und dann glaube ich auch , ein Geschöpf wie Sie würde immer darüberstehen – – “
„ Über ? “ fragte sie verwundert .
„ Über der Liebe , nicht wahr ? hab’ ich nicht recht ? Nein , was ist das für ein Ton , Lore ? Lachen Sie ? “
Ja , sie lachte und blickte ihn spöttisch , wie es schien , von der Seite an .
„ Dies muß ich ergründen ! “ reif er athemlos und zog sich einen Stuhl neben sie , „ sagen Sie mir , Lore , könnten Sie lieben wie andre Frauen ? Haben Sie jemals geliebt ? “
„ Ha ! “ machte sie und lachte wieder , „ warum fragen sie nicht : immer ? Kann man denn sein ohne das ? “
„ Immer ? Sie kennen die Liebe ? Sie sind nicht darüber ? “ jubelte er , „ Halten sich nicht zu schade dafür ? Aber das ist ja reizend ! Ich habe mir immer gesagt , solch ein seltenes Wesen ; aber sehen Sie , schon als ich hörte , daß Sie auch weinen können . . . “
„ Weinen ! Meine Schwester hat sich todt geweint , “ fiel die Malerin ihm ins Wort , „o , wir verstehen es nur zu gut . “
„ Todt geweint ? Nein , wirklich todt ? Eine jüngere Schwester ? Und warum ? “
„ Unsere älteste ; sechzehn Jahre war sie , eine traurige Liebesgeschichte , der Mann wußte gar nichts davon , heirathete eine Andere , da ward sie eines Morgens todt im Bette gefunden . “
Ihre Stimme zitterte .
„ Lore ! “ flüsterte Richard , „ könnten Sie mich – – ist es denn möglich , daß man so lieben kann ? gibt es das wirklich ? “
„ Ich weiß nicht . “
Er hatte ihre Hand gefaßt und preßte sie stürmisch . „ Ach , “ rief er hingerissen , „ was bist Du doch für ein kleines armes , wehrloses Kind mit all Deiner Stärke in dieser groben Welt ! Komm , komm , gib Dich in meine Hand ! ganz ! Liebe mich , Lore , liebe mich ein bißchen , und ich will Dich schützen und um Dich sein , daß Dir Keiner mehr ein schiefes Gesicht machen soll . Du bist zu gut , zu nobel , zu einfältig , ich bin ein bißchen schlechter , ich kann’s ausgleichen . Die Hauptsache ist : liebst Du mich ? “
„ Ja , aber – – “
„ Ja ! ja ! kein Wort weiter . Lore , ich habe Dich sehr lieb , sehr , sehr , und sieh , bin ich Dir ’s nicht auch
schuldig ? Sie reden über Dich , sie entziehen Dir die Aufträge , sie laden Dich ein , um Dir Unverschämtheiten zu sagen , Alles durch mich , Alles meinetwegen . Ich will Dich wieder hinaufbringen , hoch ! hoch ! sie sollen es wagen ! meine Frau – “
„ Richard ! “ schrie die Malerin , „ wenn Du noch ein solches Wort sprichst “ – sie hatte ängstlich seinen Arm gefaßt , „ was hilft es alles , – wir sind zu ungleich , und das – und das ist – zum Todtweinen . “ Sie schluchzte auf .
„ Was hab’ ich denn gesagt ? Was hat Dich so verletzt ? Ach , sag mir ’s doch , es soll ja nicht wieder geschehen , “ klagte er reuevoll . „ Glaubst Du mir nicht , daß ich es gut mit Dir meine ? “
„ Auf Deine Art ! von Deinem Standpunkt . “
„ Ach was , Standpunkt ! mein einziger Standpunkt ist meine Liebe zu Dir . Alles Andere läßt sich lernen ; glaubst Du nicht ? “
„ Ich weiß nicht – – “
„ Sie weiß nicht ! Aber ich weiß ! Du hast auch noch zu lernen , glaub mir nur ! Du bist viel zu selbstständig geworden . Ich muß Dich in die Liebeszucht nehmen , weißt Du das ? “
„ Ich glaube , wir werden uns ewig zanken , “ sagte sie , und ein voller Liebesstrahl zuckte über ihn hin .
„ Und uns ewig versöhnen ! Aber das ist ja himmlisch ! Und nie langweilen ! O Lore , was für ein glücklicher Kerl ich bin ! “
„ Und die Leute werden ihr Theil thun , uns das Leben schwer zu machen . “
„ Aber wir beide , Lore ! “
„ Ja , wir beide . “
Wie sie sich umfangen hielten , sagte er ihr plötzlich dicht am Ohr : „ Und ein Schloß für den Federkasten ! “
„ Ha , wozu ? “
„ Nur so , der Ordnung wegen . Und gelt Du , so einen nächtlichen Wanderer läßt Du nicht wieder ins Haus , wenn Du allein bist ? “
„ Kommst Du auch – – “
„ Ja , ein bißchen leichtsinnig war es doch . “
„ O ! “ rief sie empört und riß sich aus seinen Armen , „ Du bist ein Philister wie alle Andern . “
Einen Augenblick stand er und biß sich auf die Nägel . Nolz hatte ein Watteflöckchen von den Pastellfarben aufgelesen und stellte sich mit zwei Pfoten an Lore in die Höhe ; er fühlte sich schwer vernachlässigt . Das Mädchen hob ihn auf und drückte sein Köpfchen an ihre Backe , da schluckte er vor Freude .
Nun trat auch Richard heran . „ Wer liebt Dich besser von uns beiden ? “ lächelte er .
Sie seufzte . „ Die Liebe hätten wir wohl , aber – “
„ Deine abscheulichen Aber , “ fiel er ein . „ Übrigens , weißt Du , Philister sind sehr nothwendig . Bleib wie Du bist , meinetwegen , aber mich laß für Dich bellen . “
Und da sie immer noch schmollte , umfaßte er sie
sammt dem Hündchen , das eifersüchtig gegen ihn anfuhr . „ Liebe Lore , los wirst Du mich nicht wieder . Und das schwör’ ich Dir , Du sollst mich immer auf Deiner Höhe finden . Gelt , willst es mit mir versuchen ? “
„ Versuchen ! “ gab sie zurück , und die Blicke ineinander getaucht , versanken sie beide in ein stummes , glückseliges , banges Sinnen , in ein Hinausblicken in die verhüllte , unenträthselbare Zukunft .
Der erste Blick hinter die Coulissen .
F räulein Adelheid Severin war sehr vergnügt aufgestanden und schon beim Waschen von ihrer Freundin Annita mit Glückwünschen und Küssen überfallen worden , obgleich ihre Nase gerade eingeseift war . So hatte sich’s Adelheid gewünscht , und es stand ihr frei zu wünschen , denn sie beging ihren siebzehnten Geburtstag . Annita hatte einen vollen Veilchenkorb , eine Menge frischer Februarluft und zwei Backen wie dunkle Frühjahrsrosen mit hereingebracht , und in Adelheids Zimmer war bald ein lautes Zwitschern und Girren entstanden , wie es so ein paar sorgenlose leichtflüglige Vögel zu vollführen pflegen , sobald sie auf demselben Stängelchen zu sitzen kommen .
Auf einem Stuhle saßen sie allerdings , und die große hellblonde Adelheid drückte ihr etwas formloses Gesicht an das kleinere dunkle Mädchen . Bewundernd fuhr sie ihr über die schweren schwarzbraunen Flechten , die , von silbernen Nadeln gehalten , tief in den Nacken herunterfielen :
„ Wenn Du so rothe Backen hast , kann niemand gegen Dich aufkommen . “
„ Ah , ich bin ja nur ein schwarzer Zwerg “ , wehrte Annita , „ aber ich bleibe den ganzen Tag hier , und es soll so lustig werden , wie noch nie . “
Adelheid war fast ein Jahr älter als die Freundin , aber sie waren von je Mitschülerinnen gewesen . Sie häkelten dieselben Spitzen , schwärmten für denselben Literaturlehrer , trugen dieselben gestickten Theeschürzchen und aßen von demselben Schneeball , wenn sie gelegentlich , hinter einem Pfeiler versteckt , in der Konditorei von Homann den Empfangstag monatlichen Taschengeldes feierten .
Sie hatten auch schon zusammen geweint , am meisten , wenn Adelheids Mama „ ungerecht “ war und ihr nicht erlauben wollte , in den Wochentagen zu lesen . „ Schon wieder das Buch vor der Nase ! Herrjes , Kind , hast Du denn gar nichts Besseres vorzunehmen ? “ Dann war Annita noch trauriger und empörter als ihre Freundin , und ein paarmal hatte sie schon Worte gegen Frau Severin auf der Zunge gehabt , – Worte – – aber sie hatte sie zum Glück wieder verschluckt , um sich im Leseklub , den die Mama erlaubte , mit Heftigkeit auszusprechen .
„ Wißt Ihr was ? Ich habe einen Satz von Jean Paul gefunden , darin sagt er , die Frauen hätten ein verwachsenes , verkochtes , vernähtes Leben ! Solche
kluge Männer , solche Dichter und Schriftsteller , müssen es doch wissen , nicht ? “
Alle Mädchen fingen an zu lachen : „ Igitt , wie dumm ! Was wissen die Schriftsteller davon ! Die schweben ja immer in den höhern Regionen . Sollen sich die Herren vielleicht selber die Knöpfe annähen ? Und übrigens , was für’n Unsinn , waschen thut man doch nicht ? Das haben wir doch gottlob nicht nöthig , das thut doch das Mädchen oder die Schnellwäscherei , und wenn ich auch mal in die Küche geh’ und nach dem Topf seh’ , darum fällt mir noch lange keine Perle aus der Krone ! “
„ Jean Paul ist überhaupt furchtbar überspannt , glaub’ ich , den dürfte ich nicht lesen ! “ rief ein älteres Mitglied aus der Ecke .
Annita war überstimmt . Sie weinte jetzt vor Ärger , klopfte auf den Tisch und rief : „ Sagt , was Ihr wollt , Adelheid und ich , wir wollen nicht nur so Hausfrauen werden – “
Über die Gesichter der Mädchen legte sich kaltes Entsetzen . Sie ließen sämmtlich ihre Stickereien sinken und starrten Annitas geröthete Augen an .
„ Sie wollen keine Hausfrauen werden , “ sagten sie flüsternd ; alle sahen auf einmal fremd und feindselig aus . Endlich rief eine mit spitzem Lachen :
„ Ich glaube , Ihr braucht nicht bange zu sein , mit solchen Grundsätzen kriegt man gewiß keinen ab . “
Ein triumphirendes Hohngelächter fiel ein . Annitas Augen funkelten :
„ Ich will mich überhaupt so wie so nicht verheirathen “ rief sie überlaut . Da ging die Thür auf , und die Mutter des Mitglieds , bei dem grade der Klub abgehalten wurde , erschien mit prüfendem lauerndem Blick auf der Schwelle .
„ Was für unpassende Gespräche für so junge Mädchen “ , sagte sie verweisend gegen Annita , „ Sprecht lieber etwas Angemesseneres ! Hier in der ‚ Modenwelt ‘ ist ein puppiger Babyschuh , den könnten Sie mir vielleicht abhäkeln , nicht Adelheid ? Sie haben eine so liebe vernünftige Mama “ , und sie legte die Hand auf Adelheids Haar , „ lassen Sie sich nur nicht weis machen , daß irgendein Mensch in der ganzen Welt besser versteht , was Ihnen gut ist , als Ihre liebe praktische Mama , die ich herzlich grüßen lasse . “
Adelheid war sehr roth geworden damals ; „ ja , liebe Frau Pastorin , “ hatte sie gemurmelt , und Annita hatte es ihr nicht übel genommen , daß sie sie nicht vertheidigt hatte . Sie beschlossen dann beide auf dem Heimwege , nicht zu heirathen , und Adelheid meinte nur , Annita sei etwas zu weit gegangen , und es könnte leicht etwas Unangenehmes geben .
Und das war auch geschehen . Nacheinander hatten die Mitglieder ihren Austritt aus dem Leseklub angezeigt , die eine ohne Angabe der Gründe , die
meisten unter einem Vorwand . Die Pastorstochter hatte im Namen ihrer Mutter mitgetheilt , daß sie leider in Zukunft nicht mehr kommen könne , da sich „ ungeeignete Elemente “ in dem Klub geltend machten . Eine hatte sich abgemeldet wegen „ Bruchs der Statuten . “ Jede Theilnehmerin hatte sich nämlich feierlich verpflichtet , bei ihrer Verlobung eine Eistorte , bei ihrer Verheirathung einen Ball zu spendiren . Wohin gerieth man nun , wenn es Mitglieder gab , die von vornherein die Absicht kundthaten , sich weder zu verloben noch zu verheirathen ?
Annita war sehr betrübt und reuevoll gewesen über ihre Schroffheit , die so schreckliche Folgen gehabt hatte . Sie fiel Frau Severin um den Hals und bat sie mit Thränen , ihr zu verzeihen und sie nicht von Adelheid zu trennen , die auf der andern Seite an der Mutter herumstreichelte und schon zwei Taschentücher vollgeweint hatte .
Die dickbäckige weichherzige Frau wußte gar nicht , wie ihr geschah . „ Kinder , Kinder , was macht Ihr mir für Kummer , “ stöhnte sie , „ achhott , Nita , heul doch nicht so , ich bin Dir ja gar nicht mehr böse , nee , nee , ich hab’ da nix gegen , daß Du Adelheid besuchst , hast ja keine Mama , arme Deern , ach nee , das find ich nu auch ’n büßchen von Frau Pastorin – das wird je alle nich so heiß aufgegessen , wie das gekocht wird , – nee , komm Du man , aber ich will Dir was
sagen Kind , Du mußt Adelheid ihre Flickstunde mitnehmen , und zum Frühjahr könnt Ihr zum Plättkursus in die Gewerbeschule gehn . All die Grappen und Mucken im Kopf , die locken keinen Hund hinterm Ofen raus , und wir sind einfache Leute , Papa muß arbeiten , ich muß arbeiten , die Jungens müssen arbeiten , Adelheid muß ihr Theil thun . Ich bin je auch nich so , ich les’ je gern beim Stricken , die Marlitt is ganz nett so weit , und die Heimburg is noch netter , da könnt ihr nichts Schlechtes aus lernen . Und Galen schrieb auch sehr schön , aber das war mehr früher , und Ihr müßt nich denken daß ich prosaisch bin . Zum Beispiel Julius Sturm , den seine Gedichte sind so niedlich – ach , Ihr seid je noch Kiekindiewelts , Ihr müßt noch viel lernen , eh ’ Ihr mal’ ’n Hausstand führen könnt ! “
Dieser Vorfall hatte die Freundinnen enger verbunden , Annita machte keine Bemerkungen mehr über Frau Severin , und die gute Dame hatte das mutter- und geschwisterlose Mädchen , dessen Vater sehr viel auf Reisen war , wie ihre eigene Tochter ans Herz genommen .
Eben erscholl ihre etwas weinerliche Stimme vor der Thür der säumigen Mädchen . „ Aber so kommt doch endlich ! Ich lauf’ immerlos mit der Chokoladenkanne wieder in die Küche ! Nita , mußt mal ’n büschen nachpökern ! Die Jungens müssen je weg , und sie wollen Dir doch vorher gratuliren , Adelheid . “
Mit verschlungenen Armen liefen die Freundinnen die Treppe hinunter , in die Eßstube , wo der Geburtstagstisch zwischen zwei Fenstern ihnen entgegenleuchtete , denn der älteste Bruder hatte grade , als er die Mädchen draußen hörte , die siebenzehn Lichter um die Torte angezündet .
„ Guten Morgen , mein altes Zebra “ , sagte der Tertianer Paul , der dritte in der Reihe der fünf hellblonden , dünn aufgeschossenen Severins ; „ ich schenk ’ Dir diesen Fingerhut ; wenn er zu weit ist , kann ich ihn umtauschen . “
„ Ach , wie reizend , Perlmutter ! “ rief Adelheid , die in ihrem braun und weiß gestreiften Morgenkleide schon ganz wie ihre Mama im kleinen aussah .
„ Paul , wähle doch nicht immer solche zoologische Bilder “ sagte August , der älteste , der schon Comptoirist in einem großen Bankgeschäft war , „ Adelheid , ich erlaube mir , Dir mit diesem Regenschirm unter die Arme zu greifen ; eine Beschirmung ist immer nothwendig für junge Mädchen , finden Sie nicht auch , Annita , und wenn man nicht immer alles selber thut . “ – Er strich sich süß lächelnd die sprossenden Koteletten .
Annita starrte ihn an . August sieht eigentlich doch mal dumm aus , dachte sie , wenn er nicht so furchtbar gut und nett wäre – –
Max , der sich augenblicklich in der Einjährigenpresse befand , zog mit langem Gesicht die Uhr : „ Je ,
Kinder , ich muß weg , gib mir wenigstens en Happen Kuchen , Mama ! Ich schenk ’ Dir heut Mittag was , wolln erst mal sehn , was Du all kriegst , immer praktisch , nich ? “
Cäsar , der vierzehnjährige , lehnte mit blassem Gesicht an der Thür . Er war gestern krank aus der Schule gekommen ; die zwei Eier , die er seiner Blutarmuth wegen morgens vor dem Weggehen von der Mama eingestopft bekam , hatten ihm Krämpfe verursacht .
„ Darf ich wirklich keine Chokolade trinken ? “ wimmerte er mit hängendem Munde . Annita und Adelheid baten für ihn . Aber schon nach dem ersten Schlucke ward er grün im Gesicht und stürzte mit dem Taschentuch vor dem Munde zur Thür hinaus .
„ Laß man , Mama , ich kann ja seine Tasse mit austrinken “ , sagte gemächlich der kleine Ferdinand , die Arme wie zwei Flügel schützend über die Tassen gebreitet .
„ Die Schneelandschaft is von mir “ , sagte er zwischen dem Schlucken und Kauen , „ das Papier heißt Pelinpapier und ist ausgekratzt “ .
Adelheid freute sich über alles , aber das Schönste blieb doch das Ballkleid , von Mama . Rosa Krepp , – man konnte Stunden damit hinbringen , sich vorzustellen , wie es gemacht werden sollte . Man war ganz geblendet , wenn man es in Wolken auseinanderschüttelte und lange darauf blickte .
„ Und es is nich mal so unpraktisch wie es aussieht “ , sagte Frau Severin , „ denn es kann immer chemikalisch gereinigt werden , und daß Du auch was Deftiges ( Dauerhaftes ) hast , – kuck der Flanellrock , der steht von selber , das is prima Waare , – ich bin aber auch schön rumgelaufen , bis ich den zu Dank gekriegt hab ’ . “
„ Du bist süß “ , sagte Adelheid und küßte ihre Mama auf das Doppelkinn , „ Gott , Cäsar , Jung , iß doch nu keinen Puffer , Du wirst ja wieder elend , und wir wollen heute doch recht lustig sein . “
Es klingelte an der Hausthür . „ Der Briefträger ! “ Paul stürzte hinaus .
„ Hurra ’n Paket , was krieg’ ich , Adelheid , was krieg’ ich ? “
„ Von wem is es denn ? laß mich doch mal “ – Frau Severin streckte neugierig die Hand aus . Es war Adelheids Adresse , der Absender nicht genannt . Als die Hülle fiel , sah man , daß ein Buch darin war , ein Buch , das in einer Papphülse steckte . Ein hochrother goldgepreßter Calicoeinband kam zum Vorschein .
„ O Gott , ‚ Blüthen und Perlen ! ‘ seufzte Adelheid verklärt .
Ein zartes Roth färbte ihr helles Gesicht , denn auf dem Mönchsblatt vorn stand :
„ Gewidmet von Deinem Dich liebenden Cousin Adolf Scherer . “
„ Kuck den alten guten Jung ! “ machte Frau Severin voller Rührung .
„ Nee , Du , Annita , das find ich niedlich , alles was recht is ! “
Annita war noch röther und verwirrter , als ihre Freundin . Ihr war das doch eigentlich passiert mit dem Adolf Scherer , nicht ihrer Freundin , warum brauchte denn Adelheid so entzückt zu thun ? Freilich war es ja hier im Hause gewesen , vorigen Sommer , an dem heißen Augustabend ; sie hatten ja auch beinah geglaubt , Adolf habe einen Sonnenstich gekriegt . Sich so merkwürdig zu betragen ! Annita war damals tagelang ganz aufgeregt gewesen , so unverständlich war ihr die ganze Geschichte . Na ja , ein bißchen sonderbar war Adolf wohl immer , vielleicht weil er „ drüben “ geboren war , in Venezuela , und erst als zehnjähriger Junge herübergekommen war und deutsch gelernt hatte . Nicht , daß man es ihm angesehen hätte . Er war klein und breitschultrig , hatte dunkelblondes Haar und etwas verschlafene Augen , die aber manchmal ganz lebendig werden und sogar funkeln konnten . An jenem Augustabend hatten sie fortwährend gefunkelt . Annita konnte ihr Gesicht drehn , wie sie wollte , immer sah sie in Adolfs aufgerissene Augen , die ihr folgten . „ Wie hübsch Dein Kleid ist ! “ hatte er plötzlich gesagt und
war ihr mit seiner Hand über den schmalen Gartentisch hinüber nach dem Halse gefahren . Hatte sich Annita erschrocken ! Und Adelheid nicht minder , die neben ihr saß .
„ Igitt , Adolf , was fällt Dir denn ein , da ist ja gar kein Kleid mehr ! “ hatte Adelheid gerufen , und das war gewißlich war , denn das bläuliche Sommermousseline hatte ja einen herzförmigen Auschnitt , aus dem Annitas rundes braunes Hälschen wie ein dunkler Blumenstengel hervorwuchs .
Frau Severin war gerade an der Laube vorübergekommen und hatte Annita herausgewinkt .
„ Komm , Kind , ich hab’ en ganze gute Spitze oben , Du bist wirklich schon en büschen zu groß , und das Kleid is gräßlich nackend , – nee , ärger’ Dich man nich , das is was Furchtbares mit den Jungens , sie sehn so was gleich und halten sich darüber auf . Hott , wenn sie das noch sagen , is immer noch besser , als daß sie sich im stillen mokieren . Der Adolf is je das reinste Gör , bloß ’n büschen tapfig . “
Aber Annita hatte wenig auf das Zureden der guten Frau geachtet und zornige Thränen vergossen ; warum , wußte sie selbst nicht recht , – ja doch , – sie besann sich – hauptsächlich , daß er so klein und dick war , ärgerte sie schrecklich .
Und als sie vor dem Spiegel den weißen pastorenhaften Kragen sah , den Mama Severin ihr umgebunden hatte und der sie ganz mulattenhaft schwarz
aussehen machte , fühlte sie sich tief unglücklich und als ein Opfer des Schicksals und wollte nicht wieder in die Laube zurückkehren , sondern sofort nach Hause gehn .
Aber nun fing auch Frau Severin an , sich die Augen zu wischen : „ Man ist mit dem Mädchen wie eine Mutter , weil es einen jammert ; man thut ihm alles zu willen ; es ist hier im Hause aufgenommen wie eine Tochter , aber ist es auch nur ein kleines Spierchen dankbar dafür ? Ob Adelheid nachher traurig ist , und der arme Jung der Adolf muß doch wunder denken , wie er sie beleidigt hat , und man mag anfangen , was man will , immer muß Zank unter den Kindern sein ; könnten Gott danken , daß sie hier in dem schönen Garten sitzen dürfen , und en ganze Schüssel voll Bickbeeren mit Milch sollten sie abends kommen ; man denkt immer , was ihnen schmeckt , und zerreißt sich , daß sie alle ihr Recht kriegen . “
Annita umfaßte die Bekümmerte mit beiden Armen , küßte sie leidenschaftlich und bat um Verzeihung ; fünf Minuten später betraten sie Arm in Arm den Garten ; Frau Severin lächelnd , denn das kleine heftige Mädchen war ihr wirklich so lieb , daß sie es gern behalten hätte , – Annita mit schamvoll gesenktem Kopf , der sich erst wieder erhob , als Adelheid ihnen entgegenrief , Adolf sei weggelaufen .
Lange freilich blieb er nicht aus , und sein Gesicht war geröthet , als er wieder kam . „ Hast Du Wein
getrunken ? “ sagte Frau Severin mit mütterlichem Unwillen . „ Nein ! “ Adolf runzelte die Stirn , Annita mochte ihn gar nicht ansehen .
„ Wovon siehst Du denn so roth aus ? “
„ Ach , ich bin gelaufen “ , murrte Adolf .
„ Gelaufen ? wohin ? “
„ Ach , so ’n büschen aufs Heiligengeistfeld , laß mich doch in Ruh , Tante . “
„ Was hast Du denn auf’m Heiligengeistfeld zu thun gehabt ? “ sagte Adelheid neugierig .
„ Ich hab’ mich – ausgebrüllt , – was geht Euch das an ? “
„ Igitt , Adolf , sei doch nich so eklig mit uns “ schmeichelte Adelheid , „ wir meinen es ja doch nur gut mit Dir ! Was hast Du denn da zu brüllen ? “
„ Ach , ich muß manchmal ’n büschen schreien , weiß nich , muß ich “ Adolf zuckte die Achseln und sah verdrießlich aus .
Frau Severin betrachtete ihn besorgt .
„ Adolf , mein guten Jung , ich hab’ schöne kalte Buttermilch , soll ich Dir mal ’n Glas voll ’ raus holen ? “
Der Bursch schüttelte ihre rundliche Hand von seiner Schulter : „ Warum kuckst Du denn so , Tante ? ich bin doch kein Wunderthier ? Ich laß Euch ja auch in Ruh . “
„ Mein Gott , Kind , Du bist doch nich mal ohne
Hut in der Sonne gegangen ? Wollen wir nich ’n Brausepulver machen ? Adelheid , oben auf ’n “ –
„ Tante , wenn Du mich lieb hast , quäl mich nicht mehr “
Annita erinnerte sich deutlich dieser bittend hervorgestoßenen Worte , die ein besonderes Echo in ihr weckten , obgleich auch sie den sonst so ruhigen Jungen heute beinah unheimlich fand . Sie hatte plötzlich gesagt :
„ Laßt und doch ein bißchen Reifen spielen , eh es ganz dunkel wird , Adolf spielt gewiß mit , nicht ? “
Beim Reifenspiel war dann alles wieder ruhig geworden ; auch Max und August , die ältesten , waren noch darüber zugekommen , und es war Annita leicht geworden , dem ganz verwirrten und verstummten Adolf auszuweichen . Aber dann , nach dem späten Abendbrot , – Papa Severin war verreist und die Mäuse hatten frei tanzen , – war es schrecklich mit ihm geworden . Der kleine Ferdinand und der blasse Cäsar waren längst zu Bette ; Paul schwitzte in der Bodenkammer hinter einem lateinischen Aufsatz ; August las an einer Tischecke in seiner „ Quintessenz des kaufmännischen Rechnens “ , Max ließ sich von seiner Mama , die schlaftrunken über ihrem Stricktrumpf nickte , Geschichtszahlen abfragen , Adelheid und Annita besahen die neu gekommene „ Gartenlaube “ , daneben aber von Zeit zu Zeit den sonderbaren Vetter , der in einer dunklen Ecke saß , die Mädchen anstarrte und sich zuweilen
auf dem Stuhl hin- und herwarf , daß er krachte .
Da schlug es halb elf .
In Frau Severins müdes Gesicht kam plötzlich Leben . „ Herrjes , Kinder , zu Bett ! zu Bett ! Gott , Adolf , Du bist je auch noch da “ – und sie äugelte in die dunkle Ecke hinein .
„ Ich – ich wart’ bloß auf Annita , – ich bring’ Annita nach Haus “ , hatte er gemurmelt , – deutlich entsann sich das Mädchen des Schreckens und Widerwillens , den diese Worte ihr verursacht hatten und der freudigen Hast , mit der sie gerufen :
„ Ich bleib’ ja hier bei Adelheid “
„ Jawoll “ , hatte Frau Severin ihr beigestimmt , „ Annita bleibt hier , das wär’ je viel zu spät für ein junges Mädchen , und sie wohnt je überhaupt in St. Georg , das is je ’n ganze andre Ecke . “
Da hatte Adolf so merkwürdig gestöhnt , es war Annita durch Mark und Bein gegangen ; sie hatte sich schnell an Adelheid angeklammert . Völlig wie ein Unsinniger war doch Adolf zu Frau Severin hingestürzt :
„ Tante ! Tante ! komm heraus , ich muß Dir was sagen ! “
„ Allmächtiger , was is denn passirt ? kannst es mir denn nich hier drinnen sagen ? “ Aber schon hatte der ungestüme Mensch die zitternde Frau hinausgezogen , und nun standen sie auf dem Vorplatz , und drinnen
hinter der Thürspalte August mit der „ Quintessenz “ in der Hand , die wasserblauen Augen kugelrund , die Coteletts gesträubt , Max grinsend und roth vor unterdrücktem Lachen , die beiden Mädchen hinter ihnen , mit Herzklopfen und verschlungenen Armen . Gräßlich , dieser Adolf ! was er gesagt hatte : „ Tante ! Tante ! ich liebe Annita ! “ Die Severins wollten losplatzen und stopften sich Taschentücher vor den Mund . Annita hatte sich dunkelroth von Adelheid losgerissen und in die Ecke geflüchtet . Sowie August seine runden Augen auf sie wandte , versteckte sie ihr Gesicht . Aber sie hatte doch alles gehört : Frau Severin’s Beschwichtigungen :
„ Ja , mein Jung’ , Du mußt Dich abkühlen , komm , ich geb’ Dir ’n Brausenpulver ! Was sollst Du Annita nicht leiden mögen ? Wir mögen sie ja Alle gern leiden . En gute kleine Deern ! je jewiß ! Da brauchst Dich doch nich so um anzustellen ? Erst trinkst Du ’n Brausepulver , und dann gehst Du schön zu Hause . “ – –
Aber da hatte der Adolf zu heulen und zu schreien angefangen , ganz wie ein Unsinniger und doch wieder wie ein kleiner Junge : „ Ich kann nicht nach Hause geh’n , ich muß hier bleiben , ich liebe Annita , ich muß es ihr sagen , Tante , laß mich rein “
Es war der aufregendste Augenblick in Annitas Leben gewesen . Sinnlos vor Angst war sie auf die Fensterbank gesprungen , aber Adelheid hatte sie wieder heruntergezogen , und Frau Severin hätte ihn auch
nicht hereingelassen ; die Thür hatte so eine kleine Erschütterung gezeigt , als die Mama mit ihrem breiten Rücken sich davor gestellt , und dann nach August und Max gerufen . Die waren über den Balkon hinaus und auf den Vorplatz gestürzt , das Schreien und Rufen war noch eine Weile fortgegangen , jedesmal , wenn der verrückte Junge ihren Namen geheult , war sie zusammengezuckt und hatte sich die Finger tiefer in die Ohren gesteckt .
Endlich war es ruhiger geworden , und dann hatten sie Frau Severin wieder gehört :
„ So , Kinder , geht mit Gott , fallt auch nich ; Adolf mein Jung , trink noch ’n paar Gläser Zuckerwasser , eh ’ Du zu Bett gehst , und morgen bist Du wieder kreuzfidel . Aber weißt Du , mein Jung , herkommen , das geht nu nich mehr , ich weiß gar nich , wo mir der Kopf steht , nee , kannst je die Jungens abholen , wenn ihr mal zusammen spazieren geh ’n wollt , aber mit den Mädchen rumsitzen , nee , das is besser nich , – adjüs Adolf , “ – ein kräftiger Kuß erscholl , – „ ich bin man froh , daß Papa das nich gehört hat ! Wenigstens fürs Erste , Adolf ; nachher kannst je herzlich gern wiederkommen , – o Gott , mir bebern noch die Beine , so hab’ ich mich lange nich erschrocken . “
Als die Mutter dann zu den Mädchen hereingekommen war , hatte sie kaum ein Wort über die Geschichte gesprochen ; sie hatte nur gesagt , Adolf sei
nicht ganz wohl , August und Max brächten ihn nach Hause , – „ er hatte furchtbares Kopfweh , ich hab’ ihm Brausepulver gegeben . So ’n großer Jung ! Siebzehn Jahr all ! Nee , so sind meine Kinder Gottlob nich . Und der Adolf ist doch aus so ’ ne anständige Familie ! “
Annita hatte fortwährend auf der Zunge gehabt : „ Ja , was hat er denn eigentlich von mir wollen ? “ aber jedesmal , wenn sie sprechen wollte , fing ihr Herz so stark zu klopfen an , daß sie es aufgeben mußte . Auch der dann folgenden Nacht erinnerte sich Annita sehr genau und zwar mit einem Gefühl der Angst , die mit Neugier gemischt war . Was hatte sie Alles gedacht , während Adelheid neben ihr ruhig mit halboffenem Munde schnarchte , unempfindlich gegen die blauen Blitze , die wie scharfe Schwertspitzen in die Dunkelheit der Kammer hereinstießen , lautlos und unheimlich in der heißen schwarzen Nacht . August und Max waren bald heimgekommen ; sie hatte ihr Flüstern und ihre Fußtritte auf dem Gartengrund gehört , das Drehen des Hausschlüssels , das knackend und grell durch den stillen Flur scholl , das Ausziehen der Stiefel unten vor der Treppe , ihr leises Heraufschleichen über die knarrenden Stufen . Und dann das Oeffnen von Mama Severins Thür , ihr unterdrückter Ruf : „ Kinder , seid Ihr da ? “ ; das Lachen und Schwatzen der beiden Großen , und Mamas
Kichern , – ziemlich lange hatte das gedauert . Was die nur zu lachen hatten ? Worüber sie wohl sprachen ? Natürlich über diesen verrückten Adolf . Und von ihr auch ? Ach nein , hoffentlich nicht . Wie gênant und abscheulich , daß er gerade ihretwegen sich so gehabt und angestellt hatte ! Ja , Adelheid hatte gut schlafen , was ging es die an ! In die hatte sich dieser Mensch nicht verliebt ! Wie grausig ! Annita fühlte eine Gänsehaut auf ihren Armen trotz der Hitze , die inwendig in ihr brannte und ihre Lippen ausdörrte . Also das war die berühmte Liebe , von der in allen Gedichten und Geschichten die Rede ist ? aus der die Leute so entsetzlich viel machen , als wäre sie der Anfang und das Ende des Lebens . „ Lieben und geliebt zu werden ist das höchste Glück auf Erden . “ Aber das ist doch einfach unmöglich ! Ein Mensch wird ganz toll und blind und verändert , und dann nennt man das verliebt und macht Gedichte darüber ? Herrgott , was für eine unverständliche greuliche Geschichte ! Gesetzt den Fall , – Mama Severin hätte Adolf ins Zimmer gelassen – was dann ? Annita hatte gezittert und sich die Augen zugehalten , nein , der Gedanke war zu schrecklich , den konnte sie nicht weiter denken . Nehmen wir mal an , daß Adelheid nicht da gewesen wäre , und daß er zu Mama Severin gesagt hätte : „ Liebe Tante , laß mich mit Annita allein , “ dann wäre er natürlich gleich gekommen und hätte sich mit ihr verlobt . Wie
grauenhaft das wohl erst gewesen wäre ! Dies entstellte Gesicht , diese funkelnden Augen ganz in der Nähe zu sehen – hilf Himmel ! Und man spricht ja auch sogar von Verlobungsküssen . Da nützt nichts , als den Kopf unter das Leintuch stecken , um diese ekelhaften Vorstellungen loszuwerden . Aber es half nicht , es kam ihr sogar in den Sinn , daß eine junge Frau , die manchmal Annita’s Tante besuchte , von einem Brautpaar erzählt hatte , das man nur das verschlungene Monogramm nannte , weil es stets so umherging , und daß man ihnen in Gesellschaft nur einen einzigen Stuhl hingestellt hatte ! Annita dachte an Frau Severin mit gefalteten Händen . Sie war ihre Beschützerin , ihre Retterin , sie hatte ihrem eigenen Neffen das Haus verboten , damit das fremde Mädchen ruhig darin bleiben konnte . Am andern Morgen hatte Annita gebeten : „ Darf ich Mama und Du zu Dir sagen ? “ Und Frau Severin hatte sie geküßt und geantwortet : „ Ja , mein’ gute kleine Deern , mit tausend Freuden . “
An alles das mußte Annita denken und sich wundern , daß ein halbes Jahr so viel ausmachen konnte . Ihr eigener Zorn gegen Adolf war zwar auch verraucht , aber eine geheime Abneigung war um so stärker geworden , und Mama Severins Rührung über das Geschenk und den Schenker kam ihr ganz merkwürdig vor . Adolf war seit jenem Abend nicht mehr
im Hause gewesen , aber er hatte sich ja auf ausdrücklichen Wunsch der Mutter ferngehalten .
