Teutſchland
und
die Revolution .
Von
J. Görres.
Coblenz, 1819,
in Commiſſion bey H. J. Hölſcher.
Neque sie accipiatis, tamquam exprobraturns præterita surre¬
xerim. Nam veterem quidem culpam intempestive objicere,
inimici et alienis erroribus petulanter insultantis animi est:
probi viri et salutis communis studiosi, peccata civifatis
tegere, aut excusare malunt, nisi quoties ad calamitatem
publicam amoliendam, præteritarum offensarum recordatio
grande momentum habet. Nam ab errore quidem omni,
homines quum simus, immunes haberi velle, nimium et
superbum: sed ad eumdem Lapidem crebro impingere; ne¬
que saltem eventu temeritatem castigante ad cautionem eru¬
diri, id vero jam vix bene humanum est.
Der Tarentiniſche Redner im Rathe gegen die Römer.
Liv. D. II. L. XII. 12.
Nach vier Jahren eines heftigen Partheykampfes,
eines unſinnigen Widerſtandes gegen die Anſprüche
der Zeit und theilweiſer Einräumungen von der einen
Seite, und mancherley Uebertreibungen von der An¬
dern, iſt es endlich dahin gediehen, daß eine allge¬
meine Gährung aller Gemüther durch ganz Teutſch¬
land ſich bemeiſtert, und eine Stimmung eingetreten,
wie ſie wohl großen Cataſtrophen in der Geſchichte
voranzugehen pflegt. Was den thätigſten, ränkevollſten
und verſchmitzteſten demagogiſchen Umtrieben für ſich
von unten herauf nimmer gelungen wäre, das fried¬
liche, ruheliebende, nüchterne und gemäßigte teutſche
Volk in allen ſeinen Elementen und Tiefen aufzure¬
gen und zu erbittern, das haben die, ſo von oben
die Sache bey dem langen Arme des Hebels ange¬
griffen, durch behendes Entgegenkommen glücklich zu
Stande gebracht; und wie ſie zum großen Theile die
Ehre des gelungenen Werkes nicht ohne trifftige Gründe
für ſich in Anſpruch nehmen dürfen, ſo rüſten ſie
ſich auch mit freudigem Muthe zu vollbringen in kur¬
zer Friſt, was etwa noch dem Ganzen an der Vol¬
lendung abgehen möchte, damit die Arbeit in allen
ihren Theilen den Meiſter lobe. Indem ſie jedesmal,
wenn die aufgeregten Leidenſchaften ſich einigermaßen
beruhigen wollten, zu ſchicklicher Zeit für einen neuen
1
Antrieb und Reiz geſorgt; indem ſie mit glücklicher
Gewandheit bey Jedem die ſchwache Seite aufgeſpürt
und geſchickt alle Vorkommniſſe der Zeit benutzt, um
mit ſcharfer Schneide ſie gegen die wunden Stellen
hinzurichten: haben ſie das Geheimniß wirklich aus¬
gefunden, Alle aufzubringen, daß ein gemeines Ge¬
fühl des Unmuths von einem Ende des Vaterlandes
zum Andern geht, und die Regierungen ſich nun mit
allem, was gut und edel und kräftig iſt, in dieſer
Zeit in einen hoffnungsloſen Streit verwickelt finden,
und in Irrſale verloren, denen ſie auf dem bisheri¬
gen Wege nimmer entrinnen mögen. Wie in drückend
ſchwüler Sommerhitze die Schrecken eines dunkel auf¬
ziehenden Unwetters nichts über das innere Sehnen
der Natur nach einer erfriſchenden Kühle, die in ſei¬
nem Gefolge geht, vermögen; ſo hat die Meinung
auch ſchon mit dem Furchtbarſten ſich beynahe aus¬
geſöhnt, wenn es nur die Schmach der Gegenwart
hinwegzunehmen verſpricht, und den Himmel von dem
Qualm zu reinen Hoffnung giebt, der jetzt alle Glücks¬
ſterne ihr verhüllt. Darum ſchrecken ſie nicht jene Sturm¬
vögel, Vorboten des nahenden Ungewitters, die Jüng¬
linge, die ſich, um das Schlechte und Nichtswürdige in
ſeinen Organen aus dem Weg zu räumen, dem Tode
weihen; noch hat es ſie überraſcht, als man ihr von
Berlin aus die Entdeckung einer großen weitumgrei¬
fenden Conſpiration zur Begründung einer teutſchen
Republik angeſagt, weil die Erfahrung des letzten
Menſchenalters ihr die Kenntniß des allgemeinen Welt¬
geſetzes ſattſam eingeprägt, dem zufolge jedes Aeu¬
ßerſte ſeinen Gegenſatz nothwendig und unausbleiblich
hervorrufen muß. Nur Eines hat ſie mitten im Lärm
erbrochener Kiſten und Kaſten, im Gehen und Kom¬
men der Gensdarmen und Polizeyhäſcher, beym haſti¬
gen Ueberrennen aller rechtlichen Formen in der vor¬
ſichtigſten Behutſamkeit, bey der Beunruhigung ruhi¬
ger Männer, die der gewöhnlichſte Lebenstatt ſchon
zum voraus freyſprechen mußte, beym Verhören und
Verſiegeln, Verhaften und der Haft entlaſſen; nur
Eines hat ſie in Mitte all dieſer erſchrecklichen Bewe¬
gungen verwundert, daß man über dem Aufſpüren
geheimer im Finſtern gehender Verſchwörungen, die
eine Große nicht erkennt, die ihre weitläuftigen Ver¬
zweigungen über ganz Teutſchland durch alle Stände,
Alter und Geſchlechter hinverbreitet; die murrend an
jedem Heerde ſitzt, auf Märkten und Straßen ſich
laut ausſpricht; die ohne Zeichen ſich in allen ihren
Gliedern leicht erkennt, ohne geheime Obern und
ohne Antrieb aus einer Mitte heraus doch im beßten
Einverſtändniß ſtets zuſammenwirkt; die mit viel tau¬
ſend offnen Augen in's Verborgenſte hineinſchaut, und
der viel tauſend Arme ſtets zu Gebote ſtehen: jene
Verſchwörung nämlich, in der das entrüſtete Natio¬
nalgefühl, die betrogene Hoffnung, der mißhandelte
Stolz, das gedrückte Leben, ſich gegen die ſtarre
Willkühr, den Mechanism erſtorbener Formen, das
freſſende Gift bewußtlos gewordener despotiſcher Re¬
gierungsmaximen, die das Verderben der Zeiten aus¬
gebrütet, und die Verſtocktheit der Vorurtheile ver¬
bunden haben, und die mächtig und furchtbar wie
nie eine Andere, wachſend mit jedem Tage in Mach
und Thätigkeit, ihr Ziel ſo ſicher erlangen wird, daß
1*
die Gefahr nicht aufs Hintenbleiben, wohl aber aufs
Ueberſchnellen ſteht.
Da die Sachen nun alſo ſtehen, und bis die
Hand, die den Franzoſen ihr Mane, Thecel, Phares
in die Flammen von Moscau hineingeſchrieben, auch
unſere Sentenz unwiderruflich in brennenden Zügen
an den Himmel ſchreibt, iſt an Jeden, dem das Ge¬
tümmel der Zeit die Sinne nicht verwirrt, und der
das Haupt noch in ruhiger Beſonnenheit über den
bewegten Fluthen hält, das Gebot ergangen, zu ſtehen
auf der Warte der Zeit, zu wachen und zu merken
auf die Zeichen, zu rufen und zu warnen ohne Unter¬
laß. Allerdings hat Schweigen ſeine Zeit und das
Reden die ſeinige. Wenn der menſchliche Dünkel
keck das hohe Roß beſchreitet, und mit verhängtem
Zügel nach allen Gelüſten ſeiner Einbildungen und
Leidenſchaften jagt; wenn die Gewalt ihres Urſprungs
und des innern Richtmaßes der Dinge vergeſſend,
geängſtigt durch eine Zeit, die ſie nicht begreift, noch
weniger zu bändigen weiß, alle ihre Faſſung verliert,
taumelnd alle Grenzpfähle der Nemeſis niederreißt,
und nicht blos die ethiſchen Schranken des Erlaubten
und Unerlaubten durchbricht, ſondern ſogar alle die
feinern Beziehungen deſſen, was ziemlich iſt und was
ſich nimmer ziemt, mißkennt und ohne Haltung bald
tyranniſche Gewaltthat übt, bald wieder ſchwach und
nachgiebig, weil ſie durch jene ihr Recht verwirkte,
ſich alles gefallen läßt: im Anfalle eines ſolchen Pa¬
roxismus mag allerdings der Einzelne ruhig zur Seite
treten, und vertrauen auf das ſtarke Weltgeſetz, das
Gott wie in die Natur, ſo in die Geſellſchaft hinein¬
gelegt, und das mit ruhig unſcheinbarem Wirken und
kaum ſichtbarem Widerſtande ſich jedes Uebermuthes
leicht erwehrt, und alles Maaßloſe zum eignen Selbſt¬
mord drängt. Aber wenn nun nach ſolchen Anfällen
wieder eine Remiſſion eintritt, und in lichten Augen¬
blicken die Beſinnung wiederkehrt; wenn die Natur
der Dinge den Angriff abgewieſen, und das Band
von Erz, das um das Ganze geſchlagen, federnd ge¬
gen den Aufſtand ſich nur ſtärker angezogen: dann
mag ein Zuſpruch wieder an ſeiner Stelle ſeyn, und
Reden iſt geboten. Wohl haben alle große Weltbege¬
benheiten ihre innere Naturnothwendigkeit, ihre Durch¬
gänge, Umläufe und Wiederkehren; wohl hat auch
der Wahnſinn dieſer Zeit ſeine Stadien, ſein periodi¬
ſches Steigen und Fallen und ſeine critiſchen Augen¬
blicke, und in ſofern läßt ſich durch alles Mühen
nichts ändern im Laufe der Dinge. Aber nur die Lei¬
denſchaften feſſeln an dieſe Naturgewalt; ſo viel hin¬
gegen von lichten Gedanken und beſonnenen Willens¬
kräften in den Begebenheiten wirkt, ſo viel Freyheit
iſt in Ihnen; und wie die Vorſehung, nur wenn
dieſe ſich verſagt, jene gegen ſich ſelbſt bewaffnet,
dem Arzte gleich, der gegen die eine wildtobende Le¬
benskraft die andere ruhende aus ihrem Schlaf auf¬
ruft, ſo ſoll auch, wer auf eine kranke Zeit heilkräftig
wirken will, zuerſt mit heller Augen Licht die herr¬
ſchende Ideenverwirrung klären, und es iſt dann ſchon
ſo geordnet in der Welt, daß dem klar in ſich ver¬
ſtändigten Geiſte die dämoniſchen Mächte auch wider
Willen dienen.
Der Verfaſſer dieſer Blätter hat im Verlauf des
letzten Krieges wohl öfter zur Nation geredet, und
ihr Vertrauen ſich erworben. Seither aus Gründen
zurückgetreten, die er zum Theil ſo eben berührt, hat
er doch keinen wichtigen Anlaß vorbeygelaſſen, um
antreibend, abhaltend, fördernd und hemmend, ſtra¬
fend und ermunternd, je nach ſeiner Ueberzeugung
in die Zeit einzugreifen, damit er nicht unwürdig je¬
nes Vertrauens ſich erweiſe. Nicht kennend Menſchen¬
furcht und jene zage Sorglichkeit, die die Wahrheit
immer nur halb zu zeigen wagt, hat er ſeines Her¬
zens Gedanken immer unverholen ausgeſprochen. Nur
die Wahrheit hat er geſucht, und wenn er nach be߬
tem Wiſſen ſie gefunden, dann die Freyheit ſich ſelbſt
dazu genommen; denn Wahrheit ohne Freyheit iſt ein
vergrabener Schatz, eine verſchloſſene Quelle, ein ver¬
ſiegelter Born, (Hohelied II. 12.). Freyheit ohne Wahr¬
heitsliebe aber iſt unrecht Gut in eines Gottloſen Hauſe,
ein feindſeliger geringer Epha (Micha, 27. 10.), der
höchſten Bosheit und feinſten Schalkheit Pallium und
Palladium, wie Hamann ſchon bemerkt. Wenig gebend
auf das, was man gemeinlich Menſchenklugheit nennt,
aber keineswegs darum jener Höhern ſich entziehend,
die mit jeder Einfalt ſich verträgt, iſt er gelaſſen ſeit¬
her nach menſchlicher Möglichkeit auf dem Pfad des
Rechtes fortgegangen, und hat immer von neuem ſich
überzeugt, daß dieſe Weiſe überall am ſchnellſten zum
Ziele führt. Mit Sicherheit einem Inſtinkte ſich hin¬
gebend, der ſich mehr als einmal ihm bewährt; nicht
grübelnd über die Folgen der Handlung, da jeder,
die aus reinen Motiven bey nicht ganz getrübter An¬
ſchauung der Verhältniſſe hervorgegangen, außen ihre
Stätte bereitet iſt, und ihre Wirkung, während das
Verkehrte überall ſich ſelbſt vernichtet, hat er ruhigen
Blicks ihre kreißenden Wellen verfolgt, bis ſie ſich
mehr und mehr erweiternd in die Ferne verloren ha¬
ben. Nie der Wahrheit ihr Recht vergebend, obgleich
im Eifer der Rede bisweilen, wie ſie ſagen, der Perſön¬
lichkeiten allzu wenig ſchonend, iſt er doch darum nie
ernſthaft angetaſtet worden, weil das innere Rechts¬
gefühl, das unter den Teutſchen glücklicherweiſe ſelbſt
in der Bruſt der Verſtockteſten nie ſich ganz will aus¬
rotten laſſen, immer in Geheim auf ſeine Seite ge¬
treten; die Schlechten aber, die ihre Arme gegen ihn
gezuckt, in der Haſt ihrer Leidenſchaften ſich unterein¬
ander hindernd und ihre Angriffe gegenſeitig aufhe¬
bend, in der Mitte immer eine Straße offen ließen,
durch die er ſicher durch ſie hingegangen. Die Unbe¬
fangenheit, mit der er in das Getümmel blickt, muß
darum vor allen Andern noch als ein beſonderer Be¬
ruf erſcheinen, und die Pflicht ſchärfen, Vernunft zu
reden, ſo lange es noch Zeit ſeyn mag, und ehe die
Schwerter Zungen werden, die ihre Sprüche in's
grüne Fleiſch einkerben. Darum ſey das Folgende ein
Spiegel der Zeit hingeſtellt, in dem ſie einmal wie¬
der ernſten Blickes ihre eigene Geſtalt in's Auge faſſe.
Es ſoll der Geiſt, der in dieſen Worten lebt, war¬
nend wie ein St. Elmsfeuer auf den Segelſtangen
am Schiffe des Vaterlandes ſtehen, damit es auf die
kommenden Gefahren ſich bereite, und entweder den
ſichern Hafen ſuche, oder zeitig ins hohe Meer hin¬
ausſteche. Wenn beherzigt und in dem vielfach umge¬
ſtürzten Boden der Gegenwart aufgenommen, können
ſie vielleicht zum Saatkorn einer beſſern Zukunft wer¬
den; wenn nicht, mögen ſie wie alles Frühere als
Appellation der beſſern Gegenwart an die Nachwelt
gelten, und als Verwahrung ihres geſunden Verſtan¬
des gegen böslichen Verdacht, der nur allzu ſehr durch
die Ereigniſſe gerechtfertigt wird.
Wenn ein Uebel, das unter Einwirkung böſer
Geſtirne ſich zuerſt erzeugt, dann unter der Ungunſt
der Umſtände ſtetig wachſend ſich mehr und mehr in¬
nerlich befeſtigt hat, bis es endlich zu gewaltthätigen
Ausbrüchen gelangt, wenn ein ſolches Unheil bis zum
Grunde erwogen werden ſoll; ob es vielleicht durch ein
gemeinſames Zuſammenwirken ſich zum Guten lenken
möge: dann wird die fruchtbarſte Weiſe wohl jedes¬
mal diejenige ſeyn, die auf den Urſprung deſſelben
zurückgeht, da wo es aus vielen verborgenen Quellen
zuerſt zuſammenfloß und ihm dann durch alle Durch¬
gänge ſeiner Entwicklung folgt, bis dahin wo es zu
ſeiner völligen Ausbildung gelangt, und dann die ge¬
wonnene Einſicht gegen das verworrene Treiben ſetzt,
das gegenwärtig eine der Hauptquellen aller morali¬
ſchen und geſelligen Uebel iſt. Es läßt ſich aber in ſol¬
cher genetiſchen Weiſe nicht reden vom Unglück Teutſch¬
lands, ohne wenigſtens zum Wiener Congreß zurück¬
zugehen, der zwar ſelbſt wieder auf Verhältniſſe, die
Jahrhunderte lang fortbeſtanden, ſich zurückbezieht,
aber doch inſofern er ein freyes Werk der Zeitgenoſ¬
ſen iſt, der Gegenwart und Zukunft verantwortlich
bleibt, die wohlwiſſend, daß er ſelbſt die Geburt un¬
heilſchwangerer Vorvordern geweſen, doch wie billig
ihn als die fruchtbare Bährmutter ihrer Uebel anerkennt,
die einmal ans Licht geboren, in der Schuld der Zeit
bald freudig aufgewachſen und erſtarkt.
Die Hoffnungen und Erwartungen Teutſchlands, die
im erſten Pariſer Frieden nur allzu ſehr zu kurz ge¬
kommen, waren geduldig mit zu dieſem Congreß gezo¬
gen, und freylich wohl zu hoch anſchlagend einige
Jahre von vorübergehender Erhebung gegen Jahr¬
hunderte von Erbärmlichkeit und Entartung, klagbar
in Mitte der Verſammlung aufgetreten. Große Dinge
hatte die Meinung von dieſem Verein erwartet, der nach
dem Sturze jener Univerſalmonarchie ſich hier verſam¬
melte, um die zerſtörte europäiſche Republik wie¬
der zu reſtauriren und aufzubauen. Sie hatte richtig
erkannt, daß ohne wenn die Veſte der Mitte in die¬
ſem gemeinen Weſen, Teutſchland, ſich wieder ſtark und
wohl begründet finde, nicht für alle Zukunft an Ruhe,
Ordnung, Friede und Gleichgewicht zu denken ſey.
Sie hatte einen Blick in die Geſchichte zurückgewor¬
fen und erkannt, daß dies Reich nur damal ein wah¬
rer Schutz und Hort der Chriſtenheit und eine Bruſt¬
wehre gegen innere und äußere Feinde in feſter Sicher¬
heit auf ſich geruht, als ſeine rege, lebendige Viel¬
heit unter der Einheit eines Kaiſers vereinigt war.
Darum war in richtigem Naturinſtinkte die Mei¬
nung der Meiſten dahin ausgefallen, daß man den
Bauſtein, den der Feind verworfen, eben zum Eckſtein
mache; daß man die alte Idee wieder in der neuen
Zeit erwecke, und ſie kräftigend durch das junge Leben,
das der Fortſchritt der Entwicklung hervorgerufen,
ſelbſt ſie wiedergebähre und verjünge. Man dachte
ſich ohngefähr, ein Kaiſer werde aufs neue an die
Spitze des Reiches treten, die Würde erblich ſo
lange das Geſchlecht beſtehe; ihm zur Seite zum Schutz
der Freyheit bey dieſer Erblichkeit und zur Erhaltung
des Gegenſatzes, der einmal ſich erhoben, ein teutſcher
König; dann die Herzoge des Reichs, ſeine Fürſten
und Grafen, Prälaten und übrigen Standesherren um
ſie verſammelt in einer Pairskammer; die Gemeinen
aber in einer zweyten Kammer des Reichs-Parlamen¬
tes, und alſo jedes Glied des Ganzen bedingend und
bedingt, alle Stämme ſich beygeordnet und keiner
herrſchend über den Andern, alle mit Freyheit die¬
nend demſelben Oberhaupte: die einzige Verfaſſung
die für lange Zeiten auf der Teutſchen Charakter und
Sinnesweiſe paßt. Dies alſo geordnet trat dies Reich
in die Geſammtheit der europäiſchen Staaten mit dem
ganzen Gewicht ſeiner Macht und Würde, getragen
von dem wiederbelebten Geiſte ſeines Volkes, ein und
die übrigen Angelegenheiten der europäiſchen Republik
ordneten ſich nun nach Billigkeit und dem gemeinſa¬
men Intereſſe der Theilnehmenden gemäß.
Aber als die Dunkel, in die jene Verſammlung ſich
zuerſt gehüllt, einigermaßen ſich verzogen, bemerkte
man mit Beſtürzung, daß hier keine Spur eines gro¬
ßen architectoniſchen Planes den Verhandlungen zum
Grunde liege; der Uranus der alten Zeit, den der
Saturn der Revolution entmannt, hörte gänzlich un¬
fruchtbar zu zeugen auf, und der allwaltende Zeus,
der dieſen vom Thron getrieben, hatte den großen
Kampf noch nicht ausgeſtritten. Die Vorſehung hatte
ein Anderes beſchloſſen, nicht aus dem Verdorrten
ſollte von oben herab ein mattes Scheinleben ſich ge¬
ſtalten, auf anderem Wege ſollte die Idee von unten
aus dem friſchen Leben grünend, in die Höhe treiben.
Darum hatten die Höfe, während die Völker für
Freyheit und Unabhängigkeit geſchwärmt, keineswegs
dieſen Rauſch getheilt, ſondern klüglich in mancherley
Traktaten ihres Vortheils wahrgenommen, und als es
nun zum Werke gieng, und die beiden Mächte, die
das Schickſal Teutſchlands in Händen trugen, vor
allem in Eintracht ſich geſellen ſollten, und nun in
mildem Ernſt und würdiger Feſtigkeit, ſelbſt Opfer
leiſtend und darum Opfer gebiethend mit Recht und
Fug, ordnen mit den minder Mächtigen des Reiches
Angelegenheiten: da mußten ſie, um jene Anſprüche
durchzuſetzen, fremde Hülfe ſuchen und Oeſterreich und
Preußen theilten ſich in den Engliſchen und Ruſſiſchen
Einfluß.
Darum konnte fürder von Teutſchland nicht die Rede
ſeyn, es hatte ſich ſelbſt verloren in Europa; wie
Oeſterreich an Italien that, ſo Rußland an Polen
und England an den teutſchen Küſten von der Elbe
bis zu den Dünen von Dünkirchen; Preußen das eben
ſo an Sachſen zu thun verſucht, aber wurde an den
Rhein geſchoben. Alles Andere ergab ſich nun von
ſelbſt; nach dem Vorgange der Größeren fiengen auch
bald die Schwächern an, ſich der Thorheit zu entſchla¬
gen, ein einiges und ganzes Reich zu bauen, und nach¬
dem nur erſt kleine Anwandlungen eines beklemmen¬
den Gefühles im Angeſicht der harrenden und ſchau¬
enden Zeit überwunden waren, begannen alle Leiden¬
ſchaften wieder ungeſcheut ihr altes vielgeſpieltes Spiel
aufzulegen. Hatte vorher der Eroberer den goldenen
Reifen der teutſchen Kaiſerkrone zerbrochen und die
Stücke als Decorationen unter die Vaſallen ausge¬
theilt; ſo waren die dominirenden Mächte jetzt in die
Intereſſen des Vertriebenen eingetreten, und der Con¬
greß fand ſich keineswegs berufen, aus den zerſtreu¬
ten Fragmenten eine Reue auszuſchmieden, und die
Höfe ächteten zwar insgeſammt den großen Räuber der
europäiſchen Geſellſchaft, erklärten aber den Raub als
gute Priſe, und den Stand, den die Handlung her¬
beygeführt, und den faktiſchen Beſitz zur Grundlage
der künftigen Ordnung im Reiche, das alſo getheilt
blieb und vernichtet.
Und es gieng nun dieſem Grundſatz gemäß an ein
Theilen der gewonnenen Beute, und die Kaiſerburg
wurde zum Wechſelhauſe, wo man die Seelen ſich zu¬
wog und zuzählte wie Dariken, und mit bitterm Hader
ſich um ein mehr und weniger ſtritt und erbitterte.
Und als der Streit zu dem Punkt gekommen, daß die
gezuckten Schwerdter ſich rührten in den Scheiden, da
ſandte die Vorſehung, zürnend dem unheilbringenden
Werke, den Mann der Inſel unter ſie. Dieſer, an
dem die ewige Gerechtigkeit ihre Gerichte ſchon geübt¬
er, den der Papſt geſalbt, vor dem alle Fürſten ſich
gebeugt, vor dem die Welt ſich gedemüthigt hatte,
den die dünkelhafte Zeit als ihr höchſtes Organ ange¬
ſtaunt und vor dem ſie, ſonſt an nichts glaubend und
nichts achtend, in tiefſter Andacht angebetet, der dann,
um ſeine Götzendiener in tiefſter Seele zu beſchämen,
ſeine eigne Nichtigkeit an ſich ſelbſt vor ihren Augen
demonſtrirte, und nachdem er alſo an ſich und ihnen
Recht geübt, in eine ſchimpfliche Dunkelheit ſich zu¬
rückgezogen: dieſer war noch einmal, um den zermal¬
menden Hohn gänzlich auszuführen, von den zürnen¬
den Himmelsmächten auserſehen, abermal die Geißel
ſeines eignen, wenig gebeſſerten Volks zu ſeyn, und die
Tiſche der Wechſler umzuſtoßen.
Schon hatte die Nation tief die Schmach jener Ver¬
handlungen gefühlt, und in der niederſchlagenden Be¬
trachtung desjenigen, was die Erfahrung ſchon gebracht
und in der Vorahnung deſſen, was noch bevorſtehe,
urtheilten alle Klaſſen des Volkes, wie damals die
Städte Siziliens, als ſie den Epiroten Pyrrhus her¬
übergerufen, um ſich durch ſeine Hülfe vom Joche
der Römer zu befreyen, und der Retter ſie nun in ein
Unerträglicheres zu ſchmieden verſuchte: in Worten,
die uns Livius in der zweyten Decas im vierzehnten
Buche c. 18 aufbehalten: Irritatis ob hæc animis mus¬
sare primum homines, mox palam queri: cur igitur
prioris status pnituisset, si nunc etiam toleranda eadem
forent? frustra vocatum receptumque Pyrrhum, si stu¬
deat æmulari mores, quos puniturus advenissit. Neque
acriorem ullius injuriæ sensum esse quam cujus auctor
haberetur idem ille, qui vindex esse debuisset. In¬
zwiſchen regte ſich als der neue Krieg begann, noch
einmal ein Nachſchlag jener früheren Begeiſterung; ein
glänzender Sieg, wie die Geſchichte nicht viele auf¬
gezeichnet, ſchien Teutſchland und ſeinem wiedererwach¬
ten Nationalgefühle alles wieder zu verſprechen, was
ihm die Feinde ſeit vielen Menſchenaltern abgedrun¬
gen; aber im zweyten Pariſer Frieden erndtete es die
erſte Frucht ſeiner nun ſanctionirten Theilung, und des
ſubalternen Verhältniſſes, in das es die kleinliche
Eigenſucht gebracht; nicht einmal ſeine Integrität vor
dem Kriege wurde wiederhergeſtellt; wenige abgetre¬
tene Feſtungen mochten nicht ſeine Gränzen ſchirmen,
wenige Geldleiſtungen den Schimpf des Ganzen nim¬
mer abkaufen: das beſiegte Frankreich, durch eine Ver¬
faſſung geſtärkt, gieng gleich allen Andern mächtiger
als je vorher aus dieſem Streite; das ſiegende Teutſch¬
land ohnmächtiger, zerriſſener als es je zur andern
Zeit geweſen.
Was der Congreß in haſtiger Eile geordnet hatte,
wurde nun beſtättigt und in ein gewiſſes Syſtem ge¬
bracht. „Die neue Ordnung in Europa ſollte, wie
ſpäter einer der erlauchten Theilnehmer in jener be¬
kannten Declaration auseinanderſetzte, ein Syſtem des
Zuſammenhanges der Intereſſen und des gegenſeitigen
Verhältniſſes der Pflichten ſeyn, das Werk der durch
die göttliche Vorſehung herbeygeführten Begebenheiten.
Eine allgemeine Verbindung Aller gegen jeden allen¬
fallſigen Ruheſtörer ſollte den Beſtand dieſes Syſtems
gewähren; jede andere jenem Bunde entgegengeſetzte
Allianz aus Furcht oder Ehrgeiz abgeſchloſſen, an ſich
ſchon mit dem Geiſte des Zeitalters unverträglich,
würde nur einen Streit der Treuloſigkeit mit der Treue
der Verpflichtungen begründen, und ſein Ausgang
unter den Wünſchen der Völker und dem Segen des
Himmels nicht lange zweifelhaft bleiben. Darum ſollte
zwar eine gewiſſe Obergewalt der Mächte über die
Staaten des zweyten und dritten Rangs, collectiv nach
berathenden Formen geübt, beſtehen, ohne jedoch die
Macht der Stärkeren zu vergrößeren, oder die Unab¬
hängigkeit der Schwächeren zu gefährden.« Dieſes
Surrogat einer vollziehenden Gewalt, den Mächtigern
beygelegt, wurde in der Folge auf dem Congreß von
Aachen gänzlich aufgelößt, und es blieb nun eine reine
Negativität im wechſelſeitigen Verhältniſſe aller Staa¬
ten, als die Grundlage des europäiſchen Bundes zu¬
rück. Statt wie im alten Syſteme des Gleichgewichts
um Abwägungen entgegengeſetzter Kräfte ſich zu mühen,
wurden alle Gegenſätze als aufgegeben, oder wenig¬
ſtens ſchlafend ſtatuirt; von allem Wechſel ſich ver¬
wandter und abgeneigter Beziehungen wurde Abſehen
genommen; Keine ſollte durch Anmuthungen und Ein¬
miſchungen die Andere in ihrem Wirken ſtören, und
ſo durch gegenſeitige Enthaltſamkeit die heitere Wind¬
ſtille eines langen Friedens in die ſtreitenden Elemente
kommen.
Da man inzwiſchen fühlte, daß einer ſo abſoluten
Verneinung doch als Grund und Schutz irgend ein
poſitives Prinzip unterlegt werden müſſe, wurde die
heilige Allianz auf Grundſätze abgeſchloſſen, die man
zwar bey chriſtlichen Fürſten ohnehin vorausſetzen mußte,
deren Erneuerung und wiederholte Sancirung aber
immer ſehr lobenswerth war. Wäre dieſe Allianz mit
der Wiederherſtellung des Reiches vor dem Congreſſe
abgeſchloſſen, und dieſer nach ihren Grundſätzen abge¬
halten worden; hätte ſie dort durch die erſte Probe
ihrer ſegenreichen Wirkung das Vertrauen der damals
ſehr empfänglichen Gemüther ſich gewonnen, dann
hätte ſie allerdings eine große Epoche in der Geſchichte
gemacht und eine neue Zeit einleiten können: aber ſo,
nicht ſehr chriſtlichen Thathandlungen als eine Art von
Expiation und Sühne folgend, konnte ſie in der fol¬
genden ſehr geſpannten Stimmung, nur Mißtrauen
erwecken, und kein dauernder Troſt war für die nie¬
dergeſchlagenen Hoffnungen bey ihr zu nehmen. Die¬
ſer heilige Bund, der an die Stelle des alten heili¬
gen römiſchen Reichs getreten, konnte wohl allenfalls
die wechſelſeitige religiöſe Toleranz der darin verbunde¬
nen Glaubensſecten gewähren; aber gerade die reli¬
giöſe Indifferenz, die dieſe Gewähr entbehrlich machte,
nahm der nothwendigern Garantie der Toleranz aller
politiſchen Gegenſätze in den verſchiednen Gliedern des
Bundes allen Grund und jegliche Sicherheit.
Wenn die Meinung in ſolcher Weiſe durch alle
dieſe Vorgänge für ihre Befürchtungen einer unheil¬
ſchwangern Zukunft nur wenig beruhigt wurde, ſo
ließ ſich auf der andern Seite doch nicht läugnen,
daß jene Politik des Vacuums, ſo ſehr bequem der
gänzlichen Impotenz des öffentlichen Lebens, indem ſie
alle Probleme, an deren Löſung die Gegenwart ver¬
zweifeln muß, behend der Zukunft hinſchiebt, und ſich
zum voraus mit den Verhältniſſen kommender Ge¬
ſchlechter nicht abmühen will, allerdings einer Zeit
natürlich war, die ein ganzes Menſchenalter lang in
wüthenden Kriegen und Bewegungen ſich erſchöpft,
und ſich nun wohl geſättigt nach jener Ruhe ſehnt,
die ſich um das Thun des Nachbars nur im äußer¬
ſten Nothfall kümmern will. Auf die europäiſche Ge¬
ſellſchaft in einer Periode angewendet, die nach einem
allgemeinen Naturgeſetz jetzt eben ſo ſehr zur Verein¬
zelung neigte, wie ſie vorher mit Wuth im Zuſam¬
menraffen
menraffen ſich abgemüdet, und wo durch den Gang
der Ereigniſſe der Glauben an die Macht und den
großen Einfluß menſchlicher Weisheit in der Lenkung
der Weltangelegenheiten ohnehin ſehr geſunken war,
mußte ſich, wenn alle Vorbedingungen ſonſt erfüllt
waren, die Stiftung einer europäiſchen Republik zu
den Füßen der Altäre des unbekannten Gottes, ſtatt
der zerſtörten Univerſalmonarchie, als zweckmäßig, ja
wohl als das einzig Thunliche erweiſen. Aber dann
mußte vor Allem das Reich aus ſeiner Anarchie ge¬
riſſen und geordnet ſeyn; der Mittelpunkt der Lage
mußte, wenn er auch nicht Mittelpunkt der Kräfte
werden ſollte, doch im Gleichgewichte mit ihnen ſtehen;
da ſonſt, wenn der Stützungspunkt der Wage ſelbſt
wieder eine Wage iſt, jene nie ausſchwanken wird.
Statt deſſen wurde auch hier daſſelbe Prinzip zum
Grunde gelegt; es ſollte klein Europa, ein kleiner hei¬
liger Bund, in Mitten des Großen ſeyn, gewährlei¬
ſtet nicht durch eigne Macht, die nothwendige Grund¬
bedingung aller ſichern Bürgſchaft, ſondern allein durch
fremden Schutz und den Gegenſtreit der Intereſſen.
Da jede innere Geſchloſſenheit gänzlich abgewieſen
war, ſo ſollte es nun allen dieſen Intereſſen geöffnet
ſtehen; Oeſterreichiſche, Ruſſiſche, Preußiſche, Dä¬
niſche, Engliſche, Franzöſiſche ſollten auf langen Halb¬
inſeln in dies ewig bewegte Binnenmeer auslaufen,
das, in ſich ſelber formlos, untreu und wandelbar,
das allein Beſtehende Feſte in gelinder Spannung
auseinanderzuhalten und zugleich in ſchwacher Bin¬
dung zu einigen die Beſtimmung erhielt. Da durch ſolche
Einrichtung die Einheit, die die Meinung ſuchte, als
2
ein Unding gänzlich vernichtet war, ſo mußte dieſe
mit der nun beginnenden Ordnung in einen unheil¬
baren Zwieſpalt ſich geſetzt befinden; und indem jene
auf dem eingeſchlagenen Wege nur durch Treuloſig¬
keit, Unterjochung, Blut und Krieg zu erreichen blieb,
war die Verfaſſung nichts als eine Suspenſion des
Rechtes des Stärkeren, ein Gottesfriede auf unbe¬
ſtimmte Zeit ausgeläutet, nach deren Verlauf der
Rachen des Mächtigern ſich wieder aufſperrt gegen
jeden Schwächern, und die Habſucht wieder umgeht
wie eine brüllende Löwin, und ſucht wen ſie ver¬
ſchlinge.
Darum muß das Ganze in ewiger Rüſtung im
Frieden ſich aufreiben, ohne daß es je im Kriege als
Solches ſich geltend zu machen wüßte; und jeder Theil
muß wieder unmäßige Laſt tragen, als ob er ein
Ganzes wäre, ohne daß durch das geduldigſte Aus¬
harren etwas Anders, als das gemeine Elend geför¬
dert werde. Da keine innere Bindkraft die Theile zu¬
ſammenhält, ſo müſſen dieſe nothwendig den äußeren
zerſetzenden Kräften weichend, ſich anſchließen an die
zunächſt ſollicitirenden Intereſſen; und jeder Krieg
wird nothwendig ein Bürgerkrieg, das Land von
Freunden und Feinden aufgerieben, beym Frieden
aber jedesmal auf ſeine Koſten Großmuth ausgeübt,
und derſelbe Allen bequeme Zuſtand mit Sorgfalt wie¬
der hergeſtellt.
Inzwiſchen hatte der Congreß dieſe Heilsordnung
beliebt; nachdem man verſchiedene Pläne durchgegan¬
gen, von denen jeder Frühere ſich vom Folgenden an
rathloſer Hoffnungsloſigkeit gern überbiethen ließ,
wurde endlich jene Bundesakte in ihrer blaſſen, farb¬
loſen Allgemeinheit angenommen, die, was die Ge¬
ſchichte noch nicht gekannt, einen Rath berief, wo
nicht die Mehrheit der Stimmen galt, ſondern allein
völlige Einſtimmigkeit entſchied. Eine reine Democratie,
deren Demos aus Höfen der verſchiedenſten Geſinnungen,
Intereſſen und Machtverhältniſſe ſich zuſammenſetzt; eine
Centralgewalt, die nicht über ſondern unter den inbe¬
griffenen Theilen ſteht; eine vollziehende Macht, die
eine Ohnmacht iſt, und, weil ſie gegen den Nichtein¬
willigenden nicht einſchreiten kann, gar nirgend etwas
zu vollziehen im Stande ſich befindet, weil ſie nimmer
die fehlende Stimme zur Execution erlangen wird;
eine geſetzgebende Gewalt, die ihre eigene Competenz
nimmer ergründen mag, und eine Richterliche, der
niemand Folge zu leiſten gehalten iſt, wo alle Akte
der Autorität durch ein ewiges Diplomatiſiren immer
geſucht und nimmer gefunden werden: eine ſolche Ver¬
faſſung, wenn ſie gelang, mußte den Völkern zum
ſchlagenden Beweiſe der gänzlichen Entbehrlichkeit aller
Regierung werden, und nur Teutſche, an Hoffnun¬
gen nie verarmend, mochten es mit ihr verſuchen.
Aber die Tochter konnte die Mutter nicht verläug¬
nen, die ſie geboren; jene Theorie wechſelſeitiger Apathie
und Nichthandlung auf die verworrenen Verhältniſſe
Teutſchlands angewendet, wo die Umſtände gebiethe¬
riſch ein poſitives Wirken, ein lebendiges Eingreifen,
und ein wohl verſtändigtes Thun verlangten, mußte
nothwendig verderblich ſich erweiſen. Jene Grundſätze,
die bey der erſten Bildung des Werks geherrſcht,
mußten ſich auch in ihm fortſchreitend wiedergebähren,
2*
und wenn es auf dem Congreſſe Maxime geweſen,
ſelbſt einer Conſtituirung des Ganzen nicht das min¬
deſte Opfer zu bringen, aber auch dem Andern, ſofern
er es verſage, kein Solches anzuſinnen; ſo mußten
die Höfe, die in dem Bunde waren, keinen Grund
ausfinden, fortan in ihm eine andere Richtſchnur
ihres Verhaltens anzunehmen, und nun konnte es
nicht anders ergehen, als daß der Bund, nach
einem treffenden Ausdruck, in ſo viele Factionen
zerfiel, als Glieder ihn zuſammenſetzten, die nur in
einem Dinge, ihrer ſtatutenmäßigen Uneinigkeit einig
waren. Trotz der wohlgeſetzten Inauguraldiſſertation
bey Eröffnung des Bundestages; trotz ſo vieler pa߬
lichen Citationen aus Schiller und Montesquieu, die
von Zeit zu Zeit vom Seſſionstiſch her erſchallten;
trotz ſichtbarlich vorgehender angeſtrengter innerlichen
Bewegungen, die aber wie falſche Wehen nie ein Re¬
ſultat zur Geburt drängten, konnte die Meinung nur
ſchwache Hoffnung auf ein Werk ſo ſchwacher hinfäl¬
liger Complexion begründen; und ſie ſah von Tage
zu Tage mehr verzagend, wie das Formloſe mit ſtets
vergeblicher Bemühung nach Form und Geſtaltung
rang.
Endlich führte die Zeit den entſcheidenden Kreuz¬
verſuch herbey, damals als eine Vereinigung von Um¬
ſtänden, die kaum alle Menſchenalter einmal wieder¬
kehren, jenen Mangel der erſten Lebensbedürfniſſe be¬
wirkt, und nun die Regierungen der verſchiedenen
Stämme deſſelben Volkes, in entſchloſſener Selbſtliebe,
kühn die Nächſtenliebe durch ihre Sperren ausgeſchloſ¬
ſen, daß, indem die Klugheit der Menſchen ſich zu der
Kärglichkeit der Natur geſchlagen, jene halbkünſtliche
Hungersnoth entſtand. Als damals der Bundestag
kein Mittel der Abhülfe vermochte; als er ſpäter nicht
einmal ein halbwegs ernſtliches Angelöbniß zu Stande
brachte, daß ſolch Uebel in Zukunft nicht mehr wie¬
derkehren dürfte: da ſah die Nation mit Schrecken,
was bey einer ſolchen Ordnung der Dinge ihr bevor¬
ſtehe, wenn zu dieſen Antrieben des grauſamſten
Egoisms ſich nun noch die Furcht vor äußerer Ge¬
walt geſelle, die etwa Gebiethstheile bedroht oder in
Beſitz genommen; wenn lockende Verführung den Ei¬
gennutz beſticht, oder eine verſchmitzte Diplomatik den
Samen der Zwietracht ſäet, und große Preiſe auf den
Verrath am Vaterlande ſetzt. Von dieſer Zeit an war
über eine ſolche Verfaſſung gänzlich der Stab gebro¬
chen, und Teutſchland hielt nun völlig auch um die
zweyte große aber billige Hoffnung ſich betrogen. Was
ſpäter gefolgt, wie jeder Verſuch zu einer wirkſamen
Thätigkeit in ſich ſelbſt zerronnen; wie die ſchreyend¬
ſten Anſprüche unerledigt verhallen mußten; wie die
wichtigſten, dringendſten und folgenreichſten Verhand¬
lungen in leeren Formen, endloſen Friſten und klei¬
nen Machinationen des Eigennutzes und Eigenſinnes
aufgegangen; was über Preßfreyheit, Nachdruck, das
Verfaſſungsweſen, die Competenzbeſtimmung, den Schutz
der teutſchen Schiffahrt, den Elsflether Zoll dort ge¬
ſchehen; was bey der Rheinſchiffartscommiſſion, wie¬
der ein Bund im Kleinen, vorgegangen; wie endlich
die Mauthen zur Wiederbelebung des teutſchen Han¬
dels, wie die Drachen am Bilde Laokoons, die Mut¬
ter mit den Kindern allmählig umziehen, und Eines
nach dem Andern kalt erwürgen: das Alles fühlte die
Meinung mit tiefer Kränkung, aber es verwunderte
ſie nicht weiter, weil es als natürliche Folge aus
den Vorderſätzen ſich ergab.
Die Nation, in ihren gerechteſten Erwartun¬
gen getäuſcht, und ſchon den Stachel des öffentlichen
Schimpfes tief im Herzen fühlend, ſah nun auf die
Conſtituirung der einzelnen Bundesſtaaten ſich getrieben,
und ſetzte nun all ihre Kraft, und im Falle der Verweige¬
rung all ihren Trotz an die Erreichung dieſes letzten Zieles,
von wo aus ſie alsdann ſpäter und gründlicher alles
früher Aufgegebene wieder zu erreichen hoffen durfte.
Der dreyzehnte Artikel, anfangs in ziemlicher Währung
ausgeprägt, dann täglich durch Kipper- und Wipperkünſte
beſchnitten, ausgeſchabt und abgenagt, war endlich in ſei¬
ner gegenwärtigen Geſtalt ohne Präge in den Umlauf einge¬
treten, ſo unſcheinbar und abgegriffen, daß man ſpäter ſeine
Legende in ein Erwartungsrecht der Völker eine Zeitlang
umzudeuten wagen durfte. Neben ihm aber hatte der König
von Preußen dem früheren Edikte vom May 1814, das
die Form der künftigen Vertretung feſtgeſetzt, in den
Einräumungen des Patentes vom 5. April den In¬
halt beygefügt, und dadurch die Verfaſſung ſelbſt
ſchon in ihren allgemeinſten Umriſſen feſtgeſetzt.
Auch war ſchon ein Anfang zur Conſtituirung in
einem teutſchen Lande geſchehen, in Würtemberg näm¬
lich. Nicht leicht war irgend anderswo der Wahnſinn
der Souveränität höher getrieben worden, vor Allen
Andern mußte darum auch dort der ſchärfſte Gegen¬
ſatz hervorgerufen werden. Als der Hof noch vom
Congreſſe aus, die Bewegungen der neuen Zeit wahr¬
genommen, ſchien es ihm ein leichtes Ding, ihre lau¬
ten Anſprüche mit einigen liberalen Gaukeleyen abzu¬
finden, und daneben auch nicht einen Fuß breit von
der bisherigen Bahn zur unbeſchränkten Willkühr ab¬
zuweichen. Die Gewalt, die bisher der Despotism
in despotiſchen Formen ausgeübt, durfte nur in den¬
ſelben Formen als Ausfluß ihrer Machtvollkommenheit,
eine illuſoriſche Freyheit ſetzen, wie es auch Napoleon
am 18. Brumaire gethan; und ſie hatte ſtatt rückgän¬
gig zu werden, den Gipfel der Willkühr erreicht, die
da höhniſch eine ſogenannte Freyheit durch Cabinets¬
ordren befiehlt. So wurde jene dortige erſte Conſti¬
tution commandirt, und die Ständeverſammlung zu¬
ſammenberufen.