„’hott , Annita , mach doch nicht so ’n benautes beklommenes . Gesicht , “ sagte Mama Severin mit einem kleinen freundschaftlichen Stoß , „ der dumme Görenkram is je lang’ vergessen ! Nee , wirklich , ich find’ , wir laden den alten guten Jung noch flink ein , nich , Adelheid ? Geh man vor , mein Paul , sag , er möcht man heut abend auch ’n büschen kommen , sag , wir wollten ’n büschen tanzen . Nee , Du , wenn ich nu denk , daß er da ganz trocken und alleine zu Haus sitzt , nee , das mag ich denn auch nich , es is doch immer Euer Cousin , und sein Vormund is auch man streng mit ihm ; der hat nich viel von seiner Jugend , der arme Adolf , ach Kinder , nein , Geld macht nicht immer glücklich ! “ Frau Severin faltete ihre dicken Hände und blickte gen Himmel . Adelheid umfaßte sie von rückwärts : „ Ich freu ’ mich so , nu hab ich doch auch ’n Buch gekriegt . “ „ Und wo Du es am wenigsten erwarten konntst , Kind ! Aber Annita muß auch lustig sein . – Kinder , Kinder , die schönsten Jahre sind das ja , – wenn nu man bloß Papa nich brummt , daß wir ’n paar Leute eingeladen haben . “
Der Tag verging so schnell und so munter . Im Wohnzimmer duftete es nach Hyazinthen und Veilchen ,
im Speisesaal nach Puffer und Pumpernickel ; vor den Fenstern draußen guckte hellgrünes Gras aus einer leichten Schneedecke ; kaum war die Sonne roth gesunken , so kam der blanke Mondkahn am blaßblauen Himmel daher gesegelt . Am schönsten sah man das von Adelheids Zimmerchen im dritten Stock . Die Mädchen hatten sich nach dem Kaffee dort hinauf gezogen ; sie mußten sich doch umkleiden . Annita war gar nicht vom Fenster wegzubringen : „ Diese Stunde vorher ist fast noch schöner als der Abend selbst , findest Du nicht auch ? Mein Kopf ist ganz wirbelig , und doch freu’ ich mich auf nichts Besonderes , – und sieh mal , dieser hübsche blasse Schnee , und da hinten ganz fern und undeutlich die kleinen Häuser mit den rothen Lichtern , das gehört alles auch dazu . “
„ Ja , Annita , aber Du reißt mir das Haar aus , wenn Du zugleich aus dem Fenster gucken willst ! “ Adelheid schüttelte kläglich den Kopf , dessen langes weiches Gelock Annita soeben in kunstgerechte Pfropfenzieher verwandelte .
„ Ja , Annita , es ist sehr nett , wirklich , der Schnee und so das Ganze , und ich finde es so reizend von Mama , daß sie uns hier hat Feuer machen lassen , – kalte Stuben zum Anziehen sind so scheußlich . “ Sie zog fröstelnd die Schultern zusammen . „ Aber , ich fürchte , wir werden heut nicht fertig . Die Schleifen sind noch nicht zusammengenäht , und der Epheu ist auch nicht
abgewaschen , und immer ist mir , als hörte ich schon klingeln . Und so wie Du kann ich mich überhaupt nie freuen , und sag’ selbst , was soll ich mit meiner alten Nase hier thun , die so roth ist , grade heute ? “
„ Ach , das ist nur die Aufregung ! nein , Adelheid , es ist zu mollig ! In allen Zimmern hell und warm , und alle so beschäftigt , sich hübsch zu machen , und so gespannt , und unten schon die Kuchen auf den Tellern , und die Stühle stehen so einladend herum , und Max , der noch rasch mal den Puppenseewalzer spielt , ob er ihn nachher kann – ich mag es gern ! “
„ Ob wohl der Epheu nicht zu dunkel ist für mein Haar , und ob Otto Lenz wohl kommt ? “
„ Wieso Otto Lenz ? “
„ Weil er mein – au , – weil er mein Ideal ist ; wer ist Deins , Ita ? “
„ Ich habe jetzt grade keins . “
„ O Ita ! wie kann man ohne Ideal leben ! Ich muß immer zwei haben , ein schwarzes und ein rothes , blonde mag ich nicht , weil ich selbst so blond bin . “
Annita gab der Freundin einen Klaps mit der Bürste auf den Kopf . „ Und die hat geschworen , nicht zu heirathen ! na , wenn ich das im Leseklub erzählen könnte ! “
„ Ach , Mama würde es ja doch nicht erlauben , und so fest wie Du hab’ ich ja auch nicht geschworen ! “
„ Ihr habt gut lachen “ , keuchte Frau Severin ,
die mit einem Körbchen voll Epheuzweigen und mit Annitas weißem Kleid überm Arm eintrat ( das Kleid blieb immer gleich hier und ward von Frau Severin oft eigenhändig ausgeplättet ) . „ Ihr habt nichts davon als das Vergnügen ! Werdet nur erst so alt wie ich , dann sollt Ihr sehen , was es heißt , seinen heranwachsenden Kindern ein angenehmes Heim zu bereiten , besonders den Jungens , damit sie einem nicht aushäusig werden . Eben ist ein Lampenglas gesprungen , und wie sollen wir nun die Gaskrone anstecken ? Und der Heringssalat ist lange nicht so roth wie voriges Mal – ich weiß auch nicht , woran es liegt , und Papa hat Ohrenreißen und sitzt mit Salicylwatte in der Schlafstube und macht ’n Gesicht wie : laß doch alles absagen ! Was wißt Ihr von solchen Sorgen ! Aber laß man , Ita , mein Kind , laß man Adelheid , sie werden den Heringssalat wohl auch so aufkriegen , und wegen der Gaskrone , – Paul hat seine Lackstiefel wieder ausgezogen , der alte süße Jung ’ holt uns ’n neues Lampenglas , und für Papa hab’ ich eben en ganz heißen starken Grog gemacht , der wird ihm wohl gut thun . Aber nu kann ich auch nich mehr ! Seid man vergnügt , Kinder , so lange Ihr jung seid , nachher is es doch man das Halbe . Und hak’ mir mal das Kleid zu , Annita , wenn Du so gut sein willst , – nach’m Mittagessen bin ich immer ’n paar Zoll weiter in der Taille , als meine Kleider . “
Annita reckte ihre kleine Figur so hoch sie konnte und küßte die freundliche Frau auf die heißen Backen .
„ Ich hab’ Deine Mama schrecklich lieb , Adelheid “ , rief sie begeistert , als die Thür sich hinter ihr geschlossen , „ sie opfert sich ganz für ihre Kinder ! “
Noch einmal guckte Mamas Kopf mit dem reichen , glatt frisirten blonden Haar herein : „ Und seid ’n bißchen nett , wenn Adolf kommt , hörst Du , Annita , Du auch ! Ihr thut gar nicht , als wenn was gewesen wäre ! Schließlich – du lieber Gott – wir haben ja alle unsere Fehler . Ihr seid hoffentlich bald fertig , daß doch jemand da ist , der die Gäste empfangen kann ? “
„ Wenn ich an Adolf denke , wird mir doch ’n bißchen ängstlich “ , seufzte Annita , als die Mädchen allein waren , „ wenn er nur nicht in dem halben Jahr noch mehr verwildert ist . “
Aber Adelheid nahm es fast übel : „ Mein Cousin hat doch nicht unter Hottentotten gelebt ; stell Dich nicht so an , Ita , – nein , weißt Du , grade „ Blüthen und Perlen “ – all meine Bekannten haben es – das ist ein sehr netter Zug von Adolf . Du magst es glauben oder nicht , aber er ist im Grunde sehr poetisch , – ich hab’ ihn eigentlich immer gern leiden mögen . “
Annita blickte die Freundin überrascht an : Adelheid hatte sich selten so für jemand erwärmt , – es
war gut , daß unten ein Klingeln und Füßescharren entstand , sie wären sonst gar nicht aus dem Gespräch herausgekommen , ja es wäre vielleicht sogar eine deutliche Meinungsverschiedenheit ungewohnt und betrübend zu Tage getreten . Es war auch hohe Zeit , daß sie ins Gesellschaftszimmer kamen , denn dort unten saßen schon die beiden Küpers , Bertha und Auguste , mit dem bekümmerten Ausdruck von Menschen , die zu enge Stiefel anhaben , nahe beim Ofen , der eine entsetzliche Hitze ausspie und unter den ironischen Augen der alten Tante Sophie , die immer als erste an den Geburtstagsfeiern erschien , um die Honneurs zu machen .
„ Na , das ist recht “ , rief sie mit ihrer spitzen Stimme den Eintretenden entgegen , „ ich gebe mir hier alle Mühe , aber die jungen Fräulein sind so still ; eben hab’ ich schon gefragt , ob wir nicht ‚ zwei Gänschen im Haferstroh‘ spielen wollen ! “ Und dazu zitterte der Schnurrbart der alten Dame ordentlich vor Schadenfreude .
Annita reichte Thee und Kuchen , während Adelheid den Schwammbeutel und die Taschentuchpresse , welche Küpers auf den Opferstock niedergelegt , mit verklärten Blicken betrachtete . Tante Sophie verlangte zu wissen , von welchem Konditor die kleinen Theeplätten seien , und wurde darüber ganz liebenswürdig . Als ein männlicher Schritt draußen hörbar ward , erschrak Annita so , daß sie einen tiefen Seufzer ausstieß :
„ O Gott , jetzt kommt Adolf “ . Aber nein , es war Onkel Sally , der Geburtstagsonkel unzähliger junger Frauen und Mädchen , ein mumienhaftes hageres Männchen mit gefärbtem Bart und einer reichen schwarzen Perrücke , unter der die eingesunkenen Äuglein und die scharfe Hakennase gespenstisch bleich aussahen . Seine breite Unterlippe troff von süßen Reden und blühenden Wunschformeln , und all das richtete er zuerst an Annita , die er für das Geburtstagskind hielt , denn er war mit Severins ebensowenig verwandt , wie mit den übrigen Nichten seiner Wahl . Das junge Mädchen , das beständig an das gefürchtete Wiedersehen dachte , ließ alle Händedrücke über sich ergehen und zog sich erst zurück , als Onkel Sally sie väterlich auf die Stirn küssen wollte . Da schrie sie : „ Adelheid ! Adelheid ! komm doch her “ , und verschanzte sich hinter den zwei Jungen , Max und Paul , die eben händereibend und mit knarrenden neuen Stiefeln hereinkamen . „ Ist Adolf schon da ? “ fragte sie mit stockender Stimme und erröthendem Gesicht . „ Nein , Dein Adolf ist noch nicht da “ , erwiderte Max laut und frech , und dann lachten die beiden Schlingel , bis sich alle verwundert nach ihnen umsahen . Oha , diese schreckliche Geschichte ! Adelheid mochte die Honneurs machen , Annita fühlte sich zu beklommen hier ; sie lief hinaus und suchte Mama Severin auf , die in der Kellerküche mit dem Apfelsinensalat beschäftigt war ; Cäsar saß dünn und
blaß in einem Küchenstuhl und trank ein bißchen Cognac zur Stärkung , Ferdinand hatte eine Schürze um und durfte Zucker reiben , während das Dienstmädchen oben war und servierte . „ Nein , nein , Du brauchst mir nicht zu helfen “ , rief die Mama , als sie Annita erblickte , „ thu mir doch den Gefallen , Kind , bleib oben und biete etwas an , – ich bin ’n bißchen im Rückstand , weil ich doch für Papa sorgen mußte . “ Annita umfaßte die Geschäftige von hinten , um ihren Kopf an ihre Schulter zu legen . Mit einem ärgerlichen Schrei trat Frau Severin zurück . „ Herrjes , Kind , Du machst mir je mein Kleid fettig , so ’n helles graues Seidenzeug ist empfindlich , – was is Dir denn ? warum is Dir denn miteins die Petersilie verhagelt ? Geh doch rauf ! geh , laß Deine Adelheid nich so im Stich ! “ Annita stotterte , sie habe nur sehen wollen – – dann schlich sie die Treppe wieder hinauf ; – drinnen wurde lebhaft gesprochen . Ich will mal sehen , was Herr Severin macht , dachte sie plötzlich . „ Na , was willst Du denn ? “ brummte ihr eine mürrische Stimme entgegen , als sie die Thür des kleinen Wohnzimmers im zweiten Stock leise öffnete .
Papa saß dort in seinem großen grauen Schlafrock mit den grünen Aufschlägen , sehr roth im Gesicht , aber ganz breit und behaglich auf dem Sopha , vor sich die „ Hamburger Nachrichten “ und ein dampfendes Glas Grog . Die ganze Stube roch danach , und im Ofen zischten bratende Äpfel .
„ Geht es Ihnen besser ? “ sagte Annita schüchtern .
„ Mach wenigstens die Thür zu ! willst Du raus oder rein ? “ Papa Severin rückte gleichzeitig auf seinem Sopha , als wolle er ihr Platz machen . „ Na , is der Schwindel unten schon im Gange ? “ fragte er leutselig .
„ Sie sitzen hier so gemüthlich ! Es sieht aus , wie in den Märchen , – in der Behausung des Winters oder so “ – sagte das Mädchen und setzte sich auf eine Stuhlkante .
Papa blickte sie unsicher und dann sehr kritisch an . Immer freundlicher wurde sein Ausdruck . „ Willst Du ’n Schluck Grog haben ? “ sagte er und schob sein Glas über den Tisch ; es geschah so plötzlich , daß Annita von dem Stuhl auffuhr .
„ Nein , danke ! “ stammelte sie , sich nach der Thür zurückziehend , „ jetzt muß ich wohl hinunter . “ Sie besann sich , daß es doch unhöflich sei , nichts weiter zu sagen . „ Kommen Sie doch auch recht bald nach “ , fügte sie sehr gegen ihren Wunsch hinzu .
„ Ich will mich wohl hüten ! “ brummte er grimmig hinter ihr her , „ mach ordentlich die Thür zu , und schick mir das Mädchen rauf , Mari , hörst Du ? “ Damit versank er wieder hinter der Zeitung .
Als Annita hinunterlief , fühlte sie eine Last auf ihrer Seele . Zwei Dinge standen fest : Papa Severin war ihr heute unheimlich vorgekommen , und es konnte noch ärger werden , wenn Mari wirklich hinaufging und
ihm noch mehr Grog brachte . Sie beschloß , seinem Befehl nicht zu gehorchen , – wie schrecklich aber , wenn nun der arme Greis allein und verlassen oben saß und vergeblich wartete ! Wie unverschämt von ihr , Papas Gouvernante spielen zu wollen . Aber unverschämt oder nicht , sie steifte ihren Willen und bestellte Mari nicht . Es kommen vielleicht Fälle vor , wo man nicht thun muß , was die Männer wollen , ganz gleich , ob sie jung oder alt sind , dachte sie , ja , solche Fälle sind entschieden denkbar . Es ist zu ihrem eignen Besten , denn sie sehen manchmal aus , als wüßten sie selbst nicht , was sie thun . Nie zuvor hatte Papa ihr Grog angeboten , und so aus seinem Glase ! Ihr schauderte bei dem Gedanken an seinen rothgrauen Bart , den er nicht einmal ordentlich abgewischt hatte . Nein , er hatte ganz feucht geglänzt im Licht der Hängelampe . „ Durch mich soll er keinen Tropfen mehr bekommen “ , sagte sie entschlossen . Ganz gedankenvoll trat sie in den Saal ; ach Himmel – dort inmitten aller Gäste standen Adolf und August ; und nun that sich der Kreis auf , und Angela Rothermund , die zweitbeste Freundin Adelheids , kam mit herablassender Liebenswürdigkeit auf Annita zu . Angela war ihr antipathisch , sie hatte so Ausdrücke . „ Nein , das ist zum Schießen , was uns Herr Severin eben erzählt hat , – ich kann es nicht so wiedergeben , Herr Severin macht das unnachahmlich , – das ist wirklich , um auf die Akazienbäume zu
klettern . “ Annita ergriff ihre nachlässig dargebotene Hand und drückte sie mit Inbrunst . Alles , was sie noch ein paar Augenblicke verhindern konnte , Adolf ins Gesicht zu sehen , war lieb und willkommen . Sie hatte sich in den vergangenen Monaten so ängstlich mit ihm beschäftigt , daß sein Rücken in dem feinen schwarzen Gesellschaftsanzug sie jetzt ernstlich ernüchterte und enttäuschte . Es dünkte sie , daß er stattlicher , größer , fürchterlicher sein sollte . Es war aber ein ganz gewöhnlicher Rücken , viereckig , mit einem kurzen rothen Hals darüber . Auch der Hinterkopf hatte nichts Übernatürliches , grauenhaft Leidenschaftliches . Er war rund und mit kurzem dunkelblonden Haar bewachsen . Aber jetzt – hah ! jetzt wendete er sich um , jetzt erblickte sie sein Antlitz , das ihr so oft in bösen Träumen nah gewesen , jetzt trafen sie seine Augen , die sie an jenem Augustabend so in Angst versetzt hatten ! Aber nein , – wie sonderbar ! es war ja so gar nichts daran zu sehen ! eine dicke , etwas breite Nase , verschlafene Augen unter dichten , inmitten der Stirn zusammenstoßenden Brauen , ein stark entwickelter Schnurrbart und der Ansatz zum Backenbart auf den etwas knochig gewordenen Wangen , – ein eher komisches als erschreckendes Gesicht . Annita fühlte eine kühle spöttische Enttäuschung über sich hin wallen . Das war der Mühe werth gewesen ! Um den hatte man sich ängstigen müssen ; wirklich man ist doch zu dumm , so als junges
Mädchen ! Furchtsamer als eine Maus , scheuer als ein Vogel . Wenn nur etwas rauscht , zittern schon alle Glieder , und das Herz klopft : „ Flieh ! flieh ! flieh ! “ Sie fühlte sich der Annita von vor einem halben Jahr weit überlegen , und mit einer plötzlich erwachten Keckheit sagte sie in neckendem , übermüthigem Ton : „ Guten Abend , Adolf “ – „ Ach , guten Abend , Du ! “ erwiderte nachlässig der Angeredete , darauf hielt er ihr zwei Finger hin ; zugleich grabbelte er eine Schnur heraus und klemmte sich – nein , es war keine Täuschung , klemmte sich ein großes Monocle ins Auge .
„ Bravo , bravo ! “ rief Angela Rothermund , „ sehr chic , wirklich , so können Sie bleiben ! “ Annita hatte in der neu erwachten Verwunderung die zwei Finger genommen und geschüttelt . Sollte Adolf wirklich alles vergessen haben ? Das wäre doch stark ! Er schien ihr nun doch sehr verändert , männlich überlegen blickte er durch das Augenglas um sich , – sein Gesicht war auch entschieden blasser und magerer ; fraß ihm nicht doch vielleicht seine unglückliche Liebe am Herzen , wie jener Wurm , von dem Heine singt , und sein Gleichmuth war nur Verstellung ? Wie konnte es anders sein ! Sie , die ihn nicht liebte , sollte die Geschichte nicht vergessen haben , während er , der unglücklich Liebende , sie vergessen hätte ?
Nein , er verstellte sich , so gut wie er jetzt zwei Stücke Kuchen auf einmal nahm , als sie ihm das
Körbchen präsentirte . Er blickte nicht auf , aber er nahm zwei Stücke .
„ Trinkst Du Thee , Adolf ? “ flüsterte Annita sanft und gewissermaßen abbittend . Das Lächeln , mit dem er ablehnte , hatte etwas Melancholisches , ohne Frage . Ja , Liebe , vergebliche Liebe , das ist ein Unglück ! „ Nimm auch hiervon , die Mandelspäne schmecken sehr gut “ , murmelte Annita tröstend . Er nahm ; stumm , brütend , kauend saß er da . Kann ich ihn auch nicht lieben , so kann ich doch nett mit ihm sein , sagte sich das Mädchen , und als die Stühle alle besetzt wurden , schob sie den ihren neben Adolfs . Aber er sprach immer , wenn er etwas sagte , nach der andern Seite , wo Angela saß . Sie war recht unangenehm , dieses jüngste Fräulein Rothermund . Man hieß die Rothermunds die zerstreute Familie , alles nach den sehr offenherzigen Berichten Angelas , die immer so herzuzählen liebte : „ Papa hat ein paar Fremde hier und zeigt ihnen heute Hamburg bei Nacht , Mama ist in der Singprobe , Thekla verkauft im Wohlthätigkeitsbazar , Leo – der ist zu Hause , glaub’ ich – – nee nee , erst abwarten und dann Thee trinken , der hat ja heute Skatabend , Malwine ist in „ Fiesko “ , brr ! aber wir haben geloost , wer hin muß , unsere Logennachbarn schimpfen so , wenn wir immer unsere Scheuerfrauen hinschicken , wenn Stücke von Schiller sind , – und die andern , na , die werden wohl auf’m Jungfernstieg
rumlaufen , bis sie ins Wiener Café oder sonst wo reinfallen , bei Pfordte oder so – es ist immer so amüsant , wenn nachher dann alle ihre Abenteuer erzählen . “
„ Aber da haben Sie ja kein – wie soll ich sagen – so kein richtiges Familienleben “ , hüstelte Onkel Sally , der als Hagestolz immer nur an fremden Tischen gespeist hatte .
„ Was weiß die Geiß von der Sonnenuhr “ , zischelte Angela lachend den jungen Leuten zu , – dann wandte sie sich keck zu dem alten Herrn : „ O , Familienleben , was man so gewöhnlich nennt , – danke schön für Obst und Südfrüchte , – aber hab’ ich Ihnen nicht erzählt , daß wir uns jeden Morgen beim Frühstück treffen , und dann berichten und beichten ? “
„ Ein sehr munteres Fräulein , wirklich “ sagte Onkel Sally und leckte sich die Unterlippe , „ dürfte ich das Fräulein , – wie heißt das Fräulein , – ergebenst bitten , mir zu sagen , – wann Ihr Geburtstag , – an welchem Tage – ich habe hier nämlich mein Notizbüchelchen , – he he na wo is es denn ? “
Angela schlug die Hände zusammen .
„ Nein , sind Sie neckisch ! Wollen Sie mir wirklich etwas schenken ? “ und mit großen runden Augen kam sie auf die zitternde Mumie zu und stellte sich mit ihrer jungen üppigen blonden Schönheit vor ihm auf . Eine sehr robuste Schönheit , aber die Blicke aller
männlichen Gäste hingen an ihr . Auch Adolfs , unzweifelhaft . Annita wurde es so eng , so heiß , sie hätte die Hand dazwischen halten mögen , zwischen Adolfs Augen und dies milchige rothumlockte Gesicht mit den blaßblauen Augäpfeln , die an etwas Kaltes und Unsympathisches und Gewöhnliches erinnerten . Woran ? An Schellfische ! Ja , ja , an Schellfische .
Sie ging extra zu Mama Severin , da sie Adelheid nicht erreichen konnte und fragte sie in eindringlich aufgeregter Weise , ob sie nicht auch finde , daß Angela schreckliche Schellfischaugen habe . Mama Severin , die eben ihren August in eifriger Unterhaltung mit der Besprochenen gewahrte , schüttelte verweisend den Kopf . „ Ach nee , Du , – en büschen verwöhnt , Gott na , solche reiche Leute ! Hunderttausend kriegt die wenigstens mal mit . Ach nee , ich mag die kleine Deern gern leiden ! Kuck , was August das mit ihr wichtig hat ! Zum Todtlachen ! Ach hott , so junge Leute , nee , da geht doch nichts über ! “ Mama wischte sich die Augen , sie waren ihr feucht geworden .
War es möglich , daß Adolf sich gar nicht um sie kümmerte ? Weshalb hatte er dann wieder herzukommen gesucht ? Er guckte sie nicht an , hatte noch kein Wort , keinen Blick an sie gerichtet . Sie hielt es nicht aus , so in der Ungewißheit über seine Gefühle . Langsam schlängelte sie sich wieder in seine Nähe ; er starrte eben Angela mit offenem Munde an , aber sie wollte
es nicht sehen , sie schob sich dazwischen und sagte : „ Warum bist Du so still , Adolf , wo alle so heiter sind ? “ Keine Antwort . Nach einer Weile erst betrachtete er sie , ganz überrascht . „ Sagtest Du etwas zu mir ? “ fragte er stockend . „ Ich meinte nur , daß Du so still bist ? “ flüsterte Annita . Ein verlegenes Lächeln zog über sein Gesicht . „ Ich bin ein bißchen müde “ , sagte er halblaut . Annitas Herz klopfte stark . Müde – das bedeutete hier gewiß etwas ganz anderes ! Und da sagte er auch schon : „ Ich hab’ die letzte Zeit nicht viel Schlaf gekriegt . “ Und wieder dies verlegene melancholische Lächeln , das dem Mädchen so wohl that . „ Nimm noch ein Stück Kuchen , diese habe ich gebacken “ , sagte sie mit tiefer Rührung . Adolf gehorchte mechanisch ; sie sah es wohl , er that alles , was sie wollte . Annita hatte sich nie so angenehm unglücklich gefühlt .
„ Ich find’ es bis jetzt mal thranig , “ flüsterte ihr Adelheid ins Ohr , während sie vorüberstreifte ; „ nur Angela bringt en bißchen Leben , Ihr beiden sitzt da “ – – das letzte sagte sie laut , und ihre Blicke waren piquirt .
Nun wurden Spiele gemacht . Mama Severin , die sich auf dem glatten Parkettboden dieses Zimmers nur immer hinter einem Stuhl bewegte , den sie wie einen Schlitten vor sich herschob , machte Einwendungen , aber sie wurde doch aus ihrer Ruheecke zur Betheiligung herangezogen .
Sie mußte sogar auf einen Stuhl steigen und das verschleierte Bild von Saïs vorstellen . Der blasse Cäsar rieth dann auf „ das Gespenst aus dem Langengang “ und wurde von den Mädchen verächtlich ausgelacht . Danach stellte man das rothe Meer dar , was ja mit einem wollenen Flanellteppich leicht zu erreichen war ; der kleine Ferdinand mußte den Moses abgeben , natürlich ohne Jacke . Als aber Annita auf den verrückten Einfall kam , Moses habe auch keine Hosen angehabt , als ihn die Königstochter fand , wurde er sehr beleidigt , und seine Mama nicht weniger . So spielte er denn den Moses in Hosen , und es that ganz die gleichen Dienste .
Tante Sophie ärgerte sich nur über Adolf . Keinen Gruß , kein Wort hatte der „ Automat “ an sie gerichtet . „ Das is ’n aasiger Junge “ tuschelte sie jedem zu , der in ihrer Nähe kam . Und als er einmal schwerfällig aufstand und hinausging , athmete sie ordentlich erleichtert auf : „ Du , der Automat hat ’n menschliches Rühren verspürt ! Na , ich bin nur froh , er sah so drucksig aus , als hätte er – – “ „ Aber Tante “ kreischte Angela , und dann ging sie herum und erzählte vor Lachen erstickend einem nach dem andern , was die Tante Sophie gesagt hatte . Natürlich nur den Damen , aber die Herren standen dahinter und spitzten die Ohren und lachten so verständnißinnig , als wüßten sie ganz gut Bescheid . Ein allgemeines Grinsen
empfing den Unglücklichen , als er wieder hereinkam . Jawohl den Unglücklichen ! Annita war ganz roth vor Aufregung und Empörung . Das war nur Angela Rothermund , die diesen unfeinen Ton hier hereingebracht hatte . Tante Sophie , nun , das wußte man schon längst , was für Witze die machte . Aber eine , die so etwas nicht einmal selbst erdenken kann , die es nur herumträgt – – brr ! Sie ging geradewegs auf Adolf zu und sagte : „ Es soll jetzt getanzt werden , wenn Du mit mir willst , so bin ich gern bereit . “ „ Entschuldige “ , erwiderte der junge Mensch , „ ich möchte gern erst mal mit dem andern Fräulein , – wie heißt sie eigentlich – ich habe sie schon engagiert . “ Und er zeigte ganz gemüthlich mit dem kurzen Zeigefinger nach dem Knäuel hinüber , in dessen Mitte Angela stand . Annita wollte aufkochen , aber sie besann sich . Er wollte ihr seinen Stolz , seine männliche Würde zeigen , – durfte sie es ihm verdenken ? Nur , daß er gerade jene , die falsche Spötterin , ausgewählt hatte , that ihr weh . „ Du kennst Angela nicht “ sagte sie mit warnendem Ton . „ Nein , seh ’ sie heute zum erstenmal in meinem ganzen Leben “ , erwiderte er pathetisch . Dann , mit verlängerter Miene schwieg er , Angela tanzte ja schon und zwar mit dem ältesten Severin , den sie um einen halben Kopf überragte . „ Nu is sie mir weggekapert “ , sagte Adolf kopfschüttelnd . Annita stand beschämt und erröthend vor ihm .
„ Vielleicht ich ? Wenn Du doch so gern auch möchtest , Adolf ? “
„ Es kommt mir nicht darauf an , ich kann ja so wie so schlecht tanzen . “
Das war nun Thatsache . Adolf stieß mit den Knieen und trat auf die Füße , daß es ein Graus war , aber eben deshalb hatte sich ja Annita angeboten . Sie lechzte nach einem Opfer für ihn . „ Was ist das Leben ohne Tanz ! Ein Stern ohne Glanz ! “ deklamierte August Severin , der eben mit seiner Blonden vorüberhopf’te . So blank war seine Stirn , daß sich die Gasflammen darin spiegelten , und um den Mund zog beständig ein süßes Lächeln .
„ Na , denn komm nur “ , fragte Adolf und bot Annita den Arm . Der Platz war beschränkt , und es dauerte eine Weile , bis sie daran kamen . Aber ein Vergnügen war es auch dann nicht . Kaum eine Minute blieben sie im Takt , dabei drehten sie sich immer auf der gleichen Stelle . „ Halt Dich doch fest an mir “ , murmelte Adolf kläglich , „ Du bist glatt wie ’n Aal ; was soll denn das heißen ? Du rutschst mir ja unterm Arm durch “
„ Ach , verzeih mir , Adolf , ich konnte ja nicht anders , aber meine ewige schwesterliche Freundschaft “ – zitternd schwieg das Mädchen , denn ganz verständnißlos blieb Adolfs Gesicht .
„ Wie ? “ sagte er zerstreut , „ na , jetzt kommen wir
aber in die Klemme , wenn wir nicht frisch drauflos tanzen “ – er nahm einen Anlauf , rutschte , und bauz ! lagen sie alle beide auf dem glatten Parkett . Annita löste sich ziemlich schnell aus der krampfhaften Umschlingung , mit der Adolf beim Gleiten sich an sie geklammert hatte .
„ Annita ! Annita ! Was bist Du für ’n schrecklicher Wildfang , “ seufzte Mama Severin , die ihren Teller im Schrecken auf die Tasten gesetzt hatte , so daß nun auch der Walzer plötzlich abgeschnitten war . Ferdinand sammelte eine kleine zartgrüne Schleife auf , die sich von dem weißen Kleid gerissen hatte .
„ Steh doch auf , Adolf ! herrjes , Jung , hast Du Dir weh gethan ? “ Mama Severin schlug die Hände zusammen . Tante Sophie hielt sich vergnügt die Lorgnette vor die Augen : „ Der Automat ist unters Klavier gerutscht ! Onkel Sally , nein , sehen Sie mal ! nein , haben Sie je so was gesehen ! “
Wie er es gemacht hatte , wußte niemand , er am wenigsten , aber gewiß ist , daß seine Beine wie im Block steckten , und daß er mit einer Jammermiene versicherte , er könne sie nicht wieder herausziehen , sie säßen gänzlich fest . August und Max faßten ihn unter die Arme , um ihn hervorzuzerren , aber da schrie er , sie brächen ihm die Zehe ab . Das Klavier mußte weggerollt werden , dann erst war er frei . Aber er konnte doch nicht allein aufstehen , und das Ende vom
Liede war , daß er sich den linken Fuß gründlich verstaucht oder verdorben hatte . Sie betteten ihn aufs Sopha und vertrösteten ihn auf morgen . „ Dann schicken wir zum Doktor . Du kannst ja hierbleiben ; Max und Ferdinand müssen zusammen schlafen . Sei nur nicht bange , mein Junge , das wird alles wieder besser . “
Frau Severin streichelte ihn und brachte ihm ein Glas Punch . Annita aber schlich betrübten Herzens von fern herum , – die betrachtete sich als die Urheberin von allem . Nicht der blankgewichste Boden , seine unglückliche Liebe hatte ihn zum Fallen gebracht . Vielleicht war es unrecht von ihr gewesen , mit ihm zu tanzen ? Wahrscheinlich hatte ihn der Gedanke zu sehr aufgeregt , denn wie wunderlich war er gewesen . Und niemals hatte er abscheulicher getanzt . Ihr kleiner linker Zeh war wund von seinem Absatz . Ach , wie gern wollte sie es leiden , wenn es ihn getröstet hätte . Aber nichts dergleichen ! Unglückliche Liebe ist die furchtbarste aller Seelenqualen . Es graute ihr entsetzlich davor , und sie hatte eine Ahnung , als könne auch sie einmal drankommen .
„ Kein Feuer , keine Kohle kann brennen so heiß . “ Ach , warum war sie verurtheilt , schon in ihrer Jugend einen andern Menschen so leiden zu machen ! Es trieb sie zu seinem Sopha hin , an dem die andern , nach ein paar kurzen Worten , gleichgültig vorübertanzten .
„ Thut es Dir sehr weh , Adolf ? “
„ O , wenn ich liege , geht es . “
„ Ärgerst Du Dich sehr , daß Du jetzt nicht tanzen kannst ? “
„ Nee , das ist das wenigste , aber daß ich heut Nacht hier bleiben muß – “ – er schüttelte den Kopf .
„ Ach , die Gastfreundschaft Deiner Verwandten kannst Du doch gewiß gern annehmen . “
„ Es ist mir unangenehm , und ich kann es eigentlich gar nicht “ , sagte er mit einem sorgenvollen Zug um den Mund . Er war wirklich älter geworden .
„ Ich will bei Dir bleiben und Dir Geschichten erzählen . “
Annita wunderte sich über ihre eigene Aufopferungskraft , denn sie tanzte für ihr Leben gern .
„ Ach , das ist es nicht , – ich kann ja einfach schlafen . “
„ Hier , bei dem Lärm , bei der Tanzmusik ? “
„ O , ich kann jetzt immer schlafen , ich hab ja so wenig davon gekriegt . “
Wie er gelitten haben muß , seufzte Annita in sich hinein . Sie betrachtete ihn mit gerührter Neugier .
„ Warum guckst Du mich immer so an ? “ fuhr er plötzlich heraus .
„ Ich ? nein , gar nicht entschuldige , Adolf , wärest Du lieber allein ? Ist Dir meine Gegenwart – ist Dir meine Gegenwart ein Dorn im Auge ? “
Sie bereute ihre zarte Bemerkung , als sie sah ,
wie hastig Adolf nach dem Punsch griff und ihn hinuntergoß . Gewiß , um die Erinnerung fortzuspülen . Konnte er ihr denn niemals vergeben ? Sie hatte eine unbestimmte Vorstellung , als ob sein Bein gleich wieder gut würde , wenn sie zu ihm sagte : Adolf ich liebe Dich auch . Und sie seufzte tief , daß es ihr nicht möglich war , diese einfachen Worte zu sprechen . Wie schade , daß sie dieses Experiment nicht versuchen konnte ! „ Nimm Dein Bett und wandle ! “ Wie erhaben , solche Macht zu besitzen ! Aber natürlich , nur für den Fall , daß sie Wahrheit sind , wirken solche Worte . Ach , wäre das herrlich gewesen , wenn sie ihn geliebt hätte !
Der Abend verging wie ein recht geräuschvoller , eindrucksreicher Traum . Küpers wurden um elf Uhr von ihrem Mädchen geholt , aber Angela Rothermund schickte das ihrige wieder fort , – August Severin würde sie begleiten , sogar , seine Mama bat für ihn .
Vorher brachte der ungeheuer angeregte Älteste noch einen Toast auf die „ Königin des Abends “ , auf die „ Krone der Gesellschaft “ aus , die durch ihre leider so selten vergönnte Gegenwart den Geburtstag seiner Schwester zu einem ewigen Gedenktage seines Lebens machen würde . Frau Severin strahlte , drückte von Zeit zu Zeit ihr Tuch an die Augen und blinzelte zu Tante Sophie hinüber , die zu Augusts uralten Redensarten ironisch durch die Lorgnette lächelte .
„ Wie heißt das bezaubernde Fräulein ? “ bemerkte
Onkel Sally am Schluß der Rede , so laut , daß die Besprochene es deutlich hörte und ihm huldvoll ihren Namen rief : „ Angela Rothermund . Soll ich es Ihnen aufschreiben , Onkelchen ? “ Onkelchen warf ihr eine Kußhand zu . Dann aber kam auch sein Dienstmädchen , vor der er sofort zusammenkroch wie ein kleiner Junge . Sie wickelte ihn in die Plaids und Shawls , die sie mitgebracht hatte , und nahm ihn fest unter den Arm . Lachend schauten die jungen Leute dem sonderbaren Paar durch den Garten nach . War es nicht unglaublich , daß man einmal so alt werden konnte ?
Adelheid war verstimmt , als die Mädchen endlich ihr Schlafkämmerchen unterm Dach aufsuchten . „ Den ganzen Abend hast Du Dich nicht um mich bekümmert , Du nicht und Adolf nicht . Als wenn ich Luft wäre . Und diese Angela hat mir wirklich ein ganzes Sträußchen Maiblumen mitgebracht Solche reichen Leute . Ich hab’ mich so gewundert über Augusts Toast . Die Königin des Festes ! Und dabei war es mein Geburtstag . Mama säh’ es natürlich gern , aber ich bedanke mich für solche reiche verzogne Schwägerin , – ich mag nicht auf den Knieen ’ rumrutschen . Wenn noch Otto Lenz gekommen wär’ ! Tante Sophie hat ganz recht , wie ’n Automat hat dieser Adolf dagesessen . “
„ Ich glaube , er – er leidet sehr “ , sagte Annita und blies das Nachtlicht aus .
„ Ach , das bißchen Verstauchte ist doch morgen wieder gut ! “ brummte Adelheid , die Nase unter der Decke .
„ Nein , das meine ich nicht , ich meine seelisch , weißt Du . “
„ Was Du Dir immer einbildest ! Wieso denn ? “
„ Er hat es , fürchte ich , noch immer nicht überwunden “ , flüsterte Annita , „ vom Sommer , weißt Du “ – –
Adelheid wurde wach und aufmerksam . „ Ach , glaubst Du ? der arme Mensch , das wäre ja sehr – – dann könntest Du stolz sein , Ita . “
„ Darum war ich so viel um ihn , – ich wollte ihm wenigstens meine Freundschaft beweisen “ , stotterte Annita . „ Ich freute mich deshalb sehr , daß er hinfiel – nein , Du mußt nicht falsch verstehen , – nicht , daß er hinfiel , aber daß er sich weh gethan hat “ – –
„ Wir wollen ihn zusammen pflegen “ , sagte Adelheid gerührt , und die Freundinnen verstanden einander und küßten sich innig . „ Er hat ja keine Eltern ! “
„ Keine Schwester ! “ fiel Annita ein .
„ Niemand , der sich recht um ihn bekümmert . “
„ Niemand auf der ganzen Welt . “
Sie seufzten und küßten sich wieder .
„ Adelheid ! ich komme mir so schlecht vor ! “
„ Nein , Ita , Du bist nicht schlecht , das weiß ich besser ! “
„ Aber wenn er doch nun so unglücklich ist durch mich ? “
„ Gib Dir Mühe , vielleicht magst Du ihn zuletzt doch ! “
„ Nein nein , nein , das ist nicht möglich . “
„ Aber Du kannst doch nett mit ihm sein . “
„ Ja , das muß ich , sonst – sonst bin ich zu traurig um ihn . “
„ Die Hauptsache ist , er muß hier bleiben , bis sein Bein wieder gut ist . “
„ Ach ja , Adelheid . “
„ Wir bitten Mama , sie thut uns ja alles zu Gefallen . “
„ Deine Mama ist ein Engel . “
„ Wir wollen ihn recht pflegen ! “
„ Ja , den ganzen Tag bei ihm sitzen . “
„ Ihm was vorlesen , oder Dame und Sechsundsechzig mit ihm spielen , das mag er lieber . “
„ Das wird schön , Adelheid ! Weißt Du , was ich möchte ? Daß er seine Arme auch nicht rühren könnte . “
„ Pfui , wie scheußlich von Dir ! “
„ Ich meine ja nur , weil ich ihn dann füttern könnte . Adelheid , wie himmlisch muß es sein , barmherzige Schwester zu werden , nicht ? “
Sie hörten es drei Uhr schlagen , ehe sie einschliefen . Die Folge davon war , daß sie am Morgen kalten Kaffee bekamen und von Mama gescholten wurden ,
die ihrerseits schon von Papa aufs heftigste angebrummt worden war . „ Mich wundert , daß die Bande schon weg ist “ , hatte er gesagt , „ den Stuhl oben kannst Du zum Tischler schicken ; es sind zwei Beine ab . Geholfen hat es nicht , als ich damit aufklopfte , aber die Beine sind wenigstens ab . Gott im hohen Himmel bewahr’ einen vor Euren Geburtstagsfestivitäten , – Ihr seid nur froh , wenn Ihr das Geld durchbringen könnt . “
Adolf lag auf dem Sopha in der sogennanten Kinderstube . Die jüngeren machten dort ihre Schularbeiten .
Der Doktor kam und that ungeheuer ernsthaft .
Es war möglich , daß eine Sehne gezerrt war , sie konnte sogar gerissen sein ; ja vielleicht war die Sehnenscheide geplatzt ; vielleicht aber war es gar nichts . Er empfahl abwarten und kaltes Wasser , daneben Diät und wollte morgen wiederkommen .
Adolf zeigte sich sehr unruhig .
Die zwei Mädchen hatten schon angefangen , ihn zu „ pflegen “ und besetzten einen Tisch mit allerlei delikaten Überresten von gestern . Der Patient verschlang drei Caviarbrötchen , zwei Stücke Gänsebrust , Pumpernickel mit Eidamer , soviel vorhanden war , wollte dann aber aufstehen .
„ Wenn Du Dich nicht still hältst , kannst Du für ewig lahm bleiben “ , riefen die Mädchen , und nun brachten sie Apfelsinen , Feigen und Datteln , eine ganze
Schale voll . Adolf ließ sich bereden , aber liebenswürdig war er nicht dabei . Mürrisch fraß er die halbe Schale leer und sagte , sie glaubten wohl , er wäre ausgehungert ? Gegessen hätte er jetzt genug , aber er müsse heute Morgen „ nothwendig irgend wohin “ , er habe „ eine Besprechung “ , die er nicht aufschieben könne , etwas „ an der Börse “ , Geschäftssachen natürlich , von denen doch Frauen nichts verstünden , wenn er es ihnen auch gern erklären wolle .
„ Aber wenn man doch krank ist “ , beschwor ihn Annita .
„ Ach was , Ihr macht mich krank ! “ murrte Adolf . Nein , liebenswürdig macht unglückliche Liebe nicht , dachte Annita , aber das wäre auch zuviel verlangt , – wer weiß , wie ich einmal werde !
Inzwischen wälzte er sich auf dem Sopha umher und wollte weder vorgelesen bekommen noch Dame spielen . Adelheid mußte fort in die Singstunde ; nun hatte ihn Annita ganz allein , aber sie nahm willig die Last auf sich .
Merkwürdig ist es doch , wie der Arme sich beherrschen kann , dachte sie während der halben Stunde , da sie neben ihm saß , beinahe erwartungsvoll , daß es unangenehm werden könnte . Aber Adolf war nun unschuldig wie ein Lamm ; sie hatten nämlich ein Thema gefunden , das sie interessirte ; der Patient erzählte vom Cirkus . Prachtvolle Pferde gab es da ,
Rapphengste . Sie machten die seltensten Kunststücke und hatte sogar ihm selbst schon Zucker aus der Hand gefressen , „ ungelogen , Annita “ . Zucker ? ihm aus der Hand ? Ja , wieso denn ? Bei der Vorstellung ? – Nein , mal im Stall , – er kannte dort Jemand ; die Rapphengste waren zu wundervoll , er hatte sie in der Nähe sehen wollen , und dabei hatte er dann Jemand kennen gelernt . Adolf sah vor sich nieder , räusperte sich , sagte dann aber nichts mehr . Ja , sehr ungelegen wäre ihm die Geschichte mit dem dummen Fuß jetzt , begann er wieder . „ Ich habe keine Zeit da herum zu liegen , erwartet werde ich den ganzen Vormittag , da ich gestern Abend gekommen bin . Wenigsten in einer Droschke könnt’ ich doch hinfahren , nur sagen , daß ich nicht ausgehen kann , weißt Du . “
Annita rieth zum Schreiben . „ Ich bring’ Dir alles , Adelheids niedliches kleines Schreibzeug , und wenn es etwas Geschäftliches ist , will ich von Mama Severin einen größeren Bogen holen , Geschäftsformat . Und gern will ich Dir den Brief in den Kasten stecken “ – –
Adolf überlegte lange , mißmuthig willigte er ein .
„ Du mußt aber unter der Zeit lesen oder sonst was . Wenn Du überguckst , schreib’ ich nicht . “
„ So indiskret bin ich doch nicht “ rief das junge Mädchen mit erröthenden Backen . Er fing auch an zu schreiben , aber dann hörte er bald auf . „ Es nützt
nichts , es geht nicht . Ich weiß auch die Adresse nicht . “ Er schmollte .
„ Soll ich das Adreßbuch vom Krämer holen ? “ Annita wollte ihm so gern helfen .
„ Nein , da steht sie doch nicht drin . “ Das Mädchen hätte gern mehr gefragt , aber sie dachte an das „ Übergucken “ .
„ Wenn Ihr mir heut Abend keine Droschke besorgt , kriech’ ich auf allen Vieren aus der Hausthür “
„ Könnte ich nicht den Weg für Dich machen ? “ schmeichelte Annita mit abgewendetem Gesicht .
Adolf zog die Brauen empor und die Mundwinkel hinab ; er sah tief unglücklich aus !
„ Na , seid Ihr recht fidel , Kinder ? “ sagte Frau Severin , die hereinkam , um sich zu ihnen zu setzen .
Drei Tage hütete Annita den ungebärdigen Kranken wie eine Mutter ihren Säugling . Sie kam früh Morgens , wenn noch der Mond goldig am Himmel stand , von ihrer entfernten Wohnung herüber , – abends begleiteten Paul oder Max sie nach Hause . Er war zeitweilig freundlicher , der Patient , und gewann den Mädchen im Damenspiel Nickel ab . Aber von seinem vorübergehenden Frohsinn ließ sich Annita nicht täuschen . Er war unruhig , zuweilen ganz nervös , fuhr vom Sopha auf , wenn irgend ein Geräusch im Hause entstand , betheuerte von Zeit zu Zeit , jetzt müsse er fort , er könne und könne es nicht länger aushalten .
Als er einmal so wüthete , ging Annita und holte ihm vom Gärtner einen Veilchenstrauß . Sie wollte ihm zeigen , daß sie ihn verstehe und ihn wenigstens durch Güte trösten . Adolf beroch die Blumen einen Augenblick , dann legte er sie achtlos beiseite . Nein , man sah es deutlich , mit Kleinigkeiten war der nicht mehr zu befriedigen . Es war ja auch genau genommen , wenig – so ein Veilchenstrauß statt eines Herzens . Armer Adolf ! Er hatte doch ein schauderhaftes Schicksal .
Einmal lag auf dem Teppich vor dem Sopha eine Karte . Annita hob sie auf und sah dann , daß es eine auf die rechte Seite gefallene Photographie war .
„ Was hast Du da ? gib her “ rief der Patient .
„ Ist es Deine ? soll das ein Mann oder eine Frau sein ? “ Das Mädchen hatte nur eine flüchtige Vision von panzerähnlichen glitzernden Tricots und einem Helm über Lockenringeln gehabt . Adolf war so eilig gewesen , ihr das Bild abzunehmen und zu sich zu stecken .
„ Fein was ? “ sagte er schmunzelnd .
„ Ist es ein Mann oder eine Frau ? laß doch noch einmal sehen , Adolf . “
„ Das Bild kennst Du nicht mal ? steht doch in allen Schaufenstern . Miß Adamina , die berühmteste – – “
„ Ist das eine Cirkusreiterin ? “ fragte Annita etwas hastig .
„ Sie schwimmt vorzüglich . Dies ist ihr Badeanzug aus der Wasserpantomime , nobel , was ? “
„ O ! “ Annita genirte sich und fürchtete doch , sich ’s merken zu lassen , eben weil Adolf so harmlos dabei war . Mama hat recht , er ist ein reines Kind , dachte sie gerührt , er weiß noch gar nicht , wie unpassend solche Bilder sind . Hätte ich es nur stillschweigend beiseite gebracht ! Das geht ja noch übers Ballet , keinen einzigen Rock , und ziemlich dick schien sie mir sogar zu sein . Sie betrachtete Adolfs rothbraunes Gesicht , die kleinen Augen , die runde Nase , den dicken Schnurrbart über dem rothschimmernden Munde . So kindisch ist er doch nicht mehr , – nein , es gehört schon ein ziemlicher Stumpfsinn dazu , solche Photographie in der Tasche zu tragen und sich nicht zu schämen . Ach nein , die Männer – –
Für einige Zeit verließ sie das Kinderzimmer , half Mama in der Küche und hackte Petersilie , immer nach der Melodie : „ Dickes Trampelthier . “ In ihrer Phantasie schwoll Miß Adamina von Augenblick zu Augenblick mehr auf , bis sie wirklich so dick war wie ein Koloß . Laß ihn nur allein sitzen ! laß ihn sich nur mit seinem Trampelthier im Badekostüm trösten , dachte sie rachsinnig ; also das ist sein Geschmack ! reizend , wahrhaftig : Und auf der andern Seite bin ich sein Geschmack ? O pfui , pfui , pfui solche Schmeicheleien , für die dank’ ich . Die Männer thun jawohl alles in einen Topf , denen ist wohl alles gleich , – natürlich – Angela Rothermund , oder ich , oder dies Trampelthier ,
das ist egal . Unterscheidungsvermögen haben sie wohl gar nicht ; na , das ist ja eine nette Entdeckung . Sie würde sich sogar schämen , die Geschichte Adelheid zu erzählen , die gerade einen Besuch machte . Bei Angela Rothermund , selbstverständlich ! geradezu zärtlich wurde von der hier im Hause gesprochen . O die Menschen ! die Menschen ! Annita fühlte sich plötzlich so allein , so ausgestoßen , daß sie ihren Kopf über das Hackbrett bog und ihren Thränen freien Lauf ließ .
„ Kind Gottes , Du hackst ja lauter Haare mit in Deine Petersilie “ , sagte Frau Severin und hob ihr den Kopf in die Höhe . Da lachte Annita unwillkürlich . „ Nee , was bist Du für ’n kürige Deern ! wirst doch nich weinen , weil ich das gesagt hab ’ ? “ staunte Mama .
Adolf stöhnte ihr entgegen , als sie nach Stunden wiederkam .
„ Ihr lauft alle weg ! wenn ich das gewollt hätte , wär’ ich schon längst zu Haus – so allein – komm ! komm her , setz Dich wenigstens auf Deinen alten Platz , Annita – ich bin doch so schlecht dran – bedenke mal , wenn Du so liegen müßtest ! “
Annita versuchte , streng auszusehen . „ Du bist schon ganz verzogen ; “ sie setzte sich neben ihn , aber steif zurück gegen die Stuhllehne .
„ Das ist ja noch das einzige , was ich davon habe , dafür bin ich ja auch Euer Cousin , Deiner doch auch , Annita , oder so gut wie , nicht ? “
Ach was für ein dummer , kindischer Bursch er doch war mit seinen müden , hülflosen Augen und den hängenden Mundwinkel . Nein , nein , sie hatte ihn zu strenge beurtheilt , ein sanftes mütterliches Rühren überkam sie .
Leise strich sie über sein Haar , das ihm tief in die Brauen hineinhing .
„ Ja gewiß , lieber Adolf , und ich will auch nicht wieder weglaufen , Du thust mir ja so – – “
Der Junge hielt sich ganz still unter der liebkosenden Hand ; langsam stieg ihm eine Hitze ins Gesicht , er stöhnte ein bißchen .
Das Mädchen aber konnte es nicht ertragen . „ Adolf , Adolf ! “ schluchzte sie auf ; die Thränen liefen ihr herunter , sie legte ihre Arme um seinen Kopf und wollte seine Stirn küssen . Erschrocken fühlte sie dann sein plötzliches Emporbäumen und Straffwerden ; nun wollte sie sich zurückziehen , aber es gelang nicht mehr ; er hielt sie mit seinen kurzen festen Händen umklammert und drängte seinen Mund auf den ihren . Es war ein Augenblick der Betäubung , der Sinnlosigkeit ; Adolf stöhnte fortwährend , Annitas Thränen strömten , und dabei küßten sie sich mit fest zusammengepreßten brennenden Lippen . Sie hörten nicht , daß die Thür aufging , sie hörten erst den verwundert empörten Aufschrei :
„ Na , was is nu los ! “
Gleichzeitig glitt Annitas Stuhl zurück , und sie fiel zwischen Sopha und Stuhlpolster auf den Teppich .
Mama Severin rang die Hände .
„ Schämst Du Dich nich ? Annita ! in meinem ganzen Leben – – Adolf , Du Schlingel – aber das große Mädchen is ja zwanzigmal mehr schuld ! Ja , nu kannst Du rauslaufen ! wärst man lieber vorher rausgelaufen ! o Gott , o Gott , o Gott , wenn Papa das hört ! so’n Unanständigkeit ! so ’n – was sagst Du ? willst Du entschuldigen , Du Schleef ? Je , wart Du man ! Da muß man andere Saiten aufziehen ! “ Sie drohte dem Jungen , der seinen Kopf versteckt hatte , mit der rundlichen Faust .
„ Ich bin schlecht , Tante ! ich bin keinen Schuß Pulver werth , “ stöhnte Adolf , mit der Nase in den Sophakissen .
„ Was ? keinen Schuß Pulver ? “ Frau Severin stutzte .
„ Nicht werth , daß mich die Sonne bescheint ! “ jammerte der Bursche .
Die Frau griff sich in die Haare , ihre Augen wurden starr . Sie sprang auf den Neffen los : „ Was hast Du auf’m Gewissen , Unglückskind ? “ rief sie , ihn rüttelnd . „ Sag es man um Gottes willen – was habt Ihr hier vorgehabt ? – – “
„ Ach Tante ! Du hast es ja gesehen ! Ich habe sie – – wir haben uns – – Annita is so nett mit mir – – immer schon gewesen – – “
„ Immer schon gewesen ! “ Das matte Echo der Worte ging unter in einem verzweifelten Händezusammenschlagen . „ Immer schon so nett wie heute ? “ fuhr sie ironisch fort .
„ Nein , so nett noch nie ! “
Bei der Betheuerung blickte Mama Severin auf . Dann murmelte sie etwas Unverständliches , seufzte und kopfschüttelte ängstlich und ging endlich Annita nach , die bei ihren ersten Worten aus dem Zimmer geflohen war .
Das Mädchen ließ sich durchs ganze Haus suchen ; oben in Adelheids Stübchen neben dem Bett saß sie , hatte ihr heißes Gesicht in die kühlen Laken gesteckt . Als aber Mama Severin roth und keuchend hereinguckte , stand sie auf und ging ihr mit verwirrten Augen entgegen .
„ Weißt Du , Mama , ich hatte es nämlich gar nicht so gemeint , ich wollte ihn ja nur trösten . “
„ Achhott , Annita ! “ Frau Severin blinzelte beleidigt und gab ihr einen Puff .
„ Sieh mal , weil ich ihn nicht – nicht leiden mag ! “ das Mädchen sprach so überzeugt aus gutem Gewissen .
„ Weil Du ihn nicht leiden magst ? “ stotterte die Mama .
Annita reckte sich grade . „ Ach Mama , meinst Du denn , daß ich ihm einen Kuß gegeben hätte , wenn ich ihn möchte ? “ sie war flammend roth .
„ Du hast ihm überhaupt keine Küsse zu geben ! Bei mir im Hause – ein junges Mädchen und schämt sich nich – “ sie schlug mit der flachen Hand auf das Betttischchen , daß der Leuchter tanzte . „ Du bist klug genug , Du weißt , daß sich das nicht paßt . Ich denk’ , mich soll der Schlag rühren “ – –
„ Ich hab’ mich auch so furchtbar erschrocken , “ stammelte Annita mit niedergeschlagenen nassen Augen .
„ Ja , das glaub’ ich woll ! “ höhnte die Mama . „ Sag ’ mir , Du Unglückswurm , habt Ihr das schon mehr gethan ? “ – –
„ Gott , Tante , wie kannst Du so was denken – – ach , es ist ja nur so gekommen – weißt Du “ – – Annita weinte .
„ Du bist ’n überspannte Deern “ sprudelte Frau Severin , „ na komm ! wir woll ’n es man Adelheid gar nicht erzählen , hörst Du ? na ja , na ja , ich will das je gern glauben , daß da keine Liebelei hinter steckt “ –
„ Keine Spur “ , schluchzte das Mädchen mit dem Kopf auf Mama Severin’s Schulter . – „ mit solchem dummen Jung “ –
„ Aber das Gesabbel will ich auch nicht , hörst Du woll ? Was is das für ’n Manier ? So ’n paar Gören ! ’n Mutter haben sie auch nich mal ! Na , nu heul’ man nich mehr . Der Schlingel von Jung hat auch all geheult . Was von Schlechtigkeit und keinen Schuß Pulver werth sein – – weißt Du , was das
heißen soll ? “ – – Sie guckte das Mädchen unvermuthet scharf an . Annita blieb ganz ruhig .
„ Ja , es war auch scheußlich von ihm , daß er mich so festhielt , “ sagte sie mit empörtem Kopfnicken , und dann fuhr sie sich mit der Hand hart reibend über die Lippen , „ nie wieder geh’ ich zu ihm hinein . “
„ Dafür will ich woll sorgen , Ita ! Nee , der wird nu hinausgefeiert , er is je wieder besser . Aber das muß ich doch sagen , mit meiner Adelheid is nie im Leben so was vorgekommen ! Du mußt ganz anders werden , Kind , Du bist viel zu freundlich ! En Mädchen muß sich immer suchen lassen . Zurückhaltend ! Je je ! Guck Du man ! Siehst Du woll ? “ Annita hatte die Scheltende beim Kopf genommen und feurig abgeküßt , daß die Worte nur zerrissen und erstickt zum Vorschein kamen .
Am Nachmittage kam eine Droschke , und Adolf wurde mit Augusts Hülfe hineingesetzt . Er sagte , er freu sich nich wenig , daß er wieder so weit sei .
Annita kam nicht zum Vorschein , er that auch nicht , als vermisse er sie . Adelheid hatte die Geschichte doch erfahren . Sie war sehr schokirt . „ Sieh mal , Du hast immer so viel auf Angela Rothermund zu sagen , aber ich glaube doch nicht , daß sie so etwas fertig gebracht hätte . Gott , ist es reizend bei den Rothermunds ! Erdbeeren und Schneemus schon zum Frühstück , und Zimmertelegraph durchs ganze Haus .
Nächste Woche gibt die einen großen Ball , sie wird Dich hoffentlich auch einladen , Ita ? “
„ Ich geh’ doch nicht , “ wehrte Annita beleidigt . Sie waren in den letzten Tagen ein wenig fremd miteinander .
„ Wie komisch Du Dich anstellst , “ sagte Adelheid von oben herab , – dann sprachen sie nicht mehr zusammen . Annita schloß sich um so wärmer an Mama Severin an . Acht Tage lang war sie ihr der einzige liebste Mensch auf der Welt . An Adolf wagte sie kaum zu denken , nicht einmal wenn sie allein war , ganz still , vor dem Einschlafen . Es ging ihr damit wunderlich . Hinter dem dummen , kindischen , frechen Adolf stand noch ein andrer Adolf , ein herrlicher Mensch in jeder Beziehung , und den sie sich nur mit Herzklopfen vorzustellen getraute . Dieser Zweite hatte eine feurige Liebe zu ihr , und sie erwiderte sie ebenso feurig . Sie hatte den armen Jungen Adolf auf die Stirn küssen wollen , und plötzlich war jener Zweite hinter ihm vorgesprungen , und dann war jene sonderbare Begebenheit vorgefallen . Sie hatte durchaus die Vorstellung , daß die Küsse , die sie heftig erwidert , von jenem Zweiten herkämen . Sie hatten nichts Unangenehmes oder Beschämendes in der Erinnerung , nachträglich kam es ihr sogar vor , als habe sie sich in jenem Augenblick unbeschreiblich glücklich gefühlt . Zu Anfang konnte sie von Adolf wegwerfend , scherzend ,
ironisch sprechen ; je mehr Zeit verging , in der sie ihn nicht sah , desto unerträglicher ward ihr’s , dergleichen auch nur zu hören von Andern . Adolf wurde immer mehr zu dem zweiten Adolf , für den sie empfindlich , besorgt , ja zärtlich war wie für Niemand sonst . Sie traute ihm die merkwürdigsten Eigenschaften zu , war auch überzeugt , daß einzig eine leidige Verkettung von Umständen ihn bis jetzt verhindert hatte , sich in „ seinem waren Licht “ zu zeigen . Adelheid zog sich offenbar von ihr zurück , Mama Severin sogar sprach mit ärgerlichem Antheil von Rothermunds Liebenswürdigkeit . Sie hatte die zerstreute Familie besucht und zwei von ihnen zu Hause erwischt , aber das gab einem gleich einen Begriff , – einen Begriff – – und überhaupt dieser solide Luxus ! Was sie am meisten freute , war , daß Leute wie die , die so dastanden , alle Kleider im Hause schneidern ließen ! Denke Dir , Angelas und Marys Ballkleider ! Auch August war entzückt davon ; er konnte stundenlang von Rothermunds erzählen hören , die kleinsten Einzelheiten , wie sie die scharfen Blicke von Mutter und Tochter in ihr Gedächtniß notirt hatten .
Annita war ganz allein mit sich und Adolf . Wie er wuchs und sich verschönte von Tag zu Tage ! Sogar äußerlich . Es war offenbar ein Irrthum , daß er dick sein sollte . Wer war nur auf diesen Unsinn verfallen ? Er hatte im ganzen eine ungemein interessante Erscheinung , wie es eben selbstverständlich war für
einen Menschen , der sie so heiß und unglücklich liebte . Solche Menschen sind niemals dick ! Ach , und die Augen ! Auf hundert Schritte würde man ihn herauskennen und einander fragen : Wer ist der junge Mann mit den breiten , immer gesenkten Augenlidern ? woher dieser düster brennende Blick und das schmerzliche Zucken der Brauen ? Ja , wenn sie es wüßten ! Aber das war zwischen ihm und ihr ; Tante Severin war nicht zu rechnen , denn was verstand sie davon ? Sie hatte Adolf nie verstanden ! „ Wo still ein Herz in Liebe glüht , o rühret , rühret nicht daran ! “ Aber Tante Severin hatte daran gerührt und „ gewiß , es war nicht wohlgethan ! “ Denn Adolf war nun wieder völlig unsichtbar geworden . Das war ja gut – – insofern – aber wenn er nur jemand hätte , der ihn pflegte , der sich seiner annahm ! Es kam ein Tag , wo Annita ihm eine angstvolle , herzklopfende Fensterpromenade machte , nur um zu wissen , ob Max , der täglich bei ihm vorbeiging , auch die Wahrheit berichtet habe . Gottlob , seine Fenster waren dunkel ! Er ging schon wieder aus , Max war gerechtfertigt . Ach , wo mochte er nur umherirren in Nacht und Nebel ? Der Februarabend war so ungastlich , es regnete nassen Schnee , und in die lauwarme Luft fuhren plötzliche eisigkalte Windstöße : Der Arme ! Er war ja doch „ drüben “ geboren , und ihn fror immer an diesen naßkalten Wintertagen .