Aber es lebten in dieſem Lande noch zu viele Men¬
ſchen, die wenigſtens noch die letzten Strahlen der unter¬
gehenden Freyheit geſehen, und in ihnen entwickelte
ſich nun ganz einfach aus der Natur der Dinge jener
Widerſpruch, der ſich ſchlechthin auf das alte Recht
berief, die Uſurpation mit allen ihren Folgerungen als
ein Recht begründendes Faktum von vorn herein gänz¬
lich negirte, ſich hinter ihr auf dem feſten Boden der
Geſchichte niederließ, und von da aus die Eidbrüchig¬
keit der uſurpirenden Gewalt vor der Welt laut an¬
klagte. Einer ſolchen vereinten Maſſe von Licht, Recht,
Kraft und Feſtigkeit, konnte vom Standpunkt einer
übelbefeſtigten Gewalt, deren Arm durch den Sturz
des oberſten Gewaltverleihers zerſchmettert war, nicht
begegnet werden; und der Hof verſtand ſich, nachdem
der unnütze Kampf eine Zeit lang gedauert hatte, zu
den bekannten zwölf Artikeln, worin wenigſtens eine
aufrichtige Freyheit geboten war.
Der Streit dauerte nun einzig über die Form noch
fort, als die Perſon des Regenten wechſelte, und der
Neue, der die Uſurpation nicht als eignen Erwerb, ſon¬
dern als eine Erbſchaft nur beſaß, größeres Vertrauen
gebot. Die zwölf Artikel wurden in eine Conſtitution
ausgebreitet, und dieſe den Ständen vorgelegt. Aber
in der Hitze des langwierigen Kampfes waren nun
ſchon perſönliche Leidenſchaften erwacht, von denen
der einmal in den Gemüthern wurzelnde Argwohn
immer neue Nahrung zog; die Stände mißtrauten
einem Werke das ſich blos auf die Gnade und den
guten aber ſeiner Natur nach wandelbaren Willen des
Herrſchers gründen wollte, und verlangten, daß es
auf den Boden ihrer alten Rechte, Geſchichten und
Herkömmlichkeiten geſetzt werden ſolle, damit es auf
dieſer Wurzel durch die Sanktion der ganzen Vergan¬
genheit dieſelbe, ja noch eine größere Legitimität als
das Regentengeſchlecht ſelbſt erlange. Der Hof ſeiner
guten Abſicht diesmal ſich bewußt, war entrüſtet über
einen Widerſtand, der ihm, da er gegen ſo manches
Gute gerichtet war, das die Gegenparthey ſelbſt nicht
abläugnen konnte, gänzlich unvernünftig ſchien; die
Stände im Bewußtſeyn ihres guten hiſtoriſchen Rechts,
das ſtärker ſeyn muß, als eine wohlgemeinte Aufwal¬
lung der Gegenwart, waren ihrerſeits in keine Weiſe
zum Nachgeben geneigt; da ſie richtig urtheilten, daß
ſelbſt die Gunſt des Augenblickes zu verſchmähen ſey,
wenn ſie um den Preis einer ganzen Vergangenheit er¬
kauft ſeyn wolle; und daß, was im Volke ſchon ein altes
Heimathrecht beſeſſen, billig ſich als den Stamm betrach¬
ten dürfe, dem alles neu Zuwachſende ſich anfügen müſſe.
In dem Streite der ſich nun erhoben, geſellte ſich,
wie es zu geſchehen pflegt, zu der Parthey, die das
Urkundliche vertrat, der ſtarre kleinliche Eigenſinn im
Beharren auf Nebendingen; der enge beſchränkte Sinn,
der das Weſentliche von dem Zufälligen nicht zu un¬
terſcheiden weiß; die befangene Anſicht, die über den
Geſichtskreis des Gewohnten ſich nicht zu erheben im
Stande iſt, und die Rechthaberey und Pedanterie,
die auch mit dem völlig Gehaltloſen ihren Aberglauben
treibt. Von der andern Seite aber erhoben ſich zur Ver¬
theidigung des Zeitlichen auch mit Allem was an der
Zeit zu rühmen iſt, zugleich die Unarten, die ihr eigen
ſind; jenes hochmüthige Dahinfahren über Dinge,
Lagen, Beziehungen und Verhältniſſe; jenes phanta¬
ſtiſche Hinauftreiben alles Spezifiſchen in allgemeine Ab¬
ſtractionen, und der Dünkel der mit ſolchen weſenloſen
Schemen die ganze Fülle der Eigenthümlichkeit aller
Dinge zu beherrſchen glaubt; endlich der Leichtſinn, der
bey der Fügſamkeit ſo luftiger Gebilde und ihrer leich¬
ten Handhabung in immerwährender Unruhe und Wan¬
delbarkeit alles übereinanderſtürzt, daß nichts ein ge¬
ſichertes Gleichgewicht und einen feſten Stand gewin¬
nen mag.
Bey ſo ſcharfen Gegenſätzen mußte die Sache, die
in der Mitte lag, nothwendig zerſchnitten werden, und
die Criſe trat dann ein, als der König, gewohnt als
Feldherr raſch durchzugreifen, aber vergeſſend die alte
Feldherrnregel, dem fliehenden Feind eine goldne Brücke
zu bauen, zu jener achttägigen Friſtgebung ſich ent¬
ſchloß, die der Ständeverſammlung keine Wahl übrig
ließ. Die Stände überzeugt, daß eine Conſtitution
nur in conſtitutioneller Weiſe würdig gegründet, wie
geführt werden könne; und daß eine gebotene Frey¬
heit, die in Wahrheit mit einem Akt der Knechtſchaft
beginnen ſolle, wenig Gewähr für ihren Beſtand dar¬
biete, verwarfen, als ein geiſtreicher Miniſter, der,
das erſte Beyſpiel in Teutſchland, ſeine Meinungen
und Anſichten durch perſönliche Gewandheit ſtattlich zu
vertheidigen gewußt, im rechten Momente abzutreten
verſäumt, zum zweytenmale die gebotene Verfaſſung
mit großer Stimmenmehrheit, die dadurch allein mög¬
lich wurde, daß die Gemeinen klüglich mit dem Adel
über mögliche künftige Anmaßungen ſich zum voraus
nicht entzweyt, ſondern einträchtig mit ihm den Kampf
mit dem Hof geführt.
Wenn die Vertheidiger der unbeſchränkten Will¬
kühr über dieſen Ausgang triumphirten, ſo hatten ſie
nie und in keinem Dinge ſtärkere Kurzſichtigkeit be¬
wieſen. Zwey Conſtitutionen nacheinander, die Eine
ihres Inhaltes wegen, die Andere hauptſächlich um
der Form willen verworfen; ein Hof, der deswegen von
den Ständen an die Urverſammlungen, und das ſogar,
wie ſich bald ausgewieſen, vergeblich appellirt; ſolche
Eintracht der Geſinnungen aller Intereſſirten in die¬
ſem Werke; das alles waren, bey der Gewißheit, daß
der abgeriſſene Faden der Verhandlungen früh oder
ſpät wieder angeknüpft werden mußte, keine Zeichen der
Zeit, die jene erfreuen konnten. Es bewieß, welche
Sicherheit und Zuverſicht die Sache des Volkes ſchon
gewonnen hatte; welche Gewalt und Macht in die
Zeit und Umſtände eingetreten, daß ſo annehmliche
Anträge ohne Gefahr ausgeſchlagen wurden; und es
war ein großes Beyſpiel in der Mitte Teutſchlands,
zugleich warnend und belehrend, wie der große Rechts¬
ſtreit verjährter Gewalt und unverjährbarer Freyheiten
geführt werden mußte. Es hatte ſich auch hier im
Kleinen ausgewieſen, was die Geſchichte überall im
Großen lehrt, daß jedesmal, wenn die Sachen zu ei¬
nem Aeußerſten getrieben, immer ein Widerſpruch ſich
ins geheim aufmacht, erſt ſtill anwächſt und ſich im
Verborgnen ſtärkt, und wenn die Gewalt oder der
Frevel an dem längſterſehnten Ziele zu ſtehen glaubt,
als eine geharniſchte Macht eben von da den Beſtürz¬
ten entgegentritt, und ſie auf die Mitte zurückwirft,
und über den Punkt hinaus von wo ſie ausgegangen.
In den Jahrhunderten, wo die Uſurpation in blin¬
der Eigenſucht, nach ihren Intereſſen haſtig rennend,
alles Andere zu beachten vergaß, hatte ſich aus klei¬
nen Anfängen jene Macht, die man die öffentliche
Meinung zu nennen pflegt, gebildet und gegen die
Gewaltthätigkeit, die freſſende ewig unerſättliche Ei¬
genſucht, die Leerheit und moraliſche Entwürdigung
der Höfe ſich empört. Als die Revolution wie ein
wüthender Typhon in die europäiſche Geſellſchaft ein¬
gebrochen, war mit dem Satze auch der Gegenſatz
ſchnell gereift; und da die Gemeinen, anfangs gegen
ihre demagogiſche Hälfte aufgeboten, dann eben ſo
willenlos mit ihrer Despotiſchen verbündet, nach Oſt
und Weſt in den Tod getrieben, immer nur das Spiel
der Willkühr, und ſchmutzigen Intereſſen dienend, end¬
lich im allgemeinen Aufſtand, was die Elemente, blinde
Werkzeuge der Vorſehung, angefangen, als bewußte,
lebendige Boten der höheren Gewalt vollendet hatten:
da war das Gefühl ihrer Kraft in ihnen vollends er¬
wacht, und die Meinung war eine Macht geworden,
die zwar noch nicht auf dem Congreſſe ſaß, aber ſchon
Friedensbedingungen und die Einräumungen des 13ten
Artikels erzwang. Jetzt hatte ſie zum erſtenmal in
ordentlicher Verhandlung zur Wiedererkämpfung alter
Rechte Sitz und Stimme gehabt; ſie hatte ihr Probe¬
ſtück abgelegt, das zeugen konnte von dem Nachdrucke,
den ſie gewonnen, und ſah nun mit finſtern Blicken
hin nach dem, was unterdeſſen in Nord-Teutſchland ſich
begeben.
Dort ſah man Preußen, das ſeither zur Er¬
bauung Teutſchlands in den Maximen ſeines Anti¬
machiavelli gehandelt zu haben ſchien, wieder nach¬
denklich im Principe des kecken Florentiners blättern,
um dort jene Grundſätze herauszuſuchen, die mit einer
gutmüthigen Rechtlichkeit ſich etwa noch vertragen
wollten. Zwey Partheyen, die durch ganz Teutſchland
verbreitet ſind, die Anhänger des antediluvianiſchen
Alten, hier die große Mehrzahl bildend, und die des
Napoleoniſchen Neuen, Beide hier, weil überall alles auf
eine Soldatenherrſchaft hinausgelaufen, in Intereſſen
und Grundſätzen weniger geſchieden als anderwärts,
hatten gegen Ende des Krieges ſich vereint, um durch
eine Reaktion die Beiden gleich verhaßten Ideen, die
ſich in ſeinem Verlaufe zugedrängt, wieder abzutreiben.
Wir wollen nicht ſo unbillig ſeyn, beyde Elemente
dieſer Coalition, oft in derſelben Perſon verbunden,
als gleich unrein und verdammlich wegzuwerfen. Unter
allen teutſchen Völkerſchaften hat Preußen allein in
der letzten Zeit eine Geſchichte gehabt, und dem Jahr¬
hunderte einen großen Mann gegeben. Zwar war der
Lorbeer, der ſeine Stirne kränzte, keine Bürgerkrone,
und an ſeinem Schwerdte klebte das Blut der Stamm¬
genoſſen; aber er war nicht der Erſte der ſolches Blut
vergoſſen, und was ſein Arm kühn und kräftig nie¬
derriß, war zuvor ſchon faul und wurmſtichig, und
dem Einſturz nahe geweſen. Zwar hat man ihm nicht
mit Unrecht vorgeworfen, daß er fremde, vergiftende
Sitte, Idee, Geſinnung und Maxime eingeführt;
aber man durfte nicht vergeſſen, daß die, welche er
um ſich her vorgefunden, plump, beſchränkt, kleinlich
und pedantiſch bis zum Unerträglichen geweſen; und
daß das Auswärtige, dem er dafür den Zugang ver¬
ſtattet, von geiſtreichen Menſchen gepflegt, wenn es
auch jetzt der gereifteren Zeit größentheils als Frivoli¬
tät ſich aufgedeckt, doch damals als eine kecke, lobens¬
würdige Emanzipation erſcheinen mußte. Zwar hat
er ſeinen Zwecken alle Verhältniſſe unterordnend, jenen
tödtenden Mechanism in alle öffentlichen Verhältniſſe
hineingebracht, der noch jetzt Preußen wie eine un¬
heilbar gewordne Lähmung in innerer Erſtarrung ge¬
feſſelt hält; aber es war nicht ſeine Schuld, wenn
die Zeiten, die nach ihm gefolgt, nicht erkannten, was
ihnen frommen mochte, und die leeren Hülſen, die
ſein Geiſt abgeſtreift, abergläubiſch verehrten und als
das Palladium des Heils bewahrten.
Mochte die Pietät dem Vergangenen ihre Todten¬
opfer bringen, daran war nichts zu tadeln; es war
recht, was aus früherer Zeit als wirklich gediegen,
und darum paſſend ſich bewährt, nicht leichtſinnig einer
neuerungsſüchtigen Gegenwart hinzuopfern: aber man
durfte nicht vergeſſen, daß Preußen durch den Zutritt
ſo vieler gänzlich verſchiednen Elemente nicht mehr
daſſelbe geblieben; daß die Zeiten den Früheren noch
unähnlicher ſich entwickelt; und vor Allem, daß ganz
beſtimmte Rechte, die ſich nicht beſeitigen ließen, und
klare unzweydeutige Verheißungen zwiſchen das, was
werden ſollte und was geweſen war, in die Mitte
getreten.
Aber allzu verführeriſch für die Gewalthaber war
damals das Beyſpiel Spaniens, ſo leicht war auf
breiter Straße das Alte dort wieder eingezogen, ſo
gar ſchnell das eingedrungene Neue dort aus dem
Lande heraus verwieſen, ſo gar willig hatte das Volk
in die vorigen Verhältniſſe wieder ſich gefunden; daß
ein ſo leicht erfochtener Sieg und ſo guter Erfolg
gar wohl zur Nacheiferung antreiben mußte. Zwar
war früher in Frankreich derſelbe Verſuch ſo gänzlich
mißlungen, daß er zwar formal gerade wie in Spa¬
nien, aber der Bedeutung nach im gerade entgegen¬
geſetzten Sinne, mit der völligen Auswerfung der klei¬
nen Minderzahl geendigt hatte. Inzwiſchen iſt jeder
wohl des guten Glaubens, da er ſich ſeines eigenen
Glückes Meiſter dünkt, mit beſſerer Meiſterſchaft das
Anderen mißlungene Werk zu günſtigerem Ziel zu füh¬
ren; und ſogar in demſelben Frankreich, das eben
erſt jene Erfahrung gemacht, war jener Glaube dar¬
um nicht irre an ſich ſelbſt geworden. Nachdem die
Mächte, alles in der Exploſion Zerſtreute, wieder ſorg¬
fältig zuſammengeleſen und zurückerſtattet, meinten
die Wiedereingeſetzten es blos durch allzu ſchwache
Nachgiebigkeit verſehen zu haben, und ſo wurde der
abgeriſſene Faden wieder angeknüpft und nur gröber
ausgeſponnen; bis endlich, wie jetzt bey uns, Wider¬
ſtand und Reibung ſo ſtark geworden, daß ſie alle
Kraft aufgezehrt, und die Regierung mit ihren allzu
wohlmeinenden Freunden ſich gänzlich feſtgerannt.
Man durfte wünſchen, aber kaum hoffen, daß
Preußen ſich den gleichen Verſuch erſparen würde.
Man trug ſich dort ſeit längerer Zeit mit der Exiſtenz
eines geheimen Bundes, der Tugendbund genannt,
und angeblich geſchloſſen, um mit vereinten Kräften,
jedoch ohne der den legitimen Fürſten ſchuldigen Treue
Eintrag zu thun, die Freyheit zu erringen, und von
ſich ſelbſt und vom Vaterland jede Art von Unterjo¬
chung, beſonders die durch fremde Macht, abzuhal¬
ten. Dieſer Bund ſollte aus verſchiednen durch Zei¬
chen, Attribute, Pflichten und Befugniſſe voreinander
ausgezeichneten Graden beſtehen; Alle durch die hei¬
ligſten Eidſchwüre der Geſellſchaft und ihren Zwecken
verbunden, ſollten ohne daß Einer um den Andern
wiſſe, nur dem Obern, wie dieſer dem Großmeiſter
untergeben ſeyn, von dieſem alle Befehle und Auf¬
träge empfangen, und ſodald ſie einmal nach freyem
Entſchluß zu ihrer Ausführung ſich anheiſchig gemacht,
in blindem Vertrauen alles Forſchens nach ihren Grün¬
den ſich enthalten; alle Geheimniſſe des Bundes aber,
für Furcht und Hoffnung gleich unzugänglich, unter
Todesſtrafe bewahren, alſo daß den ſchuldigen Ver¬
räther keine menſchliche Macht gegen die Rache der
Geſellſchaft zu ſchützen im Stande ſey.
Es mochten wohl zur Zeit der feindlichen Unter¬
drückung ſolche Pläne in einzelnen Köpfen aufgeſtie¬
gen, und ein Anfang zur Ausführung auch wohl ver¬
ſuchsweiſe geſchehen ſeyn; nach einem alten Kunſt¬
griff aber, in dem man, um die Unzulänglichkeit der
Mittel zu decken, einige ſichtbare Momente perſpekti¬
viſch an ein im Hintergrunde vorausgeſetztes Geheim¬
niß knüpft, um ſo durch die geglaubte Anweſenheit
eines Dunkeln, Unbeſchränkten zu imponiren, moch¬
ten damal die Stärkeren den Dümmern die Fabel
einer völlig ausgebildeten Geſellſchaft dieſer Art ein¬
gebildet haben, um ſie durch Furcht und den Reiz jener
optiſchen Täuſchung aus ihrer trägen, feigen Schlaff¬
heit gegen die Franzoſen aufzutreiben. Die Schwäche
gefiel ſich damal im Gedanken einer ſolchen Hülfe
aus dem Verborgenen; der Feind war beunruhigt durch
die Sagen, die zu ihm gelangt; die Regierung ſelbſt
ſchien nicht ungern den nutzbaren Glauben zu bemer¬
ken und zu theilen. Jetzt zur gelegenen Zeit errinnerte
man ſich ſeiner, um ihn als Waffe gegen die Erfinder
ſelbſt zu kehren. Argwohn ſcheint ein Uebel zu ſeyn,
das von der Stellung der Fürſten unzertrennlich iſt,
eines von denen, das ihnen in der Ordnung der Dinge
zugefallen, um ſo manchen Vortheil, den ſie vor den
übrigen Sterblichen voraus haben, wieder auszuglei¬
chen. »Wahrlich! ſagt Baco von Verulam, unſelig iſt
jener Gemüthszuſtand, in dem du nur nach Wenigem
verlangſt, aber Vieles befürchteſt, und doch iſt dies
größentheils der Fall der Könige, die auf die höchſte
Stufe geſtellt, nichts haben, das ſie begehren können —
was ihren Geiſt träge macht—, aber im Gegentheil durch
mancherley
mancherley Phantasmen von Gefahren und fliegenden
Schatten geängſtigt werden, wodurch ihr Gemüth er¬
trübt. Daher kommt es denn auch, daß wie die Schrift
ſagt, das Herz eines Königs unergründlich iſt, weil
die Vielheit des Verdachtes und die Abweſenheit eines
herrſchenden Affektes, der den Uebrigen gebietet, jedes
Gemüth ſchwierig zu deuten macht.“ Auf ſolchen
Grund werden immer bey den Höfen ähnliche Anſchläge
ausgeführt.
Bald nach dem zweyten Frieden von Paris, wurde
dem König von einem angeſehenen Beamten eine 21
Bogen im Manuſcripte ſtarke Schrift unter dem Titel:
was haben wir von geheimen politiſchen Verbindungen
in Teutſchland zu fürchten oder zu hoffen? übergeben.
Hierin wurde der Tugendbund in allen ſeinen gefähr¬
lichen Beziehungen ausgelegt; es wurde darauf hinge¬
deutet, wie ſo manche der wichtigſten Männer des
Staates in ihn direct oder indirect verwickelt ſeyen,
und wie was zur Rettung der Monarchie ohnehin bey¬
nahe gar nichts beygetragen, jetzt ſeine Ruhe und
Exiſtenz durch die gefährlichſten Umtriebe bedrohe. Wäh¬
rend des Krieges habe der Bund eine Menge gefähr¬
licher Ideen in Umlauf zu ſetzen gewußt; durch man¬
cherley Einräumungen, die das Unglück der Regierung
abgedrungen, habe ein Geiſt der Kühnheit das Haupt
erhoben, und Anſichten ſeyen ins Volk gekommen, die
ihm von jeher fremd geweſen. Preußen ſey, weil
nothwendig ein Kriegsſtaat, auch weſentlich monarchiſch,
und was durch Einmiſchung ſogenannten liberaler
Ideen die Reinheit der Monarchie zu trüben unter¬
nehme, gefährde weſentlich den Beſtand und das Heil
3
des Staates. Es wurden dann die Mittel angegeben,
wie dem eingeriſſenen Uebel zu begegnen; wie Hoff¬
nungen, die zu erfüllen jede geſunde Politik verbiete,
gleich bey der Wurzel abzuſchneiden; wie die Männer,
die durch ihre Popularität gefährlich geworden, all¬
mählig zu entfernen, die Staatsmänner durch Ver¬
ſendung auf ferne diplomatiſche Miſſionen, die Feld¬
herren durch geſchickte Beſeitigung, die untergeordne¬
ten Theilnehmer aber, indem man ſie ohne weiteres
aus allem Einfluß werfe: Alles wie Gott, wenn er
den Dünkel verderben will, es durch eine ſogenannte
pfiffige, verſchlagene Politik den Kindern der Zeit
eingeben läßt Um ein Beyſpiel des Leichtſinns zu geben, mit dem dieſe
Leute bey ſolchen Gelegenheiten verfahren, und als eine
zeitgemäße Warnung bey dem jetzigen Conspirationsgeſchrey,
führe ich hier eine Stelle jenes Berichtes an, die ſich auf
ſeiner vorletzten Seite findet. Da wo nämlich der Verfaſ¬
ſer die Frage zu beantworten unternimmt: „wer kann zur
Königsparthey aufgenommen werden? läßt er folgenderweiſe
ſich vernehmen: „Die Tugendbündner nehmen Alle auf,
die Talente und Einfluß haben, ohne Rückſicht auf ihre
Moralität. Sonſt hätten ſie ihre Ehre durch Aufnahme
eines Reiſachs, Gruners, Görres nicht beſchmutzen können.
Der Erſtere lief als Verbrecher aus Bayern fort, der
Zweyte brach 1812 ſein Ehrenwort, und ſetzte den Staat,
dem er verpflichtet war, in die größte Gefahr, heyrathete
die Mätreſſe eines Franzoſen ꝛc. ꝛc. Görres war bis 1813
ein franzöſiſcher Agent, ſchrieb damals im Geiſt der Jaco¬
biner, wie jetzt im Geiſt der Teutſchbündner.“ Man hat
mir den Herrn v. B. als den genannt, der, nach Geſinnung,
Anſichten und ſeiner damaligen Stellung gemäß, nach aller
Wahrſcheinlichkeit dieſe Denkſchrift niedergeſchrieben. Ich
werde ſeinen Namen ganz ausſchreiben, wenn ich darüber
Gewißheit erhalte; jetzt aber will ich mich begnügen, den
Verfaſſer, wer es immer ſeyn möge, als einen ehrloſen,
.
Der König, deſſen Rechtsgefühl man geſchickt gegen
Menſchen und Geſinnungen empört, erſchrack vor dem
Abgrund, den man ihm zu ſeinen Füßen geöffnet zeigte,
und die Parthey proclamirte ihre Anſicht, ſo weit ſie
dem Publikum mittheilbar war, durch jene bekannte
Schrift von Schmalz. Die Art, wie dieſe in Preußen
und ganz Teutſchland aufgenommen wurde, konnte die
Anſtifter gleich beym erſten Verſuch belehren, welche
Stunde ausgeſchlagen; eine allgemeine und ungetheilte
Entrüſtung brachte ſogleich die Meinung unter Waf¬
fen; nie hatte ſich die entſchiedne Ueberlegenheit der
Wahrheit, der Kraft und des Talentes über heim¬
tückiſche, feige Bosheit glänzender bewährt; nie war
eine Niederlage vollſtändiger und demüthigender aus¬
gefallen; und die Parthey geſchlagen in allen Waffen¬
arten, betreten über den unerwarteten Widerſtand,
ohnehin nicht ſehr reichlich mit Muth geſegnet, flüch¬
tete ſich, in der Unmöglichkeit, die Bewegung, die ſie
ſo unvorſichtig und frevelhaft hervorgebracht, anders
als durch einen Machtſtreich zu ſtillen, hinter den
Thron, und der König gebot nicht mehr zu reden von
dieſer Sache: eine Verfügung gleich unwürdig der
Majeſtät, die nie Parthey nehmen ſoll; wie der Na¬
tion, der die freye Rede über öffentliche Angelegenhei¬
nichtswürdigen Lügner zu erklären, nicht um deſſen willen,
was er von mir geſagt, weil ich meine Ehre nicht von
einer ſo leichtfertigen vornehmen Kabinetsklatſcherey abhän¬
gig glaube; ſondern um jener unbeſcholtenen Frau wegen,
deren Name ich der Sache wegen habe nennen müſſen, und
der die Meinung der Stadt Coblenz, unter deren Auge ſie
aufgewachſen, an ihrem Verläumder die beßte Genugthuung
geben wird. 3 *
ten nicht verſagt ſeyn kann, an wenigſten, wenn von
öffentlichen Anſchuldigungen die Rede iſt.
Der Eindruck, den jener ärgerliche Scandal bey der
ganzen Nation hervorgebracht, war nicht leicht zu ver¬
kennen; ſie hatte das ſchwer Auftretende wie billig
ſchwer genommen, und als die Beſchuldigung des
Verrathes zur Beſchämung der Urheber in Dunſt und
Rauch aufgegangen, und ſie nun das ganze Gewebe
in ſeiner Plumpheit ſchnell durchſchaut, mochte ſie
überall nichts als den ſchnödeſten Undank ſehen, und
in dem mißlungenen Verſuche nur die Einleitung zur
Wiederkehr des alten verhaßten Unfugs. Darum war
von dieſem unſeligen Augenblicke an der ſchlafende
Verdacht aufgeſchreckt, und begann nun mit geſpann¬
tem Auge die Regierung zu bewachen, um zur vollen
und klaren Gewißheit zu gelangen.
Leider bewieſen die Vorgänge, die ſich bald ergaben,
daß die Parthey zwar verſtummt, aber darum ihre
Umtriebe und ihre Pläne mit nichten aufgegeben. Es
ſchien vielmehr alles nach und nach in Ausführung
zu kommen, was jene Denkſchrift vorgeſchlagen. Ein
geehrter Feldherr wurde vom Commando entfernt,
und man hetzte in den Zeitungen, beſonders der Allge¬
meinen, die ganze Meute jener Hunde auf ihn an,
die ſeit den Zeiten Napoleons an ihrer Kette gehun¬
gert hatten; man hörte ſie nur heulen von Wallen¬
ſtein, auch den Seni hatten ſie gefunden und Picco¬
lomini, und es fehlte nur die Hellebarde im frechen Gau¬
kelſpiele, das ſie vor den Augen des empörten Teutſch¬
lands gaben. Zugleich begann in eben dieſen Zeitun¬
gen das Vorſpiel jener ſchändlichen Deductionen, wie
der König ſein Verſprechen zu halten nicht gebunden
ſey, und daher gar keine oder nur eine illuſoriſche
Conſtitution geben dürfe: Artikel, die ſich die Miene
offizieller gebend, nun ſchon nahe vier Jahre hindurch
fortgegangen, und höhniſch, ehrlos, bodenlos nichts¬
würdig, mehr als man zu glauben ſcheint, die Gemü¬
ther erbittert und entzündet; die aber, wie es ſcheint,
die Regierung nie in ihrer majeſtätsverbrecheriſchen
Schändlichkeit erkannt, wenigſtens bis auf die Stunde,
ſelbſt in der Staatszeitung nie geahndet hat.
Da in dieſelbe Zeit auch die Organiſation der Rhein¬
provinzen gefallen, die in jenen Berichten als die
Feuerheerde revolutionärer Umtriebe, von hochmüthi¬
gen Proconſulen angeſchürt, geſchildert waren; ſo
ſchien es dringend, auf ſie ſogleich jene Grundſätze
anzuwenden, und aufs ſchnellſte jene gefährliche Flamme
auszugießen. Da wurde nun das Werk in jener be¬
liebten, hochfahrenden Weiſe vollbracht, alle Indige¬
natrechte mit Füßen getreten, alle Intereſſen verletzt,
die Verheißungen durch ſophiſtiſche Auslegungen um¬
gangen, ſelbſt die Vorſchläge der eignen Commiſſäre
für nichts gehalten, und alles nach dem mit allen
Verhältniſſen gänzlich unbekannten Gutdünken zweyer
Miniſterien aus der Mitte heraus vollbracht. Jene
Provinzen, durch die früheren Vorgänge ſchon ge¬
ſpannt, beunruhigt durch das allgemeine nur eben
beſchwichtigte Mißtrauen, das wieder Wurzel gefaßt,
hatten die Regierung bey dieſem Punkt erwartet; und
als ſie nun eben wie in Polen ſich benahm, ſchien
ihnen auch Altpreußen zurückgekehrt, und damit auch
die Rückkehr des alten Haſſes wohl begründet. Da
ein erſter Bruch feyerlicher Verſprechungen erfolgt,
ſchien alles Andere ſich von ſelbſt zu verſtehen; das
Vertrauen war verloren, die Meinung, die bisher ſich
arglos hingegeben, trat nun geharniſcht zur Wehre;
und ſeit dieſem Augenblicke hat ſich in dieſen Provin¬
zen jener Widerſtand, und jene Oppoſition erhoben,
die alle ſpätere Gutwilligkeit nicht wieder beſchwichti¬
gen mochte. Man hatte zur aller unglücklichſten Stunde
vergeſſen, was die Römiſchen Conſuln in der Sache
der Ariciner und Ardeaten, deren Landmark das Volk
ſich zueignen wollen, demſelben zu Gemüth geführt:
famæ quidem ac ſidei damna majora esse, quam quæ
æstimari possent.
Im übrigen Nord-Teutſchland hatte die Lage
der Dinge auf nicht viel tröſtlichere Reſultate und
Ausſichten ſich geſtellt. Oben in der Cimbriſchen Halb¬
inſel in Holſtein und Lauenburg, war ſchon ſeit 1816
jene Commiſſion, aus den Prälaten, der Ritterſchaft,
den Städten und Aemtern gezogen, vereinigt, um die
Vorſchläge zur Verfaſſung die vom Hofe ausgegangen,
zu berathen; eine Berathung, die bey aller löblichen
Bereitwilligkeit der obern Stände, noch bis zu dieſer
Stunde nicht zu dem erwarteten Ziel geführt. Indem
der Hof das billige Geſuch um Ausdehnung der neu
zu entwerfenden Verfaſſung auch auf Schleswig ver¬
weigerte, hatte auch er an Tag gelegt, daß er
nicht ein Kleines mehr zu leiſten geſonnen ſey, als
die Verbindlichkeit der Traktaten ihm unausweichlich
zu thun auferlegt; und indem er den künftigen Stän¬
den nur eine berathende Stimme einräumen wollte‚
hatte er jene Traktaten in der für die Willkühr gün¬
ſtigſten Weiſe, eben auch willkührlich, ausgelegt.
In dem Lande Meklenburg, in ſeinen beiden Hälf¬
ten von oben herab ſehr' ungleich bedacht, wo eine
Ordnung der Dinge, wie ſie aus früheren Jahrhun¬
derten ſich entwickelt hatte, beynahe unerſchüttert fort¬
beſteht; wo ein mächtiger Adel das Land in Planta¬
gen unter ſich getheilt, auf denen der Bauer als Leib¬
eigner dient; der freye Mittelſtand aber noch nicht
die Macht erlangt, die Anſprüche geltend zu machen,
die ihm die Zeit einräumt, konnte der Natur der
Dinge gemäß, der Eindruck dieſer Zeit nur wenig
ſichtbar ſeyn. Darum war dort bey der Huldigung
der alte Rechtsſtand nur durch Handſchlag bekräftigt
worden, und ein organiſches Staatsgeſetz der beiden
regierenden Häuſer verfügte, wie es jetzt, da nach
Auflöſung des Reiches die richterliche Obergewalt ver¬
ſchwunden, bey Streitigkeiten der Stände mit der
Landesherrſchaft zu halten ſey. Der einzige Wider¬
ſpruch, der gegen dieſe neubefeſtigte Ordnung der
Dinge ſich erhob, mußte darum, weil er ohne alle
hiſtoriſche Unterlage blos auf allgemeinen Ideen fußte,
auch in jener allgemeinen Gleichmacherey in’s Leere
ſich verlieren; und der naive Vortrag jenes Landſtan¬
des: alle Schutzgenoſſen des Staates mit einem Schlage
in Mitgenoſſen zu verwandeln, die nun ihre Rechte
entweder durch unmittelbare Volksberathung, oder durch
Delegation auszuüben hatten; vor Allem aber die bei¬
den Inſtitute, die wechſelweiſe ſich bedingend, mitein¬
ander ſtehen und fallen müßten, den Erbadel, der un¬
gebührlich ſich über die Mitte erhebe, und die Leib¬
eigenſchaft, die eben ſo tief unter ſie herabwürdige,
miteinander aufzuheben, wurde nicht ganz unbillig,
obgleich zum Theile in etwas koſtbaren Redensarten,
als Arroganz und Vorwitz abgewieſen.
Im Königreich Sachſen hatte man die alte ſtän¬
diſche Verfaſſung wieder eingeführt: das mürbe, ver¬
wickelte, ſchwerfällige Flickwerk der letzten Jahrhun¬
derte, die ohne Plan und Ueberſicht, ohne großarti¬
gen Sinn, und eigentlich praktiſches Geſchick, grö߬
tentheils verlaſſen von allem Inſtinkt und plaſtiſchem
Bildungstrieb, nur ſorgend für die nächſte Gegen¬
wart, immer nur Lappen an Lappen geſetzt und
Maſſe auf Maſſe gehäuft. Eine ſolche Vertretung
mußte nur allzu geneigt ſeyn, unter dem Vorwande
der bedächtigen Umſicht, nach dem Vorgange der Re¬
gierung, gegen das Eindringen alles Progreſſiven ſich
zu ſchließen; von einer Vertretung des Bauernſtan¬
des, von einer beſſern Einrichtung der Städteord¬
nung, die die Abgeordneten zu wirklichen Vertretern
des ſtädtiſchen Weſens macht; von einer Zulaſſung
der nicht landtagsfähigen Gutsbeſitzer konnte nur flüch¬
tig die Rede ſeyn, und ſelbſt die Zuſammenziehung
des engern und weitern Ausſchuſſes der Ritterſchaft
wurde abgewieſen. Dafür wurde von Seiten der Re¬
gierung auch nur blos berathende Stimme anerkannt,
und alle Befugniß zu wirklichen Vorſchlägen oder
gar zu einem veto abgeläugnet; die nachgeſuchte Ver¬
minderung des ſtehenden Heeres als unthunlich abge¬
ſchlagen; die Vorlegung der Nachweiſungen über die
verſchiednen Zweige der Staatsausgaben und Ein¬
nahmen gänzlich verweigert, weil der König in fünf¬
zigjähriger Regierung nie mehr, als die Nothwendigkeit
verlangt, gefordert; die bewilligten Donative aber
dankbar angenommen.
Eben ſo hatte auch in Hannover die neue wilde
Zeit nicht lange genug herumgeſtampft, um mit der
alten Sitte auch die Geleiſe und Pfade der dortigen
mächtigen Ariſtokratie zu zertreten, und ſie hatte leicht
wieder den ganzen Umkreis der Gewalten eingenommen,
den ſie ehmals erfüllt. Mit ihr war auch die alte
Regierung ihres Geiſtes wieder eingetreten; rechtlich,
billig, wohlmeinend aber ſchwerfällig, unbehülflich, bis
zur Ungebühr bedenklich: nicht ſo ſehr den Anſprüchen der
Zeit widerſtrebend, als was noch ſchlimmer iſt, ſie viel¬
mehr gänzlich ignorirend, wie auch auf der dortigen Uni¬
verſität ein vornehmer Bettelſtolz den neuen Geiſt,
der in die Wiſſenſchaften erfriſchend eingedrungen,
vornehm zu ignoriren affectirt; gleichſam als ſey aus¬
getilgt und abgethan, wovon man keine Notiz genom¬
men. Eine Ständeverſammlung, die ſich aus der
Oeffentlichkeit zurückgezogen; in der die verſchiednen
Elemente ſich in einer Art von Sättigung gebunden
hielten, und blos die Trägheitskräfte herrſchten, konnte
wenig dazu beytragen, eine weſentlich oscillatoriſche
Bewegung in eine fortſchreitende zu verwandeln, und
das ſtockende Leben zu begeiſtigen, das gewohnt, in
ſo Vielem dem herrſchenden Inſelvolke ungebührlich
nachzutreten, nur ſeine Regſamkeit nicht in ſich auf¬
zunehmen weiß. Doch wurde, getrieben von jenem
Geiſte, dem Keiner, wie er ſich ſträuben möge, ſich
ganz entziehen kann, manches Heilſame und Löbliche
gefördert; eine ſorgfältige Bewirthſchaftung der noch
übrigen geiſtlichen Domänen; ihre gewiſſenhafte Ver¬
wendung für die Bedürfniſſe der Kirche und Erzie¬
hung; die Aufhebung der Steuerfreyheit freilich allein
zum Vortheil des Fiscus gereichend, da die Maſſe der
Abgaben ſich darum nicht vermindert hat; mögliche
Ausgleichung der verſchiednen Landestheile im neuen
Grundſteuerweſen; die Bewilligung eines Landtags
für die ſieben Herrlichkeiten Oſtfrieslands, und Wie¬
derherſtellung der Magiſtrate in den Hauptſtädten die¬
ſes Landes; Abſchaffung der Folter und des Reini¬
gungseides; die Einführung der Geſchwornengerichte
wenigſtens in Anregung gebracht: das alles war, wenn
auch überall, wo in der Ausführung practiſche Ge¬
wandheit und Fertigkeit, im Entwurfe Ueberſicht und
Klarheit nöthig ſind, mangelhaft, doch immer zum
Anfang dankeswerth.
In Heſſen hatten frühe den Vortheilen, die die ge¬
wünſchte Rückkehr des Alten gewährt, die Nachtheile,
die eine unglückliche Liebhaberey zum Veralteten zur
Folge hat, ſich beygeſellt; Nachtheile, die eine unge¬
bührliche Leidenſchaft, Schätze anzuhäufen, nur noch mehr
verſtärkt. Darum kehrte mit dem alten lächerlich ge¬
wordnen Anſehen des Heeres, auch die alte verhaßte
Hungerleiderey zurück; darum zerſchlugen ſich alle mit
den Ständen angeknüpften Unterhandlungen, als es
darauf ankam, das Staatseigenthum von dem Privat¬
eigenthum des Fürſten auszuſcheiden, und ſich nun
ein Streit erhob, der alle gehäſſigen Erinnerungen
der früheren Zeit wieder in den Gemüthern aufge¬
weckt. Daher wurde eine Conſtitution um eine nam¬
hafte Summe käuflich ausgebothen, und als der Kauf
nicht zu Stande kam, die Erfüllung des 13. Art. mit
Stillſchweigen umgangen: eine Feilſcherey, freilich
nicht unerhört in älterer Zeit, aber, keineswegs zu dem
gehörend, was aus ihr herübergenommen werden ſoll.
Darum wurde der Streit mit den Domänenkäufern,
in Braunſchweig und Hannover geſchickter beygelegt,
hier, wo man mit ſtarrer Härte, Recht und Unrecht
durcheinander miſchte, und den eigenen Gerichtshö¬
fen für beſondere Rechtsfälle, in eigner Sache, neue
Geſetze machte, zu einem öffentlichen Scandal, das
die Ohnmacht der Verfaſſung im unzweydeutigſten
Licht gezeigt, und das gegebene Aergerniß kaum durch
ein allgemeines Bundesgeſetz für ähnliche Fälle in der
Zukunft wieder gut machen wird. Darum endlich blie¬
ben alle die ſchreyenden Mißbräuche im Juſtizweſen
und in andern Fächern unangetaſtet. Heſſen ganz ſtatio¬
när geworden, ſchied gleichſam aus der Gemeinſchaft
der übrigen Stammgenoſſen, und ſchien den Vorwurf
des Mangels an Theilnahme an den öffentlichen An¬
gelegenheiten, den man ihm vor allen Andern gemacht,
durch die That zu beſtättigen.
Dieſer Gang der nordteutſchen Angelegenheiten
konnte der Meinung wenig Beruhigung gewähren,
die nach ſtarken, volksmäßigen Inſtitutionen für die
Gegenwart und der Sicherung der Zukunft durch ei¬
nen regen, lebendigen, die ganze Nation umfaſſenden
Gemeingeiſt verlangt. Wohl thut Ruhe und ſtilles
Gemach vor allem Andern Noth dieſer Zeit, die ſich
in raſtloſem Treiben beynahe aufgerieben; aber es
darf nicht die Ruhe der Trägheit, ſondern allein jene
gehaltene, feſte Gelaſſenheit ſeyn, die nicht in leerer
Haſt ſich abmüdet, ſondern gemeſſen und ihrer ſelbſt
gewiß mit dem geringſten Kraftaufwand ihre Zwecke
zu errreichenerreichen weiß. Sie erkannte, daß Teutſchland
nicht damit gedient ſeyn könne, jenes träge, lahme
und taube Weſen zurückzuführen, wie es vor den Be¬
wegungen der letzten Zeit beſtanden, wo das öffentliche
Leben ohne Berg und Thal flach und öde wie eine
Haide hingezogen, auf der die verſchiednen bürger¬
lichen Geſellſchaften ihre Pfergen aufgeſchlagen.
Nicht darum ſind ſo furchtbare Stürme über Euro¬
pa hergezogen, daß ſchon, während ſie noch nachdon¬
nernd am fernen Geſichtskreis ſtehen, jenes Reich der
Mittelmäßigkeit, das ſie zerſprengt, ſich wieder zu¬
ſammenfinde, in dem jede Kraft ein Mißklang iſt,
jedes Talent eine gefährliche Gewalt, jede Idee als
eine Plage gilt, und jede Erhebung und Begeiſterung,
als eine gefährliche Narrheit behandelt wird. Jene
Verknöcherung, die alle edeln Lebenstheile in Erſtar¬
rung hielt, ſoll uns nicht noch einmal als Geſundheit
gelten; noch jene Gemeinheit, in der Staat, Stände
und Ordnungen ihrer eignen Idee bis auf die letzte
Erinnerung vergeſſen hatten, als Bildung zur Huma¬
nität und cosmopolitiſche Geſinnung.
Nicht kann ferner dieſe Philiſterey uns frommen,
die ohne Weltanſicht im Erkennen alles Höhere mi߬
verſteht; im Handeln aber ohne Würde dem Engſten,
Kleinlichſten ſich ergiebt, und nirgendwo das Ver¬
hältniß von Urſache und Wirkung durchſchauend, durch
das gewöhnlichſte ſich verwirren, und zu übereilten
Handlungen hinreißen läßt. Nicht mag fördern das
Werk der Zeit jene ſteife, ungelenke Pedanterie, die
in Allem nur nach ſtrenger Methode verfahren will,
und darum bey jeder Ueberraſchung, und in allen
wichtigen Dingen, wo die Regel verrätheriſch ihren
Sclaven im Stiche läßt, unverſonnen ſich nicht zu
helfen weiß. Jener Geiſt, der mit uns zu ringen
herabgefahren, wenn wir noch ferner im Kampfe
mit ihm wie lahme Invaliden uns gebehrden, wird,
ſtatt uns zu ſtärken für die kommende Zeit, uns nie¬
derwerfen mit Schande und Beſchämung, und dann
hohnlachend von dannen ziehen.