Auf einmal fiel ihr ein , sie könne ihm ja vielleicht
begegnen ! Der zweite Adolf irrte wahrscheinlich in Nacht und Nebel umher , trauernd und unselig , aber der eigentliche Adolf war vielleicht bei seinem Vormund im Comptoir , wo er als Volontär lernte , und konnte jetzt , da es sieben Uhr schlug , zum Mittagessen nach Hause gehen . Annita ward glühend roth unter ihrem weißen Schleier . Das Pelzkäppchen drückte plötzlich ihre Stirn , und der oberste Knopf des Plüschpaletots war ihr immer zu eng gewesen ; nun beklemmte er ihr den Athem , auf damit ! auf damit ! Die zwei Adolfe schmolzen plötzlich ineinander wie zwei Schneeflocken , ununterscheidbar , – jetzt gab es nur noch einen , und dieser konnte ihr jeden Augenblick begegnen . War das ein angenehmer Graus ! Aber die Straße , die Straße wie kurz ! Da war sie schon am Ende . Ja , dann half es nicht , dann mußte man noch einmal entlang . Es war gewiß Bestimmung , sie sollten sich heute Abend hier treffen . In den Büchern ihres Lebens stand es so eingezeichnet . Aber dann nicht so schnell gehen , die Fehlandsstraße ist zu bald durchmessen . Sie stand an jedem Schaufenster still . So , gab es schon frische Erbsen und Bohnen ? Und wie hübsch rosig die Radieschen auf dem Teller mit Kresse schimmerten . Es waren eine Menge Konservenbüchsen da ; wenn man all die Aufschriften las oder wenigstens so that , konnte es wirklich lange dauern . Und manches war ja auch interessant herauszukriegen . Zum Beispiel dieses Weißliche ,
Krause da oben in der Schüssel , was mochte das wohl sein ? Sie rieth und rieth , immer mit dem Gedanken : kommt er ? kommt er nicht ? und mit den Augen gewissermaßen auf dem Rücken . Sieh da , frische Champignons ! Wenn es nur keinem auffällt , daß ich hier so lange stehe ! Kann es angehen , daß in der Schüssel Magdeburger Sauerkraut ist ? Ach , jetzt stellt sich der alte Schafskopf mit seinem Regenschirm gewiß auch hierher ! O weh , dann muß ich weg ! Richtig , er kommt herübergesegelt , er steht ! er steht still ! Himmlische Güte , Papa Severin ! O was soll ich anfangen . „ Sie haben sich aber ’n nasse Stelle ausgesucht , Fräulein ! grade unter der Dachrinne ! “ sagte Herrn Severins grob joviale Stimme . „ Kommen Sie doch ’n büschen mehr auf diese Seite “ – – er streckte leutselig die Hand aus , als wolle er sie an das andre Fenster ziehen . „ Na , nu suchen Sie sich man was aus ! Was begehrt Ihr Herz ? Gehen Sie denn ganz allein ? I , so ’n junges “ – –
„ Herr Severin , kennen Sie mich nicht ? “ sagte Annita entsetzt , sie hatte ein Gefühl , als ob sie nicht ein Wort mehr hören dürfe . Der joviale Herr fuhr zurück , räusperte sich längere Zeit und sagte dann in verändertem Ton :
„ Na so , na so ! Je Du bist mir auch gleich so bekannt vorgekommen ! I , denk ich , steht da nich ’n bekannte Dame vor dem Delikatessenteller ? Na , wolln
wir ’n Pumpernickel mitnehmen ? Du willst doch zu Adelheid , nich ? Oder ’n büschen Jungenwurst ? Na , bist woll in der Stadt gewesen ? Kannst je mit reinkommen , um acht Uhr zehn ist die Pferdebahn am Dammthor , die kriegen wir noch . “ Er schob das Mädchen voran .
In der Ueberrumpelung sagte Annita ja zu allem . Aber sie war dabei böse auf sich ! Grade als ob sie mondsüchtig wäre und nicht mehr wüßte , was sie thäte ! Ihr Wille verlangte so dringend zurück nach der menschenleeren Straße mit den windverstörten gelben Gaslaternen und dem bläulichen Widerschein der elektrischen Lampen am Jungfernstieg , der den Himmel mondhell machte ; nach dem Regen und Schnee und dem zögernden Herumwarten , nach der Begegnung mit dem gehätschelten Pflegling ihrer Phantasie , der jetzt bereits Flügel zu entfalten anfing , deren Wehen sie in eine sehnsüchtige anbetungsvolle Betäubung versetzte . Und statt dessen that sie Papa Severins Willen und ging mit ihm in den nach Käse , Apfelsinen und feuchter Sellerie duftenden Keller und stellte sich , als interessirten sie Sardinen in Oel oder Delikateßheringe in Weinsauce , und der Papa , den sie nicht mochte und der sich nie um sie bekümmert hatte , außer damals mit dem Grogglase , schauerlichen Angedenkens , zog sie jetzt zu Rathe , bei allem , was er einkaufte , erkundigte sich theilnehmend nach ihrem Verhältniß zu Caviar
und wollte zum Schluß durchaus nicht leiden , daß sie auch einige von den zahlreichen Päckchen trüge . Und unterstützte sie beim Besteigen der Pferdebahn so galant , daß ihm der Pumpernickel entrollte , – aber kein Groll kam in sein breites behäbiges Gesicht ! Annita wußte später nicht ein Wort von dem , was sie mit ihm gesprochen , auch nicht wie sie von Mama Severin und Adelheid empfangen und an den Speisetisch geführt wurde . Sie wachte erst auf , als die Familie ein Jubelgeschrei ausstieß beim Auspacken der mitgebrachten Herrlichkeiten . Nur Mama meinte etwas verwundert : „ Herrjes , Papa hat jawoll das große Loos gewonnen . “ Aber das tiefere Bewußtsein bekam Annita auch dann nicht zurück , als sie mit den anderen plauderte und scherzte . Der große Gegenstand war eine Puppenaussteuer für Angela Rothermunds siebenjährige Nichte . Hemdchen und Röckchen und Schürzchen , von allem sechs Stück und fein mit Seide gezeichnet , nur von den Taschentüchern hatten es natürlich zwölf sein müssen , davon braucht man ja immer so viele ! Mama gerieth in Ekstase vor ihrem eigenen Werk : „ Gott , wenn ich als Kind so was geschenkt gekriegt hätte ! “ seufzte sie mit gefalteten Händen ; in ihren Augen schimmerte eine Thräne .
Papa , der mit einer großen Handbewegung unter die Nippsachen fuhr , um Platz für den „ Hamburger Korrespondenten “ zu machen , den er mit weit von sich
gestreckten Armen unter die Hängelampe hielt , erntete beleidigte Blicke von all den Jungen – sie hatten sämmtlich Verstand von der Bekleidungsfrage , und besonders der blasse Cäsar wurde Rath gefragt , wenn Mama nicht wußte , ob sie lachsfarbene oder mattblaue Bändchen nehmen wollte .
Die Thür ging plötzlich auf , ohne Klopfen , und herein trat Adolf , den Hut in der Hand , fast im Laufschritt ; Annita , die mit dem Rücken gegen die Thür saß , hörte den Ausruf der Mama : „ Herrjes , Adolf ! sieh , bist Du besser ? wo kommst Du denn her ? “ „ Guten Abend ! “ Er stand da , drehte den Hut – Annita , deren Herzschlag einen Augenblick ausgesetzt hatte , wagte einen verstohlenen Blick . Nein , nein , nein ! das war nicht der Mann mit den Flügeln , es kam herunter wie kalter Regen , ihr wurde auf einmal so fremd und traurig und kühl !
Dunkelroth und glänzend stand er da ; es war ein ungewohnter ungewöhnlicher Ausdruck in den jetzt offenen Augen und besonders um den Mund , etwas Gehobenes , Feierliches , Verklärtes , dazwischen aber eine putzige Verlegenheit , wie er sich so steif hielt und den Stuhl , den sie ihm hinschoben , ganz unbeachtet ließ .
„ Könnte ich Dich vielleicht einen Augenblick sprechen , Tante oder Onkel ? “ seine Stimme war heiser vor Aufregung .
„ Es ist doch kein Unglück passirt ? “ sagte der
Papa aufmerksamer ; die Mama stieß einen Schrei aus und hielt sich fest an der Sophalehne .
„ O nein , ganz das Gegentheil , – es ist etwas Wichtiges , was mich betrifft , – etwas ganz Unerwartetes “ – –
„ Na , denn könntst Du das jewoll auch hier sagen ! “ brummte Papa , der seine Sophaecke ungern verließ .
Adolf schnappte nach Luft , lächelte mit einem seltsam stieren Ausdruck vor sich hin ; man sah wohl , er war bis zum Rande voll von seiner Neuigkeit , aber er zögerte gleichwohl .
„ Na , so schieß doch los ? “ schrie Max und schlug ihn kräftig auf die Achsel .
„ Ich – ich wollte nur sagen – es interessirt Euch doch gewiß , und ich weiß gar nicht , wo mir der Kopf steht – – also – nämlich – ich habe soeben einen Sohn bekommen . “
„ Was ? was hat er bekommen ? “
Mama Severin griff krampfhaft um sich in die Luft : „ Achhott , achhott , nu is er jewoll übergeschnappt ! “
Papa erhob sich mit dummem , aber allmählich heller werdendem Gesicht , griff über den Tisch nach dem Neffen und zerrte ihn ohne ein Wort zu reden mit sich hinaus . Adolf wehrte sich verblüfft und sagte fortwährend : „ Aber Onkel , wie ich Dir sage ! ganz gewiß , ganz gewiß ! Ihr seid die Ersten – und – er sieht mir schon ähnlich – “
Da brach um den Tisch ein Lachgebrüll los , das dem Erstaunenskrampf ein Ende setzte ; die Jungen stießen einander in die Seite , und plötzlich rollten Max und Paul auf dem Teppich und lachten und balgten sich wie besessen .
„ Was habt Ihr eigentlich zu lachen ? “ sagte Mama in strengem Ton . Sie setzte ihre Nähbrille auf und blickte unter den Tisch . „ Ich bin nich für das Gerangel , das wißt Ihr , und Ihr habt auch gar keinen Grund , Euch so zu haben . Ich fürchte , ich fürchte – Adolf is ja sonst so ’n netter Jung , aber wenn er man nich trinkt ! Ich hab gar nich verstanden , was er eigentlich wollte , aber das konnt’ man je mit halben Augen seh’n , daß er nich recht bei sich war . “
„ Er hat gesagt , er hätt’ ’n Kind gekriegt , “ jubelte der kleine Ferdinand .
Schwabb , hatte er seinen Klapps auf den Mund weg . „ Daß Du mir nich noch mal so was sagst , solche unanständige Sachen sind noch gar nichts für Dich ! “ zürnte die Mama .
Der in seiner Freude gestörte Junge fing an zu heulen : „ Adolf hat es doch selbst gesagt , da kann ich doch nichts für , “ schrie er tief gekränkt .
Inzwischen wurde es auch hinter der Thür laut und lauter . Man hörte Papa auf den Tisch schlagen , und Adolf mit erhobener Stimme einzelne Worte ausstoßen . „ Sehr anständig ! ihr Vater ist ein serbischer
Graf , so bald wie möglich verheirathen – Miß Adamina hat es mir auch gesagt – der einzige Weg , wie ich es wieder gut machen kann , “ und dazwischen Scheltworte : „ Esel ! Grünschnabel ! Taugenichts ! so ? na , das wollen wir erst mal seh’n ! “ in Papas wohlverständlichem Organ .
Annita ertrug es nun nicht länger ; sie hatte mit starr auf das Tischtuch gesenkten Blicken gesessen , seit Adolf gekommen war . Sie wollte einmal auch lachen , als Alle lachten , aber es ging nicht , sie hatte einen Krampf in den Kinnladen , und ihre Augen füllten sich mit Thränen . Ohne Erklärung verließ sie das Speisezimmer , Adelheids Stübchen war ihre Zuflucht wie gewöhnlich . So etwas war ihr denn doch noch nicht vorgekommen ! An Adolf dachte sie keinen Augenblick , der war ihr nur widerwärtig . An sich dachte sie , an sich allein , und es war ihr , als stehe sie dumm und blöd und blind vor einer dicht in Nebel gehüllten Landschaft . Was geschieht dort ? sie sieht es nicht . Um was handelt sich all’ das Lärmen und Laufen ? Warum steht man auf und geht wieder zu Bett ? Was ist es eigentlich , was die Menschen treiben ? So ganz im Stillen , im Geheimen ? Wird sie denn ewig dumm und lächerlich sein und nichts verstehen von dem , was vorgeht ? Sie tastete und tappte , aber auch nicht ein Strohhalm war da , an dem sie sich halten konnte . Und immer war es , als stehe Jemand im Hintergrunde und lache sie aus . Wer ? sie kannte
ihn nicht . Irgend ein Mann , eine Frau war es nicht , das hörte sie am Lachen . Es wurde ihr ganz unheimlich zuletzt , es fror sie so , daß ihr die Zähne klapperten . Ein dünner Lichtstreif fiel durch die Thürspalte , Schritte kamen herauf .
„ Bist Du hier oben , Annita ? “ sagte Mama Severin ; ihre Stimme klang ärgerlich und müde .
„ Ich bin hier , “ sagte das Mädchen mechanisch .
„ Na , Adelheid is schon ganz böse , sie wollte nich mit rauf . “ Sie leuchtete ihr ins Gesicht . „ Gott , Kind , Du siehst je so komisch aus , was is Dir denn eigentlich ? “ Und als sie nun keine Antwort erhielt , trat Mama ängstlich ganz nah heran . „ Kind , Du kannst einem wahrhaftig bange machen , “ flüsterte sie zitternd , „ der dumme Bengel hat doch um Gottes Willen nich auch Dir was in’n Kopf gesetzt ? “
„ O pfui , Tante ! “ sagte Annita laut und empört . – Plötzlich faßte sie sich ein Herz . „ Weißt Du , Tante , es ist doch wohl eigentlich Alles ganz anders , als wir Mädchen es uns denken , nicht ? “
„ Ach ja , “ machte die Mama gedehnt , „ da magst Du wohl recht haben . Ja , wenn ich so nachdenk’ , – es ist wohl Manches anders ! Wieso meinst Du ? “
„ Besonders mit den Männern , nicht Tante ? “
Mama zuckte vorsichtig die Achseln . „ Was für Männer meinst Du ? “
Annita verstummte . Endlich getraute sie sich zu
sagen : „ Adolf ist ein schlechter Mensch , nicht Tante ? “
„ Ach Kind , sprich lieber gar nicht von dem Eselinsky ! Er wird nach Amerika geschickt , und damit hopp und hollah ! Mein Mann will mit dem Vormund Rücksprache nehmen – – “
„ Und seine – Frau und sein Sohn , was macht er mit denen ? “
Mama starrte sie sprachlos an , lachte heiser und wurde dann auf einmal steif . „ Das sind Dinge , die ’n anständiges , junges Mädchen nicht zu wissen braucht , und das zeugt nich von Bildung , daß man über so was spricht . Was wird so ’n siebzehnjähriger Schleef wohl ’n Frau haben ? Da is man still und denkt sein Theil ! Wer wird wohl so was in’n Mund nehmen ? So is es zu meiner Zeit Mode gewesen , und so mach’ ich es wieder bei meinen Kindern . Wart , bis Du Dich mal verheirathest ! “
„ Ich ? nie ! “ rief Annita hastig . Jetzt bin ich fertig hier , dachte sie .
Mama blieb steif vor ihr stehen mit ärgerlichen Runzeln auf der Stirn .
„ Nee Du , nu reißt mir auch mal der Geduldsfaden , nu mag ich das Gewäsch nicht mehr hören . Du thust mir ’n büschen zu blümerant , – mußt Dir wirklich erst mal den Wind um die Nase wehn lassen . Nichts wie Freundlichkeiten hast Du hier genossen , un dennoch immer dieses abstoßende Wesen gegen Angela
– da haben wir uns schon lange über geärgert . Sieh man zu , wie Du durchkommst mit all’ dem überspannten Kram im Kopf “ – –
„ Adieu , Mama , adieu ! ich danke Dir tausendmal für Alles , ich kann es nie , nie vergessen ! “ Annita küßte die zürnend sich bewegende Backe .
„ Bitte , bitte , Ihr müßt nicht schlecht von mir denken , Ihr seid so anders und ich bin so – so dumm ! Grüße Alle , seid mir nicht böse ! Adieu für immer ! adieu , adieu ! “
Sie lief an Mama vorüber , die sprachlos dastand , riß Pelzkappe und Jacke vom Nagel und rannte in Thränen gebadet in den Schneesturm hinaus .
Fertig ! ganz fertig . –
Zwei Tage später verlobte sich August mit Angela Rothermund . Das Severinsche Haus stand auf dem Kopf vor Jubel .
Annita gratulirte nur schriftlich . Adelheid schnippte die kahle Karte vom Tisch . „ Mama , “ sagte sie geheimnißvoll , „ weißt Du , was ich jetzt glaube ? ich glaube , daß Annita ein herzloses Mädchen ist . “
„ Ach , sie wird wohl wiederkommen , “ bemerkte Mama zerstreut ; „ na , wenn uns nur die Kochfrau nich sitzen läßt ! Sie wollte doch um halb zwölf hier sein ! “
„ Die Schöpfung . “
A us den Hinterthüren des Stuttgarter Hof-Theaters , die in den dichten Baumgang zum Park münden , traten die Schauspieler ; die Probe war zu Ende . Die Damen , meist noch in bescheidener Morgen-Toilette , eilten mit gesenkten Köpfen , gleichsam incognito , durch die unscheinbarsten Sträßchen ihren Wohnungen zu , während die männlichen Kollegen , laut perorirend , in Gruppen gingen , um hier mit königlicher Herablassung einen Gruß zu erwidern , dort vor einem schnell und unhörbar daher galoppirenden Offizier mit gerunzelter Stirn auf die Seite zu springen . Als letzter trat der Souffleur auf die Straße , ein graues , verwittertes Männchen , dessen schmalschnabeliger Hahnenkopf mit den kleinen , schwarzen , hurtig herumrollenden Augen , dem gesträubten , grauen Schnauz mit dem schwarzen Flecken darin , just unter der Nase , und dem Nackengelock auf dem grünlich schimmernden Rockkragen , den Besuchern des Schloßplatzes eine wohlbekannte und oft belächelte Erscheinung war . „ Grieß Gott , Herr
Schaible , jetz’ , Sie werdet a Freud ’ habe “ rief es ihn mit rauher Stimme , aber in freundlichem Ton von einer Bank her an ; ein dicker , pelzbesetzter Seidenklumpen , aus dem nur ein großes , rothes Gesicht hervorguckte , wälzte sich mühsam auf die Seite , um ihm die Hand hinzustrecken . Der Souffleur erhob den Kopf , aber ohne den sonderbar pfiffigen und pikanten Ausdruck , der ihm sonst eigen war . „ Sie kommt nicht , “ sagte er kopfschüttelnd . „ Wenn ’s nur erst meine Frau wüßt ’ Eben hab’ ich den Brief – . “ Er drückte mit dem Finger auf die Brusttasche , in der es knitterte ; man hätte meinen können , er habe dort eine Stelle , die ihn schmerze .
„ Aber Aber Warum ? Wenn mer frage darf ? Ist mir aber leid ! “ staunte die dicke Frau , einst eine hochgefeierte Tänzerin des Hof-Theaters . Schaible blickte verstört vor sich hin . „ Ja , ja , mir ist’s nur um meine Alte , – die schläft schon seit vierzehn Tagen nimmer ! Nun , – nun , – was ist zu machen ? Nichts zu machen ! “ Er griff den Hut und schoß plötzlich davon über den heiteren , belebten Schloßplatz , der an diesem Gründonnerstage so frühlingsmäßig aufgeräumt aussah . Ostern fiel früh , noch in den März dieses Jahres , und doch war schon alles so staunenswerth vorgeschritten . Wie hatte er sich auf dem Herweg an dem Dufte der frisch bestellten , sauber gelockerten Beete , an den neu ergrünenden Rasenflecken gefreut , wo neben
der winterlichen Krähe schon ein blankes , blauglänzendes Starenmännchen gärtnern ging . „ Soweit ist ’s in Frankfurt sicher nicht , die Lotte würd’ eine Freud ’ haben , – muß es doch meiner Frau sagen , daß dem Kind seine Primeln vor dem Schloß in voller Blüthe sind . “
Das war vor drei Stunden gewesen , und nun , – ja , nun war’s gleichgültig , Primeln und Amseln und sogar die liebe , warme Sonne , die vom hellblauen , durchsichtigen Himmel so wohlmeinend auf die bunten Kinderhütchen schien und auf die schön geputzten und gewaschenen weißen Pudel , die mit Spazierschritten ihre halbgeschorenen Pfötchen den farbigen Beinen ihrer Herren nachsetzten . Die Lotte kam nicht aus Frankfurt , konnte nicht abkommen , der gestrenge Singmeister wollte nichts von Ferien wissen , hatte über Zeit- und Geldvergeudung gebrummt . Je nun ! – Aber zwei Jahre , – das ist doch eine hübsche Zeit , wenn man nur die eine hat . Und die Alte , – im Anfang war’s ihm , als könne sie die Trennung von der Lotte nicht überleben ! Keine Nacht recht geschlafen , und am Tage , wenn er sie doch allein lassen mußte , geschwollene Augen und ein so wehevolles , entbehrendes Lächeln um die schmalen Lippen . Und jede Bewegung , jeder Gedanke , jede Erinnerung und jede Hoffnung bezieht sich auf das Kind . Aber das ist nicht bei ihr allein , das geht ihm gerade so . Wenn sie mitsammen
die Königstraße hinabwandern , kein größeres Vergnügen , als so vor allen Schaufenstern stehen zu bleiben , zu gucken , zu schweigen und endlich sich schmunzelnd zuzuflüstern : „ Das wären jetzt Schüh’le für d’ Lotte , – die goldige da , gelt , herzig sind’s ? “ „ G’rad wollt’ ich ’s sagen ! Aber guck emal da , die nette Blumeg’schirrle , – jetzt wenn die Lotte – . “ „ Und hier hascht alle mitenander , de Mozart mit seim wundervolle G’sichtle und seim Nackezopf , de Beethoven mit eme große , wilde Lockehaar und em Titanetrotz , de Händel wie e Staatsminister , de melancholische Schubert , de Mendelssohn , – lebensgroße Photographien Das wäre eppes – . “ „ Aber de Haydn g’seh i net ? Wo ischt au der Haydn ? I möcht geh’ frage , warum daß der Haydn net da ischt ! Aber es lohnt net , – es würd so e Mordsgeld koschte ! “ Und dann unterhielten sie sich , was für ein Gefühl das sein müßte , wenn man immer gleich so hineingehen und kaufen könnte , was einem gefiele . Natürlich für das Kind , denn für sich selbst waren sie so anspruchslos , daß ihnen das knappe Geldchen , das der Souffleur-Posten eintrug , gewiß genügt hätte . Aber die Lotte ! Ein einziges , liebes , begabtes Kind von zwanzig Jahren , – für wen sind denn eigentlich alle schönen und reizenden Dinge in der Welt , wenn nicht für solche Lotten ? Nun , es hatte ja Glück gehabt , das Kind , da sich ein Mann wie der für ihre Stimm interessirt , – der
erste Konzertsänger Deutschlands sie in die Schule nimmt ! Wer hätte das hoffen dürfen , daß sich solch ein Mann eines alten Schulkameraden erinnern , seinen Besuch freundlich aufnehmen , seine Tochter hören und ihre Ausbildung dem mittelosen Vater wie etwas Selbstverständliches vorschlagen wird , und daß er nicht nur die Kosten der Ausbildung , sondern sogar den größeren Theil ihres Unterhalts für drei Jahre in Frankfurt selber trägt ! Ja , es ist etwas Ungeheuerliches , und man will sich das bißchen Tyrannei schon gefallen lassen , wenn es zu des Kindes Bestem ist . Ein bißchen Tyrannei ! Aber so viel , daß er sie zwingt , das pfennigweise von den Eltern zusammengebrachte Reisegeld wieder zurückzuschicken mit der trockenen Bemerkung , es sei besser , sie warte noch ein Jahr , dann sei es vielleicht etwas Rechtes ? – – – Immer langsamer ging Schaible , je mehr er sich seiner Wohnung näherte , und nicht nur , weil die Hohenheimerstraße eine Steigung macht . Was wird seine Frau sagen ! Heute morgen hat er ihr noch eigenhändig ein großes Netz voll Spinat vom Markt an der Planie geholt . „ Das ischt emal e Gründonnerstag , der trägt sein’ Namen mit Recht , heut z’ Mittag mach ’ ich Laubfrösch ’ Gebackene Spinatkrapfen . ! “ Auf der dritten Treppe schon duftet ihm das Frühlingsgericht entgegen , und nun ist ihm der Hunger vergangen . Soll er’s
ihr denn vorher sagen , daß die Lotte nicht kommt ? Dann rührt sie keinen Bissen an , und Laubfrösche , das ist ein so langes Geschäft , soll sie denn zwei , drei Stunden umsonst gewiegt , gerührt , gebrutzelt haben ? Wiederum , wenn er sie essen läßt , und sagt ’s ihr nachher ? Da bekommt’s ihr nicht , macht sie elend , ja sterbenskrank , alle Aufregung schlägt bei ihr auf den Magen , und ihm geht es ebenso . Sie sind nicht wie andre Leute . Immer ganz droben oder ganz drunten , alle beide . Die Lotte war das ruhige Element , so sonderbar das ist . Das Kind konnte so wundervoll lachen ; von kleinauf schon . Wenn es hinfiel und die Mutter todtenbleich und zitternd aufschrie , als seien ihm alle Knöchlein zerbrochen , – immer hat es schnell die Thränen verschluckt und gelächelt : „ I bin scho wieder auf ! “ Wie soll man so ein Kind nicht vergöttern ! Zwei Jahre fort , zwei lange Jahre ! Und nun soll zu den zweien noch ein drittes kommen , ein langes , langsam schleichendes Jahr . Und dann nachher ? Wenn man auch nur ein wenig in die Zukunft sehen , ein Zipfelchen von dem dunklen Schleier heben könnte ! Wird sich’s denn auch lohnen ? Wird die Stimme ausreifen , das musikalische Gefühl sich bewähren ? Wird das Mädel mehr Glück haben als ihre Eltern ? Vorsicht im Urtheil mag ja gut , nothwendig sein , aber der Teufel halte es aus , so im Dunkeln gelassen zu werden ! – Und nun , – nun ist da die
Glasthüre zum vierten Stock , und dahinter ist seine Frau in der Küche bei den Laubfröschen , und er zittert und seufzt und flucht durch einander , bis er sich endlich einzutreten getraut . Aber was ist das ? Sie weiß es doch nicht etwa schon ? Sie kommt ihm stumm ein paar Schritte entgegen , drückt ihm hastig die Hand und geht wortlos in die Küche zurück , ihre Lippen zucken heftig , das Gesicht ist roth und verweint – – . „ Hermine ! “ ruft er und geht ihr nach . Sie hat schon das Taschentuch vor den Augen . „ Ach , es ist was furchtbar Trauriges passirt , – Du hast mir ’s gleich , – aber ich kann ’s nicht , – und wenn Du’s erst weißt – . “ Er bringt schon gar kein Wort mehr heraus , er hält das magere Handgelenk seiner Frau umklammert und fühlt das schnelle , hüpfende Klopfen . „ Es kann doch nichts mit der Lotte sein ? – Mann , “ flüstert die alte Frau und enthüllt ihre fließenden Augen , „ denk ’ nur , um Gotteswille , die Emilie – – . “ Er athmet auf , es wälzt sich etwas von seiner Brust , die Zunge wird frei : „ Was ist mit der Emilie ? “ „ Ach , sie hat sich ins – hat sich ins Wasser gestürzt . “ Die alte Frau lehnt sich an des Mannes Schulter und schluchzt , abgebrochene Worte murmelt sie dazwischen : „ Unter der Eiche , – am Neckar , weißt , – zwanzig Jahr , – so alt wie unsere Lotte , – es ist mir so furchtbar , fuurcht-bar “ Ja , sie ist ganz aus einander , die gute Frau . Ihre hageren Backen glühen
fieberroth , immer wieder ringt sie die Hände . Schaible ist nicht minder erschüttert ; die Emilie Leuthäuser war ja sein Liebling gewesen , soweit das ein anderes Kind neben der Lotte sein konnte . Es ist wie ein böser Traum , daß solch ein feuriges , schönes Geschöpf im kalten Wasser soll erloschen sein wie eine Rakete . Er sieht die brennenden Blicke , fühlt noch die heißen Finger des armen Kindes , die so schmerzhaft drückten , wenn sie Abschied nahm .
„ Warum denn , warum ? “
„ Ja , warum Weil die Stimm ’ fort war ! Weißt net , wie sie zur Lotte g’sagt hat : ‚ Nur keine médiocrité werden ! Lieber todt als halb leben . ’ „ Ja , das hat sie gesagt ; aber was so e’ junges Ding daherredet , – – Hab i’ auch denkt ! Aber Mann , der war’s Ernst ! An dem Platz im Gras hat e munzig klein ’s Notizbüchle g’lege , d’rin steht : „ Ich gehe , meine verlorene Musik zu suchen . “
„ O du mein Heiland ! Ist ’s heute geschehen ? “
„ Gestern schon . Die Pflegemutter war vorhin hier ; das ist e Jammer . “
„ Ach , die Pflegemutter ! Ja , die ! Wer weiß , wie’s gegangen wär’ – – . “
„ Freilich , freilich ! Ihr wär ’s schon recht gewesen , wenn die Emilie nur immer brav gekocht und geputzt hätt’ ’n lieben , langen Tag . Sie hat mir noch heut’ g’sagt : „ Die Stimm’ , das ist der Emilie ihr Unglück
gewesen “ – Nein , der Verlust von der Stimm’ , sag ’ ich . Gelt , Mann , die Seele’ einsamkeit , die Verzweiflung von dem armen Mädle ! Bis ein ’s so weit kommt ! Und hat doch gewußt : jetzt zu Ostern kommt die Lotte Schaible auf Besuch ! “
Der Souffleur senkt plötzlich den Kopf , als habe ihn etwas an die Schläfe getroffen . „ Frau , “ macht er heiser , „ wir müssen uns noch – gedulden , – ja , guck mi groß an , i hab au no so e Hiobs-Botschaft , aber , Gott sei Lob und Dank , was Herzzerreißend’s ist ’s net , bloß , daß die Lotte , – sie ist g’sund und wohl , – bloß kommen kann ’s net – – Na , jetzt is’ raus , aber essen kann i net , un Du au net , i seh’ scho’ , und die Laubfrösch ’ – – . “
Das alte Pärchen hockte auf dem Küchentisch nieder und weinte die Aufregung und Enttäuschung aus , bis sich zuletzt die Frau mit einer heldenmüthigen Anstrengung aufrichtete : „ ’s Kind ist g’sund , – ’s ist e Sünd ’ z’ weinen . Was schreibt sie denn ? “ Sie zog den Mann in die Stube . Einen abschiednehmenden Blick warf sie nach dem Hackbrett in der Küche . „ Es halt’ bis Abend , ich richt ’s zum Nachtesse , – aber dem Julius , dem herzlose Kracher , möcht i’s a’streiche , wie er uns zum besten hat ! Jetzt ha’n mir kei’ Ostere . “ Sie rieb sich die Augen , schnäuzte sich dröhnend und griff nach dem dünnen Briefchen . „ Ach , die ‚ Schöpfung ‘ ! Guck au die Lotte ! Jetz’ weiß die in Frankfurt , daß
hier Ostersonntag die Schöpfung aufg’führt wird . „ Geht , bitte hinein , ich würde schrecklich traurig sein , wenn Ihr allein zu Hause gesessen hättet . Ich habe auch eine Einladung hier und will den ganzen Nachmittag an Euch denken . Es ist ja Euer altes Lieblingswerk , Euer Liebes- und Verlobungsstück ; also statt daheim zu bleiben und Trübsal zu blasen – . “
„ Es mag ihr auch nah genug geh ’n , “ seufzte Schaible .
Die Mutter erröthete etwas und blickte verlegen vor sich nieder : dann richtete sie bang und fragend ihre Blicke auf den Mann . „ Sie schreibt so , – so obenhin , – nichts von Leidsein , – sag’ , Mann , die Lotte , – ’s ist ja nur ’n Kind , sie wird uns doch nicht vergessen allgemach ? “ – Es brauchte Stunden , bis diese letzte betrübende Vorstellung überwunden war . –
Am Ostersonntag , nachmittags vier Uhr , standen die Alten treulich unter den Billet-Heischenden an der Kasse des Königsbaues , wie die Lotte es von ihnen verlangt hatte .
Sie hätten kaum geglaubt , daß sie’s erreichen würden , so viel hatte sich in die zwei Tage gedrängt , so viel Muthraubendes , Aufregendes . Es ging aus von der armen Emilie , die im Neckar Kühlung gesucht hatte für ihren heißen , hoffnungslosen Lebensschmerz . Gleich am Charfreitag war Frau Schaible hinausgefahren
nach Untertürkheim zu den Pflegeeltern , um zu hören , ob die Leiche gefunden sei . Ach , waren das Menschen ! Sprachen nichts als von der Undankbarkeit der Todten , die jetzt , da man sie mit Müh und Opfern groß gemacht , statt einer endlich fälligen Gegenleistung sich allem entzog und Kummer und Schande über sie brachte . „ Ein Mädle , das arbeiten will , “ hieß es , „ findet immer ihr Brod , und die Emilie hat so ein Schenie fürs Kleidermachen gehabt und fürs Frisiren ; warum ist sie nicht Kammerjungfer worden , wie man ihr a’boten hat ? “
„ Aber sie hat nun die Musik im Leibe gehabt , ganz wie unsere Lotte , “ eiferte Frau Schaible , „ in den dunklen Augen , da war eine Künstlerseele , und daß die so jämmerlich hat zu Grunde geh ’n müssen “ – – „ Ja , s’ischt e Kreuz für uns “ sagte die Pflegemutter mürrisch und wischte sich das Gesicht . „ Jetz ’ sucht mer besser dronte bei der Fischbruta’stalt . S’ ischt no net a’ d’ Oberfläche komme . “
Voll Empörung lief Frau Schaible davon , das kleine Notizbuch mit den Abschiedsworten in ihrer Tasche ; sie hatte es dem fünfjährigen Max weggenommen , der damit gespielt hatte . „ Armes Kind ! Armes Kind ! Ach , meine Lotte , Gott schütze und bewahre Dich ! “
Am Sonntag früh kam eine Postkarte , daß die Leiche aufgefunden sei ; heute Nachmittag werde sie begraben ,
auch habe der Pfarrer Stähle gesagt , er wolle am Grabe sprechen .
„ Der Pfarrer Stähle ? der Zelot ? “ meinte Frau Schaible erschrocken .
„ Gelt , wir nehmen bloß Billets bis Cannstatt , das Wetter ischt gut zum Laufe . Schon’ Di au , denk an d’ Lotte , “ mahnte der Mann , denn Frau Hermine hatte schon wieder feuchte Augen . Sie machte eine wegwerfende Handbewegung : „ O jetz’ , wo de Lotte nicht kommt , ist’s ein’s ! “ „ Und an Dein ’ Mann denkst net ? “ Bittend sah ihn die Frau an : „ Daß doch zwei Menschen wenigstens an ihrem Grab stehen , wo wissen , – wo fühlen . “ – Sie verstummte , er nickte ja schon bereitwillig . Der Epheustock , – sie hatten vor drei Jahren ein Zweiglein vom Bopser mit herunterbracht , und es war so stattlich gediehen , – sollte mit hinaus auf den Friedhof . „ Aber was sagt die Lotte , wenn ihr Ehpeu nimmer da ist , Frau ? “ „ Ich schreib’s ihr ; für die Emilie ist ihr nichts zu schön ! “ „ Ja , die zwei haben sich gern gehabt . “ „ Gott schütz ’ uns , “ stammelte die Frau mit einem ängstlichen Blick geradeaus , als wolle sie die Zukunft durchdringen . –
Dann an der offenen Grube , im Frühlingswind , der das fahle Gras peitschte , unter den ziehenden Wolken , die massig und grau über den braunen Hügeln hingen , – der kleine Friedhof voll neugieriger Gesichter , der kaltblickende Pfarrer im Mittelpunkte , neben
ihm die weinende Pflegemutter , und ihr Mann mit abgezogenem Hut und einer verlegenen , reuevollen Verdrießlichkeit in dem stumpfen Gesicht .
Der Pfarrer sprach , – laut , strafend , unversöhnlich . Das größte Verbrechen ist das gegen das eigene gottgeschenkte Leben . Verirrte junge Sünderin , was wirst Du antworten , wenn jene Stimme von oben Dich fragt : „ wie hast Du mein Geschenk angewendet ? “ Hohle nichtige Eitelkeit ist hier Herr geworden , alle natürlichen Pflichten sind in den Staub getreten worden . O , lasset uns beten , daß Gnade vor Recht ergehe , daß auch dies sündige Kind nicht auf ewig verworfen werde . – – So ging es fort .
Nach den ersten Worten schon hatten die Schaibles einen langen Blick getauscht und sich die Hand gereicht , wie zu Schutz und Trutz . Frau Herminens Antlitz gerieth immer mehr in zuckende Bewegung , sie hielt sich mit Mühe zurück . Kaum waren die letzten Gebetworte verklungen , so trat sie einen Schritt vor und sagte mit Schrill vor Aufregung klingender Stimme : „ Herr Pfarrer , ich protestiere gegen Ihre unchristliche , in jeder Beziehung verständnißlose – – “ Der Angegriffene blinzelte , zog die Brauen zusammen , hielt die Hand hinters Ohr und sagte kalt : „ Wünschen Sie etwas von mir , gute Frau ? “ – Der Souffleur hatte seine Hermine schon zurückgezogen . „ Du siehscht , er will net verstanden haben , – komm , komm , sonst gibt’s ’n
Skandal , – jetz’ wenn i reden könnt aber i kann ’s net . “ –
Sie gingen hinaus , bis sich die Menge verlaufen hatte . Dann kehrten sie um , betrachtete erschüttert und empört den nackten schwarzen Erdhaufen , den sie auf das arme unruhige Seelchen gethürmt hatten und pflanzten endlich den Epheu in den lockeren Boden . „ Die vielen Wurzeln , sieh , – es hatte keinen Raum mehr in der Scherbe ! Da darf es sich ausbreiten . “ Und sorgsam leiteten sie die langen Ranken über die frische Stelle , bis sie in dunklem Grün schimmerte .
In langen sehnsüchtigen Tönen sang eine Amsel in einer Traueresche , während sie arbeiteten . Glashell , krystallklar , lauter Erlösung , Befreiung , Auferstehung . „ ’s ist , als wär ’s der Emilie ihr Geist , “ murmelte die alte Frau , „ schauerlich war’s , – aber denk , Vater , wenn wir net kommen wären , gar Niemand hätt’ sie g’habt . So ins Grab müssen , und so e Leichenpredigt ! “ – –
Ganz unvermerkt war es dann Ostersonntag geworden , ein strahlend heller Tag . Aber dem alten Pärchen lag ein grauer Schatten auf allem und wollte gar nicht weichen . „ Was die Lotte wohl heut’ morgen thut ? Jetzt gleich nach dem Fest muß man ’s ihr schreiben mit der Emilie ; aber i bin z’ feig , es wird ihr arg a’thun Anthun , betrüben . . “ Zu Mittag hatten sie ein schmales
Lammbrätchen ; es gefiel ihnen nicht , war weichlich , nur Knochen und Fett . „ Damit hätten wir kein ’ Ehr’ eingelegt bei dem Kind . Und eingeladen ist ’s heut’ nachmittag ? Wo denn ? Mußt doch noch emal im Brief nachschau’n , und wie ist ’s denn mit der Schöpfung ? Geh’n wir , oder geh’n wir nicht ? I möcht weniger , aber wenn doch de Lotte , – ja , ’s Kind schreibt extra , ’s würd’ sehr traurig sein ; also , gang’ mer “ – Und so war’s geschehen , daß sie nun doch am Ende der langen Queue vor dem Königsbau standen , sorgenvoll , ob sie noch Platz finden , noch zum Beginne des Oratoriums im Saale sein würden . Das Stehen war etwas lästig , aber der Schloßplatz war heute so schön , so voll heiteren Getümmels , daß man aller Langeweile vergaß . Die schlanke , weiße Säule mit der beschwingten Fortuna streckte sich glänzend in den lichtblauen Himmel , und mancher Blick flog zu der verheißenden Göttin empor . Blendend spiegelte sich die Sonne auf den steigenden und fallenden Wassern der Fontänen ; sogar die Kegel der Thujas , die noch vor kurzem so mißfarbig dunkel olivbraun ausgesehen , hatten sich in frisches Hellgrün gekleidet . Und droben , gegenüber , wo der Boden der Weinberge noch in seinem warmen Roth durch die kahlen Reben leuchtete , bunte Häuserchen , die zum ersten Male heuer die grünen Läden aufgethan hatten ; und auf den weißen , geringelten Straßen , die wie schelmische Fragezeichen zu rufen schienen : wohin
führ ich wohl ? , singende , Hüte schwenkende Scharen in festlichen Kleidern . Es war eine so sauber aufgeräumte , hell und durchsichtig gefärbte Frühlingsscene , wie auf einem Bilde von Schwind . „ So ist ’s in Frankfurt net ! Wenn’s doch auch die Lotte sähe , wenn sie doch mit uns wäre ! “ plauderten die Blicke der beiden Alten , sowie sie sich einander zukehrten . Endlich war das enge Thor passirt , der beengte Weg oben zwischen den schon dichtbesetzten Bänken und Stühlen zurückgelegt , und sie sanken ermüdet auf die noch freien Sitze . Heiß war’s , und halb dunkel nach dem Sonnentag draußen , die Logen-Brüstung nicht zu unterscheiden , weil die Leute Kopf an Kopf saßen ; unten im ganz unsichtbaren Saale verstummte eben das Stimmen der Instrumente , und das Musikwerk begann , während die Frau ihrem Gefährten mit langem Gesichte zuflüsterte : „ Jetz ’ ist de Lotte zu allem andern auch noch um ihr Osterhäsle ’ komme , – Du hast auch nicht d’ran denkt . Wenn ’s net schad’ wär’ ums Geld , kehrt’ ich um und macht’ ihr noch g’schwind e Päckle . “
„ Morgen , morgen , “ beschwichtigte der Mann , „ heut ’ ist kei’ Post mehr offen . “
„ Scht ! Scht ! “ machten die Umsitzenden , denn die ersten Takte erklangen . Da schämten sich die zwei Alten und errötheten auf einen Schlag ; zum ersten Mal in ihrem Leben war es ihnen begegnet , daß man sie im Konzertsaale zur Ruhe verwies .
Frau Hermine hatte oft genug „ Scht ! “ rufen müssen , nun passirte es ihr selber , daß sie störte . Ja , wenn man alt wird ! Und wenn man sein einziges Kind in der Fremde hat und alle Gedanken bei ihm ! Ihr Mann tastete nach ihrem Arm : „ Paß auf “ meldete sein leiser Fingerdruck . Ach , war es schon die Stelle ?
‚ Und es ward Licht ! ‘ jubelte es durch den Saal , und eine himmlische , selige Helle schien sich zu verbreiten . Schaible’s sahen sich an ; über die Sorgenfalten in beiden Gesichtern legte sich ein Abglanz des göttlichen Scheins , der sie allmählich veränderte , verjüngte . Nun erst fühlten sie , daß sie hier seien , fühlten , was kommen sollte , all das Längstbeliebte , Wohlbekannte , und die Wellen , die klar und klingend um sie spielten , nahmen sie in die weichen Arme und führten sie rückwärts , süß und schmeichelnd rückwärts über zwanzig Jahre . Ihr altes Liebes- und Verlobungsstück ! Das Kind wußte es aus ihren eigenen Erzählungen , daß eine Aufführung der Schöpfung sie zusammengebracht hatte .
Wohl hatten sie einander vorher gekannt . Der arme Chorist , der auch heimlich komponirte und fast alle Instrumente leidlich zu spielen verstand , wohnte in einem Hause mit der vielgeplagten Klavierlehrerin , und sie trafen sich am Kosttische der Hauswirthin schon seit einem Jahre . Sie waren nicht jung damals ,
behüte ! Er an die Vierzig , sie Mitte der Dreißiger , aber beide von der Menschensorte , bei der die Elasticität des Geistes , die Energie des Gefühls die Jugendzeit weit überdauert . Sie hatten einander Noten geliehen und musikalische Begeisterung ausgetauscht . An einem Charfreitage vor nun zweiundzwanzig Jahren bekam die Klavierlehrerin zwei Billette für die Schöpfung ; der Musikalien-Händler schenkte sie ihr , da er selber am Gehen verhindert war . Hermine Rothe aber schickte eine der Karten ihrem Hausgenossen Schaible aufs Zimmer ; und nachmittags um drei saßen sie verlegen und gespannt , ziemlich fremd noch und wortlos neben einander auf der obersten Galerie , bis nach dem Tongewirre des Chaos , ganz wie heute , das Licht sich ausgoß wie eine breite segnende Strahlengarbe , und ihre Blicke sich zum ersten Mal in einem entzückten , Verständniß suchenden und findenden Leuchten begegneten . Schnell hatten sie sich damals wieder abgewandt , aber nur , um sich prüfend , tastend wieder zusammenzuschleichen , sobald sie sich von einer Stelle tiefer gepackt fühlten . ‚ Der helle Bach ‘ , ‚ das zarte Taubenpaar ‘ , ‚ die Sonne , – ein wonnevoller Bräutigam , ein Riese stolz und froh , zu rennen seine Bahn ‘ . ‚ Vor Freude brüllend steht der Löwe da‘ . – ‚ In langen Zügen das Gewürm‘ . – Sie wußten später ganz genau , wie die Stellen hießen , die ihre Blicke zusammengeführt hatten . Und dann in der Arie ,
wie der Mensch erscheint : ‚ Ein Mann und König der Natur , – die Gattin hold und anmuthsvoll‘ , war es ihnen ganz wunderlich ergangen , beiden gleich , wie sie sich’s nachher gestanden . Da hatte sich in den Augen der Frau der bescheidene Chorist zur Verkörperung stolzer Manneswürde , die blasse , nervöse Klavierlehrerin in den Augen des Mannes zum Inbegriff aller weiblichen Huld verklärt , und wie dann Adam und Eva in das entzückte , staunende Stammeln ausbrechen über die große Welt , ‚ so groß , so wunderbar‘ und sich kein Ende wissen des anbetenden Wunderns , da hatte ihre Freude und ihr Staunen leise wiedergeklungen in den Herzen der beiden Hörer , die sich nicht wieder erkannten in diesem Sturm von Jugendgefühlen , den sie längst hinter sich zu haben meinten . Es ward ihnen schnelle , buchstäbliche Wahrheit :
‚ Doch ohne Dich , was wäre mir
Der Morgenthau ,
Der Abendhauch ,
Der Früchte Saft ,
Der Blumen Duft ! ‘
Sie waren im Paradiese mit Adam und Eva , in kindlicher Gluth und Dankbarkeit , und als sie heimgingen , sprachen sie zwar keine Silbe , aber ihre Hände hatten sich verschlungen , und die Erklärung war gemacht . Von diesem Abend an betrachteten sie sich als Brautpaar , und sechs Wochen später ließen sie sich ganz
still und heimlich trauen . – Es verging ein halbes Jahr , ehe sie zusammenziehen konnten , was sehr zur Verwunderung der Hausleute geschah , die ihr Verhältniß erst dann erfuhren . Seitdem Schaible die untergeordnete , aber sichere Stellung als Souffleur bekommen , datierte der gemeinsame Haushalt . Lotte , das einzige , ihnen bescherte Kind , ward in einer zärtlichen Einsiedelei auferzogen , die Dritte im Bunde , Kind , Liebling , Abgott , Lebenshoffnung , Glück und Stolz . Und nun sie missen sollen , so lange schon !
Hermine Schaible kämpfte mir Thränen , das Gesicht tief über ihre Hände gebeugt . Da zuckte , wie ein Sonnenblitz , der Sopran auf , ein wunderbar süßer , schmelzender Sopran , eine kinderreine , jauchzende Stimme : ‚ Mit Staunen sieht das Wunderwerk der Himmelsbürger frohe Schar‘ , – wie Lerchenlied über frisch begrünter Ackerscholle klang es .
„ Wer singt den Gabriel ? “ flüsterte Schaible seiner Frau zu .
„ I weiß net , ’s muß vom Cäcilien-Verein – – , “ dann legte sie leicht die Finger an die Lippen , die Thränen waren versiegt . ‚ Frühling ‘ hauchte sie in sich hinein . Ein leiser , kühler Schauer fuhr ihr über den Nacken ; sie athmete tief , war ganz hingegeben an die leuchtenden , fortreißenden Osterklänge . ‚ nun beut die Flur das frische Grün‘ , – begann die sanfte Arie des Soprans .
Die Frau hob wieder den Kopf , lauschte mit vorgestrecktem Hals , mit heftig klopfenden Herzen . Ihr Gesicht überzog sich mit Roth ; sie trank die Musik der süßen Stimme , und ein plötzlicher Rausch schien über sie zu kommen . „ Mann , ich finde , – – ich muß immer denken , wenn es nicht ganz verrückt wäre – “
„ Scht ! “ machte es hinter ihr . Das aufgeregte Flüstern ward wieder lästig für die Nachbarn .
Aber sowie der erste Theil zu Ende war , und man ein Wort einschieben konnte , tauschten die zwei Alten ihren Eindruck . „ Immer denk ’ ich an die Lotte ! “
„ Freilich , ich auch ! “
„ Das Einsetzen , nicht wahr ? Aber dann die Fülle und Kraft , – wer mag es denn sein ? ’s ist eppes Dummes , so ohne Programm ! Ich geh’ g’schwind – – ! “
Die Frau hielt ihn am Rockärmel . „ Wozu ? Solang bild’ ich mir ein , unsere Lotte zu hören , wenn ich aber den fremden Namen auf dem Zettel seh’ – – . “
Der Souffleur setzte sich wieder , die Nachbarn stöhnten schon über die zwei unruhigen Geister .
Aber der Beginn des zweiten Theils war wieder wie ein elektrischer Schlag in die Seelen der Horchenden . ‚ Und Liebe girrt das zarte Taubenpaar‘ , – wie der reizende Lockruf aus der Stimme der Singenden girrte !
Schaible’s hatten sich bei den Händen gefaßt und drückten sie immer stärker . Sie ließen sich von den Tönen wiegen und vergaßen sogar , sich zuzuflüstern . Diese jauchzende Andacht , dieser Glanz der ersten Zeit ! Glückliche Seele , in der es so aussah ! Was für ein wonniges Lebensgefühl ! Das ist , um gesund daran zu werden ! – Einen Augenblick flogen die Gedanken zu dem einsamen Grabe , an dem sie gestern gestanden . ‚ Du nimmst den Odem weg : in Staub zerfallen sie‘ . Aber wie war es möglich , dabei zu verweilen ! Alles Dunkle , Tragische , Unlösbare schien so unwirklich , so unwahr in diesem Rosenlichte . Konnte es möglich sein , daß dort ein junges Dasein in Verzweiflung geendet hatte ? – Glückliche , glückliche Seele , die über Grab und Tod hinweg solchen Freuden-Aufschwung , solchen Himmelsflug fand ! „ Was dieser Haydn nun zum zweiten Male an mir thut , “ sprach es im Herzen der Frau , diesmal lautlos und ohne Wirkung auf die Nachbarn . Auch in der Pause , die dem Alleluja folgte , saß sie starr , traumverloren .
Und nun der dritte Theil , das Paradies . ‚ Seht das beglückte Paar , wie Hand in Hand es geht ! ’ Ja , das war die schmerzenlose , die bessere Welt . Im Reiche der Kunst gab es diese unsäglich schöne , aus lauter Freude und Liebe gewobene Empfindung , und wenn die Lotte auch jetzt räumlich und körperlich nicht bei ihnen war , bei ihnen war sie doch , wußte sie hier
im Banne der glücklichen , kindlich frommen Tonseele , wußte , daß sie in jedem Augenblick ihrer gedachten . Und diese frohe Beruhigung erzeugte die zweite : unsere Tochter fühlt alles wie wir ! Sie gehört – wie wir – zu den Begnadeten , für die es jene zweite bessere Welt auf Erden gibt , wo alles sich zu lösen vermag , das Reich , das nicht von dieser Welt ist , wenn auch mit ihr verknüpft durch die subtilsten und stärksten Fäden , das Reich der Kunst ! Da sind wir nicht Eltern und Kind , da sind wir Genießende an einer Tafel , Seite an Seite .
Arme Emilie , wer wollte Dir ’s nicht nachfühlen , daß es Dir leichter war , von der Erde zu scheiden , als Abschied zu nehmen von der Kunst . Die Stimme , Dein Flügel , der Dich hatte hinaustragen sollen aus der Gemeinschaft mit den dumpfen Seelen , vernichtet , gebrochen – wie konntest Du Dich wieder zurechtfinden ? O , sie hätten Dich untergekriegt mit ihrem ewig mahnenden gemeinen Bedürfniß lieber schnell untergehen , als langsam verkümmern – –
‚ O Du , für den ich ward ! Mein Schirm , mein Schild , mein All ! ’ sang die Eva . Nein , es war die Liebe , die Hingebung selbst , die dort sang ! Solch einen Sopran hatte Frau Schaible noch nie gehört Auch der Souffleur war in die Höhe geschossen , reckte und streckte sich aufgeregt , um in den Saal nach dem Podium zu blicken . ‚ Die Kühle des Abends , o wie
erquicket sie ! ‘ – „ Das ist ein Engel oder – die Lotte “ flüsterte er seiner Frau zu . Auf deren Gesicht stand ein Lächeln , er wußte es nicht zu deuten , ungläubig , ahnend , wie vor der Schwelle eines Heiligthums .
Das Amen verklang , auf der Galerie erfolgte großer Aufbruch ; Schaible’s waren nicht die Leute , sich ins Gedränge zu mischen , sie ließen Alles über sich wegsteigen , dann schlossen sie sich den vereinzelten Letzten auf dem schmalen Gang , den beengten Treppen an . Sie wußten nicht , wie sie hinunter kamen . Als sie aber den langgezogenen Concertsaal erreicht hatten , dessen Thüren offen standen , und wo das letzte Tagesschimmern sich mit dem eben entzündeten Gaslicht mischte , faßte Schaible die Frau fester unter den Arm , und in schnellem Schritt gingen sie bis zur Mitte des mit verschobenen Stuhlreihen dichtbesetzten , menschenleeren Saales . Sie hatten die Blicke geradeaus nach dem Podium gerichtet , wo sich noch einzelne Gestalten bewegten .
Plötzlich kam es hinter ihnen her , leichtfüßig , eilig , und wie sie sich umwendeten , rutschte ihnen etwas Kühles , Raschelndes über die Hüte und blieb auf den Schultern hängen , – ein Lorbeerkranz !
„ Aber Mama , Ihr lauft doch , als – – . “
Das stand Gabriel-Eva , – Lotte , und hatte sie mit Zweigen und Armen gefangen .
„ Wirst mir doch nicht ohnmächtig , Mama ? “
Sie warf den Reisemantel hinter sich und stand in ihrem hellblauen , knappen Foulard-Kleidchen , das Filzhütchen schief auf dem Kopfe , mit glühenden Wangen und Siegesglanz in den Augen , vor den Eltern . Dann beugte sie sich zu der Mutter , um ihr das Hutband auseinander zu zupfen und sie heiß und verstohlen zu küssen .
„ Ihr habt mich doch hoffentlich nicht zu früh erkannt ? Nein , wißt Ihr , Ihr solltet erst mal ganz unparteiisch prüfen , ob ich ’ was los habe ! Wie ich hergekommen bin ? Ja , die Geschichte ist wenigstens zwei Meter lang . Aber das ist ja alles Nebensache ! Wie gefällt Euch denn der Sopran aus Frankfurt ? Fräulein L. S. , hm ? Es war eigentlich ziemlich durchsichtig , nicht ? Was ? Nicht ’ mal ’n Programm gehabt ? O Papa , Mama , Ihr seid doch auch kein bißchen schlau ! Habt wirklich geglaubt , ich ließe mich halten ? “ – –
„ Kind , alle Deine Primeln auf dem Schloßplatz blühen , “ sagte Schaible mit wankender Stimme . Draußen lag schon Alles im Schatten , aber auf dem hochgehaltenen Kranze der Fortuna schimmerte noch ein heller , glänzender Sonnenpunkt .
Symbiose .
Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen .
Wedel , 5. September 1892 . L ieber Axel ! Du wirst einen gerechten Schrecken bekommen , daß ich Dir schon wieder schreibe , ohne Papa und Mama , aber , weißt Du , es ist etwas , was in den vorgestrigen „ offiziellen “ Brief nicht hineinpaßte und was ich doch nothwendig beantwortet haben möchte . Ich kann niemand als Dich danach fragen , sie sind hier alle so dumm , die Eltern natürlich ausgenommen , aber die wundern sich immer so über meine „ ungelegten Eier “ , oder sie werden grimmig , und dann kann man ja überhaupt nichts mehr besprechen . Sie sind ja schrecklich gut , und ich weiß , daß Mama alles für unser Glück thäte , aber daß ich selber etwas dafür thue , das will sie nicht , da stellt sie sich gleich so zu sagen auf ihre kleinen Hinterbeine und drückt mich mit einem Wort , mit einem Blick in das erste beste Mauseloch hinunter . Ich bin so furchtbar traurig , so zwiespältig , weißt Du ; ich möchte ihr ja
gern zu Dank leben , alles zu Willen thun , wie sie Papa alles zu Willen thut , aber wenn auch immer Dinge von mir verlangt werden , die ich nicht leisten kann , dann fühlt man sich so – so fremd in der eigenen Familie ! Ach , ich erschrecke selbst vor dem gräßlichen Wort . Fremd ! Und es ist doch wahr ! Aber wie furchtbar würde es Mama kränken , wenn sie wüßte , daß ich solche Gedanken habe . Und noch dazu muß ich immer lustig sein ; ich komme mir manchmal wie ein Hanswurst vor , der für Kost und Kleidung – so eine Art Hofnarr , weißt Du ! Pfui , wie greulich , mit solchen Gedanken zu lachen und Unsinn zu machen ! Aber sonst sagen sie gleich : „ Na , Lisbeth , Dir ist wohl heute die Petersilie verhagelt ? “ Selbst die kleine Frieda fängt schon so an : „ Lisbeth , bist heute gar nicht lächerlich , hast wohl schon wieder Kopfweh ? “ Und plötzlich , wie auf Kommando , sehen mich alle an , und jeder findet was anderes : dann soll ich blaß sein , dann roth , Papa sagt gewöhnlich grün ; ich läse zu viel , ich sollte mich lieber im Hausstand beschäftigen , ich könnte doch mal Fehrs besuchen und Frieda und Trude mitnehmen , daß ich doch an die Luft käme , und Tante fängt zuletzt noch an : „ Ja , wenn man umsonst oder für ’n Ei und Butterbrod Privatstunden gibt und sich abrennt mit Krankenvisiten , dann kann man sich natürlich der Familie nicht mehr widmen “ , und dann predigt sie immer wieder : „ charity
begins at home “ und ist doch die einzige im Haus , die fortwährend auf das Mädchen schilt und sich wundert , daß klein Frieda noch nicht so still sitzen mag wie sie . Na , wir haben sie aber auch oft schön geärgert , und Du mit , eben fällt es mir ein . Als Du das letzte Mal mit Deiner Mama bei uns warst und wir fortwährend vor Tantes Sopha auf und ab marschierten und „ Bickbeern , blaue Bickbeern ! Stint ! labennige Stint ! “ dazu brüllten ! Tante hielt sich die Ohren zu und gab uns sogar Püffe , aber wir wollten uns todtlachen und schrieen immer mehr . Man ist doch grausam unartig als Kind . Und wir waren gar nicht mal so klein , Du schon zwölf und ich neun , aber warum nannte sie uns auch immer „ abscheuliche Gören “ , wenn sie allein mit uns zu Haus bleiben mußte – Lieber Axel ! Ich muß mein Lehrerinnen-Examen machen , frage mich nicht , wieso , ich muß ! Was ich aber von Dir wissen möchte , ist , ob ich mich wohl selber darauf vorbereiten kann . Ich meine allein . Denn ins Seminar gibt Papa mich nicht , er sagt , ich sei nicht kräftig genug und viel zu unruhigen Sinnes , um später als Lehrerin einen Beruf auszuüben . Mein Beruf seien meine kleinen Geschwister , dann die Verschönerung des Hauses durch Heiterkeit und Dienstwilligkeit gegen Jedermann ! Und dann citirt er mir : „ dienen lerne beizeiten “ u. s. w. , daß ich schon manchmal gedacht habe : lieber großer Göthe , hättest du doch das
nur nicht geschrieben . Seit vorigen Ostern nun habe ich wieder ordentlich zu lernen angefangen , natürlich im Stillen . Papa ist ja darin nett , er wundert sich nicht , wenn ich ihm Bücher aus dem Bord nehme , ohne zu fragen . Neulich , als ich einen Band von Ranke wieder hineinstellte , hat er sogar geschmunzelt . Ich war so glücklich darüber , ich wäre ihm fast um den Hals gefallen und hätte ihm meine heimlichen Verschwörerpläne gebeichtet . Aber es kam nicht dazu , Papa zeigte mir in der hohlen Hand einen abgerissenen Hemdknopf , sah mich dann strenge an : „ Das eine thun , und das andere nicht lassen , mein Kind . “ Na , da wußte ich schon wieder Bescheid ! Aber das glaube ich sicher , ehe die Herrenhemden nicht rundum zu sind oder angewebte Knöpfe haben , oder so etwas , werden wir Frauenzimmer nicht frei und glücklich sein . Also , glaubst Du , daß ich es erreiche ? Denn ich will nachher wirklich Geld verdienen . Wozu – das kann ich Dir noch nicht sagen , ich fürchte , Du lachst mich aus . Nein , ich will jedenfalls Deine Antwort abwarten . Und noch eine Bitte : Naturwissenschaftliches fehlt ganz in Papas Bilbliothek ; wenn Du mir etwa schicken könntest , was Du im Gymnasium gebraucht hast ! Und Häckel müßtest Du mir auch schicken , und etwas von Nietzsche , wenn es nicht zu unbescheiden von mir ist ! Aber nun kommt das Unangenehmste : Du müßtest mir die Sachen nicht direkt senden . Aber dann wohin ?
Unsere dumme kleine Post schickt es uns doch ins Haus , wenn Du das Paket selbst postlagernd adressirtest ! Ich habe schon hin und her gesonnen , und endlich ist mir die gute Steenbocken eingefallen , Du weißt wohl , unsere alte Näherin , die den Papagei hat . Wir waren auch mal da , während Du hier warst , und der Lora zackte Deinen Strohhut so schön aus , den Du übern Käfig gehängt hattest ! Steenbocken wundert sich über nichts , was ich thue , das ist eine treue Seele . Wir sprechen immer über Himmel und Erde , wenn wir zusammen sind ; und ich wundere mich oft , wie viel Interesse sie an Dingen nimmt , die ihr doch so fern und unklar sind . Ach , geht es denn mir besser ? Du glaubst nicht , Axel , was für eine Wuth ich habe zu lernen ! Ich gebe jetzt Trude und Frieda Naturgeschichtsstunde , denk Dir . Die Kinder sind süß dabei , aber die Lehrerin taugt nicht ! Ich kann ihnen oft die einfachsten Dinge nicht beantworten , und dann schäme ich mich so vor mir selbst , daß ich stottere und roth werde . Auch ein paar älteren Damen hier gebe ich Botanikstunde ; frech von mir , nicht ? Aber sie meinten plötzlich , die Namen der hier wachsenden Pflanzen sollte doch eigentlich jeder Mensch wissen , na – und da konnte ich ihnen doch so ziemlich dienen . Eine gräßliche Angst , diese Stunde ! Mühsam , mühsam bereite ich mich vor , und nachher fühle ich bei jedem Wort , das ich sage , wie eng mein Wissen ist , ich lebe
richtig von der Hand in den Mund , es ist ein Elend . O , ihr glücklichen , glücklichen Jungens !
Bitte , schick mir , was Du für nützlich hältst , Du bist ja meine einzige Freundin ! Mußt aber keinen Schnurrbart kriegen , hörst Du wohl ? Auf Deinem Bild von vor einem Jahr schimmert schon so was ; es wäre mir aber ungemüthlich .
Schreib mir nur , wenn Du mir keine Moralpredigt halten willst , bitte , die brauch ich wirklich nicht . Wirst Du mir meinen Wunsch erfüllen ? Wirst Du mir beistehen ? Ich sitze hier in dem Nest wie auf einer einsamen Insel , obgleich ich im Elternhaus bin ! Der liebe Gott schütze und erhalte es mir , es ist ein reizendes Haus , aber ich möchte mal weg ! Kannst Du Dich in solche Widersprüche hineindenken ?
Die Adresse ist : Fräulein Henrika Steenbocken , Strichweg 5. Wedel .
Deine treue Cousine Lisbeth .
Axel Lorenzen an Lisbeth Markwort . Kopenhagen , 8. September 1892 . Liebe Cousine ! Dein Brief hat mir eine angenehme Überraschung bereitet . Gott sei Dank , daß Ihr endlich einmal anfangt , Euch zu rühren ! Es wird aber auch Zeit , wir glauben Euch sonst nicht , daß Ihr es ernst meint . Also solch ein tapferer kleiner Kerl
ist die Lisbeth ! Natürlich sollst Du die Bücher haben , ich mache Dir ein ordentliches Paket zusammen , und dann kannst Du sehen , ob Du ’s brauchen kannst . Ich habe allerdings keinen Hochschein , was Du verstehst , oder was Du eigentlich lernen möchtest . Du drückst Dich ziemlich unpräcise aus . Auch möchte ich Dir die Illusion beschneiden , daß es „ uns “ so viel klarer und sicherer im Kopf sei . Ich sage Dir , wir rennen täglich an ein neues Brett , wo wir nicht weiter können . Schadet aber nicht , das Rennen selbst ist die Freude . Daß Du die „ einfachsten Dinge “ nicht beantworten kannst , braucht Dich auch nicht zu ärgern , die „ einfachsten Dinge “ sind meist die komplizirtesten . Frag mich zum Beispiel nicht , warum der Baum wächst , Wasser aus dem Boden aufnimmt und bis in die höchste Krone treibt ; es hat’s noch kein Gelehrter recht ergründet . Wir beschäftigen uns übrigens recht wenig jetzt mit Spekulation , die Metaphysik ist an den Nagel gehängt . Alle Wissenschaft ist heute deskriptiv , und warum Ihr Weibsen da nicht ebensogut wie wir Eure Augen und Ohren aufthun und beobachten solltet , wüßte ich wahrhaftig nicht zu sagen . Entschuldige , liebe Cousine , aber die Wahrheit ist , daß Ihr scheußlich faul und indolent seid , so im Allgemeinen . Du nicht , Du scheinst mir ja eine wundervolle Ausnahme zu sein , obwohl Du freilich auch bis zu Deinem zwanzigsten Jahr warten mußtest , ehe Du Augen kriegtest !
Nimm ’s mir nicht übel , wenn ich grob bin , aber mich ärgert das ewige Gewinsel von Eurer Unfreiheit , von Eurer Sklaverei . Es ist einfach nicht wahr . Wenn eine Frau Geist und Talent gehabt hat und dazu die nöthige Willenskraft , sich in der Welt durchzusetzen , so hat sie sich durchgesetzt , zu allen Zeiten . Beweise dafür gibt es in Menge , wenn mir auch gerade keine einfallen . Ihr wundert Euch immer , daß die Papas und die Mamas Euch nicht in den Arm nehmen und dahin tragen , wohin Ihr wollt , Ihr trägen Puppen ! Hättet Ihr ein klein bißchen Psychologie gelernt , nur so durch Beobachtung , so würdet Ihr wissen , daß die ältere und die neuere Generation nie gleiche Wege gehen kann , daß es ebenso naturwidrig wäre , von Deinem Papa allen Vorschub für Dich zu erwarten , wie für Dich , im alten Regime zufrieden und wohl zu bleiben . Man muß den Mund aufmachen , mein Fräulein , und da mit den Jahren das Gehör etwas zu leiden pflegt , so muß man ihn oft weiter aufmachen , als einem selber lieb ist .