Nicht flache, abgegriffene und verſchliſſene Höflinge,
die die Unbedeutenheit treiben wie ein Studium, und
das Nichtige wie ein Geſchäft, kann fortan die Ge¬
ſchichte brauchen; nicht Miniſter die ſich nur ans Ende
der langen Bank der Schreibergeſellen niederlaſſen,
und von dort aus nur die Buchſtaben, aber nicht
Welt und Leben zu beherrſchen wiſſen; nicht Feldher¬
ren, die die Scheide höher halten, dann das Schwerd,
die Kuppel und ihre Trotteln aber für das Höchſte,
das auf Erden iſt; nicht Beamte und Kriegsleute,
denen alle Kraft in die Dreſſur aufgegangen: rüſtige,
gewandte, vielverſuchte Menſchen fordert ſie von uns,
die Geiſt und Leben ſich bewahrt, und die Anſprüche
der Zeit mit der Perſon bezahlen, und die Formen
achten nach ihrem Werth, aber ihnen nicht ſclaviſch
dienen; Männer die muthig des raſchen Roſſes Rücken
zu beſchreiten wiſſen, und ſeinen wilden Muth zu
lenken.
Wohl iſt es eine der Aufgaben der Zeit, jenes ru¬
hige, behagliche Wohlbefinden der Maſſe, als den
ſichern Grund des künftigen öffentlichen Lebens wie¬
derherzuſtellen; aber damit ſoll keineswegs jene laue
Gleichgültigkeit, jene theilnahmloſe Unbekümmerniß,
jene flache Trivialität der Geſinnungen, jene klägliche
Nüchternheit wiederkehren; und am wenigſten wollen
wir jene Flickſchuſterey der vorletzten Zeit ohne Idee
und Adel der Geſinnungen, ohne Kraft, Würde, blos
durch einen verdumpften Rechtsbegriff im beßten Fall
geleitet, uns zum Vorbild nehmen. Jene Cabinetts¬
willkühr, die in Italien zuerſt erſonnen, in Frank¬
reich aber vor den Andern praktiſch ausgeübt, von
da in jener Zeit nach Teutſchland herübergepflanzt
wurde, kann uns den gemeſſenen Willen, der frey
iſt, weil er dem Geſetz gehorcht, und ſtark, weil er
ſich in ſeinen Gränzen hält, keineswegs erſetzen. Jene
Finanzſchwindeleyen, die Europa zu Grunde gerichtet,
werden dadurch nicht gebeſſert und zu liberalen Inſti¬
tutionen umgewandelt, wenn man nicht durch Nach¬
laß, ſondern durch Mehranziehen Gleichheit in ſie
bringt; noch wird der Geiz, wenn er gleich dem Al¬
ter ſich anzuhängen pflegt, dadurch eine alterthüm¬
liche Idee und ein würdiges Regierungsprinzip. Nicht
ferner mag eine Ordnung der Dinge ſich behaupten,
wo Pflichten und Rechte nicht gleichmäßig in denſel¬
ben Inſtitutionen und Perſönlichkeiten ſich vereinigen,
und im Steigen und Fallen wechſelſeitig ſich bedin¬
gen, ſondern vielmehr geſondert an verſchiedene Trä¬
ger ſich vertheilen wollen; nicht länger mehr mag jene
perſönliche Dienſtbarkeit beſtehen, als die freye wohl¬
verſtändigte Einwilligung ſich ihr freywillig unterzieht.
Nicht darum hat die Zeit nach der Rückkehr des Alten
ſich geſehnt, daß man es ihr, da wo es der Willkühr
und dem Intereſſe Vortheil bringt, wie größentheils,
im Norden, mit Gewalt und in allen ſeinen Verderb¬
niſſen aufdringe, da aber wo es Beiden Eintrag thut,
wie z. B. in Würtemberg geſchehen, ihr vorenthält.
Der Zauber der böſen Beſprechung, die aus der Fremde
her gekommen, und alle Kraft Teutſchlands gebunden
hielt, iſt abgelaufen, und es will nicht ferner Theil
haben an dem Segen des Iſaſchar des Sohnes Ja¬
cob, daß es ſey wie ein Eſel unter Säcken.
Hatte der Norden die Nation auf ſolche Be¬
trachtungen geführt, dann mußte der Zuſtand des
Südens Andere und zwar von entgegengeſetzter Art
erwecken. Dieſer Theil des Reiches war eine gerau¬
me Zeit hindurch Teutſchfrankreich geweſen, indem
die Rheinlandſchaften noch in der früheren democrati¬
ſchen Zeit der Revolution mit Frankreich vereinigt
wurden, die jenſeitigen Herrſchaften aber ſpäter ihm
durch den rheiniſchen Bund als Vaſallen unterworfen,
an allen ſeinen Kriegen und Richtungen Theil genom¬
men. Während daher in jenen Strichen, vielfältig
die democratiſchen Ideen ſich unter dem dritten Stande
verbreiteten, und ein Geiſt freyer Unabhängigkeit ſich
da ausbildete, hatten hier die Höfe allein Theil ge¬
nommen, und die Revolution in ihrer damaligen Ge¬
ſtalt nach Teutſchland hinverpflanzt.
Dieſe Revolution war ein großes Gottesgericht, in
jenem Lande abgehalten, um erſt an ihm und dann
an der übrigen Welt vieljährige Schande und Uebel¬
that zu ſtrafen, und eine Blutſchuld, die mit den
Zinſen und dem Erwerbe jeder Generation vermehrt,
von Geſchlecht zu Geſchlechte furchtbar wachſend fort¬
gegangen, endlich auszulöſen; gerade wie die Refor¬
mation in gleicher Weiſe zu Recht geſeſſen, um den
Verfall der alten Zucht in und außer der Kirche, die
Erſtarrung des höheren geiſtigen Lebens, die Heuche¬
ley und Selbſtſucht und die Verſtockung und Verdum¬
mung in entleerten Formeln zu züchtigen.
Damals hatten die Höfe des Nordens, erſt ſelbſt ergrif¬
fen dann ergreifend, jener Volksbewegung ſich bald
zu bemeiſtern gewußt; und wie nun der Teufel, aus
der Bejahung vertrieben, höhniſch in die Verneinung
ſich geflüchtet, hatte, was mit einer Reinigung der
Kirche angefangen, mit einer ſchändlichen Plünde¬
rung im ganzen proteſtantiſchen Europa aufgehört,
und die große Idee des Kirchenſtaates, erſt innerlich
durch ſelbſtſüchtige Herrſchſucht ausgehöhlt, in üppi¬
ger Trägheit aufgelöſt, war nun im Aufſtande durch
die gleiche Selbſtſucht der Reaction zertrümmert wor¬
den, und des Pabſtes dreyfache Krone getheilt unter
die Fürſten als geiſtliche Souveräne, oder auch ander¬
wärts der geiſtlichen Ariſtocratie und ſelbſt der Ge¬
meinde zu Theil gefallen. Gerade ſo war es auch jetzt er¬
gangen, daß, indem die Höfe des Weſtens mit der
Revolution in ihrer Kehrſeite, dem unbeſchränkteſten
Despotism, in Bund getreten, die Plünderung der
andern Hälfte der Kirche, die noch der Reformation
entgangen, die Unterdrückung und Verſchlingung al¬
ler ſchwächern Reichsgenoſſen, die Aufhebung und
Vernichtung aller alten Rechte, Sitten und Erinne¬
rungen des Volkes, der Untergang der gemeinen Frey¬
heit, und die völlige Zertrümmerung der andern Idee
des
des Mittelalters im teutſchen Kaiſerreiche die Folge
dieſes Bundes.
In dem Uebermuthe und dem Drange einer ſolchen
Zeit hatte eine Claſſe von Staatsmännern ſich ausge¬
bildet, ganz anderer Art als ſo Manche, die im Nor¬
den aus der Periode vor jener großen Bewegung noch
übrig geblieben, oder auch ſeither allenfalls in ihren
Grundſätzen erwachſen ſind. Wie Dieſe, Sclaven des
Herkommens, das Beſtehende allein anerkennen, und
vor allem Werdenden eine tiefe Scheu in der Seele
tragen; ſo erkennen und achten Jene kein Seyn und
keine Vergangenheit, und haſſen alles Poſitive, das
ihrer unruhigen Thätigkeit hemmend entgegentritt.
Während die Einen nicht zu rühren wagen an das
Ueberlieferte, und mit den Leichen des in ſeinem Al¬
ter Erſtorbenen ſich bis zur Verweſung ſchleppend, als
Leibeigene dienen auf dem Hofgut, an das eine keckere
Vorzeit ſie gefeſtet; halten die Andern alles Gewe¬
ſene dem Tode heimgefallen, ſich aber für Herren der
Gegenwart, und zu Tyrannen der Zukunft ſich beru¬
fen. Kinder des Tages, der ſie geboren, verneinend
Alles, was vorhin geweſen, hoffen ſie doch, daß ihr
Wille bejahend ſeyn werde für das Kommende, dem
ſie ſelbſt wieder ein Vergangenes geworden, und das
Morgen mit dem gleichen Rechte ſie negirt, wie ſie
das Geſtern vernichteten. Schaltend nach freyeſter
Willkühr mit allem Vorhandnen, von dem Jene ſich
bemeiſtern laſſen, werfen ſie in unaufhörlicher Umkehr
die Dinge durcheinander; wie die Gedanken wechſeln
in des Menſchen Bruſt, ſo muß ihre Welt ſich mit
den Flüchtigen umgeſtalten; in geilem Bildungstrieb
4
muß bald dieſe bald jene Einſeitigkeit ſich zu einer
mißgeſchaffenen Geſtalt verkörpern, die ſie dann nach
Gutbefinden zerſchlagen, um andern Aftergeburten
Raum zu ſchaffen; raſtlos wie vom böſen Geiſt beſeſ¬
ſen, hetzen und jagen ſie Dinge und Menſchen durch¬
einander, daß nichts in Ruhe ſich bewurzeln mag.
Da keine Ahnung in ihnen zurückgeblieben von dem
ſtillen, leiſen gelaſſenen Gange, in dem die Natur
ihre Bildungen entfaltet, ſo iſt's der Mechanism,
dem ſich ihre Ungeduld verſchreibt, und der Staat
wird unter ihren Händen zu einer Dampfmaſchine,
in deren Säule ſie ſelbſt ein heißer Schwaden auf-
und niederziehen, und der nun mit ungeheurem Ge¬
polter die großen Hebel treibt, daß das Werk Geld
zugleich münzt und pumpt, hämmert, ſpinnt und
ſchreibt und ſeines Gleichen wieder ſchmiedet. In die¬
ſem Mechanism, dem alles gerade Linie und Zahl gewor¬
den, müſſen alle Linien zu einem Mittelpunkte, alle Zah¬
len zu einer Einheit gehen, damit die Willkühr von
der Mitte aus nach Gefallen rechnen und richten mag,
und kein menſchliches oder bürgerliches Verhältniß
eine ſtörende Selbſtſtändigkeit zu behaupten ſich ge¬
traue. Gewaltthätig wird alles der jedesmal herrſchen¬
den Idee aufgeopfert; nichts mag ſo feſt gegründet
ſtehen, daß der Wirbel ihrer Organiſationswuth es
zuletzt nicht niederreißt; alles Große, was die Wur¬
zeln tief in die Zeit geſchlagen, ruhig geſichert in ſich
beharren will, erſcheint ihnen ſtrafbar und rebelliſch;
und ſie biethen alle Elemente auf, es zu ſprengen und
im Grunde zu zerſtören, damit nichts als ihre per¬
ſpectiviſch gemahlten Rieſenwerke übrig bleiben. Da
von Treue, Liebe, Sitte, Angewöhnung, Pietät und
Allem, was des Menſchen Bruſt bewegt, nichts zu
ihrem Werk erfordert wird, indem ein klarer waſſer¬
heller Verſtand alles wohl beſchickt; dürfen ſie ſcho¬
nungslos durch alle menſchlichen Verhältniſſe fahren,
und auf ihrem Schachbrett Bauern, Läufer, Thürme,
Ritter ziehen nach Gutbefinden von einem Ende zu
dem Andern. Ihre Verfaſſungen ſind nicht geſellige
Vereine, von ſelbſtſtändigen Menſchen zu wechſelſeiti¬
ger Bindung und Befreyung eingegangen; es ſind Bü¬
cher, deren Blätter einſt gegrünt, dann zu Lumpen zer¬
rieben, zerſtampft und zu Papier gegoſſen, mit ihren or¬
dinairen Gedanken beſchrieben, dann beziffert und ein¬
gebunden mit goldnem Schnitt, wenn vergriffen, je¬
desmal in neuer Auflage wieder erſtehen. So iſt all
ihr Thun ohne Segen, weil ſie es allein auf den Dün¬
kel aufgebaut; jeder folgende Tag verzehrt, was der
Vorhergehende gebaut; in eitler Sorge müſſen ſie ſtets
wie Saturn ihre eignen Kinder freſſen, bis ihnen
endlich die Mutter zürnend den Stein hinreicht, und
den Rächer dann erzieht. Durchgängig Männer von
Kraft, Wille, Geiſt und Talent, hätten ſie das Salz
ihres Vaterlandes werden können; aber weil die Hof¬
fart ſie bemeiſtert, ſind ſie ihm ein freſſendes Gift
geworden; und indem ihre wilden feurigen Geiſter in
die eine Hälfte Teutſchlands hineingefahren, jene trä¬
gen, gnomiſchen aber der andern Hälfte ſich bemei¬
ſtert, mußten wir das Vaterland in jenem jämmer¬
lichen Zuſtand erblicken, wo es auf einer Seite, wie
vom Schlagfluſſe gelähmt, auf der andern im Veits
Tanz ſich bewegt, und während die eine Hälfte aſtheniſch
4 *
in dumpfen, leeren Träumen brütet, die andere hy¬
perſtheniſch in phantaſtiſchen, ausſchweifenden Deli¬
rien ſich abgemüdet:
Wie es zu den Zeiten des rheiniſchen Bundes
in den Bundesſtaaten gehalten worden, iſt noch im
friſchen Angedenken, und es iſt zugleich unnütz und
gehäſſig, die Erinnerung an dieſe widerwärtigen Er¬
eigniſſe wieder aufzuwecken. Als das Reich Napoleons
zum Sturz gekommen, und die Meinung gegen jene
Höfe ſich mit Heftigkeit erhob; da bildete ſich an ih¬
nen eine Reaction, die aus dem Conflicte ſehr ver¬
ſchiedenartiger Motive ſich entwickelte. Die ſüße Ge¬
wohnheit der bisher geübten Willkühr kam mit den
neuen Anſprüchen der Zeit in harten Widerſpruch; wäh¬
rend die Gutwilligkeit, die am Teutſchen ſich ſchwer
verläugnet, wohl fühlend den Stachel des Gewiſſens,
mit dem gekränkten Stolze kämpfte, der ſeine Conſe¬
quenz gegen die neu einbrechende Ordnung der Dinge
zu vertheidigen ſich beſtrebte, und mit Erbitterung
die ungeſtüme Mahnung alter Schuld abwies, bey
der man, vielleicht weniger als billig war, auf die
Macht der Umſtände, in die ſie verwickelt waren,
Rückſicht nahm.
In dieſem Gedränge bothen jene Staatsmänner der
zweyten Claſſe, die früher die Umkehr nach Napoleo¬
niſchen Grundſätzen geleitet hatten, eine bequeme Aus¬
kunft an, indem ſie, gleich dem Meiſter nach der
Rückkehr, ſich mit dem nöthigen Vorbehalt auf die
liberale Seite warfen. Indem man der Zeit einige
wirkliche unabweisliche Einräumungen geſtattete, war
jenem guten Willen genug gethan, das Gewiſſen zur
Ruh geredet, und der dringendſte Ungeſtüm mit ei¬
ner abſchläglichen Zahlung abgewieſen; für die ſpä¬
ter einlaufenden Forderungen, die von Gerichtswe¬
gen, wie die franzöſiſche Schuld, ſchon gemäßigt wa¬
ren, wurde von jenen Papieren und Phraſen, die
nie nach dem Nennwerth gelten, ein reichlicher Vor
rath eingelegt, und ein wohlbeſtelltes Lager jener
Quincailleriewaaren etablirt, die uns die Revolution
gebracht, und mit denen der Zeitgeiſt, wie jener Vogel
mit der Silberkugel, ſpielend ſich vergnügt: Ver¬
günſtigungen, die nichts koſten, aber jedesmal zählen
bey der Parade; Freyheiten, die ſich entweder von
ſelbſt verſtehen, oder bey der Willkühr als ihrem Brod¬
herrn Hofedienſt zu leiſten ſich entſchließen; Bewilligun¬
gen durch Ausnahmegeſetze weislich gezügelt; hohle For¬
meln und gleiſſende brillantirte Lügen, in die die Eitelkeit
ſich gern putzen mag, und wie die Behelfe heißen mö¬
gen, mit denen die Klugheit der Welt ſich durchſchla¬
gen zu müſſen glaubt. Als die kleine Waare Liebha¬
ber gefunden, ließ ſich ſpäter wohl die Hoffnung faſ¬
ſen, auch die früheren Einräumungen wieder abzu¬
kaufen; die Conſequenz war vollkommen gerettet; und
die Willkühr, die jetzt die Appretur gewonnen, wie
ſie die Mode der Zeit verlangt, war wieder ein gang¬
barer Meß-Artikel.
So hatte das Herzogthum Naſſau ſchon vor dem
Congreſſe eine Verfaſſung erlangt, an der man theo¬
retiſch nichts ſonderliches auszuſetzen gefunden, die
aber praktiſch ſeither zu wenig Erklecklichem geführt. Unter
dem Vorwande, die ſtets wechſelnden Territorialver¬
hältniſſe des Landes erlaubten die Zuſammenberufung
einer Stände-Verſammlung nicht, blieb ſie drey Jahre
unausgeführt, die man benutzte, den Apparat zu fer¬
tigen, um mögliche furchtbare Leidenſchaften und de¬
magogiſche Umtriebe, die ſich in ihr entwickeln konn¬
ten, zum voraus zu dämpfen und niederzuhalten.
Darum ließ man, angebend die Stände ſollten con¬
ſtituirt keineswegs aber conſtituirend ſeyn, ſie
auch an der Bildung der Inſtitutionen, die eine
gänzliche Umſchaffung aller innern Verhältniſſe her¬
beygeführt, keinen Antheil nehmen; und man poſtu¬
lirte ihre Einſtimmung bey den wichtigſten Edicten
über Gegenſtände, zu denen ihr Beyrath um ſo noth¬
wendiger ſich erwies, je mehr der Theile und Inte¬
reſſen waren, aus denen das Ganze erwachſen mußte.
Um der ſchreckbaren Macht und dem ſtürmiſchen
Charakter von zwanzig gewählten Volksvertretern zu
begegnen, hatte man die Regierung nach allen Re¬
geln der höheren Befeſtigungskunſt zu verſchanzen un¬
ternommen. Eine mächtige, ausgezeichnete, wohlbe¬
zahlte, uniformirte, gleich dem Adel einem gefreyten
Gerichtsſtand untergebne, mit ihren Söhnen von der
Militärpflichtigkeit freygeſprochene, oben um den Für¬
ſten her zum Theil in Banden der Verwandſchaft
enggeſchloſſene Beamtenwelt, hangend an einem Winke
des Gebiethers, und in ihren Gliedern durch einen Feder¬
ſtrich von einem Ende des Landes zum Andern hin ver¬
ſetzt, durch die Schultheißen das Geringfügigſte im In¬
nern der Gemeinden von der Mitte aus, nach allen Regeln
der modernen Papierbewirthſchaftung, lenkend und be¬
ſchickkend, bildete wie allerwärts, das Hauptwerk. Eine
ſchwache Stelle, die ehmals in der Unabhängigkeit der
Geiſtlichkeit beſtanden, hatte man glücklich dadurch
gedeckt, daß man bey der Confeſſions-Vereinigung,
durch das Teſtament der Superintendenten auf den
Letztlebenden, auch ſie centrirt, und dann durch Ver¬
pachtung der Pfarrgüter, Beſoldung der Geiſtlichen
und Creirung einer Centralcaſſe zu Staatsdienern und
Kirchenbeamten im Solde der Regierung umgeſchaf¬
fen. Aerzte und Advocaten, beides ſonſt allerwärts
unabhängige Stände, die bekanntlich in der franzöſi¬
ſchen Revolution eine furchtbare Rolle geſpielt, wur¬
den hier ſehr geſchickt völlig unſchädlich gemacht;
indem man jene durch Beſoldungen, zum Theil aus
den Gemeindecaſſen, bey tief herabgeſetzten Deſerviten
gleichfalls in Staatsbeamte verwandelte, dieſe aber
von den Amtsgerichten trieb. Die Handwerksinnungen,
ſchmähliche Reſte der Feudalknechtſchaft, Staaten im
Staate, und darum Feuerheerde möglicher Rebellio¬
nen, wurden ſpäter wie billig ebenfalls geſprengt. Der
Adel war noch übrig, und da Manche aus ſeiner Mitte,
durch Begünſtigungen nicht zu gewinnen, eine ver¬
drüßliche Selbſtſtändigkeit behaupteten, ſo ſäete man
mit erlaubtem Kunſtgriff eine heilſame Zwietracht zwi¬
ſchen ihm und dem dritten Stande aus, indem man
rechts und links theilte und unterſchied, zwiſchen Ultra's,
die Alles ohne das Volk thun wollten, und Jacobi¬
nern, die Alles durch das Volk, zu ertrotzen ſich
vorgeſetzt, und nun jene den Privilegirten, dieſe aber
jedem allenfallſigen Widerſtande in der zweyten Kam¬
mer entgegenhielt. So konnte, als nun, nach ſchicklich
durch die Commiſſäre geleiteter Wahl, endlich die ge¬
fürchtete Democratie zuſammenkam, der Miniſterial¬
Despotism geruhig in der Mitte, angeblich mit dem
Volke, gehen, und er ließ den Fürſten, damit dieſe
imponirende Stellung durch die Eintracht der Stände,
die ihm vereinigt die Dankadreſſe überbrachten, nicht
verſchoben würde, gewiſſermaaßen gegen dieſe Einig¬
keit, als ſey ſie etwas Conſtitutionswidriges, prote¬
ſtiren.
Als dies vollbracht, trat der Commiſſär der Regierung,
Ibell, ausgerüſtet mit der ganzen Kraft und Einſicht,
die ihm ſeine Stellung gab; in der ganzen Ueberlegen¬
heit, die ein gewandter Geſchäftsverſtand und ein
herriſcher Wille gewähren mag, in die Mitte von
Wenigen, mit den Geſchäften größentheils unbekann¬
ten, von allen Seiten umgarnten und eingeſchüchterten,
zum Theil abhängigen Deputirten, und entrollte ihnen
das Verzeichniß ſeiner ſeitherigen glänzenden That¬
handlungen, Beſchlüſſe und Schöpfungen, die ſie
durch ihren Beytritt und ihre Gutheißung zu ſanc¬
tioniren und zu beſiegeln hätten. Wie wollte der kleine
Funken des democratiſchen Princips ſich dieſem bren¬
nenden Buſch vergleichen? Als die Stände, erſchrocken
über eine ſo mächtige Curatel, für ſich zum Führer und
Leiter einen Syndicus verlangten, wurde ihnen dies als
alberne Thorheit, ja beynahe als Hochverrath ausgelegt.
Als einige Gegenden des Landes von dem Petitionsrecht
an die Stände, das ihnen die Verfaſſung eingeräumt,
Gebrauch machten, und ihnen die wirklichen und wah¬
ren Gebrechen des Landes ans Herz legten, war der
verkündigte demagogiſche Gegenſatz glücklich ausgefun¬
den, und es hob ſich ein furchtbares Geſchrey gegen
ein ſo unglaubliches Attentat, und zugleich eine ge¬
waltthätige Verfolgung gegen die Urheber dieſes Schrit¬
tes, die damit endigte, einen tüchtigen und wackern
Beamten von ſeiner Stelle zu vertreiben, und ihn
zuletzt aus dem Vaterlande zu nöthigen.
So waren den Ständen alle Wege verrannt, der
allein offne der Regierung ausgenommen. Man hatte
den Grundſatz aufgeſtellt, alle die reichen angefallenen
Domänen der verſchiedenen Landestheile, die ſich im
Herzogthum vereinigt hatten, ſeyen jetzt ein unbeſtrit¬
tenes Hauseigenthum der ehemaligen Grafen und Für¬
ſten von Naſſau geworden, als ſie den Herzoghut ge¬
nommen; dadurch war der Hof von den Bewilligung¬
gen der Stände gänzlich unabhängig gemacht, und da
die Bedürfniſſe des Staates von ſelbſt in die gewie¬
ſenen Wege drängen, auch von dieſer Seite Alles zum
voraus abgethan. Das Steuerweſen war früher nach
lobenswürdigen Grundſätzen einer gleichmäßigen Bey¬
ziehung des Grundbeſitzes und der Gewerbthätigkeit
geordnet worden; ein bedeutender Theil der Verwal¬
tungskoſten war den Gemeindekaſſen aufgelegt neben
den Gehalten und Gebühren der Ortsvorſtände und
Einnehmer; noch ganz oder größentheils Aerzte, Wund¬
ärzte, Hebammen, Forſtbeamten, inſofern ſie ihre
Waldungen inſpiziren, Schullehrer, Wald- und Feld¬
ſchützen, Kirchendiener und Nachtwächter: ſo blieb
fürs Budget nichts, als die Unkoſten, die der höhere
Regierungsmechanism fordert, und für die Stände
kam etwas anderes, als eine Reviſion der vorgeleg¬
ten Einnahmen und Ausgabetabellen nach Art einer
Oberrechenkammer. Sie ſetzten darum den Artikel der
Hofbauten um ſo viel herunter, als man ihn heraufgeſetzt:
ſtrichen ſonſt noch da und dort Einiges Wenige; über¬
nähmen die Auslöſung der auf den Domänen haften¬
den Feudalabgaben, die man früher in liberaler An¬
wandlung unentgeltlich aufzugeben die Miene angenom¬
men, auf die Steuercaſſe; befreyten zuletzt auch die
Domänenforſte von den darauf haftenden Nutznie¬
ßungen der Gemeinden, und lösten dann ſich auf, um
das Lob ruhiger, verſtändiger, wohlgeſinnter Stände
mit nach Hauſe zu nehmen, dort aber dem lauten Ta¬
del des Volkes zu begegnen.
Der verhaltne, durch dieſen Tadel gereizte Unmuth,
mußte nach der Natur der Dinge in nächſter Ver¬
ſammlung in irgend einer Weiſe zum Ausbruch kom¬
men; und da dies unter den obwaltenden Umſtänden
nicht wohl in gemeſſener Art, und in einer kräftigen,
ſichern, feſten Oppoſition geſchehen mochte, ſo wußte
er ſich nur in jener derben Exploſion Luft zu machen,
die da eintrat, als jene Begünſtigungen der Domänen,
die ſo manche Gemeinde hart bedrängt, eine Armen¬
ſteuer herbeygeführt; und die dem Uebermuth, gegen
den ſie gerichtet war, wohl eine Lehre ſeyn konnte,
daß die menſchliche Geduld ſich nur bis zu einem
gewißen Grade mißbrauchen läßt, und dann uner¬
wartet losſchlagend ſich rächt an dem, der das ver¬
wegne Spiel geſpielt. Da inzwiſchen ſolche Ausbrüche
ihrer Natur nach vorübergehen, jede wohlberechnete
Willkühr aber ſtetig wirkt; ſo mußte ſie bald jener
Bewegung Meiſter werden, und der ganze planloſe
Widerſtand endete zuletzt mit einer zweyten Gewalt¬
thätigkeit, an einem andern Beamten ausgeübt, und
das Geheimniß war ausgefunden, eine an ſich nicht
ſchlechte Verfaſſung vollkommen durch ſich ſelber zu
vernichten.
So war alſo hier ein eigentlicher Muſterſtaat mo¬
derner Verfaſſungskunſt feſtgeſtellt, die alle Menſchen
gleich macht in gemeiner Dienſtbarkeit, und die Frey¬
heit als leere Gaukeley zum Spotte, und das Werk
war nach dem Vorbilde Frankreichs ein Microcosm des
Napoleoniſchen Macrocosm ausgeführt, und ſiehe da!
der Meiſter ſah, daß es gut war. Staatsrath,
Kammern, Budget, zwey Partheyen Ultras und
Jacobiner an den Triumphwagen geſpannt, von deſ¬
ſen hohem Sitze der Wagenführer mit eiſernem Arm
das Doppelgeſpann zum Ziele lenkt; vorauf Frey¬
heitslieder aufgeſpielt, und Fanfaren mit Trompeten¬
geſchmetter, ein offizieller Moniteur, der bald den
Thyrſus liberaler Ideen ſchwingend Evoce Bache! ruft,
bald die Lockpfeife bläst, mit der man liberale Gim¬
pel fängt; bald als Conſtabel das verblüffte Volk mit
dem Grabe im Spaliere richtet; jeden Widerſpruch
mit Hohn niedertritt; da und dort eine ſcheltende
Lippe mit dem ſüßen Honig allgemeiner freymüthiger
Redensarten beſalbt, daß ſie ſich, wahrnehmend den
lieblichen Schmack, betroffen ſchließt; dann wieder
den beſcheidenſten Zweifel hart anläßt; im Gefolge
hintennach Eitelkeit und ſeichte Selbſtgefälligkeit, Or¬
ganiſations- und Neuerungsſucht, Centraliſiren und
Paralyſiren, Schein und Papierthätigkeit, Fiscalität,
Unlauterkeit und Pfiffigkeit; endlich gar zu allen gro¬
ßen Dingen, Hunt und den Spafieldsrednern in der
Grafſchaft Katzenellenbogen, noch die Seligkeit einer
Conſpiration, und der Ausforſchung einer weitumgrei¬
ſenden Verſchwörung. Furchtbare Thorheit dieſer Zeit!
die falſch und unwahr bis ins Mark ihrer Gebeine
hinein, nachdem ſie lange die Welt betrogen, endlich
dahin gelangt, daß ſie die eigne Lüge glaubt; und
nachdem ſie alle Natur von ſich gethan, in verwege¬
ner Schwindeley ihre Hiſtrionenkünſte an Allem übt,
und Geſellſchaft, Staat, Kirche, das Ehrwürdigſte
was die Erde hegt, zur Farce macht.
Was im Herzogthum Naſſau in jener Weiſe
glücklich zur Ausführung gelangt, hatte der Miniſter
Montgelas früher auch ſchon in Bayern verſucht, und
deswegen die Conſtitution von 1808 gegeben, und die
Spätere zur Zeit des Congreſſes proclamirt. Umſtände,
deren Zuſammenhang noch nicht am Tage liegt, hat¬
ten dieſen Mann, von dem im Guten und Böſen
Alles gilt, was die vorhergehenden Blätter der gan¬
zen Gattung nachgerühmt, eben als er nach der Würde
des Staatskanzlers griff, zur großen Beſtürzung aller
Gleichgeſinnten, plötzlich aus ſeiner Laufbahn wegge¬
ſchoben, und ein Miniſterium an ſeine Stelle geſetzt,
das zwar nicht wenig eiferſüchtig auf ſeine Macht,
doch weder den Einfluß, die Argliſt noch die Gewalt¬
thätigkeit beſaß, ſie in einem ſo conſequenten Syſteme
zu befeſtigen. Der König gab eine Charte, an der
man freylich eine übergroße Aengſtlichkeit bemerkt, die
Vorrechte der Krone zu bewahren; die aber doch die Ge¬
meinen gegen ſie in eine Stellung ſetzte, von der aus
nach und nach durch ihre Einwirkung fehlerhafte
Inſtitutionen abgeſchafft, und beſſere an die Stelle
gebracht werden mögen, die alsdann rückwirkend auf
die Verfaſſung, wieder beſſern können, was an ihr
unvollkommen iſt.
Darum war der Landtag, der hier abgehalten wurde,
etwas mehr als eine jener blauen Dunſterſcheinungen,
die Zeit zu äffen heraufgeſtiegen; zwar lief auch hier
mancherley Arg mitunter, aber da es nicht in der
Mitte alles überwiegend ſaß, war nicht ſonderlich viel
dagegen einzuwenden, da die Schlechtigkeit mit der
Dummheit gleiches Recht hat repräſentirt zu werden.
Darum entwickelte ſich in der zweyten Kammer, nach¬
dem die erſte Lehrzeit nur vorüber, mitten aus man¬
cherley ſchwerfälliger Unbehülflichkeit, Philiſterey und
Ungewohnheit des conſtitutionellen Lebens, ein wack¬
rer Hausverſtand, und eine billige, gemäßigte, ehren¬
werthe, in allen Dingen dem Guten leicht zugäng¬
liche Geſinnung. Viel des geheimen Gepreſte, das die
heutigen Staaten drückt, kam dabey zur Sprache;
mancher tiefe Blick in die ſcheußliche Vergangenheit,
konnte, ſo ſehr man ſie zu verhüllen ſich bemüht,
nicht verhindert werden; manches Gute das die Re¬
gierung willig aufgenommen, wurde vorbereitet, zu
manchen beſſern Einrichtungen die Wege angebahnt;
großen Mißbräuchen wurde für die Zukunft ein Ziel
geſetzt, und das Unweſen der Zeit zu ſeinem Wende¬
punkt geführt.
Als die Kammer aber, nachdem ſie in Friede und
Einigkeit bey ihrer Unterſuchung der Gebrechen des
gemeinen Weſens, die Extremitäten durchſondirt, all¬
mählig auch zu den innern Lebenstheilen hingelangt,
und nun an die eigentlichen und großen Schäden
rührte, an denen die Staaten dieſer Zeit ſiechen und
vergehen: das alle Verhältniſſe überſchreitende Ueber¬
maß in der doppelten Soldatesca des Kriegs- und
Friedensheeres; den durch eine ſo zahlreiche und glän¬
zende Dienerſchaft zerrütteten Staatshaushalt; die da¬
durch herbeygeführten Finanzſchwindeleyen, die nach
Erſchöpfung aller möglichen Steuerformen endlich da¬
hin gediehen, daß die Regierung Bank hält, am Pha¬
raotiſche gegen ihre Untergebnen; dann jene Cabinets-
und Miniſterialwillkühr, die ſich bis in die Juſtiz
erſtreckt; da war die Geduld der allzu indiskret in
Anſpruch genommenen Liberalität erſchöpft; und es regte
ſich von neuem die ganze Hefe ſchlechter Leidenſchaften,
die von da aus Teutſchland ſo oft ſchon geärgert haben.
Der Augenblick war nun gekommen, wo die erſte Kam¬
mer ſich berufen hielt, ein Damm zu ſeyn gegen die all¬
zu hoch anſteigenden Wogen der Gemeinen; der Reichs¬
rath verwarf dieſe Anmuthungen, die allzu praktiſch
waren; die Steuerbewilligung ſollte großmüthig nach
der Verfaſſung an keine Bedingung eines radical ver¬
beſſerten Zuſtandes ſich knüpfen wollen; und nachdem
man früher den Scandal mit den Adreſſen der be¬
waffneten Macht angerichtet, deren Zulaſſung zum
Conſtitutionseid man abgewieſen, weil ſie keine Deli¬
berirende, vielmehr eine rein abhängige Körperſchaft
ſeyen, und die man hier doch über conſtitutionelle Ge¬
genſtände deliberiren ließ, verwickelte man ſelbſt zuletzt
die Perſon des Regenten auf eine ſeiner Würde wenig
zuſagende Weiſe in den Streit, der als erſter Anfang
eines beginnenden Kampfes, deſſen Beendigung der
Zeit nach ungewiß, dem Ausgange nach aber es mit
nichten iſt, immer merkwürdig bleibt.
Auch in Baden haben ähnliche Veranlaſſungen, auch
zu ähnlichem Ausgang ſich entwickelt. In dieſem Lande
war ſeit Jahren einer der Hauptheerde jener Umkeh¬
ren geweſen, wie ſie die Zeit herbeygeführt; mehr
Conſtitutionen als Frankreich hervorgebracht, waren
einander dort gefolgt, worunter Eine, um auch in
teutſcher Narrheit etwas Originales hinzuzuthun, in
objectiver und ſubjectiver Hinſicht, wie es auf dem
Titel hieß; und Miniſter hatten ſich ſchneller als die
Conſuln im alten Rom gedrängt. Der Hof gab zuletzt
gleichfalls zur Erfüllung des dreyzehnten Artikels eine
Charte, die in der damaligen politiſchen Verlegenheit
die Meinung vor allen Andern durch ihre Liberalität
gewinnen ſollte, und wirklich eines ſehr allgemeinen
Beyfalls ſich erfreute.
Auch in der Verſammlung, die ſich hier vereinigte,
offenbarte ſich bald ein raſcher, reger, lebendiger, ge¬
wandter Geiſt, wie er dem Volksſtamm dieſer Gegend
vor Vielen eigen iſt; dazu wahrhaftes Talent und ſo
viel zu ſehen iſt, viel praktiſche Tüchtigkeit, und auch
in dieſen Verhandlungen kam gar Manches, zur Sprache,
das, wenn es auch, z. B. bey den kirchlichen Angele¬
genheiten und denen des Adels bisweilen mit einiger
Einſeitigkeit behandelt wurde, dieſe doch durch die
Maſſe des entgegenſetzten Unverſtandes, der aller¬
wärts ſich regt, gar wohl entſchuldigen konnte.
Doch als auch hier die Geſchäfte bis zum critiſchen
Punkte vorgerückt; als die zeitgemäße Frage über den
billigen Antheil der Stände bey den Bundestagsbeſchlüſ¬
ſen zur Erörterung kam; als bey den Verhandlungen
über das Defizit ſeiner Deckung allzu reichliche
Sproſſen der Civilliſte wie billig beſchnitten wurden;
als wieder der miles perpetuus eine freylich allzu geringe
Schmälerung ſeiner Dotation ſich gefallen laſſen ſollte:
da ſchien der Hof mit Entſetzen dem frevelhaften Werke
zuzuſehen, und überraſcht von dem wachſenden Ernſt
des leicht begonnenen Unternehmens, und wenig vor¬
bereitet den ſtrengen Anſprüchen einer bis zum inner¬
ſten Grunde aufgeregten Zeit zu genügen, beſchloß
er mit haſtigem Eingriff den Verhandlungen ein Ziel
zu ſetzen. Auch hier konnte der Fürſt der gereizten
Empfindlichkeit nicht Meiſter werden; er vertagte die
Verſammlung mit unziemlicher Eile in Mitte der
Verhandlungen über das Finanzbüdget; die Stände
wurden mit Verletzung des gemeinſten Anſtandes nicht
entlaſſen, ſondern fortgejagt; nach der Heimkehr förm¬
lich unter Quarantaine geſetzt, und die Verfaſſung,
obgleich formal unverſehrt, war doch gleich beym er¬
ſten Verſuche material verletzt, da man die Stände
in Ausübung ihrer Rechte gehindert hatte. Es hatte
ſich neuerdings ausgewieſen, was eine Conſtitu¬
tion werth iſt, die ohne hiſtoriſche Unterlage, unbe¬
feſtigt durch freye Inſtitutionen und ſtarke in ſich
wohl begründete Corporationen, blos auf dem wan¬
delbaren Willen ruht, und durch eine Cabinettsordre
gegeben wird und wieder zurückgenommen.
Einen beſſern Widerhalt hatte in Würtemberg die
geheime, geehrte Macht des alten Rechtsbeſtands, ſol¬
chen Einbrüchen willkührlicher Laune entgegengeſetzt.
Der König gereizt durch den unvermutheten Wider¬
ſtand, den er bey der Ausführung wohlgemeinter Ab¬
ſichten gefunden, hatte reagirend mit Malchus jener
Schule
Schule gleichfalls ſich in die Arme geworfen; aber mit
dem augenblicklichen Triumph war es hier nur auf
eine gänzliche Niederlage abgeſehen. Um ſo ſeichtes
Beginnen zu ſtrafen, griff die Nemeſis nicht nach Dolch
und Gift; ein kleiner Rechnungsfehler, der wie die
Schlange unter Blumen, ſo unter Ziffern ſich verſteckt,
war hinreichend ſo großem Unterfangen ſo ſchmähliches
Ende zu bereiten. Darum, obgleich nach Auflöſung
der Ständeverſammlung, auch in dieſem Lande neben
manchen guten Tönen, auch vielfach unlauteres Ge¬
ſchrey ſich kund gegeben; obgleich man auch dort alle
Verführungskünſte der Zeit geübt, und in alle Weiſe
das Volk zu verwirren ſich bemüht, blieb zuletzt das
ſchlichte Recht doch ſiegreich: der König, mit rühmlicher
Selbſtverläugnung und alles Preiſes würdigem Ver¬
trauen, berief eine neue conſtituirende Verſammlung;
und Würtemberg genießt zum Lohne, daß es an ſein
altes Recht gehalten, und ſich leichtſinnigen Theorien
nicht hingegeben, den Vorzug vor allen andern teut¬
ſchen Stämmen, daß es ſeine Verfaſſung auf conſti¬
tutionellem Wege ſich in gütlicher Uebereinkunft mit
der Regierung ſelbſt bereitet, und nun auf einem
wahrhaft unerſchütterlichen Grunde ſie befeſtigt.
Wenn ſo harmoniſch zuſammenwirkende, verſönliche,
dabey aber doch dem Rechte nichts vergebende Geſin¬
nung ſeit Jahren der gereitzten Meinung die erſte be¬
ruhigende, erquickliche Erſcheinung gewährt; ſo muß
dagegen die dumpfe Gährung, die Rheinheſſen ſeit
geraumer Zeit bewegt, ſie wieder um ſo mehr ver¬
wunden. Ein wirklich wohlwollender, gutgeſinnter
Fürſt, deſſen Gemüth kein Arg in ſich hegt, der aber
5
verwirrt durch die Zeit, die er ſchwer begreift, zu
manchem Mißgriffe ſich hinreiſſen läßt, die alsdann
eine ungemeine Bonhommie oft auf eine rührende
Weiſe, wieder gut zu machen ſucht; dabey übermäßige
Ausgaben für maucherleymancherley Liebhabereyen, jedoch wieder
vielleicht weniger um ſeinetwillen, als derjenigen we¬
gen, die darauf angewieſen ſind, ungern zu beſchrän¬
ken ſich entſchließt; ein Miniſterium das in ſich getheilt,
ohne Compaß, ohne Kenntniß der Geſtirne mit allen
Winden ſegelt, ohne zu wiſſen wo es den Lauf hin¬
richtet; ein reges, vielfach gedrücktes Volk, das ſeine
Rechte erkannt, und mit Eifer, rühmlichem Zuſam¬
menhalten, und lobenswürdiger Theilnahme am Oef¬
fentlichen ſie verfolgt, und ſich durch kein Wider¬
ſtreben irre machen läßt, in Betreibung ſeiner wohl¬
begründeten Rechte, Anſprüche und Forderungen: das
ſind die Elemente dieſes Streites; der zwar jetzt be¬
denklich ſcheint, aber doch bey ſo viel Wohlwollen auf
der einen und Feſtigkeit auf der andern Seite, ſicher
zu gutem Ende führt.
Damit aber endlich der Gegenſatz von Nord- und
Südteutſchland, der ſich im Allgemeinen feſtgeſtellt,
im Einzelnen wieder vernichtet werde, müſſen die neu¬
reformirten Verfaſſungen Tirols und jene Gallizieus,
ſo wie die des Ländchens Vaduz, an der Teutſchland
eine Zeitlang ſich ergötzt, den lahmen furchtſamen
Charakter jener nordiſchen Geſtaltungen in den Süden
hin verpflanzen ; während dagegen im Norden eine ge¬
ſcheidte, thätige aber ſehr eigenwillige Fürſtin ihre ge¬
bieteriſche, zweydeutige Liberalität alten Rechten eben
ſo tyranniſch entgegenſetzt, wie es wohl irgend wo
im rheiniſchen Bunde je der Fall geweſen.
Indem auf dieſe Weiſe im jenſeitigen Teutſch¬
land die politiſche Reformation ſich nach und nach
auf einer Stufe befeſtigt hat, die man jener verglei¬
chen kann, auf die im Kirchlichen die Episcopalkirche
in England ſich geſtellt; haben die dieſſeitigen diſſen¬
tirenden Rheinprovinzen vielmehr eine Art von politi¬
ſchen Calvinism bey ſich ausgebildet, in der Art wie
früher ſchon die Schweiz mit dem Beyſpiele vorange¬
gangen, dem dann die ſchwäbiſchen und rheiniſchen
Städte, aber ohne Erfolg nachzugehen verſucht, und
wie es ſpäter die holländiſchen Provinzen, zuletzt auch
Belgien ausgeführt. In dem herben, ſtrengen, phan¬
taſieloſen Geiſte, wie er der dort allgemein verbrei¬
teten politiſchen Schule eigen iſt, haben die Deputir¬
ten des Rheinkreiſes in der bayriſchen allgemeinen
Ständeverſammlung geſtimmt; in allgemeinen Dingen
oft von fixen Ideen und vorgefaßten Meinungen hin¬
geriſſen, in Allem aber was die praktiſchen Intereſſen ihrer
Provinz betraf, immer wacker und tüchtig ſich beweiſend;
dieſer Geiſt hat im diesſeitigen Rheinheſſen in den
meiſten öffentlichen Stimmen ſich laut gethan; in ihm
hat in den kleineren Landesſtrichen die heftige Oppoſi¬
tion gegen die entlegenen Regierungen ſich ausgebil¬
det; und er mußte vor Allem in dem preußiſchen An¬
theil, in dem die meiſten Rheinländer in Maſſe ver¬
bunden ſind, am entſchiedenſten ſich offenbaren.