Daher gefällt mir Dein Plan sehr schlecht , Dich heimlich aufs Lehrerinnen-Examen vorzubereiten . Du sollst sehen , da wird nichts draus . Deine Eltern sind doch keine Unmenschen ! Setze ihnen nur alles frisch und frei auseinander , damit sie Dir Zeit und einen ruhigen Ort zum Lernen gewähren ; so viel werden sie doch wohl thun . Meinen lieben Pastoronkel Markwort ,
den ich immer um den Finger gewickelt habe ! Man muß es nur schlau anfangen ; o , ich wollte es schon machen ! Dein Papa kann noch viel lernen , er ist ja noch ziemlich jung , so Mitte der Vierzig , nicht wahr ? Der hat noch lange nicht abgeschlossen . Dazu hat man seine Eltern , daß man sie ein bißchen weiter bringt . Ich – wenn ich welche hätte – Mustereltern sollten es sein ! Mamachen war es ja schon , solch eine Frau gibt es nie wieder . Wenn sie noch lebte , dann hättest Du es einfach , sie würde Dir so thatkräftig geholfen haben . Besser bleibt es , Du hilfst Dir selbst . Ich stehe Dir in jeder Beziehung zu Diensten . Ob ich dabei einen Schnurrbart habe oder nicht , scheint mir ziemlich überflüssig . Sollte es Dich aber doch interessiren , so brauchst Du es nur zu sagen , ich schicke Dir dann Puhlsens letzte Amateuraufnahme , sie ist viel gelungener als das milchige Bild von mir , das Du erwähnst . Wie siehst Du denn eigentlich jetzt aus ? Ich denke mir ein schmales , dünnes Gör mit dunklen aufgerissenen Augen und zotteligem Haar ; kannst mir auch mal eine Photographie verehren , hörst Du ?
Dein alter Spielbruder Axel .
Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen . Wedel , 15. September 1892 . Lieber Axel ! Entschuldige , daß ich Dir heute erst antworte , es war mal wieder eine Hetzwoche für mich :
große Schneiderei , zwei Nähmaschinen Tag und Nacht im Gange ; mein Trost war die alte Steenbocken , die diesmal ihren Papagei mitbringen durfte , weil er sonst gar zu verlassen gewesen wäre , das arme Thier ! Ich wollte , ich hätte dafür in Steenbockens kleiner Stube allein sitzen dürfen und Deine Bücher lesen , für die ich Dir tausendmal danke ! Kannst Du Dir vorstellen , daß ich das Paket nur erst aufgemacht , aber noch keinen Blick recht hineingethan habe ? Wenn man immer sitzen und prünen muß – entschuldige den Ausdruck – , aber Deine harten Worte , die gewiß sehr gut gemeint waren , haben mich furchtbar traurig gemacht . Du sagst , unsere Faulheit und Willenlosigkeit sei an Allem schuld ; aber bedenke doch nur , daß ich zum Beispiel nie einen eigenen Willen haben durfte . Du glaubst gar nicht , was für verwunderte Gesichter sie machen , sobald ich nur den leisesten Versuch wage , etwas fest zu behaupten , und wenn ich es auch noch so gut weiß . Nun räthst Du mir wohl , mich nicht um die Verwunderung zu kümmern , aber das ist leicht gesagt und schwer gethan . Ich habe doch nichts Lieberes auf der Welt als die Meinigen , und ich kann es nicht ertragen , wenn sie mir böse sind ; lieber will ich Alles aufgeben . Neulich hatte ich solche Geschichte mit Mama , es kam auch über die ewige Näherei her . Ich sollte nämlich deswegen die Botanikstunde bei den Damen aussetzen , ich erzählte Dir schon davon . Tante
sagte : „ Du kriegst ja doch nichts dafür “ , da sagte ich ein paar ärgerliche Worte . Plötzlich bemerkte Mama mit trauriger Stimme : „ O , laß nur , Lisbeth will lieber , daß ihre Mama die Nacht durch arbeitet , als daß sie ihre überspannten Ideen aufgibt . “ Ich war ganz verzweifelt . „ Kann das Kleid denn nicht morgen weiter genäht werden ? es kommt doch nicht auf einen Tag an , “ sagte ich . „ Ja , wo kämen wir da wohl hin ! “ rief Mama ; „ nächste ganze Woche wird eingemacht , das weißt Du doch . “ „ Ich habe nicht abgesagt , ich muß gehen , und wenn heute Nacht genäht werden muß , so will ich es thun , “ bat ich . „ Ja , das kennen wir ! Geh Du nur ! Lauf nur aus dem Hause , so oft Du kannst . Ist das nun , als wenn man eine große Tochter hat ? “ so rief es hinter mir her , als ich wirklich wegging . Der Weg ist weit , dreiviertel Stunden . Erst , muß ich sagen , freute ich mich schrecklich , als ich draußen war . So schönes Wetter , windig und warm , und eine Menge Blumen auf den Stoppelfeldern . Aber als ich dann hinkam und sie kaum noch ein Wort von der vorigen Stunde behalten hatten und die lateinischen Namen so verdrehten und ein paarmal von ganz anderen Dingen anfingen , dachte ich bei mir : na , hättest auch ebensogut wegbleiben können ; und ich hatte schreckliche Gewissensbisse , daß ich mich deshalb mit Mama erzürnt hatte . Sie guckte mich auch den ganzen Abend nicht an , und doch war das
Kleid schon um neun Uhr fix und fertig . Ganz matt sagte sie mir gute Nacht , und ich hatte Todesangst , daß sie so großen Kummer über mein Betragen hätte . Denke Dir meine Beruhigung , lieber Cousin : als ich um halb elf noch leise mal in ihr Schlafzimmer huschte , schlief sie ganz süß und sah ganz vergnügt aus . Aber an jenem Abend hab ich mir gelobt –
Ich habe Dir all das so ausführlich geschrieben , um Dir zu zeigen , daß ich es nicht leicht habe , und daß Du mich nicht heruntermachen mußt , wenn ich sehr langsam vorwärts komme . Die Bücher scheinen mir auch sehr schwer , einen Augenblick war ich so entmuthigt , daß ich all meine schönen Pläne aufgeben wollte . Wer weiß , ob ich nicht zu dumm bin , trotz allen guten Willens . Aber dann habe ich Deinen lieben Brief noch einmal wieder gelesen und habe mir gesagt : nein , man muß sich nicht unterkriegen lassen . Und dann hab ich was Gräßliches gethan , was ich einzig Dir vertraue , weil Du Dich unterzeichnet hast „ Dein alter Spielbruder “ , und weil es mich an die Zeiten erinnerte , wo wir zusammen Deine Hefte verkäs’ ten ! Nämlich ich habe ja nie Geld , keinen Pfennig , und da habe ich ein altes kleines Armband „ verkäs’t “ beim Goldschmied . Es war doch schon kaput und stammte von Tante her , sie wird es hoffentlich nicht merken . Zwei Mark hab ich dafür gekriegt , und weißt Du , was ich mir dafür angeschafft habe ? Drei
Pakete Stearinlichter , Steenbocken hat sie in Verwahrung ; ich hol mir immer eins zur Zeit , damit es nicht auffällt . Jetzt kann ich in meiner kleinen Bodenkammer jeden Abend lesen und arbeiten , wenn die Andern schlafen . Ist das nicht reizend ? Wenn es nur dies Jahr nicht früh kalt wird , aber dann kann man ja im Bett lesen , das geht auch . Heute fange ich an , ich freue mich so darauf . Papa , meinst Du , würde einwilligen , wenn ich ihn bäte , mich das Lehrerinnenexamen machen zu lassen ? Ach , Axel , da irrst Du Dich sehr ! Bei jeder Gelegenheit spricht er seine Abneigung gegen Lehrerinnen aus , er sagt immer , sie seien alle bleichsüchtig und pedantisch und behandelten auch die Erwachsenen wie dumme Jungen . Ein frisches lustiges Dienstmädchen sei ihm viel lieber , denk Dir ! Ich kann ihm aber doch nicht den Gefallen thun und Dienstmädchen werden ! Nein , weißt Du , ich finde das nun prachtvoll so vor einer vollen Klasse zu stehen , all die großen aufmerksamen Kinderaugen auf sich gerichtet . Ich möchte freilich nicht dabei stehen bleiben , es soll mir nur Mittel sein . Aber darüber kann ich selbst Dir nichts verrathen , das ist mein hohes Geheimniß !
Lieber Cousin , bitte , schicke mir die gute Amateurphotographie von Dir , ich hätte sie zu gern ! Von mir hab ich leider kein neueres Bild , kann doch auch keins unvermerkt wegnehmen , weißt Du . Eine Beschreibung von mir kann ich auch nicht gut machen ;
ich habe eine ziemlich lange Nase , über die ich mich oft ärgere , besonders wenn Papa sagt , sie würde noch mal mit meinem Kinn zusammenwachsen , wenn ich alt bin . Mein Haar ist noch immer etwas zottelig , zu Mamas Ärger , und meine Augen sind auch gewöhnlich aufgerissen , wie Du sie schilderst . Die Welt ist so groß , man möchte zwanzig Augen haben , nicht Du ?
Es grüßt Dich
Deine treue Cousine Lisbeth .
Axel Lorenzen an Lisbeth Markwort . Kopenhagen , 1. Oktober 1892 . Liebe Cousine ! Ich habe Deine Jeremiade mit einem gewissen sarkastischen Achselzucken gelesen . Ja , so seid Ihr ; selbst wenn Ihr mal einen Anlauf nehmt – wie Du es in Deinem ersten Schreiben thatest – , es kommt doch nicht viel dabei heraus . Das erste Hinderniß macht Euch stutzig und muthlos , und der ganze schöne Eifer ist wieder vorbei . Das sind ja wahrhaft vorsündfluthliche Verhältnisse bei Euch im Hause ! Mir wurde ganz öde zu Muthe beim bloßen Lesen , und ich muß sagen , wer sich das gefallen läßt , ist jedenfalls von inferiorer Intelligenz . Liebe Cousine , ich rufe Dir den groben aber wahren Fibelvers in Erinnerung : „ Esel dulden stumm ; allzu gut ist dumm . “ Freilich wirst Du mir diese Worte übel nehmen , aber
das ist mir ganz gleichgültig . Wenn Du nicht begreifen kannst , daß Du Dir Platz machen mußt , so rathe ich Dir , bleibe um Gottes willen bei Deiner Nähmaschine und dem Kochtopf , es sind ja auch da immer Hände nöthig .
Die Geschichte aber mit dem verkauften Armband und dem Arbeiten im Bette ist mir zu romantisch und sentimental und erscheint mir sehr unnütz , wo ein kräftiges Auftreten Deinerseits Dir mit einemmal alles verschaffen würde : Licht und Zeit und die Achtung Deiner Alten . Übrigens habe ich Dir einen Fünfmarkschein eingelegt , für den Fall , daß Du wieder Stearinlichter kaufen mußt . Ich bin ja zum Glück nicht so waschlappig wie mein Fräulein Cousine . Onkel Markwort , mein geehrter Herr Vormund , hat sich nie getraut , mir meine nöthigen Bedürfnisse zu beschneiden . Nein , Lisbeth , wir Männer sind doch ganz andere Kerle als ihr Weiber . Ein Mädchen von zwanzig Jahren und keinen Pfennig Geld ! Ich konnte nur staunen , als ich es las .
Also ein Bild bekomme ich nicht ? Du hast nicht mal soviel Courage , Dein eigenes Bild aus dem Familienalbum zu nehmen ? Gut , so laß es bleiben , aber dann kriegst Du meins ebensowenig . Du wirst sowieso wohl bald hingehen und Deiner Mutter reuevoll beichten , was für gefährliche Bücher ich Dir geschickt habe . Mater peccavi , ich seh Dich schon .
Dein Geheimniß , auf das Du nun schon ein paarmal so geheimnißvoll hindeutest – natürlich damit ich danach fragen soll – , ist wohl mehr zarter als hoher Natur ? Am Ende hat sich Fräulein Cousine in einen Lehrer verliebt und möchte nun dem Angebeteten recht ähnlich werden ? Das sind ja meistens die Motive Eurer Bildungsbestrebungen , wir kennen das .
Adieu , liebe kleine Märtyrerin , möge Dein Martyrium bald belohnt werden . Nähe recht viele Kleider , und koche recht viel Gurken ein , aber den Darwin wirf in die Ecke , wo sie am dunkelsten ist , der hat für Leute Eures Schlages nicht gelebt und geschrieben .
Dein wohlmeinender Vetter Axel .
Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen . Wedel , 5. Oktober 1892 . Lieber Axel , Du bist ein ekliger Junge , weißt Du das ? Wenn ich mir von Mama und Papa alles gefallen lasse , so weiß ich doch warum , von Dir aber lasse ich mir nicht das Geringste gefallen , und wenn ich auch zehnmal von inferiorer Intelligenz bin ! Ich soll in Jemand verliebt sein und deshalb lernen wollen ? O , wie schändlich von Dir , mir so etwas zuzumuthen . Du denkst wohl nur an lauter Liebesgeschichten , deshalb setzest Du auch bei mir dergleichen voraus . Glaube nur nicht , daß ich mich über Deinen scheußlichen Brief
geärgert habe ; wenn mich etwas traurig macht , so ist es nur Deine Verständnißlosigkeit . Du vergleichst immer Deine freie Lage mit meiner gebundenen und rechnest Dir Deine Freiheit als Verdienst zu . Was hast Du denn vielleicht bis jetzt gethan , um Dir Deine Freiheit zu erwerben ? Gar nichts ! es ist alles von selbst gekommen , weil Du ein Mann und kein Mädchen bist . Du kannst Dich in keine andere Person hineinversetzen , kannst nicht Jemand nachfühlen , der durch Liebe gebunden ist . Ach , wie schade , lieber Cousin , daß Du kein Mädchen bist ! Wie gut würden wir uns dann verstehen . So aber soll ich , nach Deiner Meinung , plötzlich ein Dragoner werden , nachdem ich doch zwanzig Jahre ein junges Mädchen gewesen bin . Das ist wohl etwas zuviel verlangt . Ich bin Dir sehr böse , daß Du so dumm bist , denn bei Dir ist es nur schlechter Wille . Lieber Axel , kannst Du den Fünfmarkschein auch entbehren ? Es heißt doch , die Studenten brauchten immer so viel Geld ?
Du , ich habe jetzt schon ordentlich zu ochsen angefangen ; wenn ich eine so ganz trockene Beschreibung einer Pflanze lese , sehe ich sie gleich vor mir , und wirklich habe ich schon viele beim ersten Sehen erkannt , obgleich ich nur erst die Gattungscharaktere gelesen . Aber ich möchte tiefer eindringen , möchte mehr , möchte fragen können ! Ach , das wird mir doch nie zu Theil , dieses Glück , und Du verspottest mich noch ! Wie
konntest Du nur das Herz dazu haben ? Du mußt doch fühlen , daß es mir ernst ist .
In dem Buch von Schopenhauer komme ich sehr langsam weiter ; ich glaube , das ist eine eiskalte Gegend , wo die Philosophen hausen , mich friert ordentlich , während es mir zugleich vorkommt , als ob der Nebel um mich herum etwas durchsichtiger würde . Und dann hat es für mich so etwas Unheimliches , daß gar keine wirklichen Dinge , sondern nur unsere Vorstellungen von den Dingen da sein sollen . Wie eine grausige Schatten- und Gespensterwelt kommt mir das vor , und ich mitten drin so allein und verloren ; kannst Du Dir denken , daß es mich fast freudig durchzuckte , als plötzlich in meine kalte Gedankenwüste hinein das Zwitschern der kleinen Zeisige erscholl , die sich jeden Abend auf unserer großen Linde Rendezvous geben ? Es klang so vertraut und so wirklich , es schien mir ganz unmöglich , daß diese lieben Thierchen , die ich so oft beobachtet , nur in meiner Vorstellung existiren sollen . Es muß wohl sein , daß ich keine philosophische Ader in mir habe , nicht wahr ? Mit Darwin geht es mir viel besser , der verlangt keine solche Sonderbarkeiten , nur daß man aufpaßt .
Lieber Axel , ich möchte gerade Dir so schrecklich gern mein Geheimniß anvertrauen , aber Dein letzter Brief hat mich so gekränkt ! Und doch hilfst Du mir und kannst mir helfen wie Niemand sonst , und so hast
Du doch gewiß ein Anrecht , es zu wissen . Auch möchte ich nicht wieder der Verliebtheit beschuldigt werden , ich habe ganz anderes im Kopf . Also lache nicht , sondern höre : Ich will mein Lehrerinnen-Examen machen , dann eine Stelle suchen und Geld verdienen , und wenn ich genug habe , nach Zürich gehen und studiren .
Aber sag es nun um Himmels willen nicht weiter , lieber Axel ; wenn es Jemand anders erfährt als Du , schäme ich mich todt . Ich fühle mich auch selbst durchaus nicht würdig dazu – aber nicht wahr , Du wirst mich nicht verdammen ? Die Anderen werden es gewiß thun ; ja , ich werde noch viel zu kämpfen haben .
Deine Cousine Lisbeth
mit der inferioren Intelligenz . P.S . Und hier hast Du auch mein Bild , ich habe es richtig gegrapst , damit Du mich nicht wieder feige schiltst . Was ich Mama antworten soll , wenn sie es vermißt , wissen nur die Götter . Ich werde immer so roth , wenn ich zu lügen versuche . Am meisten Angst habe ich vor Frieda , das ist unser enfant terrible , ganz wie ich früher !
Die Obige .
Axel Lorenzen an Lisbeth Markwort . Kopenhagen , 8. Oktober 1892 . Mein liebes Cousinchen ! Sag doch , wie konntest Du nur meinen harmlosen Brief so übel nehmen , mir
so grobe Dinge zu sagen , daß ich dumm sei , keine Phantasie habe u. s. w. Ich schrieb Dir ja nur so nachdrücklich , um Dich zu hetzen und aufzustacheln , weil Du mir wieder in lauter Hausarbeit zu versinken schienst . Jetzt aber , nach Deinem letzten Brief , der manch vernünftiges Wort enthält und außerdem die Photographie eines sehr klug ausschauenden Backfisches , bin ich zu jeder Abbitte geneigt und hoffe , Du werdest Gnade für Recht ergehen und die weibliche Empfindlichkeit bei Seite lassen . Wann ist das Bild gemacht ? Wahrscheinlich vor drei Jahren , da noch keine hohen Schultern an dem Kleide vorkommen ! Oder geht Ihr in Wedel noch jetzt so herum ? Nicht , daß mir die neue Mode sehr gefiele , aber unsere Kopenhagenerinnen sind meistens sehr chic . Und ein neueres Bild kann ich nicht bekommen ? Soll ich mal im offiziellen Brief bei Deiner Mama um eins betteln ? Das wäre eine Idee .
Ja , ich bekomme Respekt vor der kleinen Cousine , obgleich sie etwas blaustrümpfig aussieht ! ohne Scherz , wenn das Kindermäulchen mit der vorstehenden Oberlippe nicht wäre . Aber dies Mäulchen macht alles wieder gut . Du siehst , ich habe Dich mal ordentlich unter die Lupe genommen , das heißt Deine Photographie . Aber auch Deinen Brief . Vieles darin war mir so ziemlich sympathisch . So Deine Verachtung der Verliebtheit . Ganz mein Fall . Es scheint doch
selbst in die hintersten Winkel ein moderner Hauch zu dringen . Ich kann nämlich nicht annehmen , daß Du aus Erfahrung viel über die sogenannte Liebe weißt . Oder irre ich mich ? Mir scheinen die meisten dieser Verhältnisse ganz einfach symbiotische Zustände zu sein , wie sie ja schon auf der niedersten Stufe von Organismen vorkommen . Und davon so viel Wesens zu machen ! es ist merkwürdig . Ich habe schon viel darüber nachgedacht , auch praktisch experimentirt , jedoch mit geringem Erfolg .
Das also ist Dein Geheimniß ? Studiren willst Du ? Nun ja , warum nicht ? Ich begreife nur die Geheimthuerei nicht . Das ist ja der vernünftigste Entschluß , den ein Markwortsches Familienglied weiblichen Geschlechts seit Menschengedenken gefaßt hat . Ich sagte Dir ’s ja , die Lisbeth ist’n vernünftiger Kerl , die hat doch endlich mal ihre Portion Grütze im Kopf . Nur hast Du Dir einen verzweifelt langen Weg ausgesonnen . Darüber wirst Du ja alt und grau , eh Du ans Studium kommst . Zeitverschwendung ! Soll ich mal Deinem Alten schreiben ? Was willst Du Deinen Cortex ( Cortex gleich Hirnrinde , weißt Du , nach neuesten physiologischen Forschungen Sitz der geistigen Funktionen ) mit so viel ödem Kram belasten , den Du später gar nicht brauchst ? Willst wohl Medizin studiren , wie alle praktischen Studentinnen ? Ja , Kind , das Lernen wird Dir gut thun , aber noch besser wird Dir
die Freiheit bekommen ! Da wirst Du Dich recken und strecken und merken , daß Du gesunde Glieder hast . Aber muß es denn gerade Zürich sein ? Warum nicht vielleicht Kopenhagen , wo Du mich hast ? Liebe Lisbeth , ich kann Dir nur rathen , Du sprichst mit dem Alten und kommst hierher , sobald wie möglich ; das Semester beginnt erst in drei Wochen . Sag , liebe Kleine , wäre das nicht famos ? Willst Du Dich unter meine väterliche Obhut begeben ? Ich werde mal sofort nach einer netten Bude für Dich herumhorchen , sieh nur zu , daß Du die Sache rasch in Ordnung bringst . Verdammen ? Weil Du studiren willst ? Ach , Du , was geht das uns an , laß sie doch da in Deinem Pfahldorf zetern , soviel sie Luft haben .
Diemal schick ich keine Bücher , Du kommst ja doch her . Nur ein Vorlesungsverzeichniß leg ich bei und streiche Dir gleich einiges blau an . Adieu , liebe Kleine , mach es richtig und komm baldmöglichst .
Dein Spiel- und bald auch Lernbruder
Axel .
Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen . Wedel , 12. Oktober 1892 . Ach , lieber Axel , wie traurig mich dein Brief gemacht hat ! Du schreibst , als könne ich frei über mich verfügen , als hätte ich die Entscheidung über mein Leben selbst in der Hand , und es bedürfte nur so Anstands
halber auch noch einer Frage an Papa ! Aber ich bin ja eine Sklavin , ich bin ja ein Anhängsel , ich muß thun , was mir befohlen wird , und darf nicht mucksen ; ich werde schon jetzt hart beschuldigt , trotzig , hinterhältig und undankbar zu sein . Wie ich über Deinen lieben Brief geweint habe , kann ich Dir nicht beschreiben . Und jeden Abend geht es von Neuem an , denn ich habe eine herzbrechende Sehnsucht nach dem Leben , das Du führst . Wie kannst Du an Papas Einwilligung glauben in einer so neuen und ungewöhnlichen Sache ! Papa hielte mich gewiß für verrückt , wenn ich so etwas verlangte . Du hast mir ja auch selbst gesagt – ich glaube , es war in Deinem ersten Brief – , man könne von der älteren Generation kein unbedingtes Eingehen auf die Wünsche der neuen erwarten , sondern müsse die Seinigen allmählich zur Einsicht bringen . Und sieh , gerade das hab ich vor durch meine heimliche Vorbereitung zum Lehrerinnenexamen . Wenn sie sehen , daß ich etwas durchsetzen kann – vielleicht , vielleicht beurtheilen sie mich dann gerechter .
Dir sage ich tausend Dank für Deine echte brüderliche Theilnahme – ich bin jetzt nicht mehr einsam in meinen Gedanken , sondern habe wieder einen Menschen , dem ich alles mittheilen darf . Du weißt nicht , wie glücklich mich das macht . Aber warum hast Du mir Deine Photographie nicht geschickt ? Ich möchte doch
wissen , wie Deine „ väterliche Obhut “ , so als Titel betrachtet , aussieht .
Lieber Axel , manchmal gebrauchst Du Ausdrücke , die mir unverständlich sind . Was ist z. B. ein symbiotischer Zustand ? Ich habe keine Ahnung , hoffe aber , daß es nichts Schlimmes sein wird , da Du das Wort in Bezug auf die Liebe anwendest . Du fragst mich , ob ich sonst schon in diesem Kapitel Erfahrung habe , und ich muß gestehen , ja , ziemlich viel . Nach meinen Beobachtungen ist die eigentliche rechte Liebe jetzt gänzlich ausgestorben , ich habe in unserem Bekanntenkreise auch nicht ein einziges Beispiel davon entdecken können . Erika , meine frühere Freundin , die seit einem Jahre verheirathet ist , behauptet neulich in einer Gesellschaft , die Liebe wäre eine Kinderkrankheit , die jeder gehabt haben müßte ! Wie findest Du das ? Ich glaube , sie spricht ihrem Manne nach , der schmunzelte dazu und sagte : „ Aber immun wird man deshalb nicht dagegen , man kann immer aufs neue befallen werden . “ Er ist Arzt , weißt Du , und spricht immer in dieser Tonart . Neulich setzte er sich mal breitspurig in einen Lehnstuhl , fächelte sich mit dem Taschentuch seiner Frau und sagte : „ Jetzt , Lisbeth , kommen Sie mal hübsch an meine grüne Seite und regen Sie mich ein bißchen an , Erika hat ’s erlaubt . “ „ Finden Sie mich anregend ? “ sagte ich ganz vergnügt . Da lächelte er so ölig , wie er manchmal thut , und sagte : „ Ja , sehr , aber es
schadet nicht ; da Sie nicht meine Frau sind , habe ich es sogar ganz gern . “ „ Also von Ihrer Frau nicht ? “ fragte ich . Da zwinkerte er ordentlich unruhig und stöhnte : „ Um Gottes willen , in vier Wochen wär ich eine Leiche . “ „ Reizende Komplimente machen Sie mir , “ sagte ich , wider Willen lachend . Da hielt er mich an der Hand fest , denn ich wollte weg , und rief dabei : „ Larifari , Komplimente – Sie streben ja nach Gleichberechtigung , dann hängen wir die Galanterie an den Nagel . “ „ Wann habe ich gesagt , daß ich danach strebe ? “ rief ich , ganz verdutzt , daß dieser Mensch mich irgendwie richtig beurtheilen könnte . „ O , kleine Heuchlerin , das sagt jeder Blick Ihrer braunen Augen , die mich jetzt so strafend ansehen , jede empörte Handbewegung gegen mich ; ja ja , mein Fräulein , so sehen die Emancipirten aus ; da drüben hängt ein Spiegel , gestatten Sie , daß ich Sie hinführe , Erika hat ’s erlaubt . “ Damit bot er mir den Arm und nickte Mama zu , die ganz ängstliche Augen machte . Nachher nahm sie mich gleich beiseite und wollte wissen , was Doktor Eybe gemeint hätte , und dann streichelte sie mich vor aller Augen und sagte ganz laut : „ Du emancipirt ! Mein armes Kind ! Aber sei nur still , Doktor Eybe hat es nicht böse gemeint , Du weißt , er ist mal unser Spaßvogel . “ Und ins Ohr flüsterte sie mir gleichzeitig : „ Der dumme Kerl ! mach Dir nichts daraus ! “ Kannst Du Dir denken , wie ich auf Kohlen saß ?
Und dann die Theologen , die bei Papa verkehren – ich sage Dir , ebenso beängstigend , wenn auch nicht so unangenehm meistens ! Ich muß Dir nämlich beichten , daß ich mit einem jungen Pastoren heimlich verlobt war , ein Jahr lang ; es war sehr schön , aber auch sehr schrecklich für mich ; ich glaubte , als es aus war , ich würde mich nie wieder erholen . Nämlich es war so : ich mochte ihn wirklich sehr gern , er hatte ein so schönes feines Gesicht , solche wundervoll feierliche weiche Stimme und sagte immer , alle Menschen wären von Natur aus edel , und alles Verkehrte sei nur Krankheit . Das war doch sehr anziehend , nicht wahr ? Aber nun kam es bald heraus , daß er von mir sehr , sehr viel verlangte , unbedingten Gehorsam , Unterordnung in jeder Beziehung , eigentlich geradezu blindes Folgen . Da ich mich aber so gezwungen sah zu dem , was ich freiwillig gewiß gethan hätte , kam ich dazu , ihm zu trotzen , und behauptete , ich sei keine dienende Natur . Da wurde er traurig , sprach von Krankheit der Seele , das normale Weib finde seinen ganzen Beruf in der Liebe zum Manne , und wollte mich jeden Tag bekehren oder doch zum Eingeständniß meiner Verkehrtheit bringen . Es waren fürchterliche Monate . Zuletzt steckte er sich hinter Papa , der ihn sehr gern zum Schwiegersohn gehabt hätte – ach , wie schlecht und verworfen bin ich mir damals vorgekommen ! Papa sagte mir zuletzt in vollem Zorn : „ Du bist eines solchen Mannes
nicht werth , obgleich Du meine Tochter bist . “ Ach , es ist ja möglich , daß auch ich der rechten Liebe nicht fähig bin . Ganz glücklich kann ich erst wieder sein , wenn ich höre , daß er eine Bessere gefunden hat , die sich nicht gegen ihn auflehnt . Seit diesem traurigen Erlebniß halte ich meine Erfahrungen so ziemlich für abgeschlossen , ich komme mir manchmal schon sehr furchtbar alt vor . Jetzt , in der letzten Zeit , fange ich an , neu aufzuleben .
Wenn nur die Zusammenstöße mit Mama nicht wären . Jetzt kommt es immer über Bücher her , die ich lobe und die Mama dann sofort entsetzlich findet . Darwin nennt sie den Affenmenschen , dem man es schon vom Gesicht ablesen könne , weshalb er nun alle Leute von den Affen wolle abstammen lassen . Ich gab mir Mühe neulich , ihr zu erklären , wie schön und erhebend der Gedanke sei , daß der Mensch sich von niederer Stufe zur höheren entwickelt habe ; da fragte sie heftig : „ Was weißt Du davon ? Hast Du etwa Darwins Bücher gelesen ? “ „ Ja , “ sagte ich unvorsichtig , „ und ich bin ganz begeistert davon . “ O , Axel , was gab es da für einen Lärm ! Mama schlug auf den Tisch , Tante kam mit dem Plätteisen aus ihrer Stube , das Mädchen lief herein , und endlich trat Papa aus dem Studirzimmer und sagte bleich vor Aufregung , ob das eine Scene für ein friedliches Pastorenhaus sei . Ich wollte Papa zum Schiedsrichter aufrufen ,
ganz objektiv , weißt Du , aber es ging nicht , sie fielen beide über mich her und machten mich so klein , so klein , daß ich mich jedes Wortes schämte und endlich als arme Sünderin ohne Abendbrot zu Bette kroch . Seitdem sehen mich beide mit spähenden bekümmerten Blicken an , die Gereiztheit kann jede Minute wieder losbrechen . Sogar die Kinder thun mißtrauisch gegen mich , und bei der Botanikstunde ist Mama jetzt anwesend . „ Ich muß doch wissen , was Du den Kleinen für überspanntes Zeug in den Kopf setzt ! “
Dein traurige Lisbeth . P. S. Nein , Du , Medizin möcht ich nicht studiren , das ist mir zu großartig und düster . Ich möchte Naturwissenschaften , aber recht viel . Ach , es ist zu dumm , es wird ja doch nichts daraus . Wenn Mama besonders lieb mit mir ist , sagt sie : „ Glaube mir , ganz wie Du bin ich gewesen , aber dann , als ich mich verheirathete , habe ich gesehen , daß die Männer ganz andere Dinge von uns verlangen ! “ Ein schöner Trost , nicht ? Arme Mama !