Indem dieſe Länderſtriche mit Preußen vereinigt
wurden, hatte man gleichſam die äußerſten Extreme
Teutſchlands, nach allen Richtungen hin, gewaltſam
ſich entgegengebogen, und dann über den Bund den
diplomatiſchen Seegen ausgeſprochen, den der Him¬
mel aber gutzuheißen, ſich bis zu dieſer Stunde ge¬
weigert hat. Einerſeits ein Staat, den allein die Idee
des Königs zuſammenhält, der mit Cabinettsordern
und Miniſterialordonnanzen ohne eine geſetzlich be¬
ſtimmte Verfaſſung in milder Willkühr herrſcht; eine
Beamtenwelt, die nach unbeſtimmten Inſtructionen,
aufs Geheime gerichtet, mit weitſchweifiger Förmlich¬
keit verwaltet, und eine gleich umſichtige, geheime
und rechtliche Juſtiz; durch alles gehend ein, wenn
auch gemilderter, doch immer noch ſtrenger militäri¬
ſcher Geiſt, der zum Theil bewußtlos das Leben in
die Formen der Subordination zu drängen die Nei¬
gung hat. Gegenüber ein Volk ohne einheimiſche Für¬
ſtengeſchlechter, ein Land ohne Höfe und Reſidenzen,
ein Adel, beynahe gänzlich ausgeſtorben, eine ver¬
armte Geiſtlichkeit; dagegen ein dritter Stand neuer¬
dings nicht reich, aber wohlhabend geworden durch
den Heimfall der Domänen, noch nicht üppig, aber
wohl fühlend ſeine Macht, und zum Uebermuth ge¬
neigt; gehorſam, aber nicht unterwürfig, dem Geſetze
unterthan, aber durch jede auch wohlgemeinte Will¬
kühr leicht verletzt; in Allem auf's Praktiſche gerich¬
tet, und darum allem Regelloſen, Verworrenen ab¬
geneigt; an einen raſchen Geſchäftsbetrieb gewöhnt,
und allem Oeffentlichen zugethan; nicht zwar den Waffen
abhold, wohl aber allem Steifen, Starren, Herriſchen,
das dem Soldatengeiſte anzuhängen pflegt.
5*
So entſchiedene Gegenſätze mußten bey der erſten
Berührung ſtark und verwundend aufeinander treffen,
und der Nachtheil des Streites, der ſich erhob, mußte
nothwendig ganz auf Seite der neuen Herrſchaft fal¬
len, da ſie ſich allein alles Thun zugeeignet, und
den Einheimiſchen nur das Laſſen zugetheilt. Seit
der Zeit alſo wo die Regierung durch ihre Organiſa¬
tion das Vertrauen zuerſt verwirkt, hatten Dieſe auf
Beobachtung ſich gelegt, und uurnur allzu bald alle Schwä¬
chen ausgeſpäht. Da man ſogleich einſtimmig die
Gegenwart als völlig unſtatthaft verworfen, war die
ganze Aufmerkſamkeit bald auf die Fortſchritte der Re¬
gierung im Verfaſſungsgeſchäft gerichtet. Man be¬
merkte die Einſetzung des Staatsraths als die erſte
Einleitung zu dieſem Geſchäfte mit Wohlgefallen, ob
er gleich nach ſeiner Einrichtung nichts als eine Re¬
gierungs-Behörde war. Ebeu ſo wurde die Niederſez¬
zung der Commiſſion zur Entwerfung der Verfaſſung
dankbar aufgenommen, und wie früher die Anord¬
nung der Immediat-Juſtiz-Commiſſion, ſo die ſpätere
Aufhebung der geheimen Polizey Als aus der Mitte
jenes Ausſchuſſes drey Commiſſäre auf den Vortrag
des Canzlers in die verſchiednen Provinzen abgegan¬
gen, um ſich über das Beſtehende und ehmals Gewe¬
ſene Notizen zu verſchaffen, ließ man auch dieſe, ob¬
gleich verſpätete Maaßregel, für einen Fortſchritt gel¬
ten. Als aber dieſe Ausgeſandten zurückgekehrt, und
die Berichte der verſchiedenen Regierungen des Lan¬
des eingelaufen, und keine zweyte Sitzung jener Com¬
miſſion erfolgen wollte; weckte die Langſamkeit in den
Bewegungen der Regierung zuerſt die Beſorgniß, daß
ſie bald rückläufig werden möchte.
Inzwiſchen war der Kanzler zum Rhein gekommen,
und neue Hoffnungen hatten an ſein Erſcheinen ſich
geknüpft. Er hatte die bekannte Adreſſe angenommen,
und die Discuſſionen, die ſich dabey zwiſchen ihm
und der Deputation erhoben, mußten, als ſie offen¬
kundig worden, nothwendig den Glauben wecken, die
Reaction ſey endlich zum Ziel gelangt, und es werde
aller Streit, nachdem man wechſelſeitig guten Wil¬
len und vorgefallene Mißverſtändniſſe anerkannt, noch
zu einem gedeihlichen End gelangen. Als aber der König
das Wort nicht löste, das ſein Mandatarius zu geben
vollkommen durch ihn ſelbſt ermächtigt war; als er die
Einwohner, dafür, daß ſie eine völlig geſetzliche Hand¬
lung in aller gebührenden Ehrfurcht ausgeübt, un¬
gnädig angelaſſen, und ihnen, die ausdrücklich ge¬
ſagt hatten, daß ſie nicht den mindeſten Zweifel an
der Erfüllung des gegebenen Verſprechens hegten, den
gehegten Zweifel verwies; als er dieſe Ungnade auch
auf die örtliche Regierung ausgedehnt, weil ſie zuge¬
laſſen, was ſie mit keinem Schein von Recht verhin¬
dern mochte; und nur jene belobte, die mit gewalt¬
thätiger Handlung die Aeußerung der öffentlichen
Stimme unterdrückt: da ſchwieg man, weil man die
Ehrfurcht gegen die Majeſtät, auch da nicht vergaß,
wo man ſie im Irrthum befangen ſah; aber es war
ein Riß geſchehen, und ſtärker als vorher klaffte die
alte Wunde, die nicht jene brillante, halbofficielle bis
zum Unanſtändigen geiſtreiche Erwiederung zu heilen
vermochte, noch weniger der breite Geſellſchaftsſchnack,
mit dem eine andere Schrift tröſtend, zuſprechend und
abrathend ſich herbeygedrängt.
Wenn die Rheinländer aber nun ihrerſeits in man¬
chen Stimmen, die laut geworden, die Zulaſſung ei¬
niger Glieder des Adels tadelten, ſo bewieſen ſie da¬
durch, daß ſie im Getriebe der Zeit, durch die ſie
ſich durchgewunden, zwar den Sinn für Recht gar
ſehr geſchärft, das Gefühl für die natürliche Billig¬
keit aber, in demſelben Verhältniſſe verloren hatten.
Dasſelbe erwies ſich in dem größtentheils unvernünftigen
Geſchrey, das man gegen den Schritt, den der niederlän¬
diſche Adel in wohlmeinender und lauterer Abſicht für ſich
gethan, ſo wie gegen die Schrift, die er bey dieſer
Gelegenheit dem Kanzler übergab, erhoben. Da man
die Billigkeit der Geſinnungen, die er in jener Schrift
an Tag gelegt, nicht anfechten konnte; verkroch ſich
der Argwohn hinter einen vorgeblichen Myſtizism im
Style, der das geheime Arg verbergen ſollte; und
indem man mit republicaniſchem Stolze den Beyſtand
einer Körperſchaft ausgeſchlagen, die nie mehr bey
uns der gemeinen Freyheit gefährlich werden mag,
hatte man zugleich, übereilt verzichtend auf das alte
Recht, das ihre, wie die Anſprüche des dritten Stan¬
des begründete, ſich allein der Gnade auf Discretion
hingegeben; und da man ſelbſt nicht Billigkeit geübt,
auch des Anſpruchs auf gleiche Billigkeit von Seite
der anderwärts mächtigern Ariſtocratie ſich begeben.
Von jenem Augenblicke an begründete ſich inzwi¬
ſchen in der Meinung der Glaube von einem wirklich
eingetretenen Rückſchritt in den Grundſätzen der Re¬
gierung, und alles, was ſeither geſchah, mußte die¬
ſem Glauben Nahrung geben. Die Gründung der Uni¬
verſität von Bonn und der vielverſprechende Ausgang
der Arbeiten der Immediat-Juſtiz-Commiſſion wurde
der Regierung gern mit freudigem Muthe verdankt;
aber die widrigen Eindrücke der Finanzoperationen,
die nun erfolgt, mußten bald dieſe günſtige Stim¬
mung wieder niederdrücken. Als verhaßte Steuern,
die darum das Proviſorium abgeſchafft, der Reihe
nach wiederkehrten; als die Mauth, die man allen¬
falls gegen das Ausland gefordert, auch gegen das
Binnenland den Verkehr unterbrach, und die Grenz¬
orte vielfältig drückte und bedrängte; als eine Brannt¬
weinſteuer drey Viertheile des Preiſes vom Product
verlangte, und durch das nun erfolgte Einſtellen der
Fabrication die Landwirthſchaft zerrüttete; und eine
Moſt-Abgabe, die im Durchſchnitt fünffache Grund¬
ſteuer von dem verarmten Winzer forderte, daß die¬
ſer zur Drohung ſich genöthigt ſah, die Weinſtöcke
auszuhauen, wenn man darauf beharre; als von aller
Liberalität früherer Jahre nichts als ein über alle
Verhältniſſe geſpanntes Kriegsgeſetz übrig geblieben,
das unter dem Vorwande hoher Ideen die ganze Be¬
völkerung ohne Ausnahme dienſtpflichtig macht : da mußte
die Oppoſition nothwendig durch die ganze Maſſe des
Volkes ſich verbreiten, und da es das Gute bittweiſe
nicht erlangt, mußte es wenigſtens proteſtirend das
Uebel von ſich abzuwenden ſuchen. Und als nun die
Orts-Regierungen, nachdem ſie amtlich erwieſen, daß
die Provinz ſchon mit ihren bisherigen Abgaben die
verlangten vier Thaler auf die Seele wirklich entrich¬
tete, nicht umhin gekonnt, die Einführung der neuen
Steuern als abſolut unmöglich zu erklären, und der
Miniſter nun dem Stadtrathe von Coblenz, die in ſei¬
ner Proteſtation kundgegebne Kleinlichkeit der ſtaats¬
wirthſchaftlichen Anſichten verwies, und mit dem bal¬
digen Eintreffen noch anderer Steuern ihn vertröſtete;
da bewunderte man allerdings die ſtrenge Conſequenz
eines Syſtemes, das ad absurdum getrieben, ſich doch
in keine Weiſe verwirren läßt: aber man fühlte, daß
es die höchſte Zeit ſey, daß eine Verfaſſung dieſer
gleichmüthigen Stoa Gränzen ſetze.
Außer dieſen politiſchen Verhältniſſen wirkten
noch Andere einer höheren Art nachtheilig auf die
Stimmung, wie im ganzen übrigen katholiſchen Teutſch¬
land im Allgemeinen, ſo auch am Rheine, am mei¬
ſten in Weſtphalen. Es war dies der Zuſtand der
Kirche, und die ſchmähliche Unterjochung, mit der
man ſie bedrohte. Seit der Säkularfeyer der Refor¬
mation hatte ſichtlich, ein zwar längſt ſchon vorhand¬
ner Uebermuth, im proteſtantiſchen Teutſchland ſich zu
einem beynahe unerträglichen Grad geſteigert, und es
konnte nicht fehlen, daß dieſer wie immer und überall
eine gleich ſtarke Rückwirkung hervorrufen mußte.
Nicht zwar hat der rechte, fromme und beſcheidne
Proteſtantismus, der in Demuth vor den Pforten
jenes verſchloſſenen Reiches ſteht, das die nicht wi߬
baren Dinge in ſich beſchließt, und der wenn er auch
ſelbſt nur an das geſchriebene Wort ſich hält, doch
darum dem Durchſchnittsglauben aller Zeiten und
Jahrhunderte, an den ſich überdem der Catholizism
bindet, nicht höhniſch als etwas in ſich Unſinniges
und Verwerfliches niedertritt; nicht dieſer hat an ſol¬
chem Beginnen Theil genommen, er zeigt ſich viel¬
mehr gerade in dem Verhältniß, wie er reiner, lau¬
terer Ueberzeugung Raum gegeben, und in Freyheit
bis zur Tiefe der Dinge vorgedrungen, um ſo über¬
einſtimmender mit jenem Gemeinſamen; weil das Be¬
ſondere in innerſter Wurzel nothwendig mit dem Ge¬
ſammten verbunden iſt, und aus der Tiefe, wenn bei¬
derſeits die Schlacken abgehoben, uns derſelbe Sil¬
berblick entgegengeleuchtet, ſo daß in dieſer Hinſicht
Proteſtantismus und Catholizismus nur wie Integral-
und Differenzialrechnung ſich verhalten.
Aber es iſt auch hier jener dünkelvolle Geiſt, der,
unfähig auch nur an ſeiner Naturſeite die Bande der
Schwere durchzuſchneiden, ſich doch nach innen vom
Hiſtoriſchen loszureißen vermißt; der nicht ſich am
Ganzen zu prüfen und zu gewähren ſich begnügt, oder
auch das Ganze an den ewigen Geſetzen, die ſein
Inneres beſchließt, ſondern in hoffärtigem Abfall ſich
allein auf das Vergängliche, Fließende, Richtige ſetzt,
und nun aus der allerſeichteſten Weltbetrachtung her¬
vor, ſeine Einbildungen, ſeine Eitelkeiten und Leiden¬
ſchaften für große, gute Weltgeſetze hält, und ſich an
dem Kreuzweg niederläßt, um die Geſchichte zu be¬
lehren, die mit ihren Sonnenroſſen, ohne das Stäub¬
chen zu bemerken, das in ihrem Strahle ſpielt, vor¬
überfährt. Von dieſem Geiſte iſt das Geſchrey aus¬
gegangen, das von jenſeits her erſchallt: der Catho¬
licismus, in ſich ſelbſt todt und erſtorben, habe nur
vergeſſen ſich begraben zu laſſen; ſeine Dogmatik ſey
unhaltbar ja gänzlich unvernünftig; ſeine Unfehlbar¬
keit der Kirche ſey die wahre Leibeigenſchaft der Gei¬
ſter; und ſeine Hierarchie, das Werk nichtswürdiger
Pfaffenkünſte, eine unerträgliche Tyranney, und es
erbietet die eifernde Liebe ſich nun mitleidsvoll, mit
zur Leiche zu gehen, um dem Verblichenen die letzte
Ehre zu bezeugen; dann aber zu brechen die ſchimpf¬
liche Kettenlaſt, und auszuziehen gemeinſamer Hand,
und zu ſtürzen die Tyrannen.
Darum wird mit denſelben Gründen, wie früher
der Fürſtenbund gegen die längſt zum Schatten ge¬
wordne Kaiſerliche Macht, ſo jetzt ein gleicher Bund
gegen den Papſt, den Tyrannen der Chriſtenheit, ge¬
predigt, deſſen geiſtliche Gewalt ohngefähr auf glei¬
cher Linie, wie damals jene Weltliche ſich befindet.
Wenn die Catholiſchen zu ſolchem Beginnen achſel¬
zuckend ſchweigen, dann wird auf die Jeſuiten hinge¬
deutet, die ein furchtbares Phantom von der Schweiz
herüberdrohen; proteſtantiſche Zeloten karren in den
Oppoſitions- und ähnlichen Blättern allen Unrath alter
Zeit, und was die Päpſte je Schlechtes und Arges
unternommen, in einen Haufen aufeinander; riechen
nach Art jener früheren Berliner Zionswächter in allen
Richtungen nach geheimen Umtrieben, und verläſtern
und verklatſchen ehrliche Leute, die ihren Glauben
und ihre Ueberzeugung vertheidigen. Damit auch
hier ſich jene vortreffliche Liberalität bewähre, die der
Gewalt Alles einräumt, wenn ſie ſich nur mit ihren
Formeln und Privatintereſſen abzufinden weiß, wurde
proclamirt: der Satz der einen proteſtantiſchen Kirche, der
Fürſt ſey erſter Biſchof in ſeinem Lande, müſſe auch
auf die proteſtantiſchen Regierungen unterworfene Catho¬
liſche ausgedehnt werden, damit dieſer, ſchon Oberfeld¬
herr, Oberrichter, Oberpolizeydirektor, Grundeigen¬
thümer des Landes, deſſen Bebauer bey ihm zu Pachte
gehen, nun auch als pontifex maximus über die Ge¬
wiſſen zu Rechte ſitze, um allenfalls wie Heinrich VIII,
dem Parlamentsbeſchluſſe nach der Beſchützer und das
Oberhaupt der Kirche von England, in Wahrheit aber
ihr Tyran, Bedränger und Plünderer, ſogenannte Con¬
vocationen, Bills der ſechs Punkte, Anweiſungen für
chriſtliche Menſchen zu belieben; und nach ſeinem
Beyſpiel, wenn etwa der Fanatism wieder erwacht,
die dem Papſt anhängen zu verbrennen, die ihm ab¬
geſagt, aber zu rädern. Darum das Geſchrey gegen
das Bayeriſche Concordat, an dem am meiſten die
Einräumungen, die es dem Staate macht, zu tadeln
ſind; darum die zärtliche Liebe für Weſſenberg, der
für ſich ein wohlmeinender Mann ſeyn mag, aber
ſchon darum Unrecht hat, weil er um eine unlautere
Sache und ſchlechtbegründete Anſprüche gegen die Curie
durchzuſetzen, hinter die weltliche Macht ſich flüchtet,
und alſo indem er die Freyheit der Kirche zu verthei¬
digen vorgiebt, ſie wirklich an die Souverainität verräth.
Der Argwohn, den jene übelverhüllten Plane in
den Gemüthern ſchon erregt, verſtärkte ſich bedeu¬
tend, als jene Concordatencommiſſion von proteſtan¬
tiſchen Fürſten, großentheils mit Proteſtanten beſchickt,
ſich eröffnete, und jene Antrittsrede des Miniſters von
Wangenheim, die innern Verhältniſſe der katholiſchen
Kirche, und ihre künftigen Beziehungen zum Papſte
in dieſer Synode zu ordnen, Hoffnung machte; als
eine Zeitung Propoſitionen ausgeſchwatzt, die bey die¬
ſer Erörterung als Grundlage dienen ſollten, und die
damit begannen, den Papſt vorerſt aller Funktionen
ſeines Primates zu entheben, und ihn wieder zu dem
Fiſchergewerbe zurückzuweiſen, das ſein erſter Vorgänger
der Apoſtel verlaſſen hatte, um dem Herren zu fol¬
gen; als man endlich weiterhin erfuhr, wie ſchon aus
einem benachbarten Lande das Aufhebungsdecret des
Cölibates bis zur Unterzeichnung rein mundirt, bey
den Akten eingelaufen, ſeine Vollziehung aber von
einem der berathenden Höfe nur der Wittwengehalte
wegen abgerathen worden. Das alles mußte den widrig¬
ſten Einfluß auf die Meinung äußern, obgleich die Reſul¬
tate dieſer Commiſſion wenigſtens diejenigen beruhigten,
denen ſie bekannt geworden, indem man vollkommen die
Ausdehnung des Wahlrechts auf die untere Geiſtlichkeit in
den Dekanen billigen mußte; nicht minder auch den Grund¬
ſatz, daß angeklagte Biſchöfe von einem Pairsgerichte Recht
nehmen ſollten; übrigens aber ſich verſichert hielt, daß die
Curie ihrem Rechte, bey ſolchen Gerichten einen Delegir¬
ten zu haben, der das öffentliche Miniſterium zu vertreten
berufen ſey, nicht vergeben werde; noch dulden den
Bruch, der mit Abſchaffung der Erzbiſchöfe, durch
kleinliche Eiferſucht der weltlichen Souverainität ge¬
trieben, in die Hierarchie geſchehen; noch weniger
aber jemals, proteſtantiſchen Fürſten das Ernennungs¬
recht katholiſcher Biſchöfe zu geſtatten, ſich vergeſſen
werde.
Preußen, mehr als vier Millionen Catholiſche in ſei¬
nem Umkreis hegend, war jenem Vereine nicht bey¬
getreten, und man deutete die Weigerung dahin, daß
es auch hier, an Liberalität ſich übertreffen zu laſſen,
nicht geſonnen ſey. Der König hatte beſtimmte Ver¬
ſprechungen bey der Beſitznahme geleiſtet; der Kanz¬
ler hatte ſie in jener Audienz wiederholt; auch hatte
man die Wiedereinräumung des Wahlrechts, die das
Kapitel von Münſter erlangt, als ein Pfand der Er¬
füllung angenommen. Allein auch hier geſchah gerade
ſo viel wie im Verfaſſungswerke; die Kirche blieb
zum Aergerniß aller Menſchen in ſtärkerem Verfall,
als ſie je unter franzöſiſcher Herrſchaft geweſen, und
auf ihre kümmerlichen Mittel zum Fortkommen ange¬
wieſen. Die heilige Allianz lag auf Pergament ge¬
ſchrieben, wohlbewahrt in den Archiven; erbauliche
Reden von Frömmigkeit und chriſtlicher Tugend hat¬
ten zum Theil den alten diplomatiſchen Canzleyſtyl
verdrängt: aber die Regel des Chriſtenthums, Jedem
zu geben das Seine, wurde darum, wie vorhin nicht
nach außen, ſo jetzt nach innen, nicht geübt. Die letz¬
ten Domänen, die ärmlichen Reſte des großen Rau¬
bes, zugleich die einzige noch übrige Hypotheke der
Landesſchuld, und die einzige mögliche Dotation
der Kirche wurde trotz aller Proteſtation zum Ver¬
kaufe ausgeſetzt; das ganze Staats-Miniſterium, un¬
eingedenk der königlichen Schuld, unterſchrieb den
Antrag zur Veräußerung, gleichſam als könne die
Unterſchrift Vieler der Handlung einen rechtlichern
Character geben, und als werde, was unchriſtlich iſt,
chriſtlich dadurch, daß Mehrere ſich in dieſelbe Sünde
theilen. Jene Brut erbärmlicher Sophiſten, die dieſe
Zeit ausgeboren, und die ihr feiles Talent jeder Ge¬
walt verſchreiben, lehrte, nur wenn die Diener der
Kirche beym Staate als Beamten den Gnadentiſch ge¬
nöſſen, könne dieſer ſich Ruhe und Sicherheit ver¬
ſprechen; Domänen reizten überdem die Raubſucht
des Feindes, und man thue beſſer darum, das Land
von ſo angreiflichem Gute auszuräumen: gerade wie
man kürzlich von Paris rückgekehrte Urkunden und
Manuſcripte, die der Provinz angehören, unter dem
Vorwande der Unſicherheit nach der Hauptſtadt ge¬
bracht.
Als aber nun auch ſpäterhin ohne alle Zuziehung
der Betheiligten geiſtliche Stiftungen aufgehoben wur¬
den; als während die reformirte Kirche des Landes
ihre Freyheit mit Mühe gegen das Miniſterium ver¬
theidigte, die Regierungen in der Frage über die ge¬
miſchten Ehen, die allein mit dem Pabſte auszuma¬
chen iſt, die katholiſche Geiſtlichkeit mit Gewalt zu
ihrer Anſicht zu nöthigen verſucht; als eine derſelben
im Eifer des Streites die Pfarrer ſogar unter die
Polizeyaufſicht der Bürgermeiſter geſetzt; und eine Cabi¬
nettsordre den Clerus, der nichts als ſeine Pflicht
gethan, der Intoleranz beſchuldigte; als mancherley
ſonſtige Umtriebe, Anklagen, Zurückſetzungen im Ein¬
zelnen offenkundig wurden: da war die Meinung ſchnell
verſtändigt über die Parthey, die hier zu nehmen
war, und ſie erklärte ſich einſtimmig für den Clerus,
und dieſer gedeckt hinter zwiefachem Schilde, blieb
unerſchüttert. Die Regierung zog ſich nun zwar in die
allgemeine Negativität der Zeit zurück; aber der Arg¬
wohn war geweckt, und jene Stimmung der Catho¬
liſchen, die immer dem Hiſtoriſchen zugewendet, allein
noch ſchmeidigen konnte jenen politiſchen Sinn, den
wir dem der reformirten Confeſſion verglichen, war
nun, erbittert in ſich ſelber, zum neuen Ferment in
der Gährung der Zeit geworden.
Dieſe Gährung hat am lauteſten im Reich der
Schrift ſich kund gethan. Seit Preußen die öffentli¬
chen Blätter einer furchtſamen, zaghaften, kleinlichen
Cenſur untergeben, die nicht einmal den weſtphäliſchen
Anzeiger ertragen konnte, ſuchte die nach Freyheit
ſtrebende Gedankenäußerung ſich ein anderes Aſyl.
Sie fand dieſen Zufluchtsort in der Weimariſchen Ver¬
faſſung, und der darin als Grundgeſetz feſtgeſetzten
Aufhebung der Cenſur. Dieſe Verfaſſung, die bey
den dortigen beſchränkten Verhältniſſen, außer etwa
in der Entlaſſung des ſtehenden Soldaten, da man ihn
bald mit dem Aufwand eines koſtbaren Hofes in ſo
kleinem Lande unverträglich fand, ſonſt nichts Bedeu¬
tendes bis zu dieſer Stunde hervorgebracht, hatte von
dieſer Seite für ganz Teutſchland eine Wichtigkeit ge¬
wonnen. Es begann ſogleich von da aus der kleine
Krieg der ſich emanzipirenden Zeit mit jener Staats¬
polizey, die ſie mit aller Macht und Ohnmacht in ih¬
rer Haft zurückzuhalten ſich bemüht. Während die
Iſis, ſchüttelnd das Siſtrum der elementariſchen Na¬
tur, die Hyeroglyphen des thieriſchen Lebens deu¬
tete, neben ihr aber der geyerköpfige Oſiris ſcharf
die Geißel ſchwang über jegliche Ungebühr, und der
Latrator Anubis mit Huth wahrnahm der Pforte
des Geiſterreichs, daß die Gewalt ſich nicht eindränge
mit Ueberfall; während die Nemeſis des Maaßes zu
achten ſich bemühte und der Regel, und obgleich
mit ſtets abnehmender Energie manches Gute, be¬
ſonders in den höheren Kreiſen pflanzte; während
der Patriot oft ſehr einſeitige Meinungen mit Ver¬
ſtand, Entſchloſſenheit und Geſchick vertheidigte, fie¬
len antwortend ihrem lauten Rufe andere Stimmen
ein, die aus den Gebirgen der Schweiz, durch Wür¬
temberg
temberg gegen die Donau hin ertönten, wo die allge¬
meine Zeitung nicht unergötzlich den Markt von Plun¬
dersweiler bey ſich eröffnete, auf dem Käufer und
Verkäufer, Marktſchreyer und Zigeuner, wackere Leute
und alles Lumpenvolk ſich durcheinander treiben, je¬
doch Alles unter ſcharfer Polizey der Ortsobrigkeit;
dann vom Oberrheine, in lichten Geiſtesblitzen wetter¬
leuchtend, den Mayn hinauf laufend ſich ergoſſen,
und im Süden lauten Wuf erhoben; während der
ſtumme Norden ton- und klanglos lag, und allein
die freyen Städte, Bremen, nur einmal wankend
und zagend, und Hamburg, wo der Beobachter in
Maaß und Zahl die maaßloſe Zeit zu faſſen ſtrebte,
ſeine Ehre noch einigermaaßen zu retten ſich bemühten.
Alle zuſammen bildeten einen Chorus, der zwar nicht
immer harmoniſch zuſammenſtimmte, und in den
Geſetzen des Silbenmaßes ſich bewegte; aber doch
den Helden, die auf dem Cothurne die Bühne
im tragiſchen Schritt beſchreiten, mit ſtarkem Zuruf
manche heilſame practiſche Lebensregel, manche gute
Wahrheit, die ihnen entfallen war, manchen nützli¬
chen Rath, den ſie verachtet hatten, wieder in's Ge¬
dächtniß brachte.
Aber dieſer Chor, der ſich, längſt von der moder¬
nen Bühne vertrieben, — die ſtatt ſeiner die Vertrau¬
ten und die Kammerherren aufgenommen, — ſo unge¬
bethen wieder aufgedrungen, und die drey Einheiten
ohne die Rückſichten der feinen Lebensart, vorüber¬
gieng, wurde wenig dort beliebt, und nur eine Zeit
lang mit Ungeduld ertragen. Die grauſame Phili¬
ſterey, die an den teutſchen Höfen herrſcht, ver¬
6
band ſich bald zur Abſchaffung der verhaßten Neue¬
rung; und ſo wurden jene diplomatiſchen Feld¬
züge gegen die Zeitungsſchreiber angelegt, in denen,
wie in den großen Treibjagden das Edelthier ſo lange
mit Hunden gehetzt, mit Hallohruf geängſtigt, von
den verfolgenden Jägern getrieben wird, bis es end¬
lich athemlos niederſtürzt, oder ſich in Waſſer und
Sümpfe zu werfen genöthigt ſieht. Ein ſolcher Sumpf
war da, wo die Cenſurfreyheit kürzlich gegeben ward,
für die geängſtigten Schriftſteller, die teutſche Rechts¬
form; die Hitzigſten, wenn ſie in dieſem Schlammbad
eine kleine Zeit verweilt, fanden ſich bald hinlänglich
abgekühlt, um nicht länger mehr mit allzu großem
Eifer in Sachen des Vaterlandes ſich abzumühen;
und die teutſche Schöffenjury wüthete in ſchönen Re¬
defiguren mit Blitz und Feuer gegen jene, die dem
Tode auf naſſem Wege entgangen waren. Zuletzt
wurde, damit auch dort jene höfiſche Liberalität der
Welt zum Geſpötte würde, die unbequeme Weitläuf¬
tigkeit aller conſtitutionellen Formen auf Seite ge¬
ſchoben, und Oken, nachdem man ihm die Wahl
zwiſchen dem Strang für ſich oder ſeine Iſis freyge¬
laſſen, zuletzt ſammt ihr franc und frey abgethan.
Solches Schickſal im Geiſte vorausſehend, hatten
Andere, ſich ſelber allzu werth, um ſich in ſolcher
Weiſe der Wuth der empörten Elemente auszuſetzen,
klüglich den beſſern Theil gewählt, und mit der Ge¬
walt auf glimpflichem Wege zu wechſelſeitiger Befrie¬
digung ſich abgefunden. In allgemeinen Redensar¬
ten von Freyheit und liberalen Geſinnungen zu
reden, in der Ausübung aber jede despotiſche
Gewaltthat, und jede ſchlechte Inſtitution zu be¬
ſchönigen und zu rechtfertigen, das ſchien etwas,
was ſchon der Zeit, die aus allen Fugen ge¬
treten, zuzulaſſen war. Alle Helden des Plutarch
auf der Parade aufzuführen, war ſchon erlaubt;
aber mit dem Vorbehalt, Jeden, der ſie etwa nach¬
ahmen wollte, als Verrückten zu erklären. Dem Adel
Böſes nachzuſagen, in geiſtlichen Angelegenheiten mit
kühner Aufklärung zu ſprechen, die Jeſuiten ſchnöde
zu behandeln, vom Mittelalter ſchlecht zu reden, das
Feudalunweſen zu ſchelten nach Herzensluſt, die Ultras
in Frankreich übel anzulaſſen und ihre Thorheit aus¬
zulegen nach Gebühr, den Myſtizism in ſeiner Blöße
darzuſtellen, zu ſchelten über böſe Leidenſchaften und
Halbheit der Geſinnungen, die es nirgendwo zu etwas
Gedeihlichem kommen laſſen, über die Mißgriffe des
Königs von Spanien ſich ſtark und mit Freymuth
zu erklären, und von Zeit zu Zeit den teutſchen Jon
Bull anzuſtechen; das iſt der liberale Turnplatz, den
ſie ſich zum Tummeln vorbehalten. Dagegen zeigen ſie
ſich willig, mit dem Mantel der Liebe die ſchnödeſte
Willkühr des Brodherrn zuzudecken; Ihm jede Aus¬
nahme von den erhabenſten Grundſätzen huldreichſt
einzuräumen, und alle ſeine Fehden auszufechten wie
die Ihrigen. Auf dieſe Bedingungen werden dann
Caperbriefe auf die benachbarten Regierungen ausge¬
theilt, bis dieſe die Schwäche haben, und zur
Auslöſung ſich verſtehen, wo dann ein Mandat
ausgeht, fortan ſey es illiberal und der teut¬
ſchen Sache nachtheilig, die bisher Geſcholtene fer¬
ner im Schimpfe anzugehen. Schmarotzer der Für¬
6 *
ſten, Verdreher der Wahrheit, Tartüffe in der Po¬
litik, freche Sophiſten, die den Gedanken bey Hof
zu Lehne geben, wie ſie auch der Kirche angemuthet,
ſind dieſe Schalksknechte hin und wieder über Teutſch¬
land her verbreitet: ſie kennen ſich und loben ſich,
und helfen ſich einander, und falſche Freunde der
Sache, ſind ſie gefährlicher als ihre offnen Feinde,
weil ſie das Volk verwirren und blenden durch den
Schiller, in dem ſie unaufhörlich wechſeln.
Die Meinung, gleich ſehr entrüſtet über das Ver¬
fälſchen der einfachen Wahrheit, das Dieſe ſich erlau¬
ben, wie über die Unterdrückung die Andre verſuchen,
hat ſich daher vom geſchriebnen Worte mehr gegen die
lebendige Rede, und die Tradition hin gewendet. Bey
der regen Bewegung, die die Geſellſchaft jetzt ergrif¬
fen hat; bey dem lebhaften Umtauſch der Gedanken,
und bey dem ſtarken Verkehr, der leicht das Ent¬
fernteſte miteinander in Beziehung bringt, iſt das öf¬
fentliche Leben wie durchſichtig geworden bis zur
Mitte hin; und die Geiſter berühren ſich in dieſem
Medium ſo nahe, daß ſie gleichſam eine leitende Kette
ziehen, durch die die Idee dem Blitze gleich in allen
Richtungen leicht von einem Ende zum Andern ſchlägt.
Darum bleibt der Tradition nichts verborgen, was
irgendwo geſchieht; da Alle die Schmach fühlen, die
auf dem Ganzen ruht, und jeder ſie dem Andern
zuwälzen möchte, ſo iſt es immer der Eine, der die
Ehre des Andern laut verkündigt, um ſich dann wie¬
der des gleichen Liebesdienſtes bald zu erfreuen. So
wird das Urtheil über Dinge und Perſonen durch
Thatſachen begründet; anfangs wohl leichtſinnig auf¬
genommen, bald aber durch mehrſeitige Anſicht be¬
richtigt, und nach Befund gemildert oder noch geſchärft,
bleibt es ſelten auf die Dauer ungerecht, wenn auch,
nach Art der oft getäuſchten zum höchſten erbitterten
Zeit oft lieblos und allzu wegwerfend gegen Einzelne.
In dieſem ſcharfen Todtengericht der Lebenden ſind
alle jene gedruckten Lügen für nichts geachtet; alle
ſchöne Phraſen werden der damit verkleideten Wahr¬
heit ausgezogen; die da wandeln in ihrem Dünkel,
in den weiten Mantel der menſchlichen Eitelkeit ge¬
ſchlagen, ſind gezeichnet mit den Namen, die das
Urtheil ihnen zugeſprochen; Thaten und Begebenheiten,
die ſich im Verborgenen glauben, ſind vor aller
Welt aufgedeckt; nur die Betheiligten ſind ſelten da¬
von unterrichtet, wenn nicht etwa das eigene Gewiſ¬
ſen ſie dunkel mahnt, und ſie nun eine Gegenrede
ohne vorhergegangene Aufforderung verſuchen. Dieſe
Vehm wird härter und ſchärfer in dem Maaße, wie
die Preſſe mehr gefeſſelt oder vergiftet wird, und zwar
größentheils zum Nachtheil deren, die dieſen Zwang
oder die Verfälſchung üben, und ſich nun nicht ein¬
mal vertheidigen können. So manche Ereigniſſe, die
unerklärlich ſcheinen, laſſen nur durch die Kenntniß
dieſer überlieferten Volksmeinung ſich deuten und be¬
greiflich machen.
Unter den verſchiednen Bewegungen aber, die
die bisher berührten Begebenheiten und Ereigniſſe
veranlaßt hatten, theilten ſich die ſogenannten Libe¬
ralen, die in den Jahren der Befreyung nur im All¬
gemeinen über die nothwendige Herbeyführung eines
beſſern, würdigern Zuſtandes in Teutſchland einver¬
ſtanden waren, ohne ſich über die Wege, um dahin
zu gelangen, näher zu verſtändigen, in zwey Haupt¬
partheyen. Die Eine, die ſogenannte Hiſtoriſche
erkannte, daß ehemals ein beſſerer Zuſtand Teutſch¬
lands in der Wirklichkeit beſtanden, wo es in ſich
geeint unter einem Schirmvogte, und wieder getheilt
in Glieder und Gliedesglieder, Landſchaften, Stände
und blühende Körperſchaften in ſich geſichert, frey,
kräftig und reich in eigenthümlicher Sitte, und Ein¬
richtung auf ſich ſelber ruhte, von außen geehrt, ge¬
achtet, gefürchtet und gebiethend, und leicht abweh¬
rend jede fremde Gewalt, die ſich an ihm verſuchte.
Sie erkannte ferner wie, weil das Haupt dumm ge¬
worden und blöde, die Glieder aber geil und über¬
müthig, in das blühende Leben zuerſt Verwirrung
und Krankheit ſich eingeſchlichen; wie bey ſtets wach¬
ſendem Mißverhältniß die Zerrüttung immer zugenom¬
men; bis ſie endlich nach der Reformation in jenen
wüthenden Paroxismus ausgebrochen, der als orga¬
niſchen Fehler einen bis hierhin unheilbaren Gegen¬
ſatz in das Reich hineingetragen; eine Wunde mit
geluptem, vergifteten Schwerd geſchlagen, wie jene
des Titurel, an der es gleich dieſem nicht ſterbend
und nicht geneſend ins zweyte und dritte Jahrhundert
geſiecht, bis endlich Feindesgewalt die in ſich ausge¬
zehrte, wankende Geſtalt umgeſtürzt, unter den Fuß
getreten, und an den Siegeswagen gebunden, die
Entehrte, ein klägliches Schauſpiel für Götter und
für Menſchen, umgeſchleift, und ihre zerſtückten Glie¬
der wie Medea die des Abſyrtus umher geſtreut.
Sie urtheilten ferner, daß, da an den Völkern die Form
allein ſterblich iſt, und nach jedem Zerfallen der Einen
ihre Wiedergeburt in Anderer erfolgen muß, auch das
neu erſtehende Teutſchland nothwendig in der Eigen¬
thümlichkeit des Alten, in ſeiner Sitte und Sinnes¬
art wiedergeboren werde aus den noch vorhandnen
Elementen und in dem Typus, der dieſen unbewußt
noch in allen Bildungstrieben einwohne; auf daß man
erkenne, daß der Väter Geiſt noch ruhe auf den En¬
keln, und nicht etwa ein neues Volk, Baſtarde der
benachbarten Völkerſchaften, eingewandert und auf
der Höhe von Garizim einen andern Tempel aufgebaut.
Sie urtheilten ferner, daß es darum die Aufgabe
dieſer Zeiten ſey, ausſcheidend Alles was die Verderb¬
niſſe der Jahrhunderte hinzugethan; aufgebend, was
im ſträflichen Abfall von der Geſchichte und der Natur
der Dinge, verkehrte Eigenſucht, thörigte Eitelkeit
und die Verzweiflung, beſonders der letzten zwey
Jahrhunderte, ohne alle Unterlage ins Leere hin auf¬
gebaut; endlich entſagend jener blinden Selbſtſucht,
die nun an einem furchtbaren Beyſpiel erfahren, wie
jede Untergrabung des Allgemeinen ſich unausbleiblich
am Beſondern rächt, jene Fäden die in Sitte, Sinn
und Inſtitutionen noch unverkennbar mitten durch die
Verwirrung laufen, wieder zuſammenzugreifen; neue
da anknüpfend wo es geänderte Verhältniſſe gebieten,
und alſo die getrennten Elemente wieder mit ſolchen
Bändern in ein neues Ganze bindend zu verknüpfen;
das Erſtorbene, wo es noch möglich ſey, wieder
grünend zu machen, und die alten Lebensgeiſter wieder zu
erwecken; das wahrhaft Gute was unſcheinbar unter
dem Plunder unſeres öffentlichen Lebens ſich verloren,
wieder hervorzuziehen, und ſo ein neues Teutſchland
aus dem Verderben des Alten zu reſtauriren.
Die andere Parthey, die dieſer bald entgegen trat,
urtheilte aus anderem Geſichtspunkt: Was ſoll uns
dies alte Teutſchland, was ſollen dieſe Lappen alter
Herrlichkeit, die zu ihrer Zeit gut geweſen, weil ſie
auf ihre Zeit gegründet war, aber nun auf immer
hingeſchwunden; was ſoll dieſer Aberglauben, der mit
den Gebeinen alter Helden und Heiligen ſeinen Göz¬
zendienſt zu treiben affektirt? Was haben dieſe Ritter
in unſerer Zeit zu ſuchen; ihr Geiſt iſt nicht mehr
unter uns, ihre Burgen ſtehen gebrochen auf Berg
und Hügel; jene alten Münſter ſind verrödet, ein an¬
derer Glaube iſt in ſie eingewandert. Jene Inſtitu¬
tionen und Landesordnungen mögen paßlich geweſen
ſeyn für ihre Jahrhunderte; aber ihr Schutt und
ihre Trümmer, die noch in der Geſellſchaft ſtehen ge¬
blieben, ſind ihr zur Ueberlaſt, und ihre Pergamente
modern in den Archiven; was wir ſehen, iſt Leibei¬
genſchaft, Reich der Gewalt und des Aberglaubens,
drückende Feudalität, und in finſterer Nacht des Mit¬
telalters umwandelnd wie im Hades, die Geſtalten
einiger großen Männer, die kein Todtenopfer herauf¬
beſchwören wird. Zwey ungeheure Begebenheiten, die
auch der Geſchichte angehören, haben durch eine un¬
überſteigliche Kluft von ihnen uns geſchieden, die Re¬
formation und die Revolution; ſeither iſt wirklich ein
anderes Volk eingewandert, neu in Sitte, Geſinnung
und Denkungsart, mit andern Rechten und Bedürf¬
niſſen; ſeither iſt eine neue Welt an die Stelle des
untergegangenen Mittelalters aus den Fluten aufge¬
taucht. Die Form wird alt, das Wandelbare kömmt
und geht, aber ewig grünt das junge Leben, und
wie die Zeiten fließen, und die Verhältniſſe wechſeln
immerdar, ſoll jedes Geſchlecht ſich klug anbauen in
den Seinigen; jede Gegenwart muß ſich auf ſich ſelber
ſetzen, weil ſie am beßten weiß, was ihr frommt und
dient, und nach eigenem Plane am gemächlichſten ihr
Haus ſich baut. Iſt das alte Teutſchland aufgelöst,
dann ſind die Dinge wieder zum Urſprung zurückge¬
kehrt, dahin wo noch kein Reich beſtanden, und die
Geſchichte kann Euch wenig lehren. Wollt ihr aber
bey ihr zur Schule gehen, dann nehmt die Revolution
zur Lehrerin; vieler trägen Jahrhunderte Gang hat in
ihr zum Kreislauf von Jahren ſich beſchleunigt; vor
euern Augen iſt die Weltgeſchichte darin vorbeygegan¬
gen, und ihr habt ſie gelebt und nicht geleſen; mit
Herz und Sinnen habt ihr ſie ergreifen können, da
die des Mittelalters nur wie ein blaſſer Nebelfleck im
Fernrohr vor Euern Augen ſteht.
Dieſer Gegenſatz iſt, nur in anderem Gebiete,
derſelbe, der zwiſchen Catholizism und Proteſtantism
beſteht, und darum für den, der beſcheiden forſchend
in die Tiefen der Geſchichte und des eigenen Seyns
vorgedrungen, und dabey die ſchlichte Einfalt des
Naturſinns, und die klare von vorgefaßten Meinun¬
gen und Leidenſchaften ungetrübte Anſicht ſich bewahrt,
im innerſten Grunde in ſeiner höhern Einheit leicht
erkennbar. Wenn nämlich nicht geläugnet werden kann,
daß jedes ſelbſtſtändige Volk neben dem, was Allen
gemein, ſeine beſondere Eigenthümlichkeit beſitzt, die
ſich in ſeiner Geſchichte und ſeinem ganzen Beſtande
und Daſeyn ſpiegelt; wenn ferner jeder der dieſem
Volke eigentlich angehört, den allgemeinen Stammes¬
charakter trägt, und wie er durch das äußere Band
derſelben Sprache Allen ſich mitzutheilen weiß, ſo
durch ein Inneres der Sympathie ſich in das Ganze
hineinfühlt und denkt: ſo muß auch was jede einzelne,
in ſich geläuterte und geklärte Eigenthümlichkeit ſelbſt¬
ſtändig in ſich erzeugt, nothwendig dem harmoniſch
ſeyn, was die Geſchichte im Ganzen hervorgebracht;
ſie wird die Geſchichte nicht verſchmähen, aber auch
bewußtlos handeln in ihrem Sinne.
Andrerſeits werden die Hiſtoriſchen aus der Ge¬
ſchichte, die ſie befragen, weder die Reformation noch
die Revolution ausſchließen; eben weil ſie erkennen,
daß immer in jeder beſondern Geſchichte die Ganze
wiederkehrt, und wie die Geſchichte der Juden und
die der Griechen unter andern Umſtänden Die der
Teutſchen iſt, ſo die Engliſche Revolution die Fran¬
zöſiſche. Beyde aber haben als die weſentlichſte In¬
ſtitution eine Kammer der Gemeinen herausgeworfen,
gegen die eben auch das Mittelalter, in Italien ſchon
unter den erſten ſchwäbiſchen Kaiſern in Teutſchland
ſpäter geſtrebt; und weil es ſie nicht erlangt, darum
eben hauptſächlich hat das Reich im Abfalle der Schweiz,
im Kampfe der Städtebünde mit den Landesherren und
dem Adel, und ſpäter im Bauernkriege ſich verbluten
müſſen. Wie alſo in Gott alle Confeſſionen eins ſind,
ſo beide Partheyen in der Idee des Vaterlandes und ſie
ſind vereinigt geblieben, ſo lange dieſe Idee, und die Be¬
geiſterung, die ſie zur Zeit der Befreyung in den Gemü¬
thern geweckt, nachgehalten, obgleich mit ſichtbarer
Ueberwucht des hiſtoriſchen Princips, eben weil es
das den Franzoſen Feindlichſte geſchienen.
Aber die Begeiſterung wirkt nur ſtoßweiſe in der Ge¬
ſchichte und auf Augenblicke; die langen Zwiſchenräume
wird ſie durch Leidenſchaften und Intereſſen fortgeführt,
die, was dort nur als leichter Gegenſatz erſchien, immer
weiter auseinandertreiben, bis auf den äußerſten Punk¬
ten das Entzweyte unverſöhnlich einander gegenüber¬
ſteht. Das hiſtoriſche Princip iſt eine Allgemeinheit,
die in ihrem weiten Begriffe das Verſchiedenſte be¬
faßt. Hatte die beſſere Geſinnung nur das Beßte aus
den ehmaligen Zeiten angeſprochen, ſo mochten die
Intereſſen das Vortheilhafteſte nur brauchen; und
neigten Jene mehr zu den früheren beſſern Zeiten, ſo
trieben Dieſe natürlich mehr auf die Neuern, wo
noch grünende Wurzeln des Eigennutzes lagen. So
kamen bald alle Mißbräuche herzu, und alle Vorur¬
theile, und alles Erſtarrte und Erſtorbene nannte ſich
hiſtoriſch; und ſelbſt die Zeit vor 1806 in Preußen
fand ihre Liebhaber, die ſich den Freunden der alten
guten Zeit zuzählten. Zu ihnen geſellten ſich zwey
Claſſen, die ſich leicht in Teutſchland zu jeder guten
Sache finden, und jeder leicht Meiſter werden, die
Phantaſten und Pedanten; jene träumten in ihrer Weiſe
vom Mittelalter, wie früher die Ritterbücher; dieſe
hiengen ſich an das Starre, Todte, den öden Buchſta¬
ben als das eigentlich Urkundliche, und Hallers Buch,
das zu viel Verdienſtlichem und Guten, ſchon an ſich
viel Irrthümliches enthält, nach eigner Anſicht umge¬
deutet, bildete Schule unter Beiden.
Zu dieſen theoretiſchen Spielereyen kamen praktiſche
ſtärkerverletzende Intereſſen. Unter den Inſtitutionen,
die als noch wirklich beſtehend aus der früheren Ver¬
gangenheit zu uns gelangt, war die des Adels die¬
jenige, die noch die meiſte unmittelbar ins öffentliche
Leben eingreiffende Wichtigkeit beſaß. Die Standes¬
herren hatten beym Congreſſe in der Bundesakte einen
eignen Artikel für ſich ausgewirkt, der ſie als die
am meiſten privilegirte Claſſe im Staat erklärte. Da
die Territorialfürſten, die einſt ihnen ebenbürtig, ſie
nun überwachſen hatten, für das Allgemeine auf dem
Congreſſe und fortdauernd auf dem Bundestage nichts
gethan, zu keinem Opfer ſich verſtanden, und jeder
nur ſeinem Gewinne nachgegangen; ſo fanden auch
ſie keinen Beruf, für ſich großmüthiger zu ſeyn,
als ihre Gewaltiger; ſie beſtanden alſo auf dem, was
ſie gleichfalls ihr altes Recht nannten, und deuteten
den Artikel in der ihrem Vortheil günſtigſten Weiſe.
Als es aber nun zur Ausführung kam, und ihre
Befriedigung im Ganzen größtentheils nur auf Ko¬
ſten der Gemeinen geſchehen konnte, erhoben dieſe
heftigen Widerſpruch, und die alte Zeit, worauf
jene ihre Anſprüche begründeten, wurde dieſen darum
zuerſt verdächtig. Als bald die lange Reihe der übri¬
gen Privilegien und Forderungen auf den tiefern und
höheren Stufen ſich dieſen angeſchloſſen, und ſo viele
Fürſten zögerten mit der Erfüllung ihrer Gelöbniſſe:
da ſchrieb man dem Adel, der ihr Ohr beſitzt, die
Urſache dieſes Zauderns zu, mit Unrecht zum Theil,
da, wenn in dieſer Hinſicht eine Klage ſtatt fand,
eigentlich nur die Höflinge angeklagt werden konnten.
Bey ſtets ſteigender Erbitterung mußte daher das Ver¬
gangene einen großen Theil der Abneigung auf ſich neh¬
men, welche die Gegenwart verſchuldet hatte, und
die Geſchichte erſchien bald den aufgebrachten Gemü¬
thern nur als die Rüſtkammer, aus der jede Abge¬
ſchmacktheit, jede tyranniſche Anmaßung und jede
brutale oder abgefeimte Willkühr ſich nach ihrem Be¬
darfe die nöthigen Waffen holte.
Während in ſolcher Weiſe Teutſchland in ſei¬
nen verworrenen Verhältniſſen ſich abarbeitete, und
alſo eine neue Umkehr und Selbſtvergeſſenheit vorbe¬
reitete; hatte Frankreich die Bühne, die mit dem
Sturze Napoleons zuſammengeſtürzt, ſchnell wieder
aufgerichtet, und ſtatt der großen tragiſchen Stücke
aus römiſcher Kaiſerzeit, wurden nun wieder große
Bürgerdramen, Henriaden mit der nöthigen Zuthat
von Freyſinnigkeit mit dem beßten Ensemble aufge¬
führt. Dort ſtritten in Strophe und Gegenſtrophe
Ultra's mit Liberalen ſtarken Streit; ſie theilten ſich
rechts und links in Haufen und Partheyungen, die,
wenn es galt in geſchicktem Manöver wieder nach
der Mitte in Maſſen ſich vereinigten, und alſo, bald
verbunden bald entzweyt, die Miniſter in der Hof¬
burg belagerten; und das Spiel mit Gewandheit und
Geſchick ausgeführt, fieng an ihrerſeits die verdrü߬
lichen Teutſchen wieder zu ergötzen. Sie bemerkten ſo¬
gleich, daß die Ultra's wieder dieſelben Leute aus
dem Mittelalter ſeyen, die von Norden herunter in
ſteifen Zöpfen den Stock predigten und die Leibeigen¬
ſchaft, Preußenthum und die Heimlichkeit, und was
ſonſt in der Heimath von ſolchen lieblichen Klängen
ihr Ohr erfreuete; die Liberalen aber ſchienen ſo
ziemlich ihres Gleichen; zu wollen ihren Willen, zu
leiden ihre Uebel und zu kämpfen für ihre Sache.
Darum leicht verſöhnlich und bald vergeſſend alte Un¬
bill, wie ſie in ihrer gutmüthigen Sinnesart ſich ge¬
ben, fiengen ſie ſchnell wieder an, dem leichten Franz¬
wein Geſchmack abzugewinnen, erſt mit Maaße und
geſchämig zu ſich nehmend, um des häuslichen Ver¬
druſſes zu vergeſſen; allmählig aus Gewohnheit trin¬
kend und mit Wohlgefallen ſich berauſchend. Einmal
erwärmt, fiengen ſie dann an laut zu werden, und
an dem Streite mit Zuruf und Ermunterung, bald
auch mit eigenen Schlägereyen Theil zu nehmen. Ob¬
gleich, wie an den Beſtand der Liberalen in Frank¬
reich zum Theil die Emancipation Teutſchlands ge¬
knüpft iſt, ſo an den der Ultra's ſeine Ruhe und
Sicherheit; ſo nahmen ſie doch, uneigennützig, wie ſie
ſind, ohne Bedenken entſchieden gegen die Letztere
Parthey, und wünſchten mit heißen Segenswünſchen
ihre gänzliche Ausrottung und Vertilgung.
Als aber die Franzoſen ſo unverhofft neu aufkei¬
mende Freundſchaftstriebe im Herzen der vom Kreuz¬
zuge heimgekehrten Teutſchen, die ſie noch alle ob des
alten Schimpfes ſich aufſäßig glaubten, bemerkten;
da färbte ſich ihnen die alte verblaßte Hoffnung wie¬
der grün, und ſie beſchloſſen, ſo gute Anlagen nicht
unbenutzt zu laſſen, und legten wie im Times, ſo in
teutſchen Blättern eigene Kanzleyen für die teutſchen
Bundesangelegenheiten an; wo der Fuchs aufs Neue,
freilich noch in's Unbeſtimmte, den Gänſen predigte,
und ihnen ihre Erkenntlichkeit für die bewieſene Zärt¬
lichkeit bezeugte, die Liberalen alles Beyſtandes ver¬
ſicherte, und ihr Beßtes aufs Neue vorzunehmen ver¬
ſprach, ſobald man mit ſeinen innern Angelegenhei¬
ten nur einigermaßen auf's Reine gekommen ſey.
Die Höfe Weſt-Teutſchlands, mit deren Souverai¬
nität ſich eine franzöſiſche Liberalität, die mit Napo¬
leon ſich ausgeſöhnt, beſſer vertrug als jene teutſche,
die zu gründlicher Freyheit noch die verhaßte Einheit
fügte; ließen dieſelbe Freyſinnigkeit, die als Landes¬
produkt Contrebande war, unter franzöſiſchem Stem¬
pel willig ein, und bereiteten der fremden Braut den
Weg, und ließen ſie mit Cymbeln und Pfeiffen durch
alles Land begleiten. Als die wohlbekannte ſüße Stim¬
me wieder über Berg und Auen des rheiniſchen Bun¬
des ſang und klang; da hörten ſie in ihren Löchern,
die Geſellen, die damals, als der Sturm des Herren
über die Zeit gegangen, in der Angſt des böſen Ge¬
wiſſens ſich verkrochen, und kamen heraus um ſich
zu ſonnen, und giengen, als ſie den Zug erblickten,
freudig zu Gefolge. Jene vortreffliche Gattung von
Liberalen, die die Liberalität treiben, wie eine feine
Lebensart, womit man fortkommt bey Groß und
Klein, und Gott dienen wie dem Belial, erkannten
die Gelegenheit, und faßten ſie beym fliegenden Haar.
Andere, die alte fixe Jugendideen ſorgſam durch die
Napoleoniſche Zeit getragen, die dann die einbre¬
chende neue Zeit einigermaßen in Verwirrung ge¬
bracht, fanden ſich im guten alten, oft hart bedräng¬
ten Glauben, wieder auf's Neue hoffend, ſchnell zu¬
recht. Zudem fanden alle Geſcheidten, und mithin die
ganze Maſſe des Volkes in ſo manchen Gegenden, die
noch wirklich nützliche und angemeſſne Inſtitutionen
durch die Revolution erlangt, ſich nicht im mindeſten
geneigt, ſie gegen fantaſtiſche Bilder und Hoffnungen,
oder gar gegen andere fremdartige, abgeſtandene und
erlahmte Einrichtungen auszutauſchen, die man ihnen
aufzudringen die Miene machte.
Darum geſchah, daß die zweyte Parthey, in dem
Maaße wie die von der Erſten immer mehr und mehr
vor dem barbariſchen Unverſtand, der ſich entwickelte,
verſtummen mußte, um ſo ſtärker Boden gewann,
und, viele praktiſche Menſchen, verzweifelnd, daß je
aus dem teutſchen heilloſen Unweſen; aus dieſem
ſtillen, ſtockenden, grün beſchlagenen Sumpfe, in dem
alles Beſſere früherer Zeiten unter Moder und Schlamm
begraben liegt, etwas Gedeihliches ſich entwickeln
werde, traten auf dieſe Seite; und Paris iſt nochmal
auf dem Wege, die Hauptſtadt der liberalen Welt
zu ſeyn, wie es vor Kurzem die der Servilen war.
Wie ehmals die Höfe aus allen Landen dort in die
Lehre giengen, ſo ſollen jetzt die Liberalen dort Frey¬
muth lernen; und wie die Volkshaufen in Smieth¬
field dahin blicken, ſo ſollen auch von da aus germa¬
niſche Einrichtungen nach galliſchen Sitten, Eigen¬
thümlichkeiten, Geſinnungen gerichtet werden.
Auch wir ſollen ſolche Höfe und Pairskammern er¬
langen, die wie ein befeſtigtes Lager in Mitten von
Feindesland ſtehen; wozu freilich die Unſrigen, die
um und um, weit und breit zu ihrer Verzweiflung
in Freundes Land ſich fanden, durch reiche Saat
des Haſſes, die ſie ausgeſäet und ihre künſtliche Be¬
wirthſchaftung, treulich vorgeſorgt. Auch wir ſollen
uns etwa mit jener parlamentariſchen Comödie abfin¬
den
den laſſen, und ſolche Kammern der Gemeinen gewinnen,
die auf nichts ruhen, als den Coterien der Hauptſtadt
und der Zeitungen, und in Mitten einer durch alle Ele¬
mente durchgeführten Despotie, allein die Freyheit
vertreten ſollen, darum immer ſchwanken zwiſchen Auf¬
ruhr und Unterjochung, und ewig das langweilige
Scherzſpiel ſpielen, die Miniſter, die ihrerſeits mit
allen Seiltänzerkünſten ſich im Gleichgewichte zu hal¬
ten ſuchen, aus ihren Stellen zu vertreiben, und
ſelbſt wieder vertrieben zu werden.
Zwar iſt zu hoffen, daß auch dort die Inſtitutio¬
nen mit der Zeit ſich beſſer befeſtigen werden; es haben
wichtige Elemente des öffentlichen Lebens in dieſem
Lande ſich entwickelt, die wir achten ſollen und ehren auch
am Auslande, mit dem der Friede uns verſöhnt; es iſt
vor Allem dort eine Schule aufgethan, in der weltkluge,
gewandte, verſchlagene Staatsmänner ſich dem Lande
bilden, die die bleichſüchtigen, zaghaften Zöglinge unſe¬
rer ſitzenden und ſchreibenden Schule leicht überliſten
und düpiren: aber damit iſt für das innere Glück
des Volkes zur Zeit immer noch wenig ausgerich¬
tet, und es liegen wohl noch andere Keime in
dem Unſrigen, die auf eine weit fruchtbarere Weiſe
ſich entfalten werden, wenn es zwar nicht in thörich¬
tem Dünkel das Fremde verſchmäht, aber auch nicht
in noch thörichterer Selbſtvergeſſenheit die Eigenthüm¬
lichkeit in fremder Nachahmung ganz untergehen läßt.
Indem mit dieſen Partheyanſichten ſich zuerſt die
üble Laune, dann der Unmuth, endlich die Erbitterung
der Zeit verband; indem vielfältig ſich kreutzende In¬
tereſſen alles durcheinander miſchten, zu den gewöhn
7
lichen Mißverſtändniſſen auch die gefliſſentlichen Ent¬
ſtellungen ſich geſellten; als der böſe Argwohn, der
in den Gemüthern ſich erhoben, nach und nach Alles
vergiftete und verzerrte: da iſt jene furchtbare Ideen¬
verwirrung entſtanden, die die gegenwärtige Zeit be¬
zeichnet, wo niemand mehr den Andern zu verſtehen
ſcheint; die Meinungen alle Striche der Windroſe
durchlaufen, und aus allen Weltgegenden gegenein¬
ander blaſen; wo, wie beym Thurmbau, wenn Mör¬
tel gefordert wird, der Arbeiter Steine bringt, und
Holz, wenn jener Ziegel verlangt, und mitten in der
Sprachverwirrung, wie dort nach altem Scherze, nur
das Wort Sack Allen gemein geblieben.
Wie der Fremde, Davouſt, jene Deputirten ange¬
fahren: Ihr habt kein Teutſchland, ich kenne nur
Preußen, Bayern, Hannover u. ſ. w.; ſo iſt bey den Einhei¬
miſchen die Rede von der Einheit des Vaterlandes den
Einen eine Narrheit, den Andern gar Hochverrath
geworden. Der Teutſche ſey darauf angewieſen, in
ſchöner Univerſalität allen Völkern anzugehören, iſt
die Lehre des Tages; zugleich Schweizer, Trödeljude, La¬
kay und Klopffechter der ganzen Welt, ſoll er des Vaterlan¬
des, das ſie in Fezzen zerriſſen, nimmer gedenken unter
Strafe und ſtrenger Ahndung. Alle Frazzen des Auslandes
mag er um ſich hängen; als aber die Jugend verſucht,
die eigne alte Sitte und Tracht zurückzuführen, da
wurde es als die tollſte Teutſchthümmeley geſcholten
und verhöhnt. Als jene Künſtler in Rom in eine
Innung ſich brüderlich verbunden, und in gemeinſa¬
mem redlichen Streben um des Vaterlandes Ehre aus¬
zubreiten, ihre Kunſt auf die alte gute teutſche Schule
aufgeſetzt, da wurde auch das ihnen als Myſtizism,
revolutionäres Beſtreben und Rückſchritt in's dunkle
Mittelalter ausgelegt; und der Hof dem ſie, ehrend
das alte Kaiſerhaus, ihre Werke ausgeſtellt, verläug¬
nete ſie vor dem ſchadenfrohen Ausland, das dafür
beider Theile gleich ſehr ſpottete, und ſie mußten
noch obenein von proteſtantiſchen und antiken Kunſt-
Zeloten in allen teutſchen Zeitungen ſich mit mitleidi¬
gem Rathe zurechtgewieſen ſehen.
Das Kreuz auf dem Schlachtfelde von Leipzig iſt
umgerißen, und die Handlung hat wie billig ihre
Vertheidiger gefunden; da bey jeder Gränze ein ande¬
rer Patriotismus beginnt, hoffentlich bald durch eigne
Mauth gehütet, ſo hat Sachſen ein unwiderſprechliches
Recht auf den Seinigen. Napoleon halten ſie am Fel¬
ſen feſtgebunden, damit der alte blinde Simſon nicht etwa
entrinne, und die Säulen des faulen europäiſchen Staats¬
gebändes nochmal faſſend, unter den Trümmern des
Hauſes, auf dem die Caphthorim und Philiſtin ſitzen,
ſie mit ſich begrabe. Seine Inſtitutionen ſtehen noch
Alle wohlbehalten, ſeine Ideen ſind hochgeehrt; ſeine
Münze, nur mit ſchlechtem Zuſatze legirt, iſt in Scheide¬
münze umgeprägt. Frankreich pflegt die Freyheit, die
wir ihm gebracht, wir haben zum Lohne ſeine alte
Dienſtbarkeit uns mit nach Hauſe genommen.
Was wir früher in der ſogenannten Begeiſterung
geſprochen und gethan, ſind leicht verzeihliche Jugend¬
ſünden, bey denen unſer Gedächtniß nur mit Geſchä¬
migkeit verweilt. Die aber jetzt noch leben wollen in
den Ideen dieſer Zeit; die ſtarr und eigenſinnig ſich
nicht fügen mögen der Wandelbarkeit der Dinge,
7*
die werden billig als tolle Narren an die Kette gelegt,
ob ſie etwa noch lernen die Geſchmeidigkeit, die jene
mit ſtets heiterer Stirne durch alle Schande durch¬
geführt. Die aber ſtehen eben ſo billig oben an, die
wenn ſie mit dem Feinde gezettelt, und ihm jede ſich
gegen die Knechtſchaft erhebende Reaktion verrathen
haben, ſpäter ihr Thun mit der großen Zeit zu ent¬
ſchuldigen frech genug geweſen.
In ſolcher gänzlichen Umkehr binnen ſo kurzer Friſt
aber hat ſich nothwendig der ganze Ideenkreis der be¬
dächtigen Teutſchen verwirrt, verſchoben und umge¬
kehrt. Den Einen iſt alles Hiſtoriſche ein Aberglaube;
den Andern jede Vertheidigung des guten Rechts ein
revolutionärer Greuel; in toller Verwirrung treiben
die Meinungen durcheinander; kein Grundſatz ſteht
feſt, kein Band hält die bunte Gedankenwelt in ſich
zuſammen; keines knüpft was geſtern galt, an das
was Morgen gelten wird; ein kurzes, ſtets kürzerwer¬
dendes Gedächtniß vergräbt das Vergangene in glück¬
liche Vergeſſenheit. Nach den Einen ſind zwar nur
vortreffliche Fürſten im ganzen teutſchen Lande, aber
ein verruchter Adel iſt eingewandert, der alles Ue¬
bels Urſprung, Mitte und Ende ſeine Zwingburgen
wieder zu bauen denkt, um dort Wegelagerung zu
üben, und ob zwar ohne Fäuſte, doch das Fauſt¬
recht zurück zu führen. Nach den Andern iſt eine
Gattung Jacobiner im Reiche aufgeſtanden, die eine
unterirrdiſche Revolution betreiben, und nachdem alle
vornehme Hälſe abgeſchnitten, die eine und untheil¬
bare Republik errichten werden. Nicht mehr Glieder
eines Leibes wollen die verſchiednen Stände ſich ver¬
tragen; als ſeyen ſie verſchiedene Völkerſchaften, ſind
ſie gegeneinander ausgezogen, und feinden ſich gehäſ¬
ſig an. Jeder für ſich baut nach eignen Anſichten
und Intereſſen ſich ſeine eigne Welt und die ihm be¬
queme Verfaſſung, aber keine durchgehende Axe will
das Widerſprechende vereinen. Nach dem Beyſpiele,
das die Höheren gegeben, will keiner zu einem Opfer
ſich willig finden; und da alle bürgerliche Ordnung
ein Geben im Nehmen und ein Nehmen im Geben
iſt, ſo will keine Solche ſich geſtalten, weil nur Neh¬
mer, aber keine Geber zur Stelle ſind. In Mitte der
Verwirrung ſchwanken die Regierungen rathlos und
ungewiß; zürnend haben des Himmels Sterne ihnen
ſich verhüllt, der irdiſche Compaß ſchwankt und trügt, die
Politik iſt ausgegangen, und die Tradition hat ſie verlaſſen;
was ihnen helfen kann, jagt ihnen Furcht ein, wor¬
auf ſie Vertrauen haben, zergeht und zerbricht kraftlos in
ihren Händen; ihre Ordnung erſcheint der Zeit wie
Pedanterie, und ihnen dafür jede Kraft und Willens¬
macht als Jacobinism. Die da ſcheiden ſollten die
Partheyungen durch ruhige Würde und Gerechtig¬
keit, haben ſich ſelbſt unter die Streitenden gemiſcht,
und indem ſie Parthey genommen, werden ſie in der
Hitze des Kampfes zertreten mit den Andern.
Beſonders auf die Jugend mußte dieſe Zwie¬
tracht der bewegten Zeit einen merklichen Einfluß
üben. Wenn wirklich aus der Verweſung der ver¬
gangenen Welt ein neuer Geiſt bildend und neu ge¬
ſtaltend aufſteigen ſoll, dann muß er nothwendig zu¬
erſt in dem neuen Geſchlechte geboren werden, das
die werdende Zeit zu beherrſchen geſendet iſt. Mag
die abſteigende Generation in ſtiller Gewiſſenserfor¬
ſchung des Nachgenuſſes ihrer Thaten ſich erfreuen;
mag ſie ihre Irrthümer beweinen, oder mit ſtarrem
Eigenſinne ihre Thorheiten zu vertheidigen ſich bemü¬
hen: die Aufſteigende ſoll mit friſchem Lebensmuthe
in die Geſchichte treten; keine Erfahrung der Vergan¬
genheit darf ſie verſchmähen, aber auf die Erbſchaft
jener Irrthümer und Thorheiten mag ſie billig jedes
Anſpruchs ſich begeben; vor Allem aber in reger Theil¬
nahme an allem Oeffentlichen ſoll ſie durch jede ge¬
wonnene Tüchtigkeit ſich zu dem Werke ſtärken, das
ſie zu vollbringen berufen iſt.
Dieſem Berufe iſt die Jugend mit Ehre nachgekom¬
men, damal als es galt, die junge Freyheit mit dem
Schwert zu ſchirmen, und den neugebornen Zeus
gleich den Cureten und Corybanten mit Waffentanz
und Erzes Klang vor dem lauernden Feind zu ber¬
gen; vom Felde zurückgekehrt, haben die Univerſitäten
ihrer Viele aufgenommen, und mit der lautern Milch
der Disciplinen ernährt, iſt der Geiſt erſtarkt und
groß gewachſen. Darum iſt es eine Thorheit, dieſe
natürliche Entwicklung anzuklagen, an ihrer Leitung
allein kann die Weisheit der Alten ſich bewähren.
Habt Ihr gute Geiſter heraufbeſchworen, warum fürch¬
tet Ihr Euch vor ihnen? ſind es Böſe, die Ihr zitirt, dann
zahlt Ihr mit den Aengſten nur, was Ihr verſchuldet:
denn ſo Ihr lauter ſeyd, vermag Satanas ſelbſt mit allen
ſeinen Geſellen Euch nichts anzuhaben!
Darum that Gelaſſenheit vor Allem Noth im An¬
geſichte dieſer Jugend; aber man hat ihr Furcht ge¬
zeigt, und ſich und ihr viel Uebel damit bereitet. Als
man bey den Gebeinen Luthers in Wittenberg den
Jahrestag der Reformation gefeyert, da fuhr der
Geiſt des Reformators, — zürnend, daß man dieſelbe
Reformation an Haupt und Gliedern, die er der
Kirche angeſonnen, gutheiße, aber vom Staat, an
den ſie jetzt die Zeit geſinne, abweiſen wolle, und ſo
ein zweytes furchtbares Gericht über Teutſchland
ziehe, — auf die Wartburg, wo einige hundert Jüng¬
linge, in einer der Seinigen verwandteren Geſinnung,
dieſelbe Feyer zu begehen ſich verſammelt hatten.
Was am Tage in meiſt würdiger, anſtändiger Hal¬
tung vorgefallen, iſt der Welt bekannt geworden; auch
wie am Abend, nach dem Vorgange des Reforma¬
tors, die Symbole der alten Knechtſchaft, und eine
Anzahl Bücher, zum kleinſten Theil unſchicklich gewählt,
größtentheils aber längſt von der Nation verurtheilt
und gerichtet, den Flammen übergeben wurden.
Die Handlung konnte allerdings ein heilſames Nach¬
denken wecken, wie nach Verlauf dreyer Jahrhun¬
derte gleiche Verhältniſſe, die gleiche Erſcheinung zu¬
rückgebracht; man konnte an den Fehlern, die damals
die herrſchende Kirche gemacht, eine warnende Lehre
für die eigne Handlungsweiſe nehmen; aber gegen
das Symptom der verborgenen Krankheit blind zu
wüthen, mochte wenig frommen; noch wollte es ſich
geziemen, mit den Jünglingen um eine That zu rech¬
ten, die nur wichtig wurde durch die Folge, die man
ihr geben wollte. Aber ſtatt in beſonnener Ruhe die
Sache zu nehmen, für was ſie gelten konnte; zu lo¬
ben, was des Lobes würdig war, und was mißfiel,
etwa mit heiterer Ironie abzuweiſen, ließ man ſich
durch den erſten Eindruck und das Geſchrey der ver¬
letzten Eitelkeit beherrſchen, füllte die Welt mit An¬
klagen des unerhörten Frevels, ſtellte Unterſuchungen
an und Ambaſſaden, die wieder keine Folgen hatten,
und weckte ſo zuerſt die Idee großer Wichtigkeit in
den jungen Leuten, und zugleich war das ganze Ge¬
heimniß der Schwäche mit einemmal verrathen.
Als die Studenten beym Anblicke des heilloſen Zu¬
ſtandes, in den die Theilung das Vaterland geſetzt,
wenigſtens im Univerſitätsleben dieſe Theilung zu ver¬
bannen, und die Landsmannſchaften in eine Burſchen¬
ſchaft zu vereinigen ſich bemühten: da war es wohl
gerathen, wenn die Regierungen ja davon Notiz neh¬
men wollten, durch angemeſſene Einwirkung Solcher,
die das Vertrauen der Jünglinge beſaßen, die Sache
allmählig dahin zu lenken, daß die Landsmannſchaf¬
ten an ſich gleichfalls auf ſehr naturgemäßen Bezie¬
hungen beruhend, und darum nicht auszurotten, in
die Einheit aufgenommen wurden, alſo daß das Viele
die Vereinigung ſpanne, und dafür wieder die Be¬
ruhigung von ihr erhalte. Aber es ſchien, als ob das
Bild der verhaßten Einheit ſchon verletze; gerade
die ſchöne, ſittliche Würde und Ruhe, die ſich in der
Burſchenſchaft entwickelte, ſchien mehr zu ängſtigen,
als das Gegentheil, das bisher an den Landsmann¬
ſchaften beſtanden hatte; darum wurden dieſe wohl
eher begünſtigt: und ſo geſchah es, daß, indem eine
unheilbare Trennung zwiſchen ſie und die Unitarier
kam, zu den vier Secten nur eine Fünfte ſich geſellte,
die ſich nun befehden, — beſonders ſeit die plumpe
Behandlung der Göttinger Univerſität die dortigen
Landsmannſchaften überall hinverſprengt, — und daß alſo
auch das Univerſitätsweſen zum Bilde unſerer öffent¬
lichen Verwirrung wurde, wo die Einheit, die ſich
vertragen ſollte mit der Vielheit, im Kampfe mit ihr
ſtreiten muß. Die Jünglinge, die Jene vertheidig¬
ten, erbittert über den Widerſtand, den ſie erfuhren;
entrüſtet über die allgemeine Anfeindung, die ſie ver¬
folgte, und den lauernden Argwohn, der alle ihre
Schritte bewachte, und dem ſogar der Knaben Trei¬
ben auf den Turnplätzen ein Gegenſtand des Schre¬
ckens war, zogen nun zum Theil in's Geheimniß ſich
zurück. Indem ſie hier den Zuſtand des Vaterlandes
überlegten, und ſich berufen glaubten, nach der Weiſe
wie man ſie genommen, bald möglichſt einen Beſſern
herbeyzuführen, mußte ſich in der Stille bey ihnen
jener Geiſt ausbilden, der, als er in einigen Erſchei¬
nungen an den Tag getreten, die Regierungen gänz¬
lich außer Faſſung gebracht zu haben ſcheint.
Der Streit der Partheyen, der die Zeit, entzweyt,
war bald auch bis zu ihnen hingedrungen, und ſie
mußten die ihrige ſich wählen. Für die Jugend iſt
die Geſchichte wenig nur vorhanden, und ihr Leben
ſelbſt hat die eigene Geſchichte eben erſt begonnen;
jener innere Sinn, der die Zukunft in der Vergan¬
genheit erblickt, iſt ihr nur erſt wenig aufgegangen,
und ihr ganzes Weſen iſt nur eine friſche, volle, ſich
ſelbſt kaum faſſende, überſchäumende Gegenwart, die
alles, was werden ſoll, in ſich zu beſchließen glaubt.
Im Bewußtſeyn ſo viel freyer, ſtrebender Kräfte iſt
ſie nicht geneigt, nach dem, was einſt geweſen, ſich
umzuſehen, und ſie hält ſich daher, ihrem Naturtrieb
folgend, am liebſten zu jener idealiſtiſchen Parthey, die
auf ihre eigene Hand die Welt zu geſtalten ſich be¬
müht, und wie die Spinne zugleich Webſtuhl iſt und
Weberin des eignen ſelbſterzeugten Stoffes. Vermöge
ihrer Stellung aber wollte auch die teutſche Jugend
die Vertreterin des teutſchen Weſens ſeyn, und das
erwählte Rüſtzeug um im Kampfe mit der entarteten
Gegenwart die beſſere Vergangenheit zurückzuführen,
und die Ehre Teutſchlands gegen Welſchland zu be¬
haupten. Indem ſie in dieſem Beſtreben der hiſtori¬
ſchen Parthey angehörte, und mit ihr Verfolgung litt,
fand ſie ſich aber mit ſich ſelbſt in einen Widerſpruch
geſetzt, den ſie am einfachſten dadurch zu löſen glaubte,
daß ſie etwa einen Schritt weiter zurückgieng, als
die Reformatoren in der Kirche gethan, durch die
teutſche Geſchichte rückwärts bis zu dem Punkte hin,
der im Leben des Volkes ihrer eigenen Lebensſtufe
entſprach.
Die Geſchichte ſey allerdings zu ehren, war die
Meinung, aber hinter ihr liege ein Naturſtaat, der
gleichfalls noch zu ihr gehöre; jetzt wo alle Bande der
Geſellſchaft verrottet, alle Stände verwittert ſeyen,
wo das Leben und die Geſchlechter der alten Dynaſten
nach und nach verſiegt, ſey ein ähnlicher Zuſtand der
Dinge äußerlich zurückgekehrt, und es gelte aus eig¬
ner friſcher Natur heraus ein neues Recht zu grün¬
den. Damit war der Contrat social, nur in teutſchen
Formen, zurückgekehrt; wie vor wenig Jahren die
Jugend in philoſophiſchen Conſtructionen des Weltalls
ſich gefallen, ſo wurden die conſtruirenden Kräfte
jetzt an den geſellſchaftlichen Verhältniſſen geübt; und
nachdem die verſchiednen Dimenſionen der Verfaſſung
durchlaufen waren, befeſtigte ſich die Betrachtung end¬
lich ganz natürlich bey der Durchdringung aller in der
Republik.
Unterdeſſen ſorgten die Ereigniſſe, daß es dem
Eifer nicht an Reiz, der Leidenſchaft nicht an einem
Stachel fehle. Frau von Krüdner, wenn auch in
etwa phantaſtiſch und geſpannt in ihrer Frömmigkeit,
doch wohlmeinend, liebreich, menſchlich in ihrem Thun,
war von den Pfaffen verläſtert, von der Polizey ge¬
hetzt, endlich durch die Gensdarmerie von Brigade zu
Brigade nach Rußland zurückgeführt, dafür daß ſie
gebetet mit den Leuten, ihnen den jüngſten Tag ver¬
kündet, und dagegen die Hungernden geſpeißt und
gerettet hatte. Da ſandte der Kaiſer Alexander den
Kotzebue, und wenn jeder Anflug von Begeiſterung
ſchon die feige Zeit in Angſt und Zittern ſetzt, ſo war
dieſer, der ſchon bey ſeinem erſten Auftreten in der
Jugend mit einem Capitale von Verruchtheit angefan¬
gen, womit andere Bemittelte wohl zu enden pflegen,
und der ſeither zum Kaiſer alles Pöbels, aber zum
Abſcheu aller Wohlgeſinnten ſich erhoben, dieſer war
der Mann wie ihn ſich die Zeit gewünſcht, und wäh¬
rend Cenſuren und Gerichte jedes Wort bewachten,
das zum Frommen Teutſchlands gegen das heilloſe Un¬
weſen der Zeit geredet wurde, durfte er ſich in der
Mitte des Landes niederſetzen und ungeſtraft höhnen,
alles was dem Volke werth und ehrwürdig geworden.
Ihn hatte der Kaiſer aller Wahrſcheinlichkeit nach in
unſchuldiger Abſicht ausgeſendet, daß er ihm ein Beob¬
achter und Deuter deſſen ſey, was ſich in dieſem Lande
voll ſchwer verſtändlicher Richtungen und Beſtrebun¬
gen bewege. Aber indem er die unglücklichſte aller
Wahlen zu dieſem Vorhaben getroffen, mußte ein böſer
Argwohn von dem Manne dieſer Wahl auf den Zweck
der Sendung ſich verbreiten.
Nur allzu ſehr wurde dieſer Verdacht beſtärkt, als
jener mißbrauchend ſeinen Auftrag rechtliche Männer
hämiſch verläumdete, und als die Bosheit ſich ent¬
deckt, die Ahndung des Geſetzes nicht gegen den Ver¬
läumder ſich richtete, ſondern was kaum zu glauben,
gegen die Verläumdeten, weil ſie das Werk der Fin¬
ſterniß ans Tageslicht gezogen. Noch ſchärfer wurde
die erzürnte Spannung, als die an ſich nicht übel
gemeinte, ſpäter mit ſchamloſer Frechheit als offiziell
erklärte Schrift Stourdzas in einer Weiſe von den
Teutſchen und ihren Inſtitutionen ſprach, die kein
Volk von einem Fremden ſich bieten laſſen darf. Der
allgemeine Unwillen über dieſe Schrift und mehr noch
den ſichtbaren Eindruck, den ſie in den höheren Re¬
gionen gemacht; die Entrüſtung, daſſelbe Ausland dem
die Meinung die Vernichtung ſo mancher Erwartun¬
gen längſt zuzuſchreiben ſich gewöhnt, nun auch auf
eine ſo empörende Weiſe die Schwäche mißbrauchend,
ins Innere eingreifen zu ſehen, mußten beſonders bey
der Jugend, deren Freyheiten, den letzten ärmlichen
Reſt eines früheren beſſern Zuſtandes, man ſo fre¬
ventlich anzutaſten gewagt, tiefen Eindruck machen.
Unter ſo viel raſchen jungen Leuten, deren ganzes Herz
und alles Sinnen und Trachten dem öffentlichen Leben
ſich zugewendet, mußte beynahe unausbleiblich ein
Funken dieſer ſo unvorſichtig angeſchürrten Feuers¬
brunſt zündend in das Reich dunkler Gewalten, die
des Menſchen Bruſt umſchließt, herniederfahren; und
die Schlafenden aus ihrer Ruhe wecken, daß der höher
und höher ſich hebende täglich gereizte Grimm endlich
übertrat. In Sand mußte der Durchbruch des Damms
zuerſt geſchehen, und das Verderben mußte natürlich
den am erſten treffen, der ſeither am geſchäftigſten
ihn zu unterwühlen bemüht geweſen. Der Jüngling
nahm es über ſich, ſich ſelbſt den Vollmachtsbrief zur
That zu ſchreiben, und ſie mit eigner Hand auszu¬
führen; und weil ſein Maaß gefüllt war bis zum
Rande, und bereit es über ſein Haupt auszugießen,
wurde der, den er geſucht, in ſeine Hand gegeben;
er ſelbſt aber gab der erzürnten Nemeſis das eigne
Leben zur Sühne hin, nach alter Lehre, die Blut
um Blut gebietet.
Wie ein Blitz ſchlug die That ins Volk; ſeit den
Jahren der Erhebung war nichts mehr geſchehen,
was es ergriffen hätte; was lange unverſtändlich nach
Verſtändigung gerungen, hatte jetzt das Wort gefun¬
den; eine blutige That war wieder der Punkt gewor¬
den, in dem Aller Gedanken ſich verſammelten; und
die Meinung war ſchnell über das Ereigniß einver¬
ſtanden: Mißbilligung der Handlung bey Billigung
der Motive, erneutes Gefühl der Nähe der ewigen
Gerechtigkeit in allen menſchlichen Dingen, ein helles
Schlaglicht über den Zuſtand des Vaterlandes herge¬
worfen, und erneuerte lebendige Theilnahme an den
öffentlichen Angelegenheiten, waren die Reſultate der
allgemeinen Bewegung, die erfolgt. Die Meinung
hatte ein großes Stufenjahr zurückgelegt, ein tiefer
Ernſt war über die Zeit gekommen, die ſeither mehr
ſpielend mit den Ereigniſſen ſich abgegeben.
Dem Schlage, der die Gemüther in allen Tiefen
aufgeregt, folgte bald ein Zweyter, gerade durch die
ſchnelle Folge furchtbar und erſchütternd. Ein junger
Mann, dem das machiavelliſtiſche Syſtem, das ſeine
Heimath umſponnen hielt, längſt ein Greuel geweſen,
hatte eine an ſich gutartige, ruhige aber finſter in ſich
gekehrte Natur durch jenes gallenbittre Zornesfeuer zu
einem Grade entzünden laſſen, daß auch er durch
eine Gewaltthat jene Netze zu zerreißen bey ſich beſchloß.
Er hatte den Präſidenten Ibell, in dem er den Urhe¬
ber dieſes Syſtems gefunden, zum Opfer auserſehen.
Aber es iſt noch kein des Todes würdiges Verbrechen,
wenn die übermüthige Kraft über die Menge, die auf
geſetzlichem Wege ſich der Dienſtbarkeit erwehren kann,
auch ſogar durch verwerfliche Mittel, ſich der Tiran¬
ney bemeiſtert; nur ſo viel kann von Freyheit der Maſſe
zu Theile werden, als ſie zu verdienen weiß, und ge¬
waltthätige Handlungen können nimmer den Mangel
des Verdienſtes erſetzen. Das war der zweyte Irr¬
thum des jungen Mannes, außer dem, den er mit
Sand gemein gehabt, beide hat er mit dem Leben be¬
zahlen müſſen; an dem Angegriffenen aber iſt der To¬
desengel vorbeygegangen, grimmig hat er ihm ins
ſcheue Auge hineingeblickt, und es iſt zu hoffen, daß
er den Blick verſtanden, und die furchtbare Cata¬
ſtrophe zu ſeinem Seelenheile diene.
So iſt denn das Schickſal, mit dem ſie auf der
Bühne ſo lange ihr Spiel getrieben, furchtbar mitten
unter ſie getreten, daß das Entſetzen in ihrem Leicht¬
ſinn ſie gefaßt, und ein tiefes Grauen vor ſeiner dun¬
keln Macht. Da ſie dem Chriſtengotte abgeſagt, iſt
der alte Jehova wieder heraufgeſtiegen, der da iſt:
»ein eifriger Gott, ein Rächer, zornig und von gro¬
ßer Kraft, deſſen Wege im Sturm und Wetter ſind,
vor dem ein freſſend Feuer hergeht, während Dunkel
unter ſeinen Füßen iſt, und der mit ſeinem Donner
donnert und große Dinge thut, und doch nicht erkannt
wird.« Es iſt eine furchtbare entſcheidende Stunde,
wenn das erſte Blut in bürgerlichen Unruhen gefloſ¬
ſen iſt, und die erſten Opfer fallen; es iſt die Ge¬
burtsſtunde einer ganzen verhängnißvollen Zukunft,
die je nachdem die guten oder böſen Sterne überwie¬
gen, ſich geſtaltet. Noch iſts ein glückbedeutend Zei¬
chen und ein Pfand, daß der Himmel immer noch
Teutſchland gnädig iſt, daß nicht wie ſo oft ein kal¬
ter, nackter Frevel das Loſungswort gegeben, ſon¬
dern eine Gewaltthat, von ſonſt reinen Händen im
Irrthum des Herzens ausgeübt, und die durch ihren
zwiefachen Charakter noch zwey Wege der Wahl den
Weg des Tages und den Weg der Finſterniß offen läßt.
Das haben die Wenigſten unter denen bedacht, die
über dieſe Sache öffentlich geredet, und wieder bewie¬
ſen haben, wie tief die Weltklugheit der Schriftge¬
lehrten unter dem geſunden Sinne des Volkes ſteht.
Daß die That nicht chriſtlich geweſen, darüber ſind
ſicher Alle mit Steffens einverſtanden, aber Gott weckt
bisweilen eine heidniſche Tugend, um jene chriſtliche
Heucheley zu ſtrafen, die während ſie mit Leichtſinn
ungerechte Kriege beſchließt, worin hunderttauſende von
Menſchen fallen, nur dann des Chriſtenthums gedenken
will, wenn die Flamme, der ſie von ferne mit Vergnügen
zugeſehen, endlich das eigene Dach ergreift.
Man hat dem Thäter frevelhaften Hochmuth vorge¬
worfen, daß er alſo Gott und der Obrigkeit aus eig¬
ner beſchränkter, ſchwacher Perſönlichkeit ins Amt
gegriffen: das iſt die rechte und wahre Anſicht für ſich
und Andere, denen etwa nach ſolcher That gelüſten
möchte; aber dem Thäter gegenüber nach vollbrachtem
Werke ausgeſprochen, möchte der Ausſpruch in Bezug
auf ihn ſelbſt nicht allzu chriſtlich ſeyn. Was würde
der Sprechende erwiedern, wenn dieſer ſich etwa in
ſolcher Weiſe vertheidigte: Du ſprichſt von Hoch¬
muth, ſieh dich vor, daß du nicht ſelbſt von chriſt¬
lichem Hochmuth beſeſſen ſeyeſt, bethend ich danke
dir Gott, daß ich nicht bin gleich Dieſem! Glaubſt
du, daß ich ſo leichtſinnig mich zu jener That ent¬
ſchloſſen, deren furchtbare Verantwortung ich gar wohl
gekannt? glaubſt du, daß Gott ein Leben, ſonſt rein
und fromm geführt, ſo grauſam durch kalten geiſti¬
gen Hochmuth verderben werde, und einen ſonſt lich¬
ten Geiſt ſo hart verblenden, daß er die Täuſchung
einer groben Eitelkeit nicht mehr gewahre?