Axel Lorenzen an Lisbeth Markwort . Kopenhagen , 16. Oktober 1892 . Liebe Kleine ! Anfangs wollte ich Dir wieder das schreiben , was Du einen „ ekligen “ Brief nennst , aber dann dachte ich , das würde Dich noch niedergeschlagener
machen , und das ist geradezu schädlich in Deiner Lage . Ich fange an , sie zu begreifen , und möchte Dir helfen , liebe Cousine , weil Du Dich nun doch einmal an mich gewandt hast . Das Mittel ist auch schon gefunden , und ich rathe Dir nun dringend : schlag es nicht aus , sondern ergreif die Hand , die ich Dir hinstrecke . Also , liebes Kind , es ist nicht anders , Du mußt heimlich vom Hause fortgehen und hierher kommen . Du schreibst dann von hier aus Deinem Alten , wie die Sache steht , und nach einigem Hin- und Herreden ( ich werde ihnen natürlich auch mein Theil sagen ) ist alles richtig ; Du wirst mit der Bedingung immatrikulirt , später die Matura machen zu müssen , und bist in ein paar Wochen Kopenhagener Studentin so gut wie eine ! Bei der Vorbereitung helf ich Dir natürlich ; ich bin schon sehr vergnügt , daß Du kommst . Ich habe heute in mehreren Pensionen nachgefragt , ob Platz ist . Die einzige Schwierigkeit wäre das Reisegeld : ich bin nämlich den Augenblick auch etwas abgebrannt ; aber ich kann ja immer pumpen , hab also keine Sorge deswegen . Soll ich das Geld auch an die Steenbocken schicken , oder wäre es ihr am Ende doch verdächtig ? Gib mir sofort Nachricht ! Wenn Du entschlossen bist , so thust Du wohl am besten , eine Fahrt nach Hamburg vorzuschützen . Gibt es nicht Jemand , den Du dort besuchen mußt ? Aber ich überlasse das alles Dir , die Weiber
sind uns bekanntlich an Schlauheit weit überlegen . Na , werden Deine Alten aber Augen machen , wenn Du nicht wiederkommst ! Famos , so muß man ’s ihnen zeigen , dann geben sie sich sofort und kriegen den nöthigen Respekt . Zeigen , daß man eine Individualität hat , darauf kommt es an . Allein könntest Du es natürlich nicht zu Stande bringen , aber mit meiner Hülfe geht alles . Hinterlasse ja keinen Abschiedsbrief , den sie womöglich früh finden ; wir schreiben ihnen dann beide von hier aus . Überhaupt keine Sentimentalitäten ! ich sage Dir , mit Weglaufen kommt man am weitesten . Ich möchte auch nicht , daß Du noch einmal einem solchen Tyrannen in die Hände fielest wie Deinem verflossenen Bräutigam , von dem ich bis dahin kein Sterbenswort gewußt habe . Übrigens muß ich sagen , es wird wohl nicht viel Liebe dabei gewesen sein , denn in solchem Falle thut man wirklich alles , was der andere haben will . Ich weiß das aus Erfahrung , Lisbeth , ich könnte Dir auch ein paar Geschichten erzählen – nun , vielleicht mündlich . – Du willst wissen , was ein symbiotischer Zustand ist , hast also nie von Symbiose gehört ? Das ist stark ! Also Symbiose heißt eigentlich Zusammenleben , und zwar eines , das nicht auf den Geschlechtsunterschied gegründet ist , sondern auf gegenseitige Dienstleistung . So bei den Flechten : der Pilz gibt die Festigkeit , den Boden so zu sagen , die Alge schafft das Chlorophyll , die
zweite Lebensbedingung , und beide gedeihen höchst vergnügt zusammen . Also wie Du und ich , wenn Du herkommst . Ich bin dann Dein Pilz , Dein Anhalt , Du bist meine Alge , mein Chlorophyll , nicht wahr ? Es ist nämlich merkwürdig , seit wir uns schreiben , habe ich einen weit größeren Eifer gekriegt . Ich glaube wirklich , ich könnte Dir sehr gut forthelfen . Gleich , als ich Deinen ersten Brief erhielt , dachte ich : sie ist noch zu retten . Ich nehme Dich am Bahnhof in Empfang , das Weitere später .
Eilig
Dein treuer Axel . Nachschrift . Am liebsten wäre mir’s , Du telegraphirtest sofort . Nur „ ja “ , das genügt . Ich pumpe dann das Geld zusammen und melde Dich in der Pension an . Nur für den Anfang . Später miethest Du Dir eine Bude , das ist ungenirter . Du wirst bald ein großes Freiheitsbedürfniß bekommen , sollst mal sehen . Das wird dann ein vergnügtes Leben , ich kann Dir nicht sagen , wie ich mich darauf freue . Adieu , kleines Chlorophyll !
Dein vergnügter Pilz .
Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen . Wedel , 20. Oktober 1892 . Nein , nein , Axel , nicht so ! Dein Brief hat mich zur Besinnung gebracht , alles in mir lehnt sich auf
gegen Deinen Vorschlag . So kann ich meine Eltern nicht betrüben , und was fast noch mehr ist : so möchte ich ihnen nicht Recht geben ! Wenn sie mich jetzt schon für eine halb Verlorene halten , was würden sie sagen , wenn ich Deinen Vorschlag befolgte ! Und so hartnäckig wie Papa ist ! Abzwingen läßt sich der gewiß nichts . Er wäre im Stande , mich ohne Geld und ohne ein verzeihendes Wort sitzen zu lassen , wenn ich ihn so beleidigte . Und Mama ließe mich gewiß „ zu Kreuze kriechen “ . Nein , lieber Axel , es hat zwar etwas sehr Verlockendes , seinem ersten Impuls zu folgen , aber Dein Chlorophyll ist nicht dazu im Stande . So würde ich mir nimmermehr ihre Achtung erwerben , das kann ich nur , indem ich ihnen zeige , daß ich Energie und Ausdauer habe . Ich muß mein Lehrerinnen-Examen machen , dann ist es bewiesen . Auch mir selbst . Ich habe oft Stunden der Entmuthigung , wo ich mir gar nichts zutraue und mich selbst verspotte , daß ich so hoch hinaus will . Steht nun aber erst die Tatsache fest , daß ich etwas erreicht habe , ohne daß ich mir das Leben leicht gemacht hätte , dann fühle ich mich sicherer .
Das Freiheitsbedürfniß , von dem Du schreibst , ist freilich stark bei mir vorhanden , lieber Axel ! Aber ich glaube , es ist gut , etwas mißtrauisch gegen sich selbst zu sein , sich so zu sagen selber festzuhalten , damit man nicht den Boden unter den Füßen verliert .
Es soll sich Niemand meiner schämen müssen , dazu bin ich zu stolz . Hoffentlich zürnst Du mir nicht , sondern bleibst auch ferner mein treuer Anhalt , den ich ja so nöthig habe .
Deine besonnene Lisbeth . P.S . Sie sind in den letzten Tagen wieder viel netter mit mir gewesen ; ich glaube , Mama bedauert mich .
Axel Lorenzen an Lisbeth Markwort . Kopenhagen , 23. Oktober 1892 . Also nicht ? Also philiströse Bedenken , familienhafte Veilletäten . Aber ich habe mir ’s doch gedacht , als ich Dir den Vorschlag machte , den einzig vernünftigen , den es gegeben hätte für Dich ! Ich sage Dir , Ihr seid doch im Ganzen eine jämmerliche Bande , von Initiative keine Ahnung . Gut , so laß es bleiben . Sitze da , und rede Dir selber vor , Du seiest eigentlich zu etwas Höherem geboren , es schadet ja nicht , es thut ja so wohl , sich selber als Opfer der Verhältnisse zu betrachten und mit stillen Wehmutsthränen zu bethauen ! Ich aber sage Dir , für mich sind diese Thränen Kamillenthee , das heißt die fadeste , werthloseste Flüssigkeit , die auf Erden fließt . Natürlich wirst Du wieder auf meine „ Verständnißlosigkeit “ zurückkommen . Ganz , als ob ich es hörte ! Aber laß nur gut sein , es wäre auch traurig , wenn ich Dich verstünde ; eine hübsche
Geschichte könnte das werden , wenn auch ich mich hinsetzte , um Kamillenthee zu produziren
Wir haben also nichts mehr miteinander zu sprechen . Ich bin so wüthend , daß ich Wände einrennen könnte ! Aber Mädel , begreifst Du denn nicht ? Ach was , es ist mir Alles gleichgültig ; mach , was Du willst , wenn Du nur mich zukünftig in Ruhe läßt !
Axel .
Derselbe an dieselbe . 23. Oktober , abends . Liebe Cousine ! Ich habe eine dunkle Empfindung , als sei ich wieder etwas zu offen gegen Dich geworden . Du wirst es wohl „ eilig “ nennen , so wie damals . Na , Du bist ein gutes armes Thierchen , nimm ’s nur nicht krumm . Das ist alles , was ich Dir sagen wollte .
Dein Vetter Axel .
Derselbe an dieselbe . 24. Oktober . Liebe Lisbeth , wenn Du meinst , daß ich Deinem Alten den Kopf zurechtsetzen soll , so brauchst Du mir nur ein Wort zu schreiben . Ich thue es mit Vergnügen !
Dein treuer Axel .
Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen . Wedel , 26. Oktober 1892 . Lieber Axel ! Du schreibst mir in einem Ton , als ob ich Deine Achtung völlig verscherzt hätte . Wir verstehen uns mal wieder nicht . Wir fühlen nämlich zu verschieden , und das macht mich noch doppelt traurig , Deine ewige Härte und Ungerechtigkeit ! Und Du weißt doch , daß ich ohnehin kein leichtes Leben habe . So mißtrauisch sind sie gegen mich , als wäre ich eine Fremde ! Neulich traf ich Mama mit einem Brief in der Hand , den sie aus meiner Kleidertasche gezogen hatte . Es war ein Brief von Agnes , weißt Du , die jetzt in England Erzieherin ist . Sie antwortete mir so auf allerlei Anfragen . Ich war sehr verlegen in Mamas Seele hinein , aber Mama gar nicht . „ Da Du nicht geruht hast , mir den Brief Deiner Freundin mitzutheilen , so habe ich ihn selbst gelesen , “ sagte sie in strafendem Ton . Sie brauchte das Wort „ geruht “ mit einem ironischen Nachdruck . „ Ich muß doch wissen , was für Korrespondenzen Du führst , “ fügte sie dann hinzu ; „ Agnes schreibt eigentlich recht schulmeisterlich ; es wundert mich aber nicht , sie sah immer aus wie ein verkleideter Kandidat . “ Dann , nach einiger Zeit , schlug sie die Hände ineinander und seufzte : „ Gott , wenn ich denke , wie wir als Mädchen waren , lauter Gefühl und Heiterkeit und Natürlichkeit , und jetzt gehen sie alle herum mit Büchern unterm Arm und
sind unglücklich , wenn sie nicht auch eine Brille auf der Nase haben . “ Sie blickte mich unzufrieden an von oben bis unten und ließ mich stehen . Tante sagte neulich zu Papa so laut , daß ich es hören mußte : „ Lisbeth wird doch , will’s Gott , kein Original werden ? Das ist ein Unglück für ein Mädchen ! “ „ Hoff es nicht an meiner Tochter zu erleben , “ brummte Papa .
Und ich bin doch so still mit meinen Plänen , arbeite so ungesehen bei tiefer Nacht nur , wenn Alle schlafen . Warum wollen sie mich nicht meinen Weg gehen lassen , da ich doch Niemand damit störe ? Oft bin ich förmlich lebensüberdrüssig , denke zuweilen , wenn ich nur morgen nicht wieder aufwachte ! Dann aber habe ich bis jetzt mich getröstet : einen Freund hab ich doch . Und siehe da ! wenn ich ganz verlassen , ganz auf mich selbst gestellt bin , läßt auch Du mich im Stich ! In solchem Augenblick sind mir selbst die Bücher gleichgültig . Gestern sagte Doktor Eybe in seiner gewohnten taktlosen Manier : „ Lisbeth , Sie sehen schlecht aus , soll ich Ihnen etwas verschreiben , oder haben Sie Herzenskummer ? “ „ O , die ist mit keinem Überfluß an Gefühl gesegnet , “ fiel Mama rasch ein , „ wenn nicht mal ein schweinslederner Professor kommt – “ Ich wurde auch einmal grimmig . „ Fragen Sie nur Mama , die weiß alles besser , was mich betrifft , “ brummte ich . „ Das machen wir Alle durch , nicht wahr , Doktor ? “ sagte Mama lachend und achselzuckend ;
„ja , wenn man den Kindern etwas von seinen Erfahrungen abgeben könnte . “
Lieber Axel , ich hatte mir so fest vorgenommen , nichts mehr von Klagen einfließen zu lassen . Ich muß es aushalten , ich muß mir den ganzen Tag vorsagen , daß sie es von Herzen gut mit mir meinen . Aber wie ist es nur möglich , daß sie Alles , was ich schön und groß finde , verschroben oder lächerlich finden ? Kannst Du das begreifen ? Ach , werd ich jemals hinauskommen ?
Warum wolltest Du meinetwegen an Papa schreiben ? Es ist zwecklos , das sage ich Dir von vornherein , und dann – ich danke für Dein Mitleid ! Ein armes gutes Thierchen ? schönes Epitheton ! Nein , Axel , von oben herab will ich nicht behandelt werden , am wenigsten von Dir ! Du hast all die Chancen gehabt die mir gefehlt haben , das ist kein Grund zum Hochmuth . Und bei Papa würdest Du nichts ausrichten , so gewichtig Du Dir selber vorkommen magst . Ja , ich möchte fast , Du versuchtest es mit ihm , nur damit Du ad absurdum geführt würdest !
Fast glaub ich auch , wir geben besser die Correspondenz auf . Ich bin in stetiger Aufregung , Du schürst sie , aber Du hilfst mir nicht . Wie solltest Du auch ? Du bist so ohnmächtig wie ich selbst . Heute Nacht hat mir geträumt , ich hätte Flügel . Denk Dir ! zwei große mächtige braune Flügel , ich
hörte sie um mich rauschen , denn ich flog . Es war herrlich . Und plötzlich warst Du auch da , und wir flogen zusammen . Du hieltest mich an der Hand fest , und auf einmal wirbelten tausend Feuerfunken um uns . „ Aha , jetzt sind wir bei den Asteroiden ! “ rief ich ganz selig . Dann fühlte ich mich stürzen , reißend schnell . Es war wie Vernichtung . Ich erwachte halb , athemlos und glühend , wußte gar nicht , wo die Thür und wo das Fenster war . „ Lisbeth , warum schreist Du so ? “ rief es kläglich aus dem Nebenzimmer , wo Tante schläft . Aber der Traum geht mir noch immer nach , besonders das Rauschen , es war , als wenn der Wind in die Segel fährt . Ach , wie unrecht ist es , daß wir keine Flügel haben !
Deine Lisbeth .
Axel Lorenzen an Pastor Markwort . Kopenhagen , 1. November 1892 . Lieber Onkel Vormund ! Dieser Brief ist mit der Bemerkung „ eigenhändig “ versehen , ich möchte Dich nämlich gern auf ein paar Augenblicke allein sprechen . Tante muß es natürlich später auch erfahren , aber vorläufig bitte ich um Deine Diskretion . Es handelt sich nämlich um Eure Lisbeth . Das Mädel verkommt ganz bei der Lebensweise , die sie bei Euch führt ; sie ist kein solch Hausküken , und man muß etwas für sie thun . Ich möchte Dich daher dringend
und herzlich bitten , daß Du Deine Einwilligung gibst , sie studieren zu lassen . Hier sind schon eine Anzahl Mädchen aus guten Familien als Studentinnen immatrikulirt , und ich würde Eure Tochter natürlich gleich unter meine Obhut nehmen . Wenn Dir meine Bitte auch zuerst etwas ungewöhnlich erscheinen sollte , lieber Onkel , so bin ich doch überzeugt , daß es nur meiner ernsten Vorstellung bedarf , um Dich den Wünschen Eurer Tochter geneigt zu machen .
Sollte Dich der Kostenpunkt irgendwie geniren , so bin ich gern bereit zu Lisbeth’s Studium eine Summe jährlich herzugeben , die Du wohl selber die Güte hast , zu bestimmen . Ich glaube gewiß , daß meine Mama , wenn sie noch lebte , mit dieser Verwendung des Geldes sehr einverstanden sein würde ; Du brauchst Dir also durchaus keine Skrupel zu machen . Doch wäre es mir lieb , wenn Du gegen Lisbeth von diesem Umstande nichts erwähntest .
Ich erwarte Deine recht bejahende Antwort , lieber Onkel ; falls Du Dich etwas beeilst , kann Eure Tochter noch in diesem Semester herkommen , was ihr jedenfalls auch das Liebste wäre . Ich könnte mir auch eigentlich keinen Grund denken , der sie verhindern sollte , ihrem heißen Wunsch Folge zu leisten .
Du würdest mit schleuniger Einwilligung unter Anderen auch erfreuen
Deinen herzlich ergebenen Neffen Axel .
Derselbe an Lisbeth Markwort . Kopenhagen 1. November 1892 . Liebe Kleine ! Eben geht Brief an den Alten ab . Ich hab’ es ihm fein eingegeben ; es wäre geradezu unhöflich , wenn er es mir abschlüge . Freue Dich , Lisbeth , die Flügel für Dich sind in Arbeit , und Du wirst sie in beliebiger Zeit anschnallen können .
Wenn ich nicht Abstinent wäre , tränk’ ich mir heute jedenfalls einen Schwips ; so werd ’ ich eine stramme Segeltour machen , das ist noch besser . Adieu , Lisbeth .
Dein Axel .
Pastor Markwort an Axel Lorenzen . Wedel , 5. November 1892 . Mein Herr Neffe ! Dein absonderliches Schreiben ist in meinen Händen , und ich gäbe viel darum , wenn ich in diesem Augenblick in Deinen Kopf hineinsehen könnte wie in diesen Brief . Es scheint darin eine konfuse Wirthschaft zu herrschen , die Worte : Elternautorität , Pietät , Vorstellung von echter deutscher Weiblichkeit u. s. w. scheinen darin gestrichen und allerlei absurde und widrige Worte des Wahns und der Unnatur an ihre Stelle getreten zu sein . In zweiter Linie berührt es mich höchst unangenehm und peinlich , daß zwischen Dir und meiner Tochter ein mir völlig unbekanntes Einverständniß herrscht . Du
hast ihr Briefe geschrieben , Bücher geschickt , wie meine Frau nach langem Parlamentiren herausgebracht , und all’ das ohne unser Wissen ! Das Mädchen ist allerdings strafbarer als Du , das will ich zugeben ; mein Wille ist aber , daß diesen Kindereien mit gefährlichen Dingen ein Ende gemacht werde . Steenbocken büßt ihren Undank mit dem Verlust ihrer Stellung bei meiner Frau und wird keinerlei heimliche Correspondenzen mehr in Empfang nehmen .
Dein Vorschlag oder was Du so nennst , lieber Junge , wäre nur geeignet , der Ueberspanntheit meiner Tochter Vorschub zu leisten . Ich weise ihn daher aus pädagogischen wie aus principiellen Gründen mit Entrüstung von mir . Wenn es hie und da Frauenzimmer gibt , die ihren Beruf verfehlen , um sich dafür mit den sogenannten Wissenschaften abzugeben , so sind das Ausnahmegeschöpfe , unglückliche Zwitterwesen , an denen Niemand seine Freude hat . Dies zur Notiz für Dich und Deinesgleichen , die glauben , mit ein paar billigen Phrasen die Welt auf den Kopf stellen zu können . Daß Elisabeth kein Genie ist , das in sogenannten niederen Geschäften untergehen könnte , dafür bürge ich Dir ; die sind anders gekennzeichnet .
Es ist das erste Mal , daß Du mir mit einem Briefe Aerger statt Freude bereitet hast , lieber Junge ; es ist das erste Mal , daß Dein frischer burschikoser Ton gegen mich , hinter dem ich nichts als jugendlichen
Uebermuth erwartete , in Anmaßung und Pietätlosigkeit umschlägt . Besinne Dich auf Dich selbst , mein Sohn ; am tiefsten hat mich Dein Bestechungsversuch gekränkt ! Er ist eigentlich unverzeihlich ; ich entschuldige ihn mit Deiner großen Jugend . Einem Dreiundzwanzigjährigen sieht man gewisse Taktlosigkeiten nach . Nur verschone mich mit weiteren Episteln dieser Art , meine Nachsicht hat Grenzen !
Dein Onkel Markwort , Pastor .
Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen . Wedel , 5. November 1892 . Ach Axel , was hat Du angerichtet , was hast Du eigentlich Papa geschrieben ? Er ist so furchtbar böse , und Mama und Tante würdigen mich keines Wortes , nachdem sie mich entsetzlich heruntergemacht haben . Es ist Alles entdeckt ! Deine Bücher , dann daß die arme alte Steenbocken Briefe für mich angenommen hat , meine stillen heimlichen Pläne für die Zukunft – Alles , Alles ! Ich komme mir vor wie ein Mensch , dem man alle Kisten und Kasten erbrochen und geleert hat , und dem das Beste und Liebste im Staub herumgezerrt worden . Morgens , wenn ich aufwache – so öde , so leer , und dazu diese nebeligen nassen Herbsttage , so grau , so todt , zum Verzweifeln . Gott mag wissen , was aus mir werden soll ! Sie
haben die Bücher mit Beschlag belegt , Steenbocken darf nie wieder ins Haus , ich nicht mehr zu ihr , ich soll den Kindern keine Stunde mehr geben , „ damit sie nicht eben so verdreht werden wie ich “ ; es fehlt nur noch , daß sie mich einsperrten ! Allein freilich soll ich wirklich nicht ausgehen , sie trauen mir nicht quer über den Weg . Mama meinte , am besten wäre es , das Mädchen abzuschaffen , dann bekäme ich wohl andere Gedanken in den Kopf ! Es ist aber noch in der Schwebe .
Lieber Axel , zu einer Sache aber haben sie mich nicht gebracht ; Deine Briefe hab ich nicht hergegeben ! Ich habe sie vor ihren Augen ins Küchenfeuer geworfen , Alle zusammen ! Der Gedanke , sie von ihnen lesen zu lassen , war mir unerträglich . Nun glauben sie natürlich erst recht , es hätte etwas besonderes darin gestanden ; aber laß sie ! Das Traurigste ist nur , daß Du mir nicht mehr schreiben darfst , ich weiß wenigstens keinen Ausweg , um die Briefe heimlich zu bekommen . Auch ich kann Dir höchst selten nur schreiben ; diesen Brief , den ich bei Mondschein kritzele , muß ich vielleicht tagelang in der Tasche herumtragen , ehe ich Gelegenheit finde , ihn abzuschicken !
Steenbocken dauert mich so sehr ! Wenn Du ihr doch ein bißchen Geld schicken könntest , um sie zu entschädigen . Für Kohlen , weißt Du , die hat sie sonst immer von uns bekommen .
Und so leb denn wohl , lieber Axel , ich kann es noch gar nicht glauben , daß alles aufhören soll . Was war denn Unrechtes daran ?
Deine tiefbetrübte Lisbeth .
In dem kleinen Bahnhofsrestaurant am Klosterthor war ein Drängen und Schieben , als ob etwa Bismarck erwartet werde . Es war aber nur der dreiundzwanzigste Dezember und das böige nasse Wetter , das die Weihnachtskäufer hier in dem dumpfen Garküchengeruch zusammendrängte ; als der Zug der Hamburg-Altonaer Verbindungsbahn einfuhr , gab es einen Sturm auf den Perron hinaus und auf die Coupés , als ständen nicht unübersehbare Haufen Gepäck zur Beförderung da , trotzig und hartnäckig pochend auf ihre Unbeweglichkeit , und mit breiter Schadenfreude ihr Schwergewicht an all die Ungeduld hängend , die da vorwärts , in die schwarze häßliche Nacht hinaus , zu fahren verlangte . Da wurden triefende Regenschirme rücksichtslos an Sammetmänteln abgewischt , zwischen wildfremde Beine geschoben , in Pappschachteln gebohrt und augenbedrohend , gleich Spießen , unter den Arm gesteckt , um die Hände frei zu bekommen . Die zärtlichsten Familienbande wurden zertrennt von jählings daherrasselnden schottischen Karren , auf denen die Kisten und Koffer wackelten ; einem jungen Fräulein purzelten drei Pakete , die sie zierlich an Schnüren baumelnd
getragen , übereinander auf den Boden , und ein schnell daherdrängender Herr machte so unerwartet davor Halt , als ob die Carpenterbremse in seine Beine gefahren sei ; fast kam er ins Schwanken .
„ Danke , “ sagte das Fräulein und nahm mit kummervollen Blicken eine Puppe in Empfang , die der Herr ihr aufgehoben hatte . „ Richtig der Kopf ab ! “
Er tauchte noch einmal auf den von vielen Fußtritten schwarz und schlüpferig gewordenen Boden und brachte ein kleines Lockenhaupt empor . Ein plötzlicher Rückenstoß der Nachdrängenden warf ihn so gegen das junge Mädchen , daß er fast unwillkürlich den Arm erhob , um sie zu schützen . Er fegte ihr damit den braunen Filzhut vom Kopf , so daß auch der noch in seiner Hand blieb . Mit einem erschrockenen unterdrückten Lachen reichte er ihr beides , sowie etwas freier Raum um sie ward .
„ Man kommt gewiß nicht mehr mit ! “ sagte sie ängstlich .
„ Ich will sehen , kommen Sie mir nur nach , “ und blind strebte er vorwärts ; „ zweiter ? “ rief er ihr noch zu .
„ Ja ! “
„ Nichtraucher ist besetzt ! Nein , hier durch , ich verschaffe Ihnen noch Platz ! So , da wird ein neuer Wagen angehängt , das ist das Wahre ! “
Nicht viele bemerkten diesen neuen Wagen , und
so saßen sie einen Augenblick nur zu zweit in ihrem Abtheil . Das Fräulein freilich saß nicht , sondern stand mit unruhig suchenden Blicken am Fenster .
„ Haben Sie noch etwas verloren , Fräulein ? “
„ Tante ist weg , ich muß wieder aussteigen . “
Im selben Augenblick machte der Wagen einen scharfen Ruck , es wurden schon Coupéthüren zugeschlagen .
„ Wir fahren gleich , es geht nicht mehr , “ sagte der junge Mann .
„ Hier , hier ist Platz ! “ schrie der Schaffner , und im Augenblick waren auch in ihrem Wagen alle Plätze besetzt , die Thür geschlossen . Das junge Mädchen sah fast verstört aus . Noch immer suchte sie den Perron entlang zu blicken ; dann kam von einem älteren Herrn , der sich die Backe hielt , die dringende Bitte um Schließung des Fensters . Sie fuhren ; die Wagen knatterten und krachten , als ob sie der Wind aus allen Fugen sprengen wolle , immer wie Kleingewehrfeuer . Die beiden jungen Leute , einander gegenüber , sahen sich je zuweilen mit musternden Blicken an . Das Fräulein schien den Verlust der Tante noch nicht verschmerzt zu haben , sie hielt sich keinen Augenblick ruhig ; die braunen Augen unter dem braunen Filzhut hatten etwas eindringlich Fragendes , die Stirn war zusammengezogen , die schmalen Lippen etwas gepreßt ; sie seufzte oft und fuhr in die Höhe , wenn der
Wagen sehr rüttelte . Dann suchte sie wieder ihre Pakete in Ordnung zu bringen und paßte verstohlen , unter dem Seidenpapier , die Stücke der zerbrochenen Puppe zusammen . Das beobachtete der Gegenübersitzende mit amüsirtem Lächeln ; einmal trafen sich so ihre Blicke , ein rother Schein fuhr dem Mädchen über die Backen , schnell wickelte sie Alles zusammen und drückte die Pakete in die Kissenecke neben sich . Der Schaffner nahm die Fahrkarten ab ; höflich streckte der Herr die Hand nach ihrer Karte aus , um ihr das Hinüberlangen zu ersparen . Er warf dabei einen Blick auf das Billet und sah dann plötzlich , im Zurückgeben , das Fräulein lebhaft an . „ Sie fahren auch nach Wedel , Fräulein ? “
„ Ja , nach Wedel , hinter Blankenese . “
„ Ich weiß , ich weiß ! Sind noch so viele bunte Enten auf dem großen Dorfteich ? “
„ Ja , wir haben auch Schwäne ! “ Sie lächelte , und nun sah es aus , als sei doch das ihr gewohnter Ausdruck .
„ Und die gelben Wasserrosen ? “ fuhr er fort , sich ein wenig vornüber zu ihr beugend .
„ O , jetzt – es ist ja Winter . “ Ein Schatten ging über ihr bewegliches Gesicht .
„ Aber die grünen Bänke unter den Linden vor den Hausthüren ? “
„ Ja , vor unserer Hausthür ist auch eine , “ nickte sie .
„ Sie wohnen in Wedel , Fräulein ? “ rief er , als sei das die merkwürdigste Sache der Welt .
„ Ja , “ machte sie verwundert .
„ Und sehen jeden Tag dem steinernen Roland in die vorgequollenen Augen ? “
„ Ach , den seh ich längst nicht mehr an ! “ Dann nach einer Pause : „ Aber Sie sind doch nicht aus Wedel ? “
„ Nein , nein ! “ wehrte er lebhaft . „ Es muß ja wohl ein schauderhaftes Nest sein ? “
„ O ja ! “ seufzte sie . „ Aber dann haben wir Hamburg so nahe . “ Der Zug hielt in Altona , der Wagen hatte sich halb geleert . „ Ich muß nachsehen , ob Tante nicht doch mitgekommen ist , “ machte sie , aufstehend ; sie deutete auf ihre Pakete : „ Kann ich das hier lassen ? “
„ Gewiß , Fräulein ! “ Er legte schützend die Hand auf die Sachen ; dann wollte er ihr beim Aussteigen helfen , aber sie war schon hinausgesprungen . Es läutete zum zweitenmal , als sie allein zurückkehrte ; er guckte aus der Coupéthür und rief ihr schon von weitem zu : „ Hierher , Fräulein ! “ Beim Einsteigen dann bediente sie sich seiner Hand , die er eifrig hinausstreckte . „ Nicht gefunden ? “
„ Nein , Tante ist sicher in Hamburg zurückgeblieben . “
„ Aber das ist doch nicht tragisch , eine Tante kann immer für sich selbst sorgen ! “
Sie lächelte , aber gezwungen . „ Es ist wegen des Nachhausewegs ; vom Bahnhof sind es noch gute zehn Minuten . “
Er guckte sie neugierig an . „ Fürchten Sie sich , Fräulein ? “
„ Ich gar nicht , aber zu Hause sehen sie es nicht gern . “
Sie brach erröthend ab , als ob sie schon zu viel gesagt habe .
Auch er schwieg eine Weile , während er ihr Gesicht , ihren Anzug , der dunkel und bescheiden war , nachdenklich prüfte . Wenn sie so viel mit einem Wildfremden gesprochen , so war es geschehen , weil er ihr gar nicht fremd vorkam . Sie mochte sein Gesicht , vielleicht war das der Grund ; ein scharfes , bestimmtes Gesicht , nicht sehr jung , etwas sarkastische Mundwinkel , aber gute freundliche Augen . Er sah ernsthaft und klug aus , trug feine Kleider und elegante Handschuhe , die er während der ganzen Fahrt nicht abgestreift hatte , während das Fräulein die ihrigen beständig aus- und anzog , immer bemüht , die gespaltenen Spitzen , aus denen es rosa hervorleuchtete , vor ihrem Gegenüber zu verbergen . Plötzlich – sie waren schon über Flottbeck hinaus – bog er sich wieder vor : „ Darf ich fragen , ob Sie vielleicht in Wedel die Familie Markwort kennen ? “
„ Den Pastor , meinen Sie ? “
„ Ja , und – “ – er zögerte – „ auch – “
„ Ich bin seine Tochter , “ sagte das Mädchen und blickte ihn forschend an ; sein Gesicht war aufgeglänzt , als ob man ein Licht davor halte . „ Ach , wollen Sie zu Papa ? Aber ein Kandidat sind Sie doch nicht ? “
„ Und Sie sind Fräulein Markwort ? Fräulein Elisabeth Markwort ? “
„ Aber ja ! “ Es hatte so viel Vergnügen in seinem Ton gelegen , daß sie ihn jetzt unverwandt ansah . Plötzlich kam es ihr irgendwie zu Bewußtsein , daß sie mit dem jungen Herrn ganz allein im Coupé geblieben war . Sie stand verlegen auf und machte sich an dem Fenster zu schaffen , indem sie ihm den Rücken drehte . Im selben Augenblick sagte es leise und neckend hinter ihr : „ Lisbeth ! “ Im erschrockenen Herumfahren zu ihm , dessen Gesicht in heller Freude stand , ward ihr auf einmal alles klar . „ Axel ? “ stammelte sie , blaß vor Erregung .
Da faßte er sie an beiden Händen und zog sie neben sich . „ Den ganzen Weg schon hab ich geschwankt . Nein , Lisbeth , wie reizend das ist ! Kleines Chlorophyll , wie geht es Dir ? “
„ Du bist gekommen ! Du bist gekommen ! “ wiederholte sie mit leuchtenden Blicken . „ O , Axel , wie gut von Dir ! “ Plötzlich wurden ihre Augen naß , sie ließ seine Hände los , warf sich rückwärts in die Polster und weinte , mit den Händen das Gesicht versteckend laut und bitterlich .
Er suchte sie zu beruhigen : „ Nein , das mag ich nicht sehen , Du weinst ganz wie Mama geweint hat ! Was haben sie Dir denn gethan ? “
Sie ließ ab , ihre Augen schimmerten hell durch die Thränen , sie lächelte ihn an . „ Gar nichts Besonderes . Ich bin dumm . Ich habe es mir nur so manchmal vorgestellt – es ist nichts als die Überraschung ! “ Dann saßen sie wieder nebeneinander und sprachen von ihren Briefen . „ Wie Du mich manchmal geärgert hast , Axel – “
„ Ja , weißt Du , das ist gesund , und weshalb nimmst Du Dir auch alles so zu Herzen ? “ Sie verstummten , sahen sich froh und staunend an .
„ Und jetzt kommst Du zu uns , Axel ? “
„ Natürlich , sie können mich doch nicht hinauswerfen ! “
„ O , keine Rede , auf Dich sind sie kein bißchen schlecht zu sprechen , alles ich ! “ Ihre Lippen zuckten bitter .
„ Aber wenn wir jetzt zusammen ankommen ? “
Lisbeth schüttelte den Kopf . „ Nein , das geht keinenfalls , lieber warte Du auf dem Bahnhof , als wärest Du mit dem nächsten Zuge gekommen , und ich sag nichts , daß ich Dich schon gesehen habe . “
„ So machen wir’s ! Ich bleibe über die ganzen Weihnachtsferien , wenn die Alten mich nicht hinauswerfen . “
„ O , Axel ! Ach Du , ich weiß , daß Du Steenbocken Geld geschickt hast . Wie nett von Dir ! “
„ Und wie geht es Dir sonst , Lisbeth ? Die Bücher – “
Das Mädchen hatte den Kopf sinken lassen . „ Ich habe jetzt das Weglaufen täglich in Erwägung gezogen , “ murmelte sie .
Er räusperte sich , setzte an und sagte doch nichts , die Kehle schien ihm vertrocknet . „ Was wollen wir wetten , daß ich es doch noch durchsetze ? “ rief er plötzlich .
„ Das mit mir ? daß ich zum Studiren komme ? Nie ! “ rief Lisbeth .
„ Was gibst Du mir , Lisbeth ? “
„ Ach , laß doch , wir wollen lieber nicht davon sprechen . “
„ Aber ich bin doch deshalb hergekommen ! “
„ Dann kannst Du getrost wieder umkehren ! “
„ So ? Wollen wir wetten , daß Du in fünf Minuten anders denkst ? “
„ In fünf Minuten ? “ fragte sie ungläubig .