Kennſt du noch nicht das finſtere Reich des Ab¬
grundes, das die Natur beſchließt, glücklich du, wenn
es immer beſchloſſen dir geblieben! alle ſeine dun¬
keln Mächte hat der Geiſt beſiegt, und ſie in jene
Tiefe eingeſchloſſen; aber durch des Menſchen Herz
gehen tiefe Brunnen nieder in ihre Finſterniß; um
den Eingang drängen ſich, Freyheit ſuchend alle Lei¬
denſchaften, aber ihn hält Religion und Sitte feſt
geſchloſſen und verſiegelt, und ſo lange die Pforten
im
im Beſchluſſe bleiben, ſpielt oben das heitere Leben.
Aber hat die Siegel eigne Schuld oder das Unglück
der Zeit erbrochen, und die Thore zum Unterreiche
aufgeriſſen, dann ſteigen alle Schrecken aus der Tiefe
auf; wie Unwetter zieht es aus dem Abgrund; es
faßt den Menſchen mit dämoniſcher Gewalt, und der
einzelne Wille vermag nichts mehr gegen die furcht¬
bare Macht, die ſich gegen ihn entkettet hat. Die
Nacht und alle Furien des Lebens ſteigen durch jenen
Schlund herauf, der Selbſtmord und jeder blutige
Frevel. Mir haben ſie den Geiſt geſendet, den jener
Römer in Aſien und bey Philippi ſah, und er hat
nicht ohne harten Kampf geſiegt.
Wer aber hat die Pforten jenes Unterreiches auf¬
geriſſen, wer hat alle Leidenſchaften losgekettet, und
jene Furien herauf beſchworen? wer hat alle Brunn¬
quellen des öffentlichen Lebens mit Haß und Argwohn zu¬
erſt vergiftet? Als die Römer Edeſſa gewonnen, da hat¬
ten die Kriegsleute, den Tempel plündernd, und unten
an ſeinen Grundveſten gierig nach Schätzen wühlend, wie
die Sage uns berichtet, endlich auch den Stein
weggeriſſen, der von den alten Magiern mit Sprüchen
und heiligen Formeln beſprochen, den Abgrund beſie¬
gelt hielt, in dem ſie die Seuche beſchloſſen hatten,
und dieſe verbreitete ſich ſofort durch die Oeffnung
über die ganze bewohnte Erde hin, und raffte den
dritten Theil des Menſchengeſchlechtes weg.
Ihr ſprecht vom Chriſtenthum, wer aber hat ſeine
Macht zuerſt gebrochen, indem er es zum Deckmantel ſei¬
ner Habſucht und jeglicher böſen Leidenſchaft gemacht?
Wer kreuzigt noch jetzt den Herrn in ſeiner Kirche
8
und würfelt um ſein Gewand? Mit Worten höre ich
ſeine Lehre viel bekennen, aber die Werke ſind nicht
darnach; voll von Leuten ſeh ich den Gerichtshof
ſtehen, die Recht ſuchen und Gerechtigkeit, aber kein
Richter iſt vorhanden; deswegen hat das müßige
Schwert von ſelber ſich an der Wand gerührt, und
ein ſchuldiges Haupt getroffen. Darum und ſintemal
wir denn alle Sünder ſind, ſo richtet menſchlich über
eure Brüder, damit menſchlich über Euch gerichtet
werde. Thut, was Euch durch göttliche und menſch¬
liche Geſetze gebothen iſt; dann wird der Abgrund
ſich von ſelber ſchließen, und ich werde das letzte
Schlachtopfer ſeyn, das er verſchlingt.
So ernſte, tief einſchneidende Vorgänge mußten
nothwendig die angeſtrengteſte Aufmerkſamkeit der Re¬
gierungen auf ſich ziehen. Sie ſind ans Steuer des
Staats geſetzt, damit ſie das Schiff lenken durch jeg¬
liche Gefahr. Aber je hohler die Wellen gehen, je
ſtärker die Brandung ſchäumt, um ſo gelaſſener muß
der Steuermann hinaus in die Bewegung ſehen; will
er der wirklichen Gefahr Meiſter werden, dann darf
er nicht zaghaft vor Eingebildeter erbeben; das
Schwanken, das den Unkundigen in Entſetzen bringt,
wird ihn nicht berühren; ſelbſt das Toben des Ele¬
mentes wird er mit ſcharfem Blicke und gewandter
Hand ſich dienſtbar machen, daß die Kräfte, wenn
auch unwillig und aufbäumend, ihn zum Ziele führen.
Je mehr eine Regierung von der Natur des erſten
Bewegers in ſich trägt, um ſo weniger wird ſie durch
die Schwingungen des Bewegten ſich irren laſſen;
erblickend die Dinge von der Höhe, und gleichſam
wie vom Firmament herab, kann die Weite des Ge¬
ſichtsfeldes und die wechſelſeitige Deckung der Ge¬
genſtände ſie nicht verwirren; faſſend die Häupter aller
Elemente der Geſellſchaft, kann ſie ihrer Bewegun¬
gen leicht Meiſter werden.
Es liegt eine unverwüſtliche erhaltende Kraft in
den geſelligen Verbindungen; derſelbe Inſtinkt, der
ſie zuerſt geſchloſſen, wacht auch unabläßig über die
Erhaltung des Beſtehenden, und keine Regierung
hat nöthig, das Nichtswürdige auf Kundſchaft nach
geheimen Umtrieben zu legen; da, wenn ſie nur eini¬
germaßen würdig iſt, alles Gute mit ihr in einem ge¬
heimen Einverſtändniß ſteht und nicht leicht einen
Frevel, der gemeinſamer Zuſammenwirkung bedarf,
im Verborgnen läßt. Darum, wenn ſie ſonſt der
großen und öffentlichen Bewegungen in der Geſell¬
ſchaft Meiſterin geblieben, darf ſie, am wenigſten in
Teutſchland, vor Verborgenen zittern, und ihre ge¬
laſſene Aufmerkſamkeit und ihr behendes Eingreifen,
wo es Noth thut, dadurch auch um ein Kleines
von ihrem Wege ablenken laſſen. Jeden Uebelgeſinn¬
ten wird ſie bey der That erwarten, zuvorkommend
oder ahndend, wenn es mit jenem nicht gelungen. In
dieſer Kunſt iſt vor den Andern die engliſche Regierung mu¬
ſterhaft geweſen; die Teutſchen haben kaum die erſten
Anfangsgründe begriffen, und was bey jener Gele¬
genheit in Preußen vorgefallen, hat leider einen neuen
Beweis dazu geliefert.
Wie es ſcheint, iſt ſeit Jahren in Berlin, durch
Oertlichkeit, Waſſer, Luft und irgend eine geiſtige In¬
fluenza begründet, eine Geſpenſterſeherey endemiſch
8*
worden, die ſchon früher in unſchuldigern Dingen
manchen lächerlichen Auftritt hervorgebracht. Die Re¬
gierung ſeit lange ſchon beunruhigt durch jene Viſio¬
näre, auf die ſie ſeit der Wartburger Geſchichte we¬
niger geachtet hatte, aber jetzt wie es ſcheint, außer
Faſſung gebracht durch die Vorgänge der jüngſten
Tage, hatte, um ſich Licht zu verſchaffen in dieſen
Dingen, eine Art von Heilsausſchuß mit unbeſchränk¬
ter Vollmacht zu jeder Inquiſition niedergeſetzt. Die¬
ſer, ſtatt auf analytiſchem Wege mit ruhigem Gelaſſe
die offenliegenden Thatſachen, wofern es ſich möglich
zeigte, unter ſich und mit andern Geheimen durch ein
geſchickt geknüpftes Gewebe von Beweiſen zu verbin¬
den, und durch allmählige Induction von Wirkung
zur Urſache und durch alle hindurch zur Erſten, wenn
eine Solche vorhanden iſt, aufzuſteigen; zog in genialer
Art den Synthetiſchen ſolcher Mühſeligkeit vor, in¬
dem ſie das Geſuchte gleich von vorne hinein als eine
unläugbare Thatſache, ein Dogma, oder wenigſtens
ein Poſtulat der reinen Vernunft ſich ſelbſt und der
Welt hinſetzte, und dann in einem salto mortale von
ihm herab ſuchend und inquirirend in die Wirklich¬
keit ſich ſtürzte.
Darum wurde vor dem verwunderten Europa die
Exiſtenz einer großen weitumgreifenden Verſchwörung
auf Hochverrath, aller Orten ein des Todes würdi¬
ges Verbrechen, als das Centrum aller Bewegungen
der Zeit proclamirt, die peripheriſch in jene zwey of¬
fenkundigen Todſchläge ausgegangen; um aber jene
Mitte mit dieſem Umfang nun durch die Brücke ſchrift¬
licher Beweiſe in Verbindung zu ſetzen, wurden jene
Emiſſionen von Polizeybeamten nach allen Theilen
Teutſchlands dirigirt, in der ſichern Erwartung, daß,
was die abſolute Anſchauung alſo geſetzt, nothwendig
durch die Erfahrung ſich beſtättigen müſſe. Aber die
Erfahrung bewies ſich widerſpenſtig gegen dieſe con¬
ſtruirende Metaphyſik der hohen transcendentalen Po¬
lizey; wenigſtens hat ſich, was ſeither bekannt ge¬
worden, als gänzlich unzureichend ausgewieſen, den
gähnenden Schlund zu füllen.
Eine Verfaſſung, aus einer debattirenden Studen¬
tengeſellſchaft hervorgegangen, zu der ſich ſchon ein
junger Mann öffentlich bekannt; nach der, wäre ſie
gedruckt, vielleicht nicht hundert Menſchen aufſehen
würden, und die nichts Strafbares hat, bis etwa ein
Verſuch vorliegt, ſie gewaltſam einzuführen. Eine kleine
Sammlung jacobiniſcher Sentenzen und Metaphern, die
zum Theil Göthe und Novalis verantworten müſſen, und
die aus den Tragikern aller Völker ſich leicht um's
Zwanzigfache verſtärken läßt. Von einem Primaner
aufgeſchriebene Redensarten eines Mannes, der ſonſt
untadelhaft, nur im Sprechen vielleicht von je zu
wenig Maaß gehalten, und den Erguß ſeiner bered¬
ten Zunge ſchleichender Tücke allzu unbehutſam Preis
gegeben. Einige Dolche, wovon Einer aus der Zeit
der teutſchen Kleidertrachten mit Zierde des Bürgers
beſchrieben, was man in frommem Liebeseifer aus
dem atomiſtiſchen ſtarren Seyn in ein dynamiſches
Werden umdeutend, als eine Predigt über die Ver¬
zierung des Bürgers durch Mordgewehre einregiſtrirt.
Einige Brieffragmente, durch die Verluſtration er¬
langt, worin junge Leute ihr Herz wechſelſeitig ſich
ergießen, das freilich nur allzu oft des bittern Zor¬
nes voll ſeyn mag: das iſt der kärgliche Ertrag, den
ſeither ſo viele gewaltthätige Handlungen abgeworfen.
Unfähig zu begreifen, daß Thaten, wie ſie jene jungen
Leute geübt, blos das Product einer einſamen, allein
mit ſich ſelbſt zu Rath gehenden, Betrachtung ſeyn
können, hat man ſich darauf geſetzt, ſie durchaus als
ein Ergebniß geſelliger Verbindungen anzuſehen, und
indem man wieder nach den Häuptern dieſer Verbin¬
dungen und den erſten Anſtiftern geforſcht, beynahe
jeden durch ſeine Geſinnungen ausgezeichneten Mann
mit Verdacht beſteckt, nicht bedenkend, daß gerade
bey der Jugend jeder, der feige blos zu einem Frevel
ohne eigne Theilnahme antreiben wollte, eben dadurch
auf immer jedes ehrende Vertrauen bey ihr verſcher¬
zen wurde.
So hat man öffentliche Charactere, denen die Na¬
tion ihre Achtung zugewendet, die nichts gethan, was
irgend einen gegründeten Verdacht rechtfertigen konnte,
auf die man keine einzige wahrhafte Inzicht gehabt,
aufs ſchnödeſte mißhandelt; man hat ihnen Commiſ¬
ſionen hingeſendet, die, weil ſie ſträflicher Umtriebe ver¬
dächtig ſeyen, ihre Papiere durchſuchen ſollten; dieſe
nachdem ſie unbedacht alle rechtlichen Formen vorbey¬
gegangen, und der Welt ein Urtheil über den Grad
der dabey aufgewendeten Beſonnenheit an Hand gege¬
ben, haben den Frieden ihres Hauſes gewaltſam ge¬
brochen, und nun eine Inquiſition über alle ihre Pa¬
piere ohne Ausnahme, bis auf die perſönlichſten Fa¬
milienangelegenheiten herab, begonnen, zu deren Vol¬
lendung nichts, als etwa eine Viviſection gefehlt, um
die Gedanken in ihrer geheimen Werkſtätte im Ent¬
ſtehen zu belauſchen. Man hat junge Leute, die mit
Shakespeare zu reden, ſchwärmen mit dem Blute, als
kaltblütige Verbrecher genommen, und bey ihnen auf
Geſinnungen inquirirt, die aus der verſchwiegnen Bruſt
noch nicht an den Tag herausgetreten, und auf Worte
vor Jahren ausgeſprochen, und ohne alle Wirkung
längſt verhallt; und nachdem man dort wie hier nichts
entdeckt, mit der unerhörten Maxime ſich abgefunden:
man habe dadurch, daß man Verdächtiges bey ihnen
geſucht, ſie ſelbſt nicht verdächtig zu machen geglaubt,
eine Lehre, die den Unbeſcholtenſten Preis giebt der
Mißhandlung jeder tyranniſchen Gewalt, der es ein¬
fällt, nach Dieben zu ſuchen, wo keine Diebsherberge
je geweſen.
Man hat die ſpaniſche Inquiſition aufs bitterſte
darum angeklagt, daß ſie ihren Schlachtopfern nie
das Verbrechen nenne; wie ſoll man ein Verfahren
billigen, das hypothetiſch das Verbrechen vorausſetzt,
und nun die Verbrecher dazu ſucht, und nach Will¬
kühr jeden Ehrenmann der That anſchuldigt; und
nach dem, wenn bey ſolchem Thun irgend von Conſe¬
quenz die Rede ſeyn könnte, der eigne Fürſt dem ge¬
mäß was er 1813 und 1814 gethan, proclamirt und
verſprochen hat, als der erſte Demagog ſeines Lan¬
des verurtheilt werden müßte. Auch hat dieſe Hand¬
lungsweiſe ſchon bitter ſich gerächt; die Welt die
man voll Redens über die Conſpiration gemacht, harrt
auf die Beweiſe, die ſich nicht finden wollen; ganz
Europa, das man zu Zeugen der That genommen, und
dem man Hochverräther verſprochen hat, wartet der
ſchuldbeladnen Sünder, und man weiß ſie nicht zu
liefern. Wahrlich! wenn Preußen ſeit dem Befrey¬
ungskriege ja wieder mit ungebührlichem Hochmuth
ſich vergangen, dann muß man geſtehen, daß es
durch das Schickſal dafür aufs allergrauſamſte heim¬
geſucht worden. Vielleicht werden endlich einmal alle
Beſſern dieſes Landes zuſammenſtehen, um eine Re¬
gierung, deren Wohlmeinen in ſo vielen Dingen
ein beſſeres Schickſal wohl verdient, von ſolchen
Blendwerken zu befreyen, und alle geſetzlichen Mit¬
tel die ihnen zu Gebote ſtehen, anwenden, um
dem Wahnſinn einiger Menſchen Gränzen zu ſetzen,
die, wenn es, wie ſie ſagen, fünf Grade in der Ver¬
ſchwörung giebt: Turner, Studenten, die da Dolche
führen, Leiter, Unbekannte, die Unbekannten, die ſie
ſuchen, allein ſelber ſind, und indem ſie nach der
Weiſe jener ehrlichen Bürger das Haus in Brand
ſtecken, um den Maushund zu verderben, wenn ſie
nach den gewaltthätigſten Handlungen überall nichts
ausgefunden, doch darum ihrem Argwohn nicht Gränze
ſetzen, weil ſie immer wieder ſich bereden, daß ihr
Bemühen nur darum fruchtlos ausgefallen, weil ſie
nicht die ausgeſuchteſte Klugheit angewendet, und un¬
glücklicherweiſe bey den Unrechten nachgeforſcht. Eines
aber vor Allem iſt dem beobachtenden Teutſchland in
dieſer Sache aufgefallen, daß während in allem Gu¬
ten, das durch gemeinſame Zuſammenwirkung wer¬
den ſoll, Jahre ohne den mindeſten Erfolg vergehen,
es hier nur wenig Tage erforderte, um von Holſtein
bis Freyburg jene allgemeine Treibjagd auf die Ver¬
ſchwörer einzurichten.
Auf die Stimmung der Nation mußten dieſe
Vorgänge den allerwidrigſten Einfluß üben. Bey der hef¬
tigen Spannung der Gemüther fehlte gerade noch ein
ſo unbegreiflicher Mißgriff, um die allgemeine Empö¬
rung aller Herzen, denen an der Ehre des Vaterlan¬
des gelegen iſt, zu vollenden, und Unwille, Haß,
Verachtung, Mißtrauen, und alle böſen Leidenſchaft
ten, die ſchon vorher nur all zu viele Nahrung in
den Ereigniſſen gefunden, bis auf einen Grad hin¬
aufzutreiben, daß ein vor vier Jahren noch mit ſpie¬
lender Hand zu löſendes Problem, die Anordnung
unſerer öffentlichen Angelegenheiten, jetzt beynahe gänz¬
lich für menſchliche Kräfte unauflöslich zu werden
droht. Eine Conferenz der Miniſter, die unter die¬
ſen Umſtänden in Carlsbad abgehalten wurde, ſollte
nun Rath ſchaffen, wo Rath theuer worden, und
zum erſtenmale verlangten die Umſtände gebieteriſch
von den Diplomaten, die ſeither Alles auf negative
Weiſe abgethan, poſitive Maaßregeln, auf die niemand
eingerichtet iſt. Oeſterreich ſchien beſonders mit Eifer
die Verſammlung zu betreiben; es hatte geglaubt, der
Ruhe zu pflegen, wenn es dem unruhigen Reiche ſich
entzöge, aber ſo wohlfeilen Kaufes, blos den Gewinn
einſtreichend, kömmt keiner von einer hiſtoriſch gewor¬
denen Verbindung los; nachdem es über dem Ver¬
ſuche all ſeine Popularität eingebüßt, iſt nun die rechte
Unruhe ihm erſt herangekommen.
Unaufhörlich ſitzt die Geſchichte zu Gericht, jetzt nach¬
dem die Franzoſen gezüchtigt ſind, werden andere Sün¬
den heimgeſucht, und mit Angſt und Nöthen abge¬
büßt.
Da das ganze Syſtem darauf berechnet war, daß
nichts vorfallen werde, ſo iſt nun, da wirklich etwas
vorgefallen, und noch ein Mehreres aus der Zukunft
droht, die bitterſte Verlegenheit eingetreten, daß
nun wirklich einmal etwas geſchehen muß. Man
hat eine Maſchine eingerichtet, die ſich wirklich
als ganz vortrefflich ausgewieſen, alle Hoffnun¬
gen blos durch ihre Unbeweglichkeit aufzureiben;
nun aber, wo eine Furcht gekommen, und ſie einer
Abſicht dienen ſoll, weigert ſie gleichfalls tückiſch jeden
Dienſt, den man ihr anzuſinnen verſuchen wollte.
Indem man keinen, auch nicht den leiſeſten Gegenſatz
zu binden gewußt, ſondern alle Diſſonanz ſo lange
anwachſen ließ, bis ſie nicht mehr zu löſen war; in¬
dem man Alles zugelaſſen, was ſich zugedrängt; alles
durcheinandergeſchleppt, und in Halbheiten oberfläch¬
lich vermittelt hat, was ſich innerlich ausſchloß; hat
man nun, wo die Natur ergrimmt gegen den ſchwin¬
delerregenden Wirrwar aufgeſtanden, jedes Mittel ſich
genommen, zu ihrer Beſänftigung irgend eine durch¬
greifende Maaßregel vorzukehren. Jeder Verſtand
wird von einem Unverſtande aufgehoben, jede Kraft
von einer Gegenkraft verzehrt, jede Bewegung durch
eine antagoniſtiſche gehemmt; ſo muß alle Anſtrengung
in unnützen Deliberationen zerfließen.
Wollte man, ſcheinbar ſich anſchließend an die hiſto¬
riſche Parthey, etwa den dreyzehnten Artikel auf die
Herſtellung der vorigen Corporationsſtände, in der gan¬
zen Gebrechlichkeit der letzten Zeit ausdeuten, ſo wider¬
ſpricht dem, was im Verfaſſungswerke ſchon zum Be¬
ſtand gekommen, oder noch eben zu entſtehen im Be¬
griffe iſt; ſtellenweiſe ſind jene Körperſchaften ganz
ausgetilgt, und die Hiſtoriſchen ſind überdem keines¬
wegs ſo leichten Kaufs gewonnen; ihr Sinn ſteht mit
nichten auf die Verknöcherung der letzten Zeit, noch
wollen ſie einer verlarvten Willkühr den Vorwand
leihen. Wollte man durch Machtſprüche über Ver¬
hältniſſe entſcheiden, die in der Badiſchen Kammer
zuerſt zur Erörterung kamen, und die Schlüſſe des
Bundestages, ohne Rückſicht auf die Stände, für die
Kammern ohne weiters verbindlich machen; ſo mochte
man das freylich ſich erlauben, aber weil alsdann alle
Verfaſſung völlig illuſoriſch wird, ſo muß dadurch ein
Kampf der Convenienz mit der Natur der Dinge ent¬
ſtehen, der, da die Letzte immer auf die Länge ſtär¬
ker bleibt, unausbleiblich zu ihrem Vortheil nach kur¬
zer Friſt enden wird. Wollte man eine vollziehende
Macht dem Bundestag creiren; das Herz der Na¬
tion iſt von dieſer Inſtitution, die man nur für ein
Proviſorium zu nehmen ſich gewöhnt, abgewendet;
auch nach einem Schattenkaiſer ohne Kammer hat ſie
nicht die geringſte Sehnſucht. Nur einmal iſt die
günſtige Gelegenheit an den Mächtigen vorbeygegan¬
gen, nun ſie den Augenblick verſäumt, hat ſie ſich
zu anderm Orte hingewendet.
Was vermag alle diplomatiſche Kunſt gegen die
mächtige Naturgewalt, die ſich in den Völkern täglich
mehr entkettet? Die erſte Quelle eines Stromes mag
eines Roſſes Huf aus der Erde ſchlagen, aber in ſei¬
nem Laufe vermag kein menſchlicher Wille ihn aufzu¬
halten. Eben die Kammern werden ihr Recht der
Einwirkung auf die Beſchlüſſe des Bundestags durch¬
fechten; ſie werden eben collectiv insgeſammt die
zweyte Kammer conſtituiren, und iſt es erſt zu einem
einverſtandnen Wirken gekommen, dann wird von ſelbſt
die Nothwendigkeit ſich aufdrängen, dem Rumpfpar¬
lament, durch die Stärkung der collectiven vollziehen¬
den Macht, in ihrer Conzentration ein Haupt zu
geben. Das iſt der Naturgang der Dinge, der Vor¬
ſchritt der Geſchichte, den keine menſchliche ohnmäch¬
tige Willkühr irren, und kein Congreß aufhalten wird.
Die Nation dringt auf die Einheit, und dies Drin¬
gen iſt wie Baumes Wachſen und Windes Wehen,
kein Bemühen mag es in ſeinem Fortgang hemmen.
Was die Mächtigen ſolchem Werke Förderliches unter
ſich beſchließen, wird direct als Förderungsmittel
aufgenommen; was ſie hemmend ihm entgegenſetzen,
muß indirect als Widerſtand zum Ziele führen, indem
es die entgegengeſetzte günſtige Kraft bewaffnet.
Von diplomatiſcher Kunſt, die alles ihrer Na¬
tur nach auf ſich beruhen läßt, iſt alſo in keine Weiſe
ein Heil für Teutſchland zu erwarten, und Hoffnung
und Furcht werden in dieſer Hinſicht gleich eitel ſich
erweiſen. Ein Blitz des Himmels hat in die teutſche
Eiche hineingeſchlagen; ihre Krone iſt zum dürren
Geniſte worden, nur die Wurzel in der Erde, und
der Stamm in ſeinem Marke grünt ſtark und kräftig
fort, und muß neue Triebe auswerfen in die Höhe.
Die Naturkraft, die einſt jenes Gewächs in die Lüfte
hinaufgetrieben, in deſſen Zweigen die Vögel der Erde
ſich geſammelt, nachdem ſie zum Ziele des Wurfs und
zum Scheitelpunkte ihrer Curve gelangt, iſt erſt geſtaut
dann in ſich zurück ſinkend, in der Remiſſion gegen ihre
Quelle, ſich ſammelnd aus allen ihren Verbreitungen,
umgekehrt, um von da aus verjüngt und erfriſcht,
wie jene warmen Springbrunnen der Nordlandsin¬
ſel, einen neuen Strahl himmelan zu treiben. Darum
iſt die ganze teutſche Geſchichte ſeit mehr als drey
Jahrhunderten ein Welken und ein Dürren; darum
ſtrecken alle unſere Inſtitutionen nur nackte, erdorrte
Aeſte in die Geſellſchaft; darum iſt alles Formale
morſch, faul, verwittert und aufgelöst; darum geht
ein Geiſt der Verweſung in unſerm Staatsgebäude
um; wie in alten Ruinen hört man an Wänden und
Grundfeſten jenes leiſe Kniſtern, als nage vernehm¬
lich der Zahn der Zeit an ihrem Bau, Tragpfeiler
berſten, Steine ſchürren herab, Mauern rücken und
nur der grüne Epheu, der ſie umrankt hält ſie noth¬
dürftig noch zuſammen. Nur die Maſſe, mit dem
Urfels aus dem ſie gehauen, immer noch in geheimem
Zuſammenhang, und mit ihm im gemeinſamen Natur¬
leben unverwüſtlich lebend, darum ſelbſt im Ablauf
von Jahrtauſenden noch nicht ergraut, iſt noch geſund,
und einer neuen Geſtaltung wohl empfänglich.
Es brauchte aber in alten Zeiten die Vorſehung,
wenn es mit den Staaten auf dieſen Punkt gekom¬
men, das Mittel der Völkerwandrung, indem ſie die
Brunnen der Tiefe eröffnete, und durch Fluten von
Barbaren, die ſich über die Hinwelkenden ergoſſen,
von unten herauf durch neues Blut das ſtockende Le¬
ben erfriſchte, und das Erdorrte neu begrünte. Aber
dieſe Brunnen fließen nicht mehr ſo reichlich, ſeit die
Cultur die alten Wälder ausgerottet, und die Pflug¬
ſchaar die wilde Erde dem Menſchen gezähmt. Da¬
gegen aber hat dieſelbe Cultur die Gemeinſchaft mit
einer andern Welt eröffnet, die durch geiſtige Kräfte
jene verſiegende Naturkraft erſetzt, und bey den Um¬
wandlungen der Staaten ihre Dienſte verſieht. Es
iſt dies jene geheimnißvolle Ideenwelt, die nach alter
Lehre erfüllend die unendliche Tiefe des Geiſterreichs,
und gleich dem Aetherhimmel über unſerm Selbſtbe¬
wußtſeyn ausgeſpannt, in alle Klüfte der Unterwelt
ihr Licht niedergießt, und alle Geſtaltungen beſeelt.
Wie aus dieſer Welt, nach eben jener Lehre, die See¬
len in die Materie niederſteigen, ein zeitliches Leben
hienieden führen, und dann wieder zur Heimath keh¬
ren; ſo ſind es eben die ihr entſtammenden Ideen, die
die Staaten als ihre eigentliche Begeiſtigung zuſam¬
menhalten, mit der Geiſterſchwere ſie in ſich verbin¬
den, und mit dem geiſtigen Lichte ſie durchleuchten;
und alſo gebunden im rechten Maaße durch die Ma¬
terie, und, unſichtbar ſelbſt, durch ſie zur ſichtbaren
Darſtellung gelangt, als die inwohnende plaſtiſche und
erhaltende Kraft das Leben fördernd, in ſeiner Dar¬
ſtellung ſich verlieren. So aber nun die Stufenjahre
dieſes Lebens durchlaufen ſind, und der Staat veral¬
tet, vermag er nicht ferner die inwohnende Idee zu
faſſen; ſie die vorher latent in ihm geweſen, wird
nun frey und ſtrahlend; und in dem Maaße, wie
ſie nun jenem geiſtigen Reiche verwandt ſich fühlt,
und andere ihr gleichartige Ideen zu ſich hernieder¬
zieht, wird ſie dem beſtehenden Materiellen mehr
entfremdet; und ſie, die vorher die Erhalterin gewe¬
ſen, wird nun zerſtörend, und löst, weil ſie ein
neues Haus ſich zu bauen vorgenommen, von innen
heraus alle Banden des alten Organisms auf, da¬
mit der Neue zum Werden Raum gewinne.
So geſchieht es, daß in ſolchen Uebergangszeiten
Geiſtesblitze zuckend durch die ganze Geſellſchaft fah¬
ren, und in einem Nu alle Köpfe wie ein Contagium
entzünden; man weiß nicht wie der zündende Gedan¬
ken ſich verbreitet, geſchieht es durch den Athemzug,
durch ein gemeinſames alle verbindendes Medium,
iſt's Sprache oder Bild oder ſonſt geheime Sym¬
pathie? kurz alle Menſchen ſind plötzlich eines Sinnes
worden, und je mehr man der Fortpflanzung zu weh¬
ren ſich bemüht, um ſo ſchneller verbreitet ſich die
Flamme. Das iſt die losgebundene Begeiſtigung des
Staatsvereines, die nun frey von ihrem Bande
ſchwärmt, und erſt wie jene feurigen Zungen auf den
Häuptern der Organe der Zeit ſich niederläßt, und
dann von da in lichten Schimmer aufgelöſt, durch
die Pforte der Sinne einzieht in alle Geiſter, um ſie
zum neubegonnenen Werk zu weihen. Darum iſt es
aller Thorheiten unverzeihlichſte, dies große Schöpfungs¬
werk zu ſtören, und mit den Ideen ſich Kampfes zu
unterwegen; noch Keiner hat geſiegt, der verwegen
ſolchen Streit geſucht. Läßt man ſie ruhig ihrer Ar¬
beit pflegen und begünſtigt ihr Thun durch ein ge¬
ſchicktes Entgegenkommen; dann führen ſie von innen
heraus ruhig durch allmählige Metamorphoſe die Um¬
geſtaltung und Verjüngung aus; abſtreifend nur was
unnütz geworden und erſtorben, und ſiedeln ſich dann
friedlich im neuen Baue an. Wenn man aber, ſtatt
nach des Zeidlers Weiſe durch abgemeſſene ſonore
Klänge ihrem Thun nur Tact und Harmonie zu ge¬
ben, ſie in plumper Weiſe ſtört und irrt; dann wer¬
den die Inſtinkte wild und in ſich ergrimmt, und es
hebt ſich ein zorniges Brauſen in dem Stocke; und es
kömmt ein ſcharfer Krieg aller Leidenſchaften; es treibt
mit allen Trieben zur Gewaltthat und zu allgemeinem
Umſturz, und es geht der Ruf aus durch alle Lande:
das Schwert der Ideen über alle, die da Widerſtan¬
des ſich unterwinden!
So ſind alſo auch uns, da der Lauf der Zei¬
ten uns an einen ſolchen Uebergangspunkt geführt,
zwey Wege aufgethan, um ihn zu vollführen; entwe¬
der, indem wir den Ideen auf jene ruhige Weiſe in
friedlichem Vertrage in unſerer Mitte die Anſiedelung
erlauben; oder, indem wir uns von ihnen gewaltſam
durch eine Revolution auf Gnade und Ungnade ero¬
bern laſſen. Es iſt nicht zu verkennen, daß der ſeit¬
herige Gang der Dinge ſtark auf die letzte Seite hin¬
geneigt; daß man den Hexenkeſſel, in dem man mit
Gewalt dieſe Zeit wieder jung kochen will, mit den
Giften aller Reiche und mit allen böſen Zauberkräu¬
tern angeſetzt, und bey luſtigem Feuer ihn fleißig im
brodelnden qualmenden Sud erhält, bis endlich die
erſehnte Mitternachtsſtunde ausgeſchlagen. Auch ſind
die Partheyen ſchon ſeit geraumer Zeit zum rechten
Symptom gekommen, daß ſie einander nicht mehr ver¬
ſtehen wollen.
Was man ſonſt einzeln für ſich als Urſache von
Aufſtänden und Revolutionen aufgezählt: drückende
Steuern und Abgaben, gewaltſame Veränderung der
Geſetze und Gebräuche, Verletzung der Freyheiten und
Privilegien, allgemeine Unterdrückung, Beförderung
Unwürdiger
Unwürdiger zu den öffentlichen Stellen, drückender
Mangel und Verfall der Gewerbe, die Ungebühr ſte¬
hender Heere und zur Verzweiflung gebrachte Factio¬
nen; das Alles haben wir zuſammen cohobirt in dieſe
Zeit zu drängen, und mit großem Fleiße jene ſeltene
Einſtimmigkeit der Gemüther im Unmuthe hervorzu¬
bringen gewußt. Nachdem Liebe und Vertrauen hin¬
geſchwunden, ruht das Ganze einzig noch auf dem
Inſtinkte des Gehorſams, der allzu tief im Menſchen¬
herzen befeſtigt iſt; aber auch dafür wird wohl end¬
lich Rath geſchafft, da immerwährende Klagen, die
nimmer ihren Richter finden, und Anordnungen, die
gegen den Menſchenverſtand ſündigen, nur allzu oft
zum rechtlichen Widerſtande herausfordern, und da¬
durch dem Unrechtlichen und jeder Selbſthülfe den
Weg anbahnen.
Da das verwegne Spiel nun ſchon die längſte Zeit
gedauert, iſt denn plötzlich der Gedanke an die Mög¬
lichkeit einer Revolution hereingebrochen, und von
beiden Seiten gleich unwürdig, hier mit tödtlicher
Angſt, dort zum Theil mit ſträflichem Leichtſinn empfan¬
gen worden. Revolutionen ſind wie der Tod, vor
dem nur Feige zagen, mit dem aber nur die Frivoli¬
tät zu ſpielen wagt. So furchtbarer Bedeutung ſind
dieſe Cataſtrophen in der Geſchichte und ſo ernſten
tiefen Inhalts, daß nur Verrückte oder Verzweifelte
ſie herbey wünſchen mögen. Eine Staatsumwälzung
kann einzig das Werk der Leidenſchaften ſeyn; darum
iſt Religion, Sitte, Geiſt, Wiſſenſchaft, Erfahrung
alles ihr nur hinderlich; und wie die Natur im ſtärk¬
ſten Fieberanfall mitleidig durch Delirien den Geiſt
9
verhüllt, daß er durch ſein Einſchauen nicht die Le¬
benskräfte in der Tiefe ſtört; ſo muß auch in ſolchem
Paroxism ein Volk zum Wahnſinn kommen, wenn
die Krankheit wirklich zu einer kräftigen Criſe gedei¬
hen ſoll. Darum iſt es wohl anfangs ein leichtes
Ding, daß die Schwachen weichen müſſen größerem
Talente; auch läßt ſich wohl Alles vielverſprechend an,
indem ein ungewöhnliches Lebensgefühl und eine fri¬
ſche Begeiſterung das Beſſere leicht in die Höhe treibt,
und die erſten Partheyen wohl die meiſten Gutgeſinn¬
ten in ſich beſchließen. Aber da die Axe, die alle
Elemente des Vereines zuſammenhält, gebrochen iſt,
und nun jedes ſeiner eignen Schwerkraft folgt, ſo kann
die Herrſchaft des Geiſtigen, das weſentlich gemeſſen und
geordnet iſt, nicht lange beſtehen, und nach den pa¬
thetiſchen Kräften müſſen allmählig abſteigend, die Thie¬
riſchen ihr Recht behaupten, und das Regiment füh¬
ren in einer Zeit, die weſentlich dem Walten phy¬
ſiſcher Mächte anheimgefallen. Darum muß jede fol¬
gende Parthey nothwendig der Vorhergehenden in jeder
Art von Uebertreibung den Rang ablaufen; jede der
es gelingt, die Angelegenheit um einen Schritt näher
zum Extrem zu treiben, wird ſicher die Gemäßigtere
ſtürzen und verderben; den Proteſters und Reſolutio¬
ners werden wie in England, die Millenarier folgen,
die keine Regierung anerkennen; dieſen die Levellers,
die auf Gleichheit des Vermögens dringen; endlich
die Antinomianer, die ſogar ſelbſt die ethiſchen Pflich¬
ten als Tyranney verwerfen, gerade wie in Frank¬
reich Girondiſten, Jacobiner, Cordeliers ſich vertrie¬
ben, und in den Niederlanden den Geuſen, bald die
Bilderſtürmer ſich angeſchloſſen, weil immer die Ra¬
ſerey der vorigen Stufe der Folgenden als eine kalte
Lauigkeit erſcheint; bis endlich Schritt vor Schritt
die ganze Leiter menſchlichen Frevels durchlaufen,
alles Beſtehende geſtürzt, alles Feſte zerſchmettert, alles
Hohe geſchleift, aller Beſitz gewechſelt iſt.
Wenn aber nun in ſolcher Weiſe die Natur in anar¬
chiſchem Wüthen ſich erſchöpft, tritt als nothwendiger
Gegenſatz wieder die Herrſchaft der Einheit ein, die
anfangs die ermüdeten Kräfte leicht bezwingt, dann
aber, da das im Innerſten aufgeregte Leben große
Widerſprüche und die heftigſten centrifugalen Rich¬
tungen geweckt, nothwendig ſcharf und eng die Maſſe
zuſammengreifend, nach und nach ſich zum höchſten
Despotism ſteigert, und wieder eine andere entge¬
gengeſetzte Stufenfolge von Freveln durchläuft, bis
endlich eine äußere oder innere Cataſtrophe, nun ein
ganzer Umlauf vollendet iſt, die Extreme wieder ge¬
gen die Mitte lenkt. Das iſt der Gang, den die eng¬
liſche wie die franzöſiſche und jede andere Revolution
genommen; eine Teutſche würde von dieſer Natur¬
ordnung keine Ausnahme machen, indem was kälteres
Blut vielleicht mildern könnte, leicht durch geiſtige Ge¬
tränke erſetzt werden mag, wie der Bauernkrieg aus¬
gewieſen. Zu den Ideen, die Frankreich bis zur gänz¬
lichen Umwälzung bewegt, iſt bey uns noch eine Neue
hinzugekommen, die in dieſer kaum gewirkt, Die der
Einheit nämlich, und eine ſolche Vermehrung des Fer¬
mentes muß nothwendig zur verſtärkten Gährung füh¬
ren. Eine teutſche Revolution würde mit der Vertrei¬
bung aller herrſchenden Dynaſtien, mit der Zerbre¬
9*
chung aller kirchlichen Formen, mit der Ausrottung
des Adels, mit der Einführung einer republikaniſchen
Verfaſſung unausbleiblich endigen; ſie würde dann,
wenn ſie ihren glücklichern Wallenſtein gefunden, weil
jedes revolutionirte Volk nothwendig ein eroberndes
wird, über ihre Gränze treten, und das ganze mor¬
ſche europäiſche Staatsgebäude bis an die Gränze
Aſiens, niederwerfen; aber alle dieſe Herrlichkeiten,
wie früher die Niederlande, mit dem Blute vieler Mil¬
lionen, mit dem Untergange der Hälfte der anſteigen¬
den Generation, mit der Zerrüttung des ganzen Wohl¬
ſtandes von Teutſchland, und mit der Verödung aller
ſeiner Gauen durch einen langwierigen Krieg erkau¬
fen, und am Ende nicht viel mehr gewinnen, als
jetzt auf eine wohlfeilere Weiſe zu erlangen iſt.
Weder für die Regierungen noch für die Völker, noch
auch für das Ausland, das etwa im Trüben ſeinen
Vortheil ſuchen wollte, können ſolche Ausſichten ir¬
gend einen Reiz darbiethen; darum kann vernünfti¬
gerweiſe bey allen Partheyen nur von dem erſten
Wege die Rede ſeyn. Aber es iſt nicht ſo beſtellt, daß
man etwa zuerſt alles verſuchen und alles mißbrau¬
chen, und dann erſt, wenn es zum Aeußerſten ge¬
kommen, immer noch zeitig genug dieſen Weg zu be¬
treten, ſich entſchließen könnte. Nur, ſo lange noch
ein Zügel die Leidenſchaften hält, ſo lange die wil¬
den Geiſter noch gebunden liegen, mag man Ver¬
nunft reden, und die allmählige Umgeſtaltung kann
gradweiſe von ſtatten gehen; ſind die Begebenheiten
aber einmal an den jähen Abſturz hingelangt, dann
iſt aller Zuſpruch eitel, alle Rede iſt vergeblich, als
ob man Erdbeben und Ungewitter beſprechen wollte,
dann wird nicht mehr nach den Folgen gefragt; es
läuft der zündende Funken hin, ſo lange er Brenn¬
bares vor ſich findet, und Schlag auf Schlag erfolgt,
in dem Maaße wie die Kräfte ſich entketten, und
wie ſchnell, ohne alle Verabredung und Zuſammen¬
hang, das Feuer ſich verbreitet, wenn der Zunder
in den Gemüthern vorhanden iſt, davon können die
Judenaufſtände ein Zeugniß geben. Darum je hohler
ſchon die See mit allen Tönen geht, die einen kom¬
menden Sturm anzumelden pflegen; je ſtärker das
Brauſen der Maſſe ſich vernehmen läßt; je weiter der
Schwindel, der die Regierungen ergriffen, die dunkel
ſie um kreißenden Bogen ſchlägt; um ſo dringender
iſt es, daß die Partheyen überall wenigſtens bis zu
dem Punkte ſich verſtändigen, daß die wirbelnde,
gährende Bewegung in eine Fließende ſich verwan¬
delt, und dadurch vorläufig die Gefahr des Durch¬
brechens aller Dämme abgewendet wird.
Da, wie früher entwickelt worden, die ganze
Maſſe der Streitenden ſich zuvörderſt in einen großen
Gegenſatz vertheilt, wovon der Eine hauptſächlich das
in geſchichtlicher Begründung Beſtehende geltend macht,
der Andere das Werdende, was durch ſelbſtthätiges
Schaffen an die Stelle des Mangelhaften geſetzt wer¬
den muß, ſo würde nothwendig der Anfang mit der
Beſchwichtigung dieſes Zwiſtes geſchehen müſſen, die
aber in ihrem Gelingen durch die Vorausſetzung einer
gleichen Aufrichtigkeit beider Theile bedingt, blos mit
den Beſſern von beiden Seiten zu verſuchen wäre.
Indem hier von wechſelſeitiger Berichtigung der An¬
ſichten nur die Rede ſeyn könnte, ſo würde ſich bey
der Erörterung bald ergeben, daß ſobald Jeder ihr
Recht geworden, der Streit ſich von ſelber löſt. Es
würde ſich leicht darüber zu verſtändigen ſeyn, daß
die verſchiednen Zeiten und Menſchenalter im Leben
eines Volkes im Nacheinander eben ſo nothwendig und
unzertrennlich ſich angehören, wie die verſchiedenen
Inſtitutionen und Perſönlichkeiten im Nebeneinander
derſelben Zeit, indem Dieſe den immanenten Staat,
Jene den permanenten miteinander bilden; und daß
alſo wie hier Pflichten und Rechte gegenſeitig ſind,
ſo auch dort zu den Rechten, die jede ſpätere Zeit
als Erbe überkommen, auch früher begründete Pflich¬
ten ſich geſellen. Es würde ſich ferner bald ermitteln,
daß, da jede Zeit ohngefähr das gleiche Maaß von
bildenden Kräften, wenn auch in Verſchiednen ver¬
ſchieden vertheilt, zur Ausſtattung erhalten, — in¬
dem wenigſtens eine Frühere auf eine Spätere nicht
mehr vererben kann, als ſie ſelbſt beſitzt, — auch
die Bildungen nach dem Maaße der aufgewendeten
Kräfte zu beachten ſind; und daß, wenn ſpätere Zei¬
ten auf breiterem empiriſchem Grunde ſtehen, dafür
eine Frühere leicht in allem Höhern, Idealen ihr den
Vorrang ablaufen mag.