Er sah sie eindringend an , während sich sein Gesicht röthete . „ Lisbeth , erlaubst Du mir , daß ich Deinen Papa frage , ob ich Dich heirathen kann ? “
„ Ach , mach doch keinen Unsinn “ stammelte das Mädchen . „ Lieber Axel , wie könntest Du deshalb – “
„ Erlaubst Du es ? “ rief er , lebhaft ihre Hand drückend . „ O , es ist nichts Auffallendes daran , wir heirathen jetzt alle jung , die ganze neue Generation ! “
Lisbeth sah ihn erstaunt an , er kam ihr so männlich , so entschlossen vor , an seine Jugend hatte sie gar nicht gedacht ; aber er schien ihr ein großes Opfer bringen zu wollen , und das durfte sie doch nicht annehmen . „ Aber – aber warum denn ? “ seufzte sie bedenklich .
Er besah seine Nägel , denn seit er Lisbeths Hände hielt , waren die Glacés verschwunden . „ Warum ? wenn wir beide wollen ? Du weißt doch , Symbiose , Lisbeth ! “
„ Aber , ist Dir das nicht zu wenig , Axel ? “
„ Es ist mir genug – mit Dir ! “ Sie sahen sich einander in die Augen . „ Und Du ? “ flüsterte er sehr leise und eindringlich .
„ Mir auch , “ flüsterte es zurück . Sie drückten sich noch einmal fest die Hände . Dann hielt der Zug in Wedel .
Die jungen Leute gingen mitsammen bis zum Pfarrhause , Lisbeth ein wenig voraus . Es regnete jetzt nicht , aber der Wind fuhr mit Heulen von der Elbe herüber und drängte die Wandernden oft gewaltsam gegen die schwarzen sausenden Bäume .
„ Hier kannst Du mir ruhig den Arm geben , “ sagte Axel leise . Sie kam langsam an seine Seite . „ Friert Dich , Lisbeth ? Soll ich Dir meinen Rock geben ? “
„ O , nein , ich bin ja ’n Butenminsch , weißt Du . “
„ Aber Du zitterst ja so ! “
„ Ach , das ist nur – übrigens , ich finde , Du zitterst auch , wenigstens Dein Arm . Wie schön das braust , nicht , Axel ? “
„ Oceanische Lüfte , Lisbeth . Magst Du das gern ? “
„ Du mußt den Mund ein bißchen öffnen und schlürfen , Axel ; so thu ich immer . “
Nun tranken sie beide die mächtig herströmenden Luftwellen , bis sie an die Häuser kamen ; einzelne wildflackernde Laternen machten die Dunkelheit rundum noch schwärzer , aber der Wind brach sich an den Mauern , um zwischen den Lücken mit verdoppelter Kraft hindurchzublasen .
„ Hier muß ich Dich loslassen , Axel , hier kennt mich jeder Mensch . “
„ Aber es ist ja Niemand zu sehen ! “
„ O , Du , die Wedeler haben scharfe Augen , die sehen am besten im Dunkeln . “
„ Sind wir schon am Dorfteich vorüber ? Den hab ich doch nicht bemerkt . “
„ Aber längst schon ! Und er liegt halb unter Eis . Dort unten ist schon unser Haus . “
„ Schon ? Und Du mußt hinein , jetzt gleich ? Ich dachte , wir gingen rund um den ganzen Teich . Geht das nicht ? “
Sie kehrten noch einmal um , „ weil es so schönes Wetter war “ . Als es wieder ganz dunkel um sie
geworden , sagte Lisbeth mit schüchterner Stimme : „ Axel , vorhin , weißt Du , im Coupé , da hab ich so gewünscht , Du möchtest es sein , und da warst Du es wirklich ! “
„ Mein kleines Chlorophyll , ich hab sie so entbehrt , Deine Briefe ! “
„ Ach , meine Briefe ! Nein , Deine – “
„ Und nachher , Lisbeth , wenn wir – ich meine in Kopenhagen , “ er athmete hoch auf , „ dann segeln wir zusammen ! “
„ Fliegen wir zusammen ! “ rief das Mädchen hingerissen .
Er schlang den Arm um sie und bückte sich zu ihrem Gesicht , nicht tief , das war nicht nöthig , sie waren beide von fast gleichem schmächtigen Wuchs . Innig tauchten sie die Blicke ineinander : „ Deine Augen glänzen im Dunkeln , Lisbeth . “
„ Und Deine ! “ Immer das Echo . Dann hörten sie eine Uhr schlagen , es war hohe Zeit für Lisbeth , heimzukehren . „ Sie haben ja einen Fahrplan ! “
„ So ein Zug kann wohl mal Verspätung haben . “ Sie eilten aber doch . „ Und wie lange muß ich jetzt noch auf dem Bahnhof sitzen , Lisbeth ? “
„ Nur zwei Stunden . “
„ Nur ! Und treffe vielleicht noch die theure Tante ! Nein , ich laufe herum und – “
„ Ach , komm eine Viertelstunde nach mir ; Du hast den Weg verfehlt , einfach . “ –
Es gab aber doch keine kleine Verwunderung nachher , als Axel Lorenzen so unvermuthet ins Pastorenhaus schneite !
„ Daß Ihr Euch nicht getroffen habt , Kinder ! “ Mama weinte vor Freude über die Ankunft des Neffen , der Pastor war im ersten Augenblick etwas steif , thaute aber bald auf ; Lisbeth gerieth in Verwirrung , sobald Axel sie anblickte . Der that unbefangen für sie Alle ; dem Pastor wollte es fast unglaublich scheinen , daß er der Verfasser jenes Briefes sei . Ein so gesetzter , fertiger junger Mann ! Es sah aus , als halte er sehr auf gute Lebensart ; aufmerksam gegen die Damen , fast weltmännisch . Als er den guten Wein , den der Onkel selbst herbeibrachte , mit einer schlichten , aber entschiedenen Handbewegung zurückwies , ward der Pastor förmlich betroffen und musterte ihn von jetzt an wie eine fremde Menschenspecies . So reif sollte der sein ? Mit vierundzwanzig Jahren ? Und was er alles wußte , und wovon er sprach ! Eine totale Umwandlung mußte sich vollzogen haben , seit Pastor Markwort studirte . Er ertappte sich darauf , daß er vorsichtig abwog , was er sagen wollte ; er , der Vormund und ältere Mann , im Gespräch mit diesem Springinsfeld . Aber nein , das war keiner , das war ein Mensch , ein erwachsener , sehr belesener , sehr erfahrener Mensch !
„ Die alte Studentenherrlichkeit scheint aber doch
ausgestorben zu sein , “ sagte der Pastor endlich , wie um sich selbst zu beruhigen .
Da zuckte der unerschütterliche Axel gar noch mit
leidig mitleidig die Schultern . „ Die Kommerse und so weiter – ach , das sind doch eigentlich Kindereien – nicht , Onkel ? “
Ein wenig säuerlich sah es aus , wie der Pastor nickte . „ Aber die rechte Jugendheiterkeit , meine ich . “
„ O , die – heiter sind wir auch , aber es ist eine so furchtbar ernste Zeit , Onkel . “
„ Und das kümmert Euch ? “ machte Markwort verwundert .
Der Neffe sah ihn mit seinen durchdringenden Augen groß an :
„ Wir sind alle betheiligt ! das ist doch wohl natürlich . “
„ Alle ? “
„ Bis auf die Streber , versteht sich ! “
Der Junge hatte eine unglaublich geringschätzige Handbewegung bereit , so oft er wollte .
Dann kam Tante an in einer richtigen Regenwetterlaune , aber sie ward alsbald Sonnenschein , denn jede Abwechselung machte der immer zerstreuungsbedürftigen Dame Vergnügen . Und dann war es auch so angenehm , wenn die Vorbedeutungen auskamen . Hatte sie nicht heute morgen eine Visite im Thee gehabt ? „ Erinnert Ihr Euch , Kinder ? eine lange Visite
im Thee , und als ich sie in den Mund nahm , ließ sie sich durchbeißen ! Ich sagte Euch sofort : Kinder , es kommt ein Herrenbesuch , eine Dame hätte sich nicht durchbeißen lassen . “
Die Kinder wurden früh zu Bett geschickt , denn eigentlich wurde an diesem Vorabend der Tannenbaum geschmückt , alljährlich , nach geheiligter Gewohnheit . Konnte es sein , daß sich Pastor Markwort vor dem Neffen genirte ? Er stellte sich , als habe er nie etwas mit solchen Sachen wie vergoldete Nüsse , Marzipanschinken oder Quittenwürstchen zu thun gehabt , und überließ die ganze Arbeit den Frauen , um mit Axel über sein Studium zu sprechen . Mama bat den Gatten : „ Lieber Mann , die obersten Leuchter bringst Du mir doch an , nicht ? Und mit dem Lametta weißt Du auch viel besser Bescheid , wir machen das immer in Knoten ! “
„ Jux ! “ sagte der Pastor und lächelte verlegen über die Schulter hinweg .
Axel schielte zu Lisbeth hin . Komm ! sprachen ihre Augen .
„ Die Chemie ? O , das ist die erste Wissenschaft der Welt ! “ sagte Axel zu dem Onkel hinüber , „ was braucht man weiter zum Glück als ein Laboratorium ? Aber ich glaube , man muß den Damen eine Hand leihen – erlaube , Cousine ! “ Und er stand auf und nahm Lisbeth einen Leuchter ab , aber er nahm die
Hand mit und drückte sie fest und ermunternd . Niemand sah das zwischen den buschigen Zweigen . Nun machte sich auch der Pastor heran , und es wurde allen wieder behaglich zu Muth .
Lisbeth brachte den zerbrochenen Puppenkopf zum Vorschein .
„ Und das ist noch dazu mein Geschenk für Frieda ! Ich weiß nicht , was ich anfangen soll , das muß ich wohl sagen ! “ Tante rang die Hände und schüttelte melancholisch den Kopf .
„ Aber das läßt sich ja kitten ! “ fiel Axel bereitwillig ein , „ für was wär ich denn Chemiker ! Ich werde morgen früh etwas komponiren – aber richtig , ich muß wohl jetzt ins Hotel , es ist gegen elf . “
Natürlich ward so etwas nicht gelitten . Das Fremdenzimmer war bereits geheizt worden , Mama hatte in der Küche einige Winke ertheilt . Pastor Markwort sah mit Vergnügen , wie wenig Beachtung Lisbeth durch Axel erfuhr . Tante fand dasselbe heraus und zischelte dem Schwager ins Ohr : „ Er läßt sie ganz links liegen . “ Und eben das war es ; beim Pastor setzte sich immer mehr der Gedanke fest , daß seine Tochter jenen ungehörigen Brief Axels geradezu inspirirt habe . Er runzelte die Stirn , sobald er sie ansah , heimlich verwundert , daß sie ohne alle Reue und Zerknirschung unter ihnen stand und die Konfekthalter festdrehte . Axels Besuch faßte er einfach als
Abbitte auf . Mein Gott , ein junger Mann kann sich irren .
„ Aber diese Gesetztheit hat für mich fast etwas Unheimliches , “ sagte Mama , als sie mit ihrem Manne allein war ; „ und Lisbeth hat einen Respekt vor ihm ! sie schrak förmlich zusammen , so oft er etwas sagte . “
„ Sie wird sich nachträglich schämen , “ meinte der Pastor , „ mit diesen Mädchen da – das ist eine Kalamität . Und das nimmt immer noch zu – ich meine die Zahl der überschüssigen Frauen ! Wohin soll das führen ! “ Er hielt sich den Kopf , und Mama verstummte . Sie war ebensowenig zufrieden , die Mutter dreier Mädchen zu sein . Aber wenn ihr Mann solche Andeutungen machte , klopfte ihr jedesmal das Herz vor dumpfem Schuldbewußtsein . Warum hatte sie nicht Söhne , wie die Deutsche Kaiserin ? Das war eine brave Frau , die konnte sich sehen lassen ! Und wenn nun Lisbeth wenigstens echt weiblich gewesen wäre ! Aber so , wie das Mädchen war , stand es sogar besonders schlecht mit den Heirathsaussichten . Und was solch eine alte Jungfer werden kann , das sah man deutlich an Tante Martha , die es bei keinem der Verwandten länger als ein Jahr aushielt , aber die Verwandten ihrerseits hätten sie gern noch viel früher ziehen lassen .
Lisbeth ging wie im Rausch zu Bett . Das heißt , zuvor stand sie noch eine ganze Weile am Fenster und
sah die Sterne an . Und immer fühlte sie Axels Hand in der ihrigen , eine schmale feingliedrige , weiche Hand , die sie festhielt . Morgens früh aber sagte ihr etwas ins Ohr : „ Steh auf ! Er ist da ! “ Und ehe sie sich recht besann , hatte sie das Gefühl einer großen , ihrer wartenden Freude .
Sie trafen sich auf der Treppe und lachten sich an . „ Soll ich ihn heute fragen ? “ flüsterte Axel .
„ Ach nein , nein ! “ wehrte Lisbeth , „ warte noch . “
„ Lisbeth , wenn er Nein sagt ! “
Sie reichte ihm stumm die Hand , um sie heftig und selbstvergessen zu drücken . In ihren Augen leuchtete ein unbeugsamer Entschluß . „ Geh voran , Axel – ich möchte , daß sie mich heute schelten ! sie hätten Grund , denn ich bin falsch gegen sie . “
Ihr Wunsch ging nicht in Erfüllung , Mama hatte schon selbst den Thee gemacht und Braunkuchen aufgestellt , alle waren bereits in Feststimmung .
„ Dir zu Ehren ! “ sagte Tante Martha und zupfte den Neffen am Aermel . „ Nein , solch ’n Besuch , das ist doch das Reizendste , was ich mir denken kann ! “
„ Wie mir Tante die Cour macht ! ich bin das Reizendste , was sie sich denken kann , “ lachte Axel , während Tante Martha sich erröthend vertheidigte .
Doch verfiel sie sofort in denselben Fehler , als sich der Kitt so vortrefflich anließ : „ Darauf müßtest Du ein Patent nehmen , Axel , sonst ist es jammerschade . “
Und dann , als er abends bei der Bescherung mit den Geschenken herauskam ! Er hatte für alle etwas , sogar eine seidene Schürze für das Dienstmädchen .
„ Aber , Elisabeth , was sagst Du jetzt ! “ rief die Mama freudestrahlend , als das Mädchen in einem Tintenfaß , das aber nur Atrappe war , eine zierliche Filigrannadel mit Türkisen fand . Sie sprach in ihrer Herzensfreude nicht anders mit ihr , als mit der zehnjährigen Frieda , und ruhte nicht , bis sie ihr selbst die Brosche auf dem schwarzen Kleid angesteckt hatte . Sie hätte den Neffen extra dafür küssen mögen , daß er Lisbeth kein Buch geschenkt hatte .
Am zweiten Weihnachtstage gab es die gewöhnliche kleine Gesellschaft : Doktor Eybe mit seiner Frau ; Apotheker Rehbein mit drei Töchtern ; ein paar Kapitäne , pensionirt und so stumm wie die meisten Wasserbewohner ; zwei Lehrer , davon einer verheirathet und im Begriff , Vater zu werden , was die ganze Gesellschaft in Aufregung hielt , da er beständig auf ein Klopfen horchte , das ihn hinausrufen sollte ; dann eine Schreib- und Zeichenlehrerin , die auch mit Wasserfarben Aepfel und Birnen nach der Natur malen lehrte . Die neue Erscheinung , der junge Chemiker , interessirte sofort alle . Er war aber auch ein gewandter Plauderer ; mit Doktor Eybe sprach er über Kopenhagener Aerzte und erzählte Klinikgeschichten , daß dem über die Kühnheit seiner Kollegen die Haare zu Berge stiegen ; mit
der Künstlerin berieth er neue Farben für Aepfel und Birnen , die naturgetreu wirken sollten auch bei geringer Uebung ; der Apotheker mußte , allerdings auf begeisterte Anpreisung der Tante Martha , den famosen Kitt ansehen , beriechen und kosten , was ihm offenbares Vergnügen gewährte ; den Kapitänen bot er Cigarren aus seinem Etui an , und mit den drei Apothekertöchtern improvisirte er einen Walzer , um mit Lisbeth tanzen zu können . „ Lisbeth , amüsirst Du Dich ? “ flüsterte er , während sie nach Herrn Buthmanns taktfester Musik im Sechstritt dahinglitten .
„ Wie noch nie ! Du bist nämlich der größte Schelm – “
„ Willst Du wohl gleich ruhig sein ! Lisbeth , glaubst Du , daß sie mich mögen ? “
„ Und wie ! “
„ Aber mit des Doktors Frau muß ich noch sprechen , für was interessirt die sich ? “
„ Erika ? Für nichts besonders , glaub ich . “
„ So will ich ihr ein bißchen die Cour schneiden , nicht ? “
Lisbeth machte so ängstliche Augen und sprach so heftig , sie hätte sich beinah verrathen : „ Nein , das leid ich nicht ! das ist häßlich . “
Axel glänzte vor Uebermuth : „ Häßlich ? Wieso denn ? Das ist doch die berühmte Dame , die Liebe
eine Kinderkrankheit nennt . Ich denk es mir sehr niedlich , die zu necken . “
„ Na ja denn ; aber nur ganz wenig , hörst Du ! Sie ist mir so unsympathisch . “
„ Ach , deshalb ? Ich dachte schon “ – er guckte ihr neckend in die Augen – , „ Du wärest eifersüchtig . “
Lisbeth lachte gezwungen : „ Dieser eitle Mensch ! geh nur . “ Als sie aber später die Beiden miteinander lebhaft plaudern sah , wurde ihr das Herz beschwert . Sie konnte es nicht erwarten , bis er wieder loskam . Vor Ungeduld lief sie auf den Vorplatz hinaus und kroch hinter den Kleiderständer , der voll von Mänteln und Hüten hing . Sie bekam eine rasende Lust , all das da herunterzuwerfen , ihre Finger zuckten nach Doktor Eybes Filz . „ Der kollert gewiß ausgezeichnet . “ Da lag er schon drunten , oder vielmehr er hüpfte über die Fliesen , wie ein Springer auf dem Schachbrett . Der Cylinder des Apothekers sprang ihm nach , ohne ihn einzuholen ; – bauz ! machten drei Schirme , als sie auf den Boden fielen . Der Lärm weckte das Mädchen ; schnell wollte sie die Sachen wieder aufheben , aber nun schien der gekränkte Kleiderbewahrer seine Rache ausüben zu wollen : mit einem großen dumpfen Plumps ließ er sich umfallen , wobei sein umfangreicher Mahagoniknopf die Thür des Gesellschaftszimmers mit einem Theaterdonner streifte .
„ Was ist das ? was ist passiert ? “ scholl es drinnen
und mit aufgeschreckten Mienen kam Alles auf den Vorplatz gelaufen , voran wie ein Löwe der junge Vater in spe , der eilig über den hämisch grinsenden Kleiderhalter hinwegstolperte , sich einen Muff auf den Kopf stülpte und zur Hausthür hinausschoß , ohne sich durch Erklärungen aufhalten zu lassen . Es war freilich auch soso mit den Erklärungen . Lisbeth aufrecht unter den umhergestreuten Mänteln , Hüten und Muffen bot einen durchaus räthselvollen Anblick .
„ Das kam doch nicht von selbst ? Aber Lisbeth , wie ist denn das möglich ? “
„ Ein Beispiel von labilem Gleichgewicht , “ bemerkte Axel in ernsthaftem Erklärerton .
Lisbeth lachte so heftig , daß sie nichts antworten konnte ; dabei standen ihr die Augen voll Thränen .
„ Aber wie kann man nur so nervös sein ! “ tadelte Doktor Eybe . „ Lisbeth , Lisbeth , Sie müssen wieder Eisen haben . Sie kommen mir in der letzten Zeit recht überreizt vor . “
„ Wie das arme Kind erschrocken ist ! “ Mama kam mit einem Glase Selters .
„ Mir thut nur Herr Buthmann leid ! Der kommt jetzt nach Hause und es ist nichts ! “ jammerte Tante Martha .
„ Ich werde mal meiner Cousine den Arm geben , “ sagte Axel würdevoll und ließ die Anderen sammeln . „ Komm , Elisabeth . – Und wer war jetzt der Schelm ? “ sagte er leise , während sie hineingingen .
„ Wieso , Axel , ich weiß nicht – “
„ Ach , sie weiß nicht . Geht hinaus und wirft das Haus um und weiß nicht – “
„ Aber das Ding ist von selbst – “
„ Ja , von selbst ! Meinst Du , ich glaube an Tischrückerei ? Es war übrigens sehr nett von Dir , daß Du mich erlöst hast , Deine Erika ist schauderhaft affektirt und langweilig . “
Lisbeth seufzte erleichtert . „ Sie ist aber doch sehr hübsch , “ sagte sie lauernd .
„ Und außerdem danke ich Dir noch ganz besonders – “ Er brach mit schlauem Lächeln ab , drückte heftig ihren Arm und ließ ihn fahren .
Mit hochklopfendem Herzen mischte sich Lisbeth unter die Apothekerstöchter , die sie angelegentlich befragten , wie lange er bleiben werde ; ob er schon ausstudirt habe , ob er schon verlobt sei , und ob man denn gar nicht mehr tanzen werde .
Auch Erika kam hinzu und behauptete , Axel sei ein reizender Mensch . „ So naiv und drollig – es hat etwas so Reizendes , diese unverhohlene Bewunderung zu bemerken – “ Sie brach ab und blickte mit einem träumerischen siegessicheren Lächeln nach der Richtung , wo Axel stand . Sie überlegte , unter welcher Form sie den jungen Mann wohl am schicklichsten einladen könne . –
„ Jetzt haben wir doch einen Herrn im Haus ,
wenn mein Schwager morgen auf die Synode fährt “ frohlockte Tante Martha . „ Ich bin nämlich immer etwas ängstlicher Natur . So ein Haus voll unbeschützter Frauen , das ist wirklich – ich weiß wohl , wir stehen Alle in Gottes Hand , aber das hindert doch nicht , das manchmal eingebrochen wird . “
Axel schien an Ernst und Würde noch zu wachsen . Er füllte sogar bei Tisch die Suppe auf die Teller . Nur vermied er , Lisbeth anzusehen , wenn er so den Hausvater spielte . Ihre Lippen zuckten zu ansteckend . Im dunklen Treppenwinkel begegneten sie sich wieder einmal allein . Er zog sie dicht in seine Arme . „ Lisbeth , wie wollen wir uns schadlos halten , wenn wir erst zusammen sind ! All die Philisterei übern Haufen , freust Du Dich ? “
Es war das erste Mal , daß sie sich küßten , lautlos und heiß ; Lisbeth vergaß alle Vorsicht , auf ein Haar hätte Frieda sie überrascht .
„ Sobald Papa zurückkommt , frag ich ihn , “ sagte Axel , aber Lisbeth wollte , daß es erst am letzten Tage seines Dortseins geschehen solle . Sie wäre am liebsten jetzt mit ihm davongegangen , ohne ein Wort über ihr Verhältniß zu hören : „ Sie werden es machen , bis alles gewöhnlich ist , wie bei den anderen Menschen , “ klagte sie ; „ ich möchte es ganz für mich behalten , aber sie leiden es nicht – und ich mag kein Familiengespräch sein . “
„ Siehst Du , das kommt davon , “ neckte sie Axel , „ warum bist Du nicht heimlich nach Kopenhagen gekommen , dann wärst Du Allem entgangen . Nur mir nicht . “ Er drückte ihre Hand . „ Ist es nicht sonderbar , wie gut wir uns kennen ? “
Papa Markwort kam zurück , und Axels Ferien gingen zu Ende . Seine Zuversicht war etwas gesunken – Tante hatte ihn überrascht , wie er sich mit Lisbeth kunstgerecht schneeballte . „ Ich dachte , zu so was wäret Ihr beide viel zu erhaben , “ sagte sie spöttelnd , „ unser berühmter Professor in spe und das verkannte Genie ! Na , Lisbeth , nimm es nur nicht übel , Deine alte Tante darf ja wohl mal ’n Witz machen . “
Das war Tantes Auffassung . Axel wußte nicht , daß der Pastor erfrischt aufathmete , als er von dem Schneevergnügen hörte . „ So , so ! Na , das freut mich , daß er doch auch noch jung sein kann ; dieser vorzeitige Ernst ist mir unsympathisch . “
Er empfing den etwas befangenen Neffen mit jovialer Handbewegung , als er in der Dämmerung , zwischen Dunkel und Lichtanzünden , in sein Studirzimmer trat . „ Setz Dich , Axel . Ja , siehst Du , Cigaretten hab ich nicht , aber die Cigarren hier sind nicht übel . Und morgen reisest Du , mein Sohn ? “
Axel hatte sich Alles aufs Schönste zurechtgelegt , aber jetzt fühlte er sich durchaus nicht mehr als Herrn
der Situation . Er machte eine lange Einleitung , aus der er selbst nicht zurückfand , sprach von der akademischen Laufbahn , für die er sich entschlossen habe , und platzte darauf ganz plötzlich damit heraus , daß er dann auch eine Frau brauche . Dem Pastor ging die Cigarre aus , er blieb wie hypnotisirt an der Thür stehen . Zu jung ? o nein , über vierundzwanzig , und dann – Axel fand seinen Muth wieder : „ Du weißt doch , Onkel , was für ein Vortheil nach jeder Richtung , wenn man früh heirathen kann . “
Pastor Markwort hüstelte , aber dann nickte er bereitwillig , es kam ihm vor , als seien des Neffen Augen scharf fixirend im Dunkel auf ihn gerichtet . „ So , so , denkst schon an dergleichen ! Und wer , wenn man fragen darf – “
„ Elisabeth , “ sagte Axel mit heiserer Stimme .
Auf allerlei war der junge Mann gefaßt gewesen , nur nicht auf den Freudenausbruch , der nun folgte .
Der Onkel freilich begnügte sich mit einigen „ so ? “ und „ in der That ? “ aber er rief dann sofort seine Frau , damit sie ihm die Überraschung tragen helfe . Mama nun machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube . Sie fing an zu weinen und drückte Axel die Hand , als wäre er ihr Lebensretter , und sagte , es sei längst ihr Herzenswunsch gewesen , ihre Lisbeth glücklich verheirathet zu sehen , und wem könnten sie ihre Tochter besser anvertrauen , als dem Sohn ihrer
verstorbenen Cousine , der ihr selber stets wie ein Sohn nahe gestanden . Kein Wort von verbotener Korrespondenz , keine Erinnerung an Steenbocken , kein Schatten von Darwin oder Schopenhauer ! Lisbeth wollte es kaum glauben , daß all ihre Unthaten so ganz vergeben und vergessen wären . Aber sie mußte wohl : die Zärtlichkeit , mit der die Mutter sie immer wieder in ihre Arme schloß , die freudigen , anerkennenden Blicke des Vaters , die sie überall verfolgten , rissen sie hin – sie war ihren Eltern wieder geschenkt worden durch die Werbung , und an der Freude der Ihrigen ward sie erst recht inne , wie sehr man vorher unter der Entfremdung , unter der Mißbilligung gelitten , die man über sie ausgegossen .
Bin ich’s ? oder bin ich ’s nicht ? fragte sie wie das Katerlieschen im Märchen , als nun plötzlich Alles sich um sie drehte wie um den Mittelpunkt , Tante Martha eine schöne alte , aus Perlen und Granaten zusammengesetzte Gürtelschließe mit gerührten Augen daherbrachte , als Verlobungsgeschenk für sie , die bis zum heutigen Tage Tantes Schmuckkästchen nicht hatte anrühren dürfen . Daß Trude und Frieda mit selbst vom Gärtner geholten Veilchensträußen gratulirten und das von ihnen mitgerissene Dienstmädchen ein Töpfchen mit künstlichen Monatsrosen überreichte , war schon weniger wunderlich , wenn es auch über die Einstimmigkeit des Jubels merkwürdige Aufschlüsse ertheilte . So neu
war Lisbeth die Empfindung , mit den Andern im Einklang zu sein , daß sie die kurze Bitterkeit der Frage : was hab ich denn nun Lobwürdiges gethan ? mit weicher Hand ihr aus dem Gedächtniß wischte . Sie ließ sich heben und tragen , der allgemeine Beifall war so süß . Sie dachte nicht mehr daran , die Veröffentlichung der Verlobung zu verhindern , im Gegentheil . Sie war begierig , was nun wohl Erika z. B. sagen werde , und sie hörte mit Lächeln zu , wie ihr der Apotheker mit offenbarer Genugthuung zu verstehen gab , daß sie das beste Theil erwählt habe .
Nur der Doktor Eybe drohte : „ Also abtrünnig geworden ? Zur Vernunft gekommen ? “ und dann mit unterdrückter Stimme : „ Ich an Ihres Papas Stelle hätte meine Einwilligung nicht gegeben , der Herr Axel – “
„ Aber , “ unterbrach ihn Lisbeth ein bißchen erschrocken , „ was für ein Glück , daß das Schicksal Sie nicht zum Papa bestimmt zu haben scheint ! “
„ Erika , Erika ! na , da haben wir’s ! Hast Du’s gehört ? “ und mit süß-saurem Lachen gesellte er sich zu seiner Gattin .
Am Vorabend seiner Abreise hatte Mama noch ein dringliches Gespräch mit dem Schwiegersohn . Wenn schon im Mai , nach Axels Doktorexamen , geheirathet werden sollte , wie war es möglich , Lisbeth noch die nöthige hauswirtschaftliche Ausbildung angedeihen zu
lassen ? „ Sie hat leider viel zu viel hinter den Büchern gesessen , darüber ist dann vernachlässigt worden , was einer Hausfrau zu wissen noth thut . Lisbeth hat einen harten Kopf ; ja , schüttle nur , Axel , Du wirst ihn auch noch kennen lernen . “
„ Axel , Axel , was werden sie sagen ! “ machte Lisbeth , sobald sie allein waren .
„ O , dann sind wir so fest verbunden , dann können sie uns nicht wieder auseinanderreißen . Mir ist nur leid , daß ich ihre Gesichter nicht sehen kann . “
„ Mir nicht , “ sagte Lisbeth , „ jetzt weiß ich , wie lieb sie mich haben , jetzt möcht ich ihnen vieles zum Opfer bringen . “
„ Vieles , aber nicht Dich selbst , Lisbeth . “ –
„ Mach sie glücklich , sie hat ein tiefes Gemüth , “ sagte die Mama , als das junge Paar frisch verheirathet auf die Reise ging .
Axel sah mit leuchtenden Augen auf Lisbeth : „ Wir verstehen uns , Mama . “
„ Aber daß Ihr noch gar keine Wohnung in Kopenhagen habt , Kinder ! “
„ Ha , die findet sich leicht genug ; erst sind wir mal drei Monate unterwegs . “
„ Und daß Ihr darauf besteht , möblirte Zimmer zu miethen , und all das – ach , es ist mir doch schrecklich ! Wie kann man da von ordentlichem Hausstand sprechen ! “
„ Wir sprechen ja auch nicht davon , Mama , aber wir sind glücklich , was willst Du mehr ? “
„ Nein , weiter will ich nichts , “ seufzte Mama unter ängstlichen Thränen . –
Pastor Markworts Weihnachtsgesellschaft war wieder zahlreich versammelt , auch die junge Frau Buthmann war ausnahmsweise einmal von Baby weggegangen . Baby war jetzt schon ein Jahr alt und konnte einen kleinen Puff vertragen . „ Und da haben wir ja das liebe Paar ! “ rief der Apotheker Rehbein , nach einer großen Photographie greifend , die in geschnitztem Rahmen mitten auf dem Weihnachtstische stand .
„ Sieht sie nicht gut aus ? “ sagte die Pastorin zärtlich .
„ Ausgezeichnet , geradezu glückstrahlend , möchte ich sagen , “ bemerkte emphatisch Herr Buthmann , „ da braucht man nicht zu fragen , wie es geht – “
„ Sie schreiben sehr glücklich . “ Mama warf einen Blick auf ihren Mann , räusperte sich etwas , lächelte und schwieg .
„ Darf man vielleicht gratuliren ? “ lispelte Erika ziemlich deutlich .
Die Pastorin blickte wieder ihren Mann an . „ Soll ich ? “ stand in ihrem Gesicht , das von einem gewissen unterdrückten Stolz verklärt war . „ Denken Sie sich , “ begann sie , die Augen aufs Tischtuch gesenkt –
„ A , hm ! “ machte der Doktor ahnungsvoll .
„ Elisabeth – Sie wissen ja , wir mußten sie immer zurückhalten . Aber nun , die neue Richtung , was soll man dazu sagen “ – das stolze Lächeln wurde stärker – „ Elisabeth besucht die Universität , sie studirt seit Oktober . “ Eine Erstarrung folgte , die Pastorin sah einen Augenblick kleinlaut drein .
„ Aber sie ist doch nicht geschieden ? “ murmelte die Apothekerstochter erschrocken gegen ihre Schwester .
Pastor Markwort stand auf . „ Die Sache war uns ebenso fremd , wie Ihnen , “ sagte er mit etwas eingenommenem Organ , „ aber wir haben uns darein gefunden . Elisabeth hat das Maturitätsexamen gemacht , sie wird ihren Doktor machen “ – seine Stimme zitterte – „ unter dem Schutze eines tüchtigen Mannes . Ich glaube , wir dürfen nicht länger engherzig abwehren , wenn die Gaben der Natur – “
Die Anwesenden begriffen schließlich , daß sie auch jetzt gut thaten , zu gratuliren , und sie beeilten sich , ihre Erschrockenheit hinabzuschlucken .
„ Was soll er thun , als gute Miene zum bösen Spiel machen ? “ zischelte Doktor Eybe seiner Frau ins Ohr , und dann nahm er seine Theetasse , um kräftig mit den Eltern auf die Zukunft des „ Wunderkindes “ anzustoßen .
Wilhelm Gronau’s Buchdruckerei , Berlin W .