Wenn man jede Thätigkeit am ſicherſten an ihren
Früchten erkennen kann, dann wird die Geſchichte
leicht belehren, welche Fülle das Mittelalter, und
zwar zu allermeiſt in Teutſchland hervorgetrieben; wie
es aus demſelben Onyx-Felſen, auf den ſich die Kirche
gründet, um ihre Münſter her die gothiſch-byzantiniſche
Kaiſerburg, ein anderes Montſalvaz, erhauen und gebaut;
wie es mit einem Verſtändniß, deſſen tiefen Sinn
ſchon die oberflächlichſte Betrachtung entdeckt und die
tiefſte nicht ergründet, alle ſeine Inſtitutionen ord¬
nete, daß alles harmoniſch zuſammenſtimmend in ei¬
nen ſchnellkräftigen, geſunden, blühenden Staatskör¬
per ſich vereinigte; wie es in ſeinem Kaiſerrecht eine
Geſetzgebung zu begründen angefangen, zu der kein
anderes Volk auch nur der Idee nach ſich erhoben;
wie es in Sitte, öffentlichem und Privatleben, Welt¬
anſchauung und Sinnesart gediegen aus einem Stücke
ſich herausgebildet; wie es in jeder Kunſt und Dich¬
tung von keiner andern Zeit ſich übertreffen laſſen;
wie es ſelbſt in ſeiner verachteten Scholaſtik in einer
lebendigen Gymnaſtik bey den Wettkämpfen der Phi¬
loſophen, wie die der Dichter, vor dem Auge der
theilnehmenden Nation gehalten, eine geiſtige Schärfe,
Gewandtheit und Scheidekraft erlangt, an die wir
nicht von ferne reichen; wie es endlich in ſeinem gan¬
zen Thun und Seyn, in der Fülle ſeiner grünenden
Bildungskraft eine Lebendigkeit und Thätigkeit ent¬
wickelt, von der uns in dieſer Art kaum ein Begriff
geblieben: das alles bewährt uns die Geſchichte, und
die Trümmer, die geblieben, geben lautes Zeugniß.
Sollte aber unſere Zeit in einer der Anwandlun¬
gen jenes Dünkels, die wohl öfter an ſie kommen,
vor dieſer Vergangenheit über den Grund deſſelben
Rede ſtehen, ſie würde leicht einen harten Stand er¬
halten. Sollte von da der Ruf an ſie ergehen: thu
uns kund, was du vollbracht, und leg uns aus,
was du gebildet und gebaut, damit wir erkennen,
welche Ehre dir gebührt, und den verdienten Preis
dir zugeſtehen! ſollte ſie dann vor der ernſten Rich¬
terin ihre Armuth auseinanderbreiten und die Thea¬
tergarderobe ihrer Tugenden vor ihrem ſcharf durch¬
ſchauenden Aug hinlegen, wohl möchte ihr als Sen¬
tenz das ſtrafende Wort zu Theile werden:
Sieh! du haſt deine Thaten mit beredtem Mund
erzählt und deine Herrlichkeit uns angeprieſen, und
wir haben ihren Gehalt geprüft und befunden, daß
alles eitel ſey, und aufs Richtige geſtellt. In keinem
Dinge haben wir eine wirklich ſchaffende Kraft an
dir verſpürt, die Quelle aller wahrhaft bildenden
Triebe iſt in dir verſiegt; jeder ſtillen geſammelten
Innigkeit, die aufs Erhalten geht, haſt du abgeſagt;
dagegen iſt eine freſſende Flamme in dich eingekehrt,
zerſtörend iſt dein ganzes Weſen, und Niederreißen
allein iſt deine Stärke.
Sieh! ich habe eine Kirche dir gebaut, deren Grund¬
veſten die Waſſer der Erde umrinnen, während die
Wolken des Himmels um ihre Thürme zogen; ſo
feſt in ſich gegründet, daß obgleich der Boden wankte
unter ihr, ſie ſelbſt unerſchüttert ſo viele Jahrhunderte
in ihrem Baue ſtand: du aber haſt den Feuerbrand
in ſie hineingeworfen unter dem Vorwande, Alles was
irrdiſch ſey und brennbar, von ihr abzuthun, nun
ſind die nackten Wände nur geblieben; die Gewölbe
ſind vom Regen des Himmels eingeſtürzt, auf den
Pfeilern ziehen die nackten Bogen ſich ins Leere,
Gras und Büſche wachſen im Heiligthume, und die
Vögel niſten in den Laubgewinden.
Dein Teutſchland, mit einer Mauerkrone wie mit
einem feſten Harniſch hab ich es umgürtet, ſeine Rei¬
ſigen ſchirmten die alte Aſenburg, innen regte ſich das
bunte Leben; du aber haſt die Pforten aufgebrochen,
die Thürme mit Pulvers Gewalt geſprengt, die Mauern
dem Grunde gleich geſchleift, und die Materialien
zum häuslichen Gebrauch verwandt, daß das Reich
ein offen Dorf geworden, von Zöllnern gehütet; den
geſtickten Kaiſermantel aber, der alle umfieng, haben
deine Lehnsträger zerſtückt, und indem ſie mit den
Lappen ihre Blößen angeputzt, prunken ſie damit wie
Negerfürſten im fremden Staat, den ſie mit der
Freyheit ihrer Untergebenen ſich erkauft.
Sieh! reichlich habe ich aus der Erſparniß von
Jahrhunderten die Kirche und den Staat dotirt, daß
ſie auf Erden ein Organ und mit ihm irdiſchen Be¬
ſtand gefunden; auch den Kriegsſtand, die Gemeinde,
ja ſelbſt die Innung hab ich unabhängig ausgeſtattet;
all den unermeßlichen Beſitz haſt du in wenig Jah¬
ren in alle Winde hinausgetrieben; die Ideen von
ihrer realen Baſis abgeſchieden, irren nun geiſtergleich
als weſenloſe Schatten in der Geſellſchaft um, vom
Winde der Meinung, in deren Abhängigkeit ſie gege¬
ben ſind, hin- und hergepeitſcht; und für alles das
haſt du im ganzen Umfange des Reiches nicht ein
Denkmal gegründet, das auf die Nachwelt käme.
Deinen Vorwitz haſt du ins Reich des Glaubens
hineingetragen, und göttliche Dinge meſſend mit menſch¬
lichem Maaßſtab, ſie ins Irdiſche herabgezogen; der
einfache ungefärbte Strahl der Wahrheit hat in dem
trüben Mittel in viele Farben ſich gebrochen und ver¬
finſtert, und das ſonſt in ſich Geeinte hat ſchnell in
unverſöhnliche Partheyen ſich geſchieden.
Alle Wiſſenſchaften, ſonſt ihrer überirdiſchen Abkunft
immer eingedenk, haſt du durch Sinnenzauber ver¬
führt, daß ſie, ihres Urſprungs vergeſſend, — ſelbſt
weſenloſe Schemen in die Scheinwelt herabgeſunken,
— wie jene Naturgeiſter, Gnomen, Salamander,
Silphen, nach der Sage, ohne unſterbliche Seele nur
ein ſterbliches Leben führen; und ſo iſt ſelbſt dein
geiſtigſtes Thun eine grobe ſinnliche Luſt geworden, und
ein künſtliches Würfelſpiel mit den Atomen der Ele¬
mentenwelt, und ein Larventanz höherer Kräfte auf
niedrer Stufe in Thierverkleidungen eingehüllt.
Die Künſte haſt du von ihrer heiligen Beſtimmung
losgetrennt, und ſie zu einem Gaukelſpiele deiner Luſt
gemacht; ohne Inhalt, Tiefe und Bedeutung ſind ſie
Kinder der Welt geworden, dienſtbar ihrem leeren,
leichtſinnigen und frivolen Treiben; und wo ſie ja
wie die Tonkunſt bisweilen wieder zu höherem ſich
verlieren, iſts das Schellengeläute der Thorheit, oder
der Tanz der Bajaderen, den ſie in den Tempel des
Herrn führen.
Deine Diplomatik iſt die Lehre und die Praxis des
abſoluten Nichts durch alle Cathegorien durchgeführt,
und die Fertigkeit zum Thun der Geſchichte die Gri¬
maſſe herzugeben; deine Regierungskunſt iſt eitel Buch¬
ſtabenwerk das, längſt aller Natur entfremdet, von
aller Tradition und Erfahrung abgelöst, nur in künſt¬
lichen Abſtraktionen lebt; nach den Schattenbildern
leerer Theorien rennt, und aus ihrer erkünſtelten und
erſonnenen Welt nur von Zeit zu Zeit, und immer nur
irrend und verwirrend, in die Wirkliche hinüber greift.
Deine Politik, auch ſie hat ſeither einzig im Zer¬
ſtören ſich bewährt; die großen Entdeckungen, deren
du dich in Sachen des gemeinen Weſens rühmſt,
ſind in meinen Augen kein großes Ding; dieſe Frey¬
heit und Gleichheit, nichts als die Wahlverwandſchaft
der Elemente der Geſellſchaft, womit alle Verfaſſung
begonnen hat, und das Spiel chemiſcher Kräfte, das
allein auf der unterſten Stufe des Lebens der Staaten
wirkſam iſt; dieſe ängſtliche Trennung der Gewalten,
während Stände, Ordnungen, alles durch den Na¬
turtrieb wahrhaft Gegliederte, in eine Maſſe zuſammen
gerinnt; dieſe beiden Kammern, in denen die ganze
Freyheit der Nation ſich häuslich niederlaſſen ſoll:
das Alles will mir ein geringer Erſatz bedünken für
das Unheil, das du angerichtet.
Ich ſehe deine Freyheit, ſie iſt eine Freygelaſſene
die noch die Narben ihrer Ketten fühlt, und darum
immer zwiſchen Niedertracht und Freyheit ſchwankt;
ich betrachte deine Gewalt, die da ein kraftloſer, wohl¬
gezogner Despotism iſt, ungewiß zwiſchen Willkühr und
Liberalität getheilt; ich ſehe die ganze Geſchichte dei¬
nes öffentlichen Lebens an, und es iſt nichts als ein
eckelhaftes Zerren zwiſchen zaghaftem Eigenwillen und
furchtſamer Licenz, ein wechſelſeitiges Fürchten und
Fürchtenmachen, eine gährende Bewegung ohne Re¬
ſultat, ein ehrloſes Verhüllen, Vertuſchen und Be¬
lügen, ein Bemänteln und Betrügen, ein Hadern ohne
Kraft und Würde.
Darum iſt auf Phraſen all dein Thun geſtellt, eine
ſtille Uebereinkunft in wechſelſeitigem Lug und Betrug,
bis zu den geringſten Lebensgeſchäften herab, iſt was
du als deine Weltklugheit uns geprieſen; nur im Ver¬
derben und Planiren kann keine andere Zeit dir die
Palme ſtreitig machen.
So dürfte die Zürnende den Dünkel, der ſie anzu¬
erkennen ſich in ſeiner Thorheit weigert, leicht beſchei¬
den und beſchämen, und der Anmaßung wäre die
Strafe wohl gerecht. Doch dürfte, was der Unwille
hier ſcharf und ſchneidend hingeſtellt, auch nicht ohne
Erwiederung und Beruhigung bleiben, und in rich¬
tiger wohlverſtändigter Selbſterkenntniß, und einer in
ſich ſelbſt gegründeten und beruhigten Weltanſicht,
dürfte es der hart Angeſchuldigten nicht ſchwer fallen,
ihre Vertheidigung etwa in dieſer Art zu führen.
Wohl haſt du Gott und dem Reiche ein ſtarkes Haus
gebaut, aber ſelbſt Berge, die die Natur auf den
ewigen Veſten der Erde aufgerichtet, ſind geſtürzt,
und in Trümmer aufgelöst, wenn den Altergrauen
das innere erhaltende Leben abgeſtorben; und auch du
haſt dein neues Werk auf die Zerſtörung einer blühen¬
den Vergangenheit im früheren Alterthum begründen
müſſen.
Iſt es meine Schuld, daß alles auf Erden ſeine
Zeiten und Stufenjahre hat, und daß Staaten, wenn
ihre Phönixperiode durchlaufen iſt, in freſſenden Feuers
Flammen zu neuer Wiedergeburt ihr Irdiſches zu ver¬
zehren gedrungen ſind?
Wohl haben die Dome deiner Kirche himmelan ge¬
ragt, aber die Steine, aus denen du das Werk ge¬
fügt, ſind nicht todte Maſſen, vielmehr freye ſelbſt¬
ſtändige Naturen, die gläubig ihren Willen an die
Idee reſignirt; kann ich wehren, wenn ſie ihre ver¬
pfändete Freyheit wieder löſen, und die Grundveſten
nun ſich rühren, und die Elemente eilen ſich in neue
Geſtalten zu verbinden?
Wohl haſt du Teutſchland feſt gemacht, aber des
Pulvers Macht hat die Cyclopenmauern aufgeſprengt,
und des Mönchs Erfindung war nur das Symbol der
furchtbaren geiſtigen Macht, die ohngefähr gleichzeitig
ſich zu entwickeln angefangen.
Deine Verfaſſungen in ſinnigen Ideen auf den ru¬
higen, ſtehenden Beſitz als ihr Organ baſirt, ſieh! die
Flut des Goldes aus einem entlegenen Welttheil hat
ſie weggeſchwemmt; der Andrang des Geldes, das be¬
weglich, fluchtig, unſtät wie der Gedanke, das um¬
laufende Blut, im Körper der Geſellſchaft iſt, hat die
alten, ſehnigten Athletenkörper umgewandelt, und in
die ſtraffe Faſer die Fülle hineingelegt, in der ihre
Schnellkraft nur allzu früh erſtickt: konnte ich abwei¬
ſen, was, wenn die Zeit gekommen, an jedem Men¬
ſchen ſich ewig wiederholt?
Da das Leben von oben herein abgeſtorben, mußte
nicht das noch Grünende im Organism, nach den
ewigen Geſetzen der Natur das Todte abſorbiren, oder
von ſich ſtoßen, in dem Maaße wie es vom inwoh¬
nenden Geiſt verlaſſen abgedorrt; So iſt die Idee
des Kaiſers früher ausgegangen, als ſeine äußere
Darſtellung hingeſchwunden; ſo iſt die Kirche in ihren
geiſtigſten Organen zuerſt gewelkt, ſo das ganze Lehns¬
weſen in ſeinem Geiſte ausgeſtorben: da der Beſitzer
davongegangen, ſind die Güter wie billig, dem Ueber¬
lebenden zu Theil gefallen; der dritte Stand hat ſie
größentheils in Beſitz genommen, und auf dem Er¬
trag haftet nun die Dotation deſſen, was noch von
Ideen lebt, oder aufs Neue ſich beleben wird.
Geflügelt ſind die Geiſter, frey hat ſie Gott gege¬
ben, auf ihre Gefahr können ſie Jegliches verſuchen;
konnt ich hindern, daß ſie endlich von ihrem Rechte
Gebrauch gemacht, und der Mutter ſicheres, warmes
Neſt verlaſſend, ins Weite ſich hinausgeſchwungen?
Iſt nicht auch dieſe Vernunft wie jedes andere Ver¬
mögen eine Gottesgabe, und iſt es hier ein Frevel
wenn ſie die angeborne Kraft verſucht?
Es iſt eine Irrlehre, daß nur der Glaube im hö¬
hern Lichte wandle, die Vernunft aber, ein durch
Hochmuth gefallner Geiſt, in der Finſterniß regiere;
Hochmuth iſt nur ein zeitliches Verderben; als er in
der Kirche eingeriſſen, iſt die Kirche in der Rückwir¬
kung erſtarrt; die Vernunft aber, wenn ſie ſeiner ſich
entſchlagend, in lauterm Streben, und reingeiſtig dem
angebornen Freyheitstriebe bis zum Ende folgt, wird
am Ziele ſich an der Stätte wiederfinden, wo ſie aus¬
gegangen, und Glauben und Wiſſen wird in der rech¬
ten Ueberzeugung ſich als eins bewähren. Parthey¬
ung aber iſt auf dem Wege zu dieſem Ziele, die noth¬
wendige Folge jeder Freyheitsübung, nur wenn Stein
und Stahl ſich reiben, bricht der Funke der Begei¬
ſtigung heraus.
Wohl iſt alles Wiſſen begreifflicher, ſinnlicher ge¬
worden, es iſt der Lauf der Zeiten, der von der Höhe
zur Tiefe niederſteigend, dahin geführt; wie die un¬
tern Organe des Staates, der dritte Stand, aufge¬
blüht, hat er nach ſeiner Weiſe nur nach dem Prak¬
tiſchen, Derben, Tüchtigen geſtrebt, und die Wiſſen¬
ſchaften ſind dem Bedürfniſſe, die Künſte der Erholung
dienſtbar worden; aber ſieht auch der Bau, an dem
mein Geiſt ſchon drey Jahrhunderte gebaut, in der
Anlage einem Wirthſchaftsgebäude gleich, und hat der
Satan manchen Stein dazu herbeygeſchleppt, er wird
doch zuletzt ein Gotteshaus.
Jung iſt freylich noch die Freyheit, und weiß ſich
nicht zu laſſen, die Willkuhr aber grau und alters¬
ſchwach weiß zwiſchen Seyn und Nichtſeyn nicht die
ſchwere Wahl zu treffen. Vergangen iſt noch nicht
das Alte, und das Neue noch nicht jung geworden;
ungar iſt die Maſſe und ſchwer fließend kann ſie nir¬
gend zum reinen Guſſe ſich geſtalten. Darum iſt alles
nur ein Ziſchen und ein Streiten, ein Geſtalten und
Zerfließen, ein Bilden und Zerſtören, und ich muß
immer wachen, daß das Feuer nicht erkalte, und das
Sieden raſch von Statten gehe.
Darum iſt mein ganzes Seyn nur ein einziger Wi¬
derſpruch; da Zug und Trieb der innern Kräfte nach¬
gelaſſen, iſt das alte Chaos in der Geſellſchaft zu¬
rückgekehrt, und dem alten Schöpfer bin ich ein
furchtbarer Zerſtörer nachgefolgt. Aber aus dem Tode
allein kann das Leben keimen; hat doch auch die
bildende Weltkraft, als ſie im Hermesbecher die
Elemente zuerſt gemiſcht, und nun brauſend, gäh¬
rend, ziſchend, donnernd die Kräfte durcheinander¬
fuhren, erſt in viel mißlungenen Schöpfungen, die
die Berge jetzt beſchließen, ſich verſucht, ehe ſie das
rechte Maaß in ihrem Gebild getroffen. Darum fordre
nicht von mir, daß ich gleich im erſten Wurf ein
Bleibendes geſtalte, die Zukunft magſt du nur nach
meinem Werke fragen.„
Wenn jener Vorwurf allzu hoch anſtrebenden
Uebermuth niederſchlägt, ſo mag dieſe Vertheidigung
vor überflüſſiger Demuth uns bewahren, und es
wird ſich dann leicht die rechte Mitte finden, wo
die Vergangenheit ihr Recht erhält, die auch einſt
Gegenwart geweſen, und die Gegenwart, die einſt
als eine Vergangenheit hinter die kommenden Zeiten
tritt, ſich nicht ſelbſt aufgeben darf. Denn aus
Zeiten wird die Geſchichte, wer eine Zeit negirt,
muß alle verneinen, die vorangegangen; nichtig iſt
zu aller Zeit nur, was ſich vereinzeln will; alles
Allgemeine, alles, was inſtinktartig in der Maſſe
wirkſam treibt, iſt hiſtoriſch, und muß als Solches
geehrt und geachtet ſeyn, wer es aber ausſchließen
muß nach den Grundſätzen einer falſchen Theorie,
mag ſicher ſeyn, daß er auf irrigen Wegen geht.
Das erſte Verhältniß aber, in dem der Gegen¬
ſatz der Zeiten und der Anſichten praktiſch hervortritt,
und ſeine Vermittlung fordert, iſt das des Staates zu
der Kirche. Nach der Idee des Alterthums ſtellte in der
großen Gemeinſchaft der Gläubigen die Kirche die ideale
Seite, die europäiſche Republik aber im Kaiſerthum
und der Staat im Beſonderen die Reale dar. Es iſt
aber das Verhältniß beider Sphären ein Solches,
daß das Ideale ſeiner Natur nach frey, in ſich ru¬
hend, ſeiner ſelbſt mächtig, und ſich ſelbſt durchſichtig
iſt, und durchleuchtet von den Ideen, die wie Sterne
in ihren Licht-Ergüſſen wechſelſeitig ſich durchſtrahlen,
und von jener ewigen in ſich zurückkehrenden Schlange
umhegt und umgürtet ſind. Das Reale aber iſt ſei¬
nem Weſen nach, obgleich von jenem umgriffen, wie
die
die Erde vom Sternenhimmel, doch wieder in ſich
ſelber abgeſchloſſen, und innerhalb dieſes eigenthüm¬
lichen Würkungskreiſes nach beſtimmten Geſetzen einer
Naturnothwendigkeit im ewigen Kreislaufe bewegt,
und in ſofern es dieſer Nothwendigkeit anheimgefallen,
jener Freyheit entrückt und eigenem Rechte pflichtig iſt.
Darum iſt das Eine allerdings ein Symbol des An¬
dern, und das Ideale geht dem Realen als das Erſte
an Würde vor; aber in wiefern nach der Naturſeite
hin die Idee ſich in der Darſtellung wirklich verkörpert
hat, iſt ſie aus dem Gebiethe des Idealen herausge¬
treten, und dieſes muß ſie nun den Naturgeſetzen der
realen Sphäre überlaſſen.
So iſt der Vorrang des Ethiſchen vor dem Patheti¬
ſchen zwar nicht zweifelhaft, und die Ethik erkennt in
ihrem Gebiethe die Herrſchaft der Leidenſchaften und
der Nachtſeite des Menſchen in keine Weiſe an; aber
ſie beſcheidet ſich auch im Gebiethe der Leidenſchaften
ſelbſt keine direkte Herrſchaft auszuüben; ſie mag nur
allenfalls durch das Geſetz des Schönen ſo weit hin¬
unterreichen, und nimmt es nur über ſich, die Aus¬
brüche jener Naturtriebe nach Möglichkeit zu ordnen
und zu regeln. Darum iſt denn auch allerdings die
Kirche dem Range nach das Erſte, aber darum nicht
das ausſchließlich Herrſchende; der Staat vielmehr in
ſeinem engern Gebiethe, durch vielfältige irdiſche Ver¬
hältniſſe beſtimmt, beſitzt ſeine eigene ſelbſtſtändige
Autonomie, die die Kirche zwar heiligen aber nicht in
Anſpruch nehmen kann.
Nur wenn die Quellgeiſter der Tiefe anſteigen in
Vermeſſenheit, wenn ſie wie Ahrmann in jener Lehre hin¬
auf zum Aether qualmen und ſeine Sterne verhüllen
10
wollen und beſtreiten, dann rettet das Bedrohte wie
billig ſeine höhere Würde, und kämpft die Anſtrebenden
mit Macht zur Tiefe nieder. Dies geſchah als in
Heinrich dem Vierten die vernunftloſe Hyle gegen die
Weltordnung ſich empört; da wurde jener große Mann
geſendet, den die neuere Zeit in ihrer blinden Thorheit
ſo hart geſchmäht, daß er mit Blitzen den aufſteigenden
Frevel niederwarf, und die Freyheit der Kirche rettete.
In dem Widerſpruch des heftigen Kampfes aber wurde
nach dem gemeinen Gang der Dinge das andere Aeuſ¬
ſerſte hervorgerufen, und die Kirche ihres Sieges ſich
übernehmend, trat nun auf der andern Seite aus
ihren Ufern, und maßte ſich in Manchem der folgen¬
den Päpſte eine Herrſchaft über das Weltliche an, die
unterhalb des Umkreiſes ihrer Befugniſſe fiel. Auch
dieſe Ausweichung von der einzig richtigen harmoni¬
ſchen Conſonanz mußte eine andere Rückwirkung er¬
wecken, die in der Reformation zur völligen Entwicke¬
lung kam.
Seither iſt jene politiſche Sekte aufgeſtanden, die
da behauptet, die Kirche ſey im Staat begriffen, und
dieſer, der neben ſich nicht ſeines Gleichen dulden
dürfe, müſſe darum nothwendig die Herrſchaft über die
Unterworfene führen. Eine ſolche Lehre, die die Noth¬
wendigkeit über die Freyheit ſetzt; die das Geiſtige
wieder der Dienſtbarkeit des Irdiſchen überliefert, dem
es gerade das Chriſtenthum im Streite mit dem alten
Heidenthum entrungen; die den Gedanken, der allem
Sinnlichen erſt Signatur und Namen giebt, in die
Feſſeln der Materie ſchlägt, obgleich ganz dem Geiſte
dieſer Zeit gemäß, iſt doch in ſich ſelber ſo demü¬
thigend und empörend, daß ſicher gerade hier der
Wendepunkt ſeyn wird, wo dieſer Geiſt, der nun
auch zu ſeinem Aeußerſten gekommen, gezwungen
ſeyn wird, wieder einer höhern und würdigern
Anſicht das Feld zu räumen. Eine Kirche, die
bey der teutſchen Souverainität zu Hofe gienge,
die ihr nachtretend in ſo viele Faktionen wie jetzt
das gemeine Weſen ſich zertheilte; die die Gewalt
über die Gewiſſen den Launen, Einfällen, Ge¬
meinheiten und Frivolitäten der Höflinge hinzugeben
ſich erniedrigte; die ihre Lehre dem Winde der Theo¬
rien preißgäbe, daß er ſie hin und herüber wehe,
würde bald die verächtlichſte aller Inſtitutionen, da
nicht einmal ein Bundestag ſcheinbar die loſen Glieder
zuſammenhielte.
Darum wenn in frühern Zeiten die Vertheidiger der
Freyheit ſich zu dem Staat gehalten, als es gegolten,
einen wirklichen Napoleonism der Päpſte zu bekämpfen:
dann iſt ihr Ort jetzt bey der ſchmählich unterdrückten
Kirche, daß ſie ihre Freyheit und Unabhängigkeit gegen
die Anmaßungen der Staatsgewalt vertheidigen, und
die Idee retten aus den Banden, in denen ſie eine
uſurpirende Macht gefangen hält. Für die katholiſche
Kirche zunächſt kann alſo von keinem Grundſatze der
Unterordnung, ſondern allein von dem der
Beyordnung der weltlichen Macht zur geiſtlichen
die Rede ſeyn, und die abſteigende Bewegung die ſeit¬
her dieſe zu jener herabgeriſſen, muß ſo lange rück¬
läufig werden, bis es zu jenem Punkte des Gleichge¬
wichts gekommen, wo ſie ſich dann befeſtigen mag.
Dort kann im wechſelſeitigen Verhältniß Beyder nur
eine vollkommene Gleichheit der Rechte Beyder gültig
ſeyn, allſo daß auch für ſie das Prinzip der chriſtlichen
10 *
Moral verbindlich iſt, was du nicht willſt daß dir
geſchehe, thu auch nicht dem Andern, wie es der Dom¬
kapitular von Droſte in ſeiner Schrift: Kirche und
Staat, ſehr gut und praktiſch ausgeführt.
Um aber zu dieſem Punkte zu gelangen, muß die
Kirche ſich ſtärker als je an ihre Einheit ſchließen, und
die geſchloſſene Phalanx ihrer Hierarchie, an der mehr
als einmal die Willkühr ſich gebrochen, ihr auch jetzt
unerſchüttert entgegen halten. Hat ſie dann einmal
von dieſer Seite Licht und Freiheit ſich errungen, und
ihre billige Dotation, die ihr der Staat noch immer
vorenthält, erlangt, dann wird ſie bey der ungeheuern
Reproduktionskraft, die ihr beywohnt, ſich leicht wie¬
der aus ſich ſelbſt zeitgemäß ergänzen, und dann ihre
übrigen Verhältniſſe durch Synoden und Concilien
ordnen, und in dem Maaße wie die Ideen ſich von
neuem beleben, wieder verjüngt erſtehen. Dann erſt
wird es an der Zeit ſeyn, jedem allenfallſigen Despo¬
tism, der ſich in ihr entwickeln wollte, zu begegnen,
da das katholiſche Teutſchland ſo wenig den Kirchlichen
wie den Politiſchen ſich gefallen zu laſſen irgend einige
Neigung hat.
Der proteſtantiſchen Kirche aber, die ohne ſich ſelber
aufzuheben, in dieſem Sinne nicht rückläufig werden kann,
wird nichts übrig bleiben als die Reformation in der Rich¬
tung zu beendigen, in der ſie angefangen, und ſie ſo
weit fortzuführen, bis die Gewalt überall bey der Ge¬
meinde ruht, wie Sommer in ſeiner Schrift: von der
Kirche in dieſer Zeit, treffend entwickelt hat. Dann iſt auf
dem Wege der Allheit daſſelbe Verhältniß hergeſtellt,
das der Katholizism auf dem Wege der Einheit ſuchen
muß, indem alsdann die kirchliche Macht ſich an die
ideale Seite des einzelnen Kirchengliedes knüpft, und
nun durch den innern Zwieſpalt der menſchlichen Natur
hinreichend von der realen Staatsgewalt ſich ſcheidet,
deren Brennpunkt denn auch collectiv keineswegs mit
dem Kirchlichen zuſammenfällt. Alle andern divergen¬
ten Richtungen, ausgehend entweder von vorgefaßten
Meynungen, einſeitigen Anſichten, oder befangener
Sinnesart, und hervorgerufen durch irgend ein beſon¬
deres Intereſſe, oder auch ein übelunterrichtetes Wohl¬
meynen, ſind, eben weil ſie verworren, auch in ſich
nichtig, reiben ſich unter einander auf, und werden
nicht von der Geſchichte aufgenommen, die nur was
in die große Strömung ihrer jedesmaligen Bewegung
eintritt, anerkennt.
Dieſe Betrachtungen führen uns zum zweyten
großen Gegenſatze, Grund einer andern Entzweyung
in dieſer Zeit, dem nämlich, der zwiſchen dem monar¬
chiſchen und demokratiſchen Prinzip beſteht, und
in dem das Verhältniß der Regierung zum Volke zu
ermitteln, aufgegeben iſt. Das Alterthum in all ſei¬
nem Thun und Bilden von einem richtigen Naturin¬
ſtinkt geleitet, hatte größtentheils unbewußt die Geſell¬
ſchaft, ſelbſt eine Gemeinſchaft lebendiger, organiſcher
Individuen, nach den Geſetzen und in den Formen des
organiſchen Lebens geordnet und geſtaltet; ſo daß die
Bildungskraft, austretend aus dem Beſondern in das
Geſammte, in ihm immer nur den Typus des einzel¬
nen Organisms reproduzirte. Es giebt aber in dieſem,
wie zweyerley Geſetze und zweyerley Lebensverrichtun¬
gen, ſo auch gleichviel Syſteme, das Automati¬
ſche und das Willkührliche. Jenes in dem der
Schlag des Herzens und aller Pulſe und alle andern
Bewegungen des untern Lebens von ſtatten gehen,
hegt in ſich ſelbſt ſein eignes Recht und ſeine Ordnung;
es hat ſeine eigne inwohnende Naturſeele, die unter
viele unabhängige Organe ihre bildenden und erhalten¬
den Inſtinkte vertheilt, und ihre ſelbſtige und unabhän¬
gige Gedankenfolge und Ideenverbindung hat, in ihr aber
wie im Traume den Geſetzen der allgemeinen Natur¬
nothwendigkeit unterliegt. Das Andere aber in dem die
Sinne und alle willkührlichen Bewegungen des höhern
Organisms wirken, iſt auch an eine höhere geiſtige
Herrſchaft angewieſen; ſtatt jenes dunkeln Inſtinktes
iſt es eine ſelbſtbewußte Anſchauung und eine ſich be¬
ſtimmende freye Willenskraft, die alle Verrichtungen
ordnet und beſchließt; die Bewegungen erfolgen alſo
nicht in jener zum Voraus beſtimmten Wiederkehr,
ſie ſind nur mittelbar an äußere Naturverhältniſſe ge¬
knüpft; dafür aber iſt es jene höhere Willkühr, der
ſie unbedingt ſich unterordnen, und die ſie nur von
oben herab alſo beherrſcht, daß alle Theile in Eins
verbunden, bis ins Einzelnſte ihr zugängig ſind. Beyde
durch leitende Zwiſchenorgane verknüpft, ſich wechſel¬
ſeitig kräftigend und belebend, erhaltend und übend, er¬
nährend und begeiſtigend, bilden erſt jenes in ſich
geſchloſſene freythätige Ganze, das als das höchſte
Kunſtwerk der Schöpfung uns erſcheint.
Jenes Erſte aber, was wir aufgezählt, wird mehr
von der Natur jenes Realen an ſich haben, alſo ei¬
gentlich das vorherrſchende Element des Staates ſeyn:
das Zweite aber dem Idealen näher ſtehend, wird
auch als das mehr kirchliche Element erſcheinen: in
der Kirche ſelbſt aber wird jenes mehr die proteſtan¬
tiſche, dieſes die katholiſche Richtung in ſich tragen,
im Staate aber das Eine das demokratiſche, das An¬
dere das monarchiſche Prinzip darſtellen. Die Demo¬
cratie ſtrebt ihrem Weſen nach eigenwillig allein auf
ſich ſelber zu beruhen; ſie will ſich ſo viel wie möglich
ſelbſt beſtimmen, und ſcheut jede Gewalt, die von
oben herab nach allgemeinen Abſtraktionen zu ordnen
und zu richten ſich anmaßen will; ſie iſt darum weſent¬
lich theilend und zerſetzend; das Allgemeine auflö¬
ſend bis zum Beſonderſten, ſo lange bis die einzelne
Perſönlichkeit als letztes Element der Gemeinde der
Theilung Gränze ſetzt. Darum iſt ihr die Autorität
nichts, die eigne Ueberzeugung aber die einzige Richte¬
rin der Handlungen; die Gemeinſchaft hat nur eine
von unten herauf delegirte Gewalt; die Einheit iſt
nur aus einer einſtimmigen Vielheit abgeleitet, und
hat ohne dieſe keinen idealen Beſtand und keine Macht
in ſich. Das monarchiſche Prinzip aber iſt weſentlich
Entſagung und Selbſtentäußerung; es ſteigt ſynthetiſch
in einer Folge von Abſtraktionen auf bis zur höchſten
Gewalt, und betrachtet von da wieder abſteigend alles
Untergeordnete als Ausfluß jenes erſten Setzenden,
jener Einheit, die das Ganze in ſich beſchloſſen trägt.
Darum behauptet das Einzelne hier keinen Beſtand in
ſich, es verliert ſich willig an jenes Ganze, das alle
Theile aus ſich hervorgetrieben, und ſie nun in einer
ſtetigen Gemeinſchaft hält, ſo daß ein Jegliches in dem
Andern ſey, und jeder Theil der zum Organe des
Allgemeinen wird, ſeine ganze Kraft erhält. Darum
iſt der weſentliche Charakter des Monarchiſchen Glaube
und Gehorſam an jene einige Allgemeinheit, die aus
dem Aufgehen alles Beſondern hervorgegangen, und
hiſtoriſch eben ſo die verſchiedenen Zeiten in einer all¬
gemeinen lebendigen Tradition vereint.
Darum weil jeder keimende Staat zuerſt im Natur¬
gebiet ſich begeiſtigen und bewurzeln muß, darum iſt in
den Verfaſſungen des Alterthums — am ſichtlichſten
in den Griechiſchen, wie noch heute in denen der
Neuen Welt, die zur Selbſtſtändigkeit gelangt — das
demokratiſche Element vorherrſchend, eben wie in der
Kirche dort die Vielgötterei des Heydenthums, hier
das diſſentirende Sektenweſen. Jene griechiſchen Ver¬
faſſungen waren in allen ihren Elementen, Familie,
Gemeinde, Staat, durchgängig automatiſch, und das
unentbehrliche Monarchiſche wurde durch eine Ariſto¬
kratie, ſelbſt wieder ein engerer Demos, hinzugethan.
Darum waren alle dieſe Democratien durchaus in
größtentheils bewußtloſem Inſtinkte gegründet und be¬
halten; die wandernden Völker zogen wie die Störche
und nach dem Naturtriebe der andern Zugvögel; die
Anſäſſigen bauten ſich gleich den Bibern bey den Wäſſern
an, und ſandten Colonien aus nach Art der Bienen;
im Innern der Geſellſchaft war alles nach Na¬
turperioden und Umläufen geregelt; in den Gewalten
waren abſteigende und aufſteigende Naturmächte dar¬
geſtellt : die Abtheilungen des Landes waren natürlichen
Scheidungen nachgebildet, überall große Naturtypen
in ihr nachgeprägt. Selbſt die Sitte herrſchte wie eine
phyſiſche Gewalt, und das Band des Staates war
eine Wahlverwandtſchaft ſich fliehender und ziehender
Gegenſätze. Rom, innerlich nach gleichem Prinzip
gebaut, trug äußerlich das Monarchiſche, doch immer
noch gebunden im Sinne der alten Welt in die Ber¬
faſſung ſeines großen Weltreichs ein: die Provinzen
waren weſentlich gehorchend, und Rom trug aller
Völker Willkühr beſchloſſen in der Seinigen, wie ſein
capiteliniſcher Jupiter herrſchte über alle Götter des
bezwungenen Erdenkreiſes.
Als die Teutſchen aus ihren Wäldern die Bollwerke
dieſes Reichs erſtürmt, da nahmen auch ſie in ihren
Naturſtaat im Fortſchritte der Zeiten mehr und mehr
von der geiſtigen Einheit des monarchiſchen Prinzipes
auf, das jetzt durch das Chriſtenthum ſeine Begrün¬
dung in einer höhern Welt, und von da ſeine Weihe
und Delegation erlangt. Als daher der Franken
Schwerdt dem ganzen Weſtreich Einheit und Sicher¬
heit erſtritten, da gründete Karl der Große das erſte
Kayſerthum im Geiſte der neuen chriſtlichen Zeit. Er
ſelbſt, der erſte Fürſt von Gottes Gnaden und durch
die Wahl des Volkes, capitulirte mit der Freyheit
ſeiner Franken, und der übrigen durch ihre Waffen
unterworfenen Völkerſchaften; und indem er großartig,
edelmüthig, freyſinnig, aber auch wohlverſtändigt über
das, was die geänderte Weltlage geboth, das Prinzip
der altgermaniſchen Freyheit ehrend, und von unten
herauf ihm jede Entwickelung geſtattend, mit dem
chriſtlich monarchiſchen, das von oben herab durch die
ganze Folge von Reichsbeamten, die im Krieg und
Frieden ihre Vollmacht allein von der höchſten Gewalt
erhielten, geſchickt verband, bildete er den erſten wahr¬
haft organiſchen, den ganzen Menſchen in allen ſeinen
phyſiſchen und geiſtigen Regionen in ſich beſchließenden
und in höherer Steigerung nachbildenden Weltſtaat.
Als in der folgenden Zeit die Einheit, von ihm in
ſeinen langwierigen Kriegen vielleicht allzuſtreng ge¬
handhabt, durch mannichfaltige Verhältniſſe geſchwächt,
nachließ in ihrer das Ganze durchdringenden Energie,
da ſtieg das automatiſche Prinzip, mehr und mehr
Raum gewinnend, höher und höher gegen die Mitte
auf, und gliederte nun den ganzen Staatskörper, die
Vielheit immer bindend in eine Exponentialreihe ſich
ſtets übergeordneter Einheiten, bis die letzte ſich in
die kaiſerliche Macht verlohr, in eine Stufenfolge in
ihrer Würde und Bedeutung abfallender Organe alſo
aus, daß jedes Tiefere als die Wurzel des Höhern
erſchien. So bildete ſich, indem die kaiſerlichen Be¬
amten ſich mit der Demokratie der Beſitzer in eine
bewaffnete Ariſtokratie vereinigten, das ganze Lehn¬
ſyſtem des Mittelalters in ſeinen ſieben Potenzen durch
die ſieben Heerſchilde aus; alſo daß der Kaiſer, die
höchſte Einheit, den erſten führte; Biſchöffe und Präla¬
ten, die gefürſtet ſind, den zweyten nahmen; Layen¬
fürſten den Folgenden, Freyherren und Mittelfreye ſich
in den vierten und fünften theilten, und dann die
Ordnung durch die Dienſtmannen mit dem ſechſten
endlich zu denen, die nicht eigen ſind, aber ohne edel
zu ſeyn, doch ächter Geburt und freyen Beſitzes ſich
erfreuen, unter dem ſiebenten niederſtieg. So hatten
alſo alle Beſitzenden, indem ſie wie beim Eintritt in
den Staat die perſönliche Freyheit, ſo ihr Gut an die
Gemeinſchaft hingegeben, um es gefeſtet und ge¬
währt durch Alle wieder zu erhalten, ſich in jener
ſiebenfach gegliederten Maſſe zu wechſelſeitiger Leiſtung
und wechſelſeitigem Schutz in eine wohlbewehrte Schil¬
derburg zuſammengeſchloſſen, die nun in die Mitte
der Zeiten trat, und alles Heymathloſe, was ſie ſich
nicht angeeignet, und was ſonſt die Gewalt der Waffen
ihr bezwang, als der Leibeigenſchaft verfallen, in eine
obgleich milde Dienſtbarkeit verurtheilte.
In dieſer Art von Durchdringung beyder Prinzipien
hat das teutſche Mittelalter ſeine andere glänzende
Zeit durchlaufen, und Teutſchland zum Haupt der
Chriſtenheit erhoben. Aber im Fortſchritt der Zeiten
mußte auf demſelben Wege, in dem jenes Syſtem von
unten herauf ſich entwickelt hatte, daſſelbe demokratiſche
Prinzip, das ſich in ihm ſteigernd die ganze Organi¬
ſation hervorgetrieben, ſich immer weiter um ſich brei¬
tend, ihr eigenes Werk zerſtören. Als daher die ſtar¬
ken ſchwäbiſchen Kayſer dahingegangen, und während
ihre Würde an die Wahl geknüpft blieb, Die der
Reichsbeamten erblich wurde, als das wilde Fauſtrecht
mehr und mehr um ſich griff; da mußte die Einheit
mehr und mehr zerrinnen in die Vielheit der zweyte
und beſonders der dritte Heerſchild mußte ſich je mehr
und mehr verſtärken, weil ſie am meiſten von der Ein¬
heit in ſich trugen. Dieſe Verſtärkung aber geſchah
zugleich aufwärts auf Koſten der kayſerlichen Macht,
die ſie innerlich aushöhlten; und auf Koſten der untern
Vaſallen, die ſie theils ausſogen, theils durch Beſte¬
chung ihrem Intereſſe gewannen.
So bildete ſich die Territorialhoheit allmählig aus,
die, als die Erfindung des Schießpulvers das Kriegs¬
geſchick der Lehnsvaſallen entbehrlich gemacht, ſie theils
in Höflinge, theils in Söldner beim Heere umſchuf;
dann als die Entdeckung Amerika's Ströme Goldes in
die Geſellſchaft leitete, durch das Steuerſyſtem ſich bald
gänzlich unabhängig von der Bewilligung der Grund¬
beſitzer machte; endlich als die Reformation ausbrach,
auch die Kirche gänzlich unterjochte. So zerfiel das
Reich in jenes Gewimmel kleiner und größerer Tyrannen,
die nur den Schein eines Richters und Oberhauptes
über ſich duldeten, aber niederwärts ſtets fortſchreitend
das demokratiſche Prinzip untergruben und bemeiſterten.
Um dies zu bewürken wurden nach und nach jene
Centraliſationsſyſteme ausgeſonnen; bis ins Allerein¬
zelnſte hin zog der Staat Alles in ſeine Curatel; auch
das Geringfügigſte ſollte von der Mitte aus geleitet
ſeyn; die ſogenannte Polizey hofmeiſterte von oben
herab alle Glieder der Gemeinſchaft bis ins Innere des
Familienlebens hinein; die Kirche ſelbſt wurde zu einem
Werkzeug dieſer Politik herabgewürdigt. Aber ſchwer
rächte ſich die mißhandelte Natur an denen, die dies
unſinnige Syſtem zu üben ſich herausgenommen. Jene
centraliſirten Verrichtungen forderten zu ihrer Hand¬
habung Naturen höherer Art, als der gemeine Men¬
ſchenſchlag ſie biethet, und fanden meiſt ohnmächtige
Organe, die in der Regel an Kraft und Einſicht noch
unter jenem Mittelmaaße ſtanden; während von Unten,
wo alle Autonomie mehr und mehr erlahmte, nicht
Hülfe noch Erfriſchung der iſolirten Gewalt zuſtrömte.
So wurde dieſe in dem Maaße, wie ſie mit gierigem
Heißhunger um ſich fraß, kraftloſer und ohnmächtiger;
und in dem Verhältniß wie die Maſchiene ſich verwik¬
kelte, mochte die ſchwache Feder, die das Ganze zu
treiben unternommen, weniger den Widerſtand bezwin¬
gen, und der Reibung Meiſter werden. Da alle In¬
ſtinkte mehr und mehr erloſchen, und die Naturtriebe
in ſich vergiengen, ſo wurde die ganze Staatswirth¬
ſchaft ein künſtliches Verſtandeswerk ohne Leben und
Natur; wie der Grundbeſitz erſt in Geld, und dieſes
zuletzt in Papier aufgegangen, ſo wurde alle organiſche
Lebenskraft ein todtes Buchſtabenwerk, das im eignen
Umkreiſe ſein Weſen trieb, und mit der wirklichen Welt
nur wenig zu ſchaffen hatte; und die Staaten waren
den Thieren in jenen phyſiologiſchen Verſuchen zu ver¬
gleichen, denen man das Hirn herausgenommen, und
den Schädel mit einem Gemiſch von Zink und Queck¬
ſilber gefüllt, und die nun vom galvaniſchen Reize ſich
aufgerichtet, herumliefen, ſprangen und als furchtbare
Geſpenſter des Lebens ſich bewegten.
Während indeſſen dies Syſtem im vollen Fortſchrei¬
ten begriffen war, bereitete ſich im Stillen die Gegen¬
wirkung. Dieſe gieng aus vom ſechſten und ſiebenten
Heerſchild, den da führen die Dienſtmannen und
jene, die nit eigen ſind und rechter Ehe Kinder, von
denen der Sachſenſpiegel ſagt: als man nit enweis,
wenn die ſiebent Welt ein Ende nimt, alſo weiß man
nit, ob ſie Lehn mögen haben oder nit, — die aber nun
nachdem ihre Zeit gekommen, gleichfalls zu ſteigen und
zu wachſen begannen. Unter dem Schutze dieſes Heer¬
ſchildes hatten die Freyen in den Städten in ihren
Innungen ſich geſammelt, und in den Hanſa's verban¬
den ſich dieſe Gemeinheiten wieder zu Innungen höhe¬
rer Ordnung. Zugleich hatte in der Revolution der
Schweiz ſich ein unabhängiger Bauernſtand gegründet.
Das Eindringen des Geldes vermehrte die Zahl der
unabhängigen Eigenthümer, und brachte bald den
größten Theil des Grundbeſitzes in die Hände der
freyen Gemeinen; der Dienſt in den ſtehenden Hee¬
ren gab ihnen die Waffenehre, die Buchdruckerey die
Einſicht und die ſonſt in den höhern Ständen gebannte
Wiſſenſchaft, und die Reformation bald dazu die Glau¬
bensfreiheit.
So wuchs das demokratiſche Element in ſeiner Ge¬
diegenheit im Stillen in dem Verhältniß an, wie
das monarchiſche extenſiv um ſich greifend, ſich inten¬
ſiv ſchwächte und verflüchtigte; und indem das Letzte
in ſeiner Ausbreitung, die ſtändiſchen Freyheiten vor¬
beygehend, jenes Element mehr und mehr zu unter¬
graben ſich bemühte, mußte es endlich zu gewaltthä¬
tigen Rückwirkungen kommen, die dann allmählig die
ganze Bewegung wieder rückläufig gemacht. Von dieſer
Art waren die Revolution in England und der Auf¬
ſtand der vereinigten Niederlande; in unſerer Zeit die
franzöſiſche Umwälzung, die nun auch in Teutſchland
das demokratiſche Element bis zum höchſten Grade
der Spannung gerade da hinauf getrieben, als das
Territorial-Syſtem durch die gänzliche Auflöſung des
Reiches zu ſeiner Vollendung gekommen war; und da
ſich alſo hier die allerweiteſten und äußerſten Gegenſätze
gegenüberſtehen, ſo iſt zu begreifen, wie dieſe größte
aller Spannungen auch nothwendig am dringendſten
Beruhigung fordert, wenn ſie nicht in ähnliche gewalt¬
ſame Exploſionen aufgehen ſoll.
Sollen wir den gegenwärtigen innern Zuſtand
Teutſchlands mit irgend einer Stimmung des organi¬
ſchen Lebens in Vergleichung bringen, ſo biethet ſich
uns der magnetiſche Somnambulism als die treffendſte
Uebereinſtimmung dar. Wie in dieſem Zuſtande das
ganze höhere geiſtige Leben ins untere animaliſche her¬
abgeſtiegen, alle ſelbſtthätige Willkühr erloſchen iſt;
alle Bewegungen nicht mehr dem Geboth des Einenden
von oben herab gehorchen, vielmehr von unten herauf
im Schlafwandeln Richtung und Ziel erhalten, alle
Sinne geſchloſſen und in ſich gekehrt, und der Geiſt
wie in einem dämmernden Nachſchimmer in weſenloſen
Traumbildern ſpielt: ſo iſt ohngefähr auch die Autori¬
tät, eben weil ſie ſich geiſtig übernommen, und das
ganze untere Leben von ſich abgelößt, nahe daran im
Rückſchlag jener aufs höchſte geſpannten Reizbarkeit,
ihrer ſelbſt unmächtig, ſich ſelber zu verliehren.
Wie aber in demſelben Zuſtande dem tieferen Natur¬
leben alles das zugewachſen, was dem höhern entgan¬
gen; wie neue Inſtinkte in ihm erwacht, ein neuer
Sinn in ihm ſich geöffnet hat, der in anderer Weiſe
an die Formen von Raum und Zeit gebnnden, ſich
ſelber wie die umgebende Welt leicht durchſchaut; ſo
iſt auch, beſonders ſeit der großen Anregung durch die
Befreyungskriege, im dritten Stande dieſelbe Verkettung
von Erſcheinungen herausgetreten. Alle Verrichtungen,
die ſonſt nur dem höhern Staatsorganism zugekom¬
men, haben ſich in ihm ausgebildet; prophetiſche
Organe haben ſich ihm aufgeſchloſſen; längſt verſiegte
Bildungstriebe ſind aufs Neue in ihm erwacht; jener
Weltſinn hat ſich als öffentliche Meynung in ihm kund
gethan, die alle Bewegungen auch wider den Willen
der Organe lenkt, die alle Weltverhältniſſe in ihrer
Art durchſchaut, und zugleich auch ihren eigenen kran¬
ken Zuſtand leicht erkennt, und die Heilmittel angiebt,
ihn zu heben.
Dieſer Gemeinſinn aber gebiethet, daß die beſtehende
Spannung allein durch eine Verknüpfung des demo¬
kratiſchen und monarchiſchen Elements beruhigt werde,
und zwar alſo, daß das Erſte nach aufwärts, bis an
den Monarchen reiche, der in ſeiner Unverantwortlich¬
keit auf der Höhe der Geſellſchaft ſteht; das Andere
aber nach abwärts bis an die Gemeinde niederſteige,
die als geſchloſſene Gemeinſchaft der Familienväter die
Baſis des Ganzen bildet. Ja den Mittelgliedern aber
ſollen beyde Elemente, ſich zugeordnet, immer gleich¬
zeitig zuſammenwirken; ſo zwar, daß gegen die Höhe
anſteigend das monarchiſche Prinzip mehr und mehr
überwiege, gegen die Tiefen aber niedergehend das
Demokratiſche immer entſchiedener vorherrſche.
Frey ſeyn zu allem Guten muß nothwendig die Ge¬
meinde, wo eine ſolche wirklich vorhanden iſt, wie es die
altgermaniſche geweſen; ſie muß völlig ungeirrt Recht
weiſen durch ihre Schöffen, und ihre innern Angelegen¬
heiten verwalten durch ihre Magiſtrate und Vorſtände,
und Beyde müſſen durch unabhängige Wahl aus ihrer
Mitte erleſen ſeyn, ſo zwar, daß Bürgermeiſter und
Schultheiß oder Friedensrichter, weil in ihnen ſich
das Monarchiſche an die Gemeinde knüpft, allein von
der Regierung beſtättiget werden. Wie Dieſen das ge¬
ſchriebene Recht und das Herkommen in ihren Urthei¬
len zur Richtſchnur dient, ſo Jenen in den Beſchlüſſen
das Staatsgeſetz, und Beyde in ihrer Eigenſchaft als
Vorſtände der Gemeinde völlig unabhängig, ſind allein
durch die Vermittlung dieſes poſitiven Bandes mit der
höheren Regierung verknüpft.
Dieſe ſchließt ſich zunächſt in der zwiefachen Beam¬
tenwelt, den gerichtlichen und den Verwaltungsbehör¬
den, an dieſe Mannigfaltigkeit in ſich abgeſchloſſener
freyer Genoſſenſchaften; und jene Behörden ſind zu¬
nächſt die Leiter, die dieſe Mannigfaltigkeit unter ſich in
ein Syſtem verknüpfen, andererſeits die Verbindungs¬
glieder dieſes Syſtemes mit der höhern Einheit. In
dieſer Stellung vereinigen ſie einen dreifach verſchie¬
denen Charakter in ihren Verrichtungen; erſtens nach
abwärts
abwärts die allgemeine Auſſicht über die Handhabung
der Geſetzlichkeit in den Gemeinden, jedoch blos be¬
ſchränkend den Mißbrauch der Freiheit, keineswegs
aber ſich einmiſchend in den Gebrauch; zweytens
um ſich her, im beſtimmt abgegränzten Bezirke ihrer
Würkſamkeit, die allgemeineren Verhältniſſe, die
innerhalb deſſelben fallen, zwar nicht mit derſelben
Freiheit wie die Gemeinde, aber doch mit einem gewiſ¬
ſen Grade von Selbſtſtändigkeit, und ſoviel wie mög¬
lich perſönlich zu ordnen und zu beſchicken; endlich
über ſich dieſelbe, noch durchgreifendere Aufſicht,
die ſie nach abwärts üben, von Seite der höheren
Behörde zu dulden, und der vollziehenden Gewalt
unbedingt zu gehorchen in Allem, was geſetzlich und
rechtlich iſt.
Jede höhere Behörde wird daher gegen die nächſte
untere im Verhältniſſe des monarchiſchen zum demo¬
kratiſchen Elemente ſtehen, und darum in dem Maaße,
wie ſie in der Hierarchie der Gewalten anſteigt, auch
der Zahl nach ſich mehr und mehr concentriren müſſen;
alſo zwar daß die Miniſterien büreaukratiſch geordnet
ſind, die Regierungen collegialiſch, jedoch viel gedrun¬
gener als nach bisher eingeführter Ordnung, da das
Ständiſche die collegialiſche Vielheit vertritt, — alſo
zwey etwa unter einem Präſidenten, der im Mittel¬
punkte allenfalls durch die Vermittlung eines Landdroſten
der Provinz, die leitende Verbindung mit den Mini¬
ſterien knüpft; die Landräthe aber zu den Regierungen
in daſſelbe Verhältniß geſetzt, abwärts mit den Bür¬
germeiſtern und Ortsvorſtänden in größtentheils münd¬
licher Verhandlung, das Gedinge des Bezirkes zu¬
ſammenſetzen. Die gleiche Ordnung hat auch für die
11
gerichtlich: Parthie aus der Erfahrung ſtatthaft ſich
befunden, nur daß aus erheblichen Gründen, während
der Präſident, als Organ der höhern Behörde zugleich
Vorſtand der untern, die carolingiſchen Sendgrafen
und Gaugrafen in ſeiner Perſon vereinigen mag; hier
Beyde beſſer getrennt ſeyn ſollen; ſo wie auch die
Beurtheilung der That gewählten Geſchwornen, die
Anwendung des Geſetzes aber allein den Beamten
anzuvertrauen iſt.
Da aber nun alle jene Beamten der untern Ord¬
nungen abſteigend mehr und mehr vom demokratiſchen
Element in ſich aufnehmen ſollen, ſo iſt es unabweis¬
bare Forderung, für ſie in allen Provinzen das In¬
digenairecht wieder herzuſtellen, damit über die eigen¬
ſten Verhältniſſe des Landes nur entſcheide, was
ſeinem Boden entwachſen iſt. Darum müſſen alle
Beamten der Gemeinde durch Jene, die Gut und Geld
in ihr beſitzen, oder was Gut und geldeswerth iſt,
eine ſelbſtſtändige Induſtrie ausüben, damit nicht
Pöbelherrſchaft den Staat verderbe, in freyer ſchlecht¬
hin von der Regierung beſtätigter Wahl geſetzt, die
höheren Juſtiz- und Verwaltungsbeamten bis an die
Prokuratoren und Präſidenten durch die Bezirke in
dreyfacher Liſte, aus der die Regierung wählt, berufen
ſeyn; die Höheren aber durch einfache Ernennung von
Seiten der vollziehenden Gewalt, darum auch, aber
nur bey der Verwaltung, durch ſie abrufbar, während
die Gewählten nur durch den Spruch auf Urtheil und
Recht von ihren Stellen zu entfernen ſind.
Um aber den Gang dieſer Beamtenwelt wie durch
einen Antagonism zu ordnen und zu regulieren, und
um bei der Bildung jener Rechte und Geſetze, in
denen ſie ſich bewegen ſoll, auch mit dem demokra¬
tiſchen Elemente mitzuwirken; werden für den engern
Kreis örtlicher Verhältniſſe die Provinzialverſammlun¬
gen, für Allgemeine die Reichsparlamente berufen
und gewählt, daß ſie mit den Miniſterien und den
Miniſterialen in freyer Wechſelwirkung, getragen und
gekräftigt durch alle jene automatiſchen Inſtitutionen,
in denen ſie ihre Wurzeln in die heimathliche Erde
ſchlagen, was dem Heile des Ganzen gedeihlich iſt,
und was ſeinem Zuſtand frommt, bilden und geſtal¬
ten mögen.
Nur auf dieſe Weiſe, urtheilt die Meinung, möge
es wohl gelingen, wiederzufinden, was uns in den
Jahrhunderten der Verwirrung verlohren gegangen,
und auch in unſerer Art nach den gegebenen
Momenten, das Problem aufzulöſen, was die ver¬
ſchiedenen Ztiten der teutſchen Geſchichte, jede auf
eigenem Wege, ſich aufgelößt. Nur indem die Frey¬
heit ihr Recht erhalte, möge der Gehorſam auch
willig ſeine Pflicht erfüllen; und ſo jene freye Unter¬
werfung, die einzige wahre Stärke der Staaten wie¬
derkehren. Nur indem die Gemeinde wieder eingeſetzt
werde in ihre naturgemäße Selbſtſtändigkeit, und der
ſtockende kleine Kreislauf wieder ins Fließen komme,
möge die erſtorbene Theilnahme am Oeffentlichen wieder
ſich beleben; jene erloſchenen Inſtinkte, an die we¬
ſentlich die Erhaltung des Ganzen geknüpft erſcheint,
wieder erwachen; und indem ſie das Nähere mit ge¬
diegener Würkſamkeit erfüllen, jene weitumgreifende,
ſchweifende, unbeſtimmte Thätigkeit nach und nach
wieder in ihre Ufer treten, und jene krankhafte Er¬
regbarkeit ſich ſtumpfen und beruhigen.
11*
Dadurch, daß eine freye Gedankenmittheilung, —
einzig an die Bedingung der Wahrheit in den That¬
ſachen und einer ſittlichen Billigkeit im Urtheile ge¬
knüpft, und in ihrem Mißbrauche blos an den Ausſpruch
der Geſchwornen auf Recht und Billigkeit angewieſen, —
den geiſtigen Kreislauf unterhält, und nun die Ver¬
faſſung mit allen ihren Inſtitutionen unter der Alles
durchſchauenden Aufſicht des Ganzen ſteht, ſey mit
dem Wegfallen der ohnehin unzuverläßigen Controlle
von oben, eine der Hauptquellen jenes Schreiberey¬
weſens abgegraben, an dem alle Staaten ſiechen.
Dadurch, daß jede Behörde ihren eigenen Kreis abge¬
markt erhalte, innerhalb deſſen ſie auf ihre eigene
Verantwortlichkeit Befugniſſe übt, und den ſie ſo viel
möglich mit perſönlicher und unmittelbarer Thätigkeit
erfüllt, ſey eine andere reichlich fließende Quelle dieſes
verderblichen Unfugs abgegraben. Statt des loſen
Papierbandes, das jetzt die Monarchie, — die, wenn
ſie nicht zu roher Gewalt ihre Zuflucht nimmt, in
gänzlicher Unmacht aus einer abſtrakten Welt herab,
beynahe keines Einfluſſes auf die Wirkliche ſich erfreut,
mit der Demokratie verbindet, die von den unterſten
Beamten allein beherrſcht, von oben herab nur ver¬
worren und geirrt, getrieben von dem Naturlauf der
Dinge, immer ſchwebend am Rande der Anarchie,
die Dinge und Angelegenheiten beſchickt, wie es ſich
eben fügen will, ſchlinge alsdann wieder ein warhaft
organiſches Band die zerfallenen Sphären in eine
wahre begeiſtigte Leiblichkeit zuſammen, worin immer
je Eines getragen von dem Andern Beyde wechſelſeitig
das gemeine Wohl fördern mögen. Nur indem der
gänzlich inhaltsleere Formalism des heutigen Regie¬
rungsweſens in ſolcher Weiſe Stoff und Inhalt er¬
lange, bekäme das monarchiſche Prinzip mit der Fülle
erſt die rechte Stärke, und es hörten die Regierungen
auf, blos wie Irrlichter über einem gährenden Boden
loſe hinzuſchweben, nahend dem Betenden, fliehend
vor dem der da flucht. Nur erſt, wenn ſie aus einem
ſo dunſtigen Beſtande einträten in ein friſches, grünen¬
des und durch alle Triebe gekräftigtes Leben, würden
ſie in Eins mit ihm zuſammenwachſen, und ſo
allein der von ihnen beſeelte Staat wieder zu einem
wahrhaften Organism ſich erheben.
Neben den Inſtitutionen, die zur Erhaltung
des Staates und zum Landfrieden dienen, kommen
zunächſt jene in Betrachtung, die zu ſeinem Schirm
zur Vertheidigung und zur Landwehre geordnet ſind.
Das Heer zur carolingiſchen Zeit, durch den allgemei¬
nen Bann berufen, gliederte ſich unter den ſpätern
Kayſern in die mehr zum Demokratiſchen neigenden
Formen des Lehnſyſtems: und dieſe Geſtalt erwieß
ſich durch viele Jahrhunderte geſchickt, jeglicher Kriegs¬
gefahr zu ſtehen, und den Namen der Teutſchen über
ganz Europa auszubreiten. Als aber die Lehen erb¬
lich wurden, und das Heer nun bald in eine Janit¬
ſcharenkaſte ausgeartet war, mußten ſich auch alle
Nachtheile dieſes Syſtems in ihm entwickeln, und
fortan pflanzenhaft an den Boden feſt gefeſſelt, mußte
es bald jene äußere Beweglichkeit verliehren, die zum
Kriege erfordert iſt, und nur jene Innerliche beybe¬
halten, die zu Meutereyen aufgelegt macht.
Darum als die neue Waffenart aufkam, warf der
ſtreitbare Geiſt der Nation ſich unwillig auf das ent¬
gegengeſetzte Aeußerſte, und nun kamen die ſtehenden
Heere auf, in deren Einrichtung das monarchiſche
Prinzip allein und ausſchließlich herrſcht; blinder Ge¬
horſam das einzige Band iſt, in dem das Ganze zuſam¬
menhält, und die eigne ſpezifiſche Waffenehre der ein¬
zige Trieb, der es beſeelt. Als aber die Erfahrung
die Nachtheile auch dieſes Extrems erwieſen; als ſich
bald ergeben, daß derſelbe Mechanism, in dem die
Verfaſſung erſtarrt, auch in nichtigem Kamaſchendienſt
und eiteln Paradekünſten Geiſt und Muth verkrüppelte;
und wie, indem hier wie dort der gänzlich ausgewie¬
ſene Geiſt in leeren Theorien ohne allen Verkehr mit
der Wirklichkeit ſich verlohr, alles praktiſche Geſchick
erſtarb, erkannte man, daß auch hier eine Verjüngung
in der Quelle ewiger Jugend noth thue und geboten
ſey und ſo wurden Landwehren wieder hervorgeſucht.
Man erkannte, daß, da das Syſtem der ſtehenden
Heere einmal allgemein geworden, und die ganze
Kriegskunſt ſich nach ihm gebildet hat, in ihm aller¬
dings eine nothwendige hiſtoriſche Entwickelung darge¬
ſtellt ſey, und daß nun kein Staat für ſich und einzeln
ohne Nachtheil von einer Ordnung ſich losſagen könne,
die durch die große Beweglichkeit, durch ihre Erſchloſ¬
ſenheit bis zum Einzelnſten herab, durch ihre Lenkbar¬
keit und den Rhytmus ihrer Bewegungen, die ordnende
Idee mit einer Wirkſamkeit durchſchlagen läßt, die
dringend durch die Natur der Sache ſelbſt geboten,
nicht leicht auf anderm Wege erreichbar ſeyn mögte.
Darum iſt man allgemein einverſtanden, daß ſo
lange die gegenwärtigen Kriegsverhältniſſe beſtehen,
im Heere, dem bewaffneten Arme der vollziehenden
Macht, die eigentliche Domaine des monarchiſchen
Prinzipes, und in ihm das alte Heergefolge der Waf¬
fengeſellen des Fürſten völlig hergeſtellt ſey; ſo daß
um dieſen Begriff feſtzuhalten, ſeine Dotation eigent¬
lich mit der Civilliſte verbunden bewilligt werden ſollte.
Aber dieſem weſentlich gehorchenden Heere iſt, als
ſeine Natur begründend und als Fuß der vollziehenden
Macht, die Landwehr beygefügt, in der eben ſo
weſentlich das demokratiſche Prinzip vorherrſcht.
Während das Gefolge an die Perſon des Fürſten
geknüpft, und unter ſeinem Banner ziehend, ſeiner
Natur nach, da die hier verlangte gänzliche Willens¬
entäußerung nicht gefordert, ſondern nur durch einen
freyen Entſchluß bewilligt werden kann, im Frieden
allein aus Freywilligen und Geworbenen beſtehen ſollte,
die der Dienſteid bindet; wird hingegen die Landwehr
an den Boden geknüpft, zu ſeinem Schutze beſtimmt,
und blos durch den Bürgereid gebunden, aus allen
denen beſtehen, die nicht dadurch, daß ſie Familien¬
väter geworden, oder durch Ergreifung eines mit den
Waffen unverträglichen Standes, aus der Klaſſe der
Schützenden in die der Geſchützten übergegangen; und
es kann unter den Wehrhaften für dieſen Dienſt keine
andere Ausnahme beſtehen, als diejenige, die in billi¬
ger Schätzung der Umſtände und Verhältniſſe ſich von
ſelbſt ergiebt. Aber eben weil die Landwehr bügerlicher
Natur iſt, ſoll auch das bürgerliche Element in ihr
vorherrſchen; ſie ſoll weder zu Paradekünſten abgerich¬
tet, noch zu ihnen mißbraucht, blos die zum Kriege
nothwendige Fertigkeit erlangen. Wie die Gefolge,
weſentlich innerhalb ihres Umkreiſes ihren eigenen
Diſciplinargeſetzen pflichtig, nur in der Ausnahme bey
bürgerlichen Vergehen dem bürgerlichen Geſetze unter¬
worfen ſeyn ſollen; ſo der Landwehrmann weſentlich
dem allgemeinen bürgerlichen Rechte, und in der Aus¬
nahme nur, wenn er unter Waffen ſteht, einer eige¬
nen ſtrengen, ernſten aber angemeſſenen Diſciplin, die
Ordnung und Zucht erhält, ohne den unabhängigen
Sinn des Bürgers zu erſticken. Wie endlich in den
ſtehenden Heeren alles von oben herab geſchieht, und
alle Ernennungen ausgehen von der höchſten Macht;
ſo müßten bey der Landwehr die untern Offizierſtellen
bis zu einem gewiſſen Grade hinauf, durch freye Wahl
der Wehren, unter Beſtättigung der Regierung, ihre
Beſetzung finden.
In dieſer Einrichtung, zu der die gegenwärtige
preußiſche Landwehrordnung nur als eine Vorbereitung
gelten kann, würde die Handhabung der Waffen, wie
Leſen und Schreiben, eine allgemeine Fertigkeit aller
Einfaſſen; die kriegeriſche Uebung würde eine Bürger¬
pflicht, die wie ſo viele Andere Jeder dem Vaterlande
ſchuldig iſt; und die Pflicht würde, wenn erſt ein
gemeines Weſen wirklich gewonnen iſt, leicht zur Luſt,
ſtatt daß jetzt, da von aller Liberalität nichts als die
Laſt geblieben, nur die Hoffnung einer beſſern Zukunft
ſie noch erträglich macht.
Wenn aber wie die Jugend den Waffen, ſo das
reifere Alter dem Oeffentlichen wiedergewonnen iſt;
wenn dann innerlich die erhaltenden Kräfte dem Staate
den Gehalt und die Fülle des Lebens in reichlichem
Maaß zuführen, und äußerlich die kriegeriſche Uebung
Stärke, Kraft und Gewandtheit in die Maſſe bringt;
dann mögte es wohl gelingen, wenigſtens einen Theil
des ſchönen Ebenmaaßes, das die Staaten des Alter¬
thumes ausgezeichnet, in die Neuen zurückzuführen.
Daß aber dies Ebenmaß zwiſchen dem bildenden Ele¬
mente und den bildenden Kräften eintrete, und wenn
es eingetreten, erhalten werde, damit nicht, wenn die
Wage auf der einen Seite überſchlägt die feiſte Gemäch¬
lichkeit und Philiſterey des Bürgerthums vorwiege, oder
andererſeits, wie bei den Athleten des Alterthums,
nachdem durch allzuheftige Gymnaſtik ſich alle Maſſe
des Stoffes aufgezehrt, Impotenz und frühe Aufrei¬
bung der Lebenskräfte eintrete; auch darüber zu wachen
iſt ein Beruf der Stände, die da im Frieden durch
ihre Geldbewilligung weiſe dem zu großen Anwachs
des Gefolges Gränzen zu ſetzen vermögen, im Kriege
aber durch Beſtimmung der Anzahl derjenigen, die aus
der Landwehr als Zuzug unter dem Banner der Nation
ins ſtehende Heer übergehen ſollen, daſſelbe leicht bis
zu dem Punkte verſtärken können, den die Umſtände
und Verhältniſſe der Zeit gebieten.
Es folgt zunächſt der dritte Streitpunkt, der
in vielfältigem Hader dieſe Zeit entzweyt, das Ver¬
hältniß nämlich, in das die verſchiedenen Stände zur
Verfaſſung zu treten haben. Das Alterthum, auch
hier bewußtlos ſeinem plaſtiſchen Bildungstriebe hin¬
gegeben, ohne ein Gerüſte logiſcher Abſtraktionen zu
Hülfe zu nehmen, bildete dieſe gleichſam von unten
herauf bervor; indem auch in dieſer Beziehung der
Staat organiſch in allen ſeinen Gebilden ſich wie eine
mathematiſche Reihe mit ſtets ſteigenden Exponenten
der zuſammenſetzenden Glieder entwickelte. Seit der
graueſten Urzeit unterſchied man drey verſchiedene
Stände, und jenes uralte Bild, das den Lehrſtand
und die geſammte Prieſterſchaft dem Haupte beylegte,
den Wehrſtand den Armen, den Nährſtand dem Leibe,
oder eigentlicher den innern Lebenstheilen, beweißt, daß
man ſchon damals jene Anſchauung des Staates als
eines lebendigen Organisms gehegt, und in ihr die
Wechſelbeziehung der verſchiedenen Theile des Ganzen
feſtgeſetzt.
Dieſe Abtheilung, urſprünglich in der Verſchiedenheit
der Raçen durch die Natur ſelbſt begründet, gieng
zuerſt in jenen Urſtaaten in die Verfaſſungen über,
die durch die Ueberlegenheit des Schwerdtes über das
blos pflanzenhafte Leben, und durch die gleiche Ueber¬
legenheit des Geiſtes über das Schwerdt geſtiftet
wurden. Die edleren Raçen, die alſo ſiegreich jene
Staaten gegründet hatten, ſuchten die Reinheit ihres
Blutes dadurch zu ſichern, daß ſie ſich in ſcharf um¬
ſchriebenen Caſten abgeſondert hielten, innerhalb deren
Rechte und Beſitzthümer auf ewige Zeiten gewährt von
Geſchlecht zu Geſchlechte durch Erbſchaft überliefert
wurdeuwurden, die aber äußerlich nach dem Geſetze und der
Regel ſich nicht vermiſchen ſollten, oder wenn dies
in der Ausnahme je geſchah, den verſchiedenen Halb¬
ſchlächtigen die durch dieſe Miſchungen entſtanden,
jedem wieder in beſtimmten Uebergangsgliedern ſein
Organ und ſeine Verrichtung ſtreng abmarkten.
Das Chriſtenthum, indem es die Gleichheit aller
Menſchen vor Gott verkündigte, und gerade aus den
unterſten Klaſſen ſeine erſten Organe wählte, brach
zuerſt zugleich mit dem Sclaventhum auch das Caſten¬
weſen; und wie es die Rechtloſen Alle ins Recht auf¬
genommen, verwandelte es die Caſten zuerſt in Stände,
die Anfangs allerdings noch zu jener Geſchloſſenheit
hinneigten, aber jemehr der ideale Geiſt des neuen
Glaubens und der neuen Sitte, die durch ihn begrün¬
det wurde, ſich Bahn machte, um ſo mehr ihre Ver¬
bindung zu öffnen ſich genöthigt ſahen, und wechſel¬
ſeitig ſich kreuzend in eine mehr und mehr allgemeine
Unbeſtimmtheit ſich verlohren. Die Stände der euro¬
päiſchen Republik des Mittelalters, obgleich ebenfalls
zum Theil, wie die alten Caſten, urſprünglich auf
das Kriegsrecht zwiefacher Eroberung gegründet, ſind
doch darum nicht wie dieſe verſchiedene Völker, die
ihre Stammburgen auf verſchiedenen Höhen vom
Gipfel bis zur ſumpfigten Niederung aufgeſchlagen,
und nun im ſchnellen Abſturz der Vorrechte und Pri¬
vilegien vom höchſten Hochmuth der gottgleichen Wie¬
dergebornen bis zur verworfenſten Niedrigkeit der
gottverhaßten Ausgeſtoßenen übergehen. Das Chriſten¬
thum hat dieſe ſchneidenden Unterſchiede ausgeglichen;
es hat die Uebergänge gemildert und die Anſprüche
der Gewalt geſänftigt; dadurch, daß es die geiſtige
Ebenbürtigkeit aller Menſchen anerkannt, und auch
die Unterſten durch die Taufe zu Wiedergebohrnen
erklärt, hat es das Geſchiedene näher vereint; ein
gemeinſames Band der Liebe hat ſie in eine einzige
Gemeinſchaft eingeſchlungen, und es ſind nicht mehr
verſchiedene feindliche Seelen, die in einem Leibe
wohnen, vielmehr nur verſchiedene Facultäten derſel¬
ben Seele, die nur in verſchiedenen Gliedern in ver¬
ſchiedener Weiſe ſich zu äußern getrieben iſt.
So war alſo der Lehrſtand weſentlich der Bewahrer
aller göttlichen und menſchlichen Weisheit, von Alter
zu Alter durch die Tradition fortgepflanzt; er galt als
der Inhaber des ganzen geiſtigen Vermögens, das in
der Geſellſchaft im Umlauf war; er vertrat im Staate
ſelbſt den Logos, das ordnende Prinzip, das von der
Höhe herab Ebenmaß geben ſoll und Ordnung der
regelloſen Beweglichkeit der Unterwelt; darum war
das Ehrwürdige ſein Attribut.
Der Wehrſtand, in deſſen Mitte und Schwerpunkt
der Fürſt als erſter Beweger ſeine Stellung hatte,
ſollte als der Schirm und Hort des Vereines und der
Schutz des Thrones ſtehen; die Kraft des Ganzen
ſollte ſich in ihm vereinen, der Muth ſollte ſein we¬
ſentlicher Charakter ſeyn, Tapferkeit ſein Inſtinkt, die
Ehre ſein Erbe, ſein Schwerdt immerdar der Schutz
des Schwachen: ſo war er der Thymos nach jener
alten Lehre im Verein, und das Ehrenveſte ſein
Attribut.
Endlich im Nährſtande die Kinder der Erde ans
Irdiſche geheftet, mit ihm ſchaltend und waltend und
verkehrend, durch ihrer Hände Arbeit ihre Schätze
hebend, und mit allen treibenden Kräften den Umlauf
der Güter von der Wurzel bis zum Wipfel und wieder
zurück beſchickend, die Epithymia im Staate, im
Handel und Wandel und in allem Thun die Ehr¬
lichkeit ſein Zeichen.
Da der Nährſtand weſentlich beweglich iſt, ſo iſt
auch das bewegliche Eigenthum, ewig getheilt und ewig
wieder eingeſammelt ſein Gut; da der Lehrſtand aber
ſeiner Natur nach beſchaulich und weſentlich ruhig ſeyn
muß, ſo iſt ſein Gut unter den Gottesbann gefeſtet;
weil aber der Wehrſtand zwiſchen dem Beweglichen
und dem Ruhenden die Mitte hält, darum iſt ſeine
Domaine in der Belehnung in ein Verhältniß zu ihm
geſetzt, das zwiſchen der Feſtung und dem Wandelba¬
ren mitten inne ſchwebt.
Eben ſo iſt in demſelben Lehnſyſteme der Adel, der
zwiſchen der Idee und ihrer Darſtellung im Realen
ſeine Stellung hat, auch zwiſchen das demokratiſche
und monarchiſche Prinzip getheilt, die ſich eben in der
Ariſtokratie vereinen; und wie er hier in den ſieben
Heerſchilden ſich in ſich zuſammenſchließt; ſo hat die
Kirche über ihm, weſentlich monarchiſch, gleichfalls in
ſieben geiſtliche Heerſchilde ihre Hierarchie geſchloſſen,
indem vom Papſt und ſeinem Presbyterium durch die
Erzbiſchöffe, Biſchöffe, Archidiacone, Decane, Pfarrer,
ſechs Stufen bis zur Siebenten der Kloſtergeiſtlichen
herunterführen, von denen man, eben wie von den
Freygebornen des ſiebenten Heerſchildes, nicht recht
weiß, ob ſie mehr der biſchöfflichen Hierarchie oder
ſich ſelber angehören.
Wie aber hier alle Weihe und Autorität von oben
herniederſteigt, ſo im Nährſtande alle Würde und
alles Recht aus dem Beſitze; und bey rechter Ordnung
des Staates weſentlich das demokratiſche Element in
ſich beſchließend, oder bey eingetretener Unordnung
mit unaufhaltſamem Naturtriebe nach ihm ſtrebend,
hat auch er in jener Zeit nach der Siebenzahl ſich zu
ſpalten den Trieb gezeigt, indem durch die Patrizier,
Kaufleute, Gewerke, Unzünftige, in den Städten
durch die Einſaſſen und Hinterſaſſen auf dem Lande
bis zu den Heymathloſen gleichfalls ſieben ſcharfbe¬
zeichnete Stufen niederlaufen.
Indem aber die ſpätere Zeit eine Vertretung dieſer
verſchiedenen Stände, als Wächterin der Territorial¬
macht, beyzugeben angefangen, hat auch bey dieſer die
Idee zum Grunde gelegen, dem Nährſtand und dem
Wehrſtand den Lehrſtand als dritten Vermittler, beyzu¬
fügen, damit wenn Rechte und Intereſſen mit der
Gewalt und den Anſprüchen in einen für die Zweyheit
völlig unauflöslichen Streit geriethen, die dritte ver¬
ſöhnende Macht nicht fehlen möge, die den Einen
durch ihre Würde, den Andern durch die Kirchengemein¬
ſchaft und alles Menſchliche verwandt, unpartheyiſch
ſchlichten könne zwiſchen den ſtreitenden Partheyen
Die neuere Zeit, ausgehend von den vielfäl¬
tigen Gebrechen, die bei der Ausführung dieſer Ideen
in der Wirklichkeit ſich kund gegeben, hat eine andere
Lehre aufgeſtellt. Dies Gerüſte der verſchiedenen
Stände, urſprünglich durch die Gewalt und die Ueber¬
vortheilung der Einfalt durch Liſt gegründet, ſeye an
ſich nichtig und verderblich; und dies Anſteigen durch
Potenzen, wenn es auch für die Natur eine Geltung
habe, ſey für die Geſellſchaft, die aus völlig gleich¬
artigen Elementen beſtehe, gänzlich unſtatthaft, und
könne für ihre Entwickelung nur einen nachtheiligen
Einfluß äußern. Wie daß Chriſtenthum den Grund¬
ſatz der völligen Gleichheit aller Menſchen vor Gott
feſtgeſetzt, ſo müſſe auch vor dem Staate und dem
Geſetze dieſelbe Gleichheit gelten; indem was geiſtig
wahr ſey, ewig nicht leiblich im Realen ſich ſelbſt
widerſprechend als unwahr ſich befinden könne.
An jenem Unrecht, das der Uebermuth der Macht
zuerſt geſetzt, und das alsdann das Herkommen von
Geſchlecht zu Geſchlechte fortgepflanzt, habe die Zeit
übrigens ſelbſt wieder nach und nach Recht geübt, und
die Schranken allmählich niedergeriſſen, die die Conve¬
nienz nach bloßer Willkühr ausgeſteckt; längſt ſchon
ſeyen die geiſtigen Güter nicht mehr der ausſchließende
Beſitz der Prieſterſchaft; an der Waffenehre hätten
alle Stände Theil genommen, und der Nährſtand habe
ſchon ſeit langem nicht mehr die Verpflichtung aner¬
kannt, für die blos Zehrenden des Lebens Mühen
allein auf ſich zu nehmen. Darum ſey es thörigt,
jene ängſtlich künſtlichen Beſchränkungen, die ohnehin
ſchon nach allen Seiten durchbrochen ſind, länger bey¬
behalten zu wollen; ſchon der Unterſchied zwiſchen
Stadtwirthſchaft und Landwirthſchaft ſey nichtig; noch
nichtiger die Schranke der Innungen, da Jeder das
Recht haben müſſe, jedes Gewerbe oder Gewerk trei¬
ben zu dürfen, zu dem ihm ein Geſchick beywohnt;
nichtig ſeyen ferner die Vorrechte des Adels, die
als Solche nothwendig das Recht aufheben; nichtig
der Anſpruch des Clerus auf die Freiheit der Gewiſſen,
da ſchon der Begriff deſſelben durch den eines äußern
einwirkenden Zwanges vernichtet ſey.
Es bedürfe auch keiner Vermittlung zwiſchen dem
Fürſten und dem Volke, die wechſelsweiſe ſich zum
Einen haltend und zum Andern, Einem um dem An¬
dern immer nur neue Vorrechte und Begünſtigungen
abdringe, und überhaupt nur auf Unkoſten Beyder
Boden gewinne. Falle aber der Gegenſatz zwiſchen
dieſer habſüchtigen Ariſtokratie und dem Volke weg;
dann ſey auch die Vermittlung des Clerus als gänzlich
überflüſſig zu entbehren. Jede Feſtung des Eigenthums,
die das ſeiner Natur nach ewig Bewegliche in die
todte Hand niederlege, ſey daher ein Raub an der
Geſammtheit begangen, und nicht zu bald könne das
unnatürliche Band ſich löſen, auf daß die gebannten
Güter wieder in den allgemeinen Umlauf träten, der
wie der Umlauf des Bluts im Körper allein die Er¬
nährung und Kräftigung des Staats bedinge.
Dieſer ſtets bewegliche Beſitz ſey daher fortan die
einzige Baſis der Geſammtheit, alſo daß ſelbſt das
Geiſtigſte nur inſofern gelte, als es ſich auf ſolchen
Beſitz zurückbringen laſſe; in ihm aber ſey wieder der
Grundbeſitz das demokratiſche Element, der Geldbeſitz
aber das Monarchiſche, alſo daß im Staate keine
Domaine, die dem Volk gehöre, nur allein die
Steuer gelte, und daß es nur monarchiſche Inſtitu¬
tionen in ihm gebe, die in der Beſoldung das Geld
beherrſcht, und Demokratiſche, die an den gefreyten
Grund gefeſtigt ſind. Darum gebe es nur einen Für¬
ſten im Mittelpunkte; um ihn her die Beamten und
Soldatenwelt; in der Peripherie aber ſtehe das
Volk im Beſitze der ganzen Gütermaſſe.
Damit aber nun das Centrum zwar ohne Grund¬
baſis blos auf der Geſammtheit ſchwebend, aber dafür
große Schnellkräfte im engen Raume bergend, den
zwar gediegen baſirten aber in ſeine Weite vielfach
zerſtreuten Umfang nicht gewaltſam auseinanderſprenge,
werde eine Vertretung angeordnet. Dieſe ſey an keine
Körperſchaft, an keine allgemeine phantaſtiſche Idee,
an keine moraliſche Perſon, nicht einmal an eine
Landes¬
Landesabtheilung, Provinz, Grafſchaft, Stadt und
Flecken, wie etwa in England, feſtgeknüpft; ſie hänge
ſich mit dem Eigenthum allein an die Zahl, und werde
nach der Summe der Stimmfähigen allein abgemeſ¬
ſen. Eine ſolche Repräſentation, die nicht wie jene
Feudalſtände blos die Caſte, ſondern die ganze Ge¬
noſſenſchaft vertrete, ſey nun die Antitheſis gegen jene
Theſis der Beamtenwelt, und im Antagonism Beider
daure der Streit ſo lange, bis ſich endlich die gemein¬
nützige Syntheſis gefunden.
Es läßt ſich leicht erkennen, daß der Character
dieſes Syſtemes, wie es auf den Conflict entgegenge¬
ſetzter Kräfte ſich begründet, durchaus phyſiſch mathe¬
matiſch iſt, und in ihm alſo, obgleich der Geſchichte
nach ein wirklicher Vorſchritt, doch der innern Höhe
der Würdigung nach gegen das frühere Organiſche,
ein relativer Rückſchritt eingetreten, welcher Wider¬
ſpruch eben in dem Character des Jahrhunderts,
das als eine Uebergangszeit ein Zerſtörtes auf einem
breiteren Grunde höher anſteigend wieder reconſtrui¬
ren ſoll, ſich vermitteln muß. Es ſind durchaus irdi¬
ſche Kräfte, die in ihrem Widerſtreite ſich hier zum
Gleichgewichte begränzen ſollen; die ſpezifiſche egoiſtiſche
Kraft des Grundbeſitzes, der wie die Erdſchwere im¬
mer nach ſeiner eignen Mitte, und ihrer abgeſchloſſe¬
nen Ruhe und Befeſtigung neigt, ſtreitet mit der
allgemeinen Weltkraft des Geldes, die in beſtändiger
Syſtole und Dyaſtole aus der allgemeinen Mitte gegen
den Umfang und hinwiederum ſtrebt, und ſtets mit
jenem eigenſinnigen Particularism kämpfend, ihn wider
Willen in beſtimmte Bahnen lenkt.
12
Dieſe Bahn aber, wenn ſie durch glücklich gewogene
Kraft und Gegenkraft gefunden worden, kann nur durch
die Fortdauer dieſes Gleichgewichts, auf das bey mo¬
raliſchen Kräften kaum zu rechnen iſt, in ihrer Ste¬
tigkeit beharren; bey der Ueberwucht des Einen Prinzipes
wird ſie eccentriſch in die Democratie übergehen, beym
Vorherrſchen des Andern concentriſch in die Despotie.
Eine ſolche Störung wird um ſo leichter herbeyzuführen
ſeyn, da die Weiſe der Vertretung die Gegenſätze in ihrem
Alleräußerſten gefaßt, und gleichſam in zwey Brenn¬
punkte geſammelt, in den Kammern ſich nahe bringt.
Die Democratie wählt ihre Beamten eben ſo anſtei¬
gend nach freyeſter Willkühr, wie der Fürſt die Sei¬
nigen abſteigend; ihr Wille iſt dort eben ſo concen¬
trirt, wie der des Fürſten in den Miniſtern; wie
ſeine Söldner beziffert ſind nach den Nummern ih¬
rer Regimenter, ſo ſind es die Wähler im eignen Dienſt,
und es ſteigen und fallen beide Hierarchien, wie die
Ordnungen im Decimalſyſtem: im Schlag und Ge¬
genſchlag der beiden Mächte, von des Fürſten und
des Volkes Gnade, muß die Reibung da, wo Sauer¬
ſtoff und Brennſtoff ſich begegnen, nothwendig eine
ſtarke Flamme zünden.
Dies eben aber hatte das Alterthum abzuwenden
ſich bemüht; indem es z. B. in den Innungen der
Gewerke etwas vom monarchiſchen Elemente mitten
in's Democratiſche aufgenommen, konnte es dafür
dies automatiſche in der Adelsinnung bis zum Throne
hinantreiben; und in der Durchwachſung und Ver¬
bindung der Gegenſätze durch den ganzen Staatskör¬
per hindurch, wurde ihre Schärfe abgeſtumpft, und
die Flamme, die hier leuchtend aus einem Brenn¬
punkt ſtrahlt, dort in einer gelinden Wärme durch die
ganze Genoſſenſchaft vertheilt.
Die Geſetzgeber dieſer Zeit, nicht geleitet von abge¬
zogenen Syſtemen, ſondern vielmehr getrieben, wie
die Dichter durch Begeiſterung, ſo durch die Fülle ei¬
nes inſtinktartigen Bildungstriebes, indem ſie zu den
Körperſchaften, die blos quantitativ auf die Zahl
ſich gründen, Freyhof, Zehending, Hundrede, Gau
und Herzogthum, — und die, wie ſie zu den Urfor¬
men der Verfaſſung gehören, ſo auch die jetzige Zeit
allein anerkennen will, — noch die Qualitativen,
auf innere ſpecifiſche, höhere Differenzen begründet,
in den verſchiedenen Ständen fügten, hatten ihre Ver¬
faſſungen dadurch aus dem Gebiethe eines bloßen
Chemisms wirklich in den einer höheren Lebenserre¬
gung hinaufgehoben. Statt jenes politiſchen Brownia¬
nisms, der nur das Verhältniß zweyer Lebensfactoren
anerkennt, die abwechſelnd in Sthenie und Aſthenie
überwiegen, war nun jene wahrhaft organiſche Anſicht
der Lebenserſcheinungen im Staatskörper eingetreten,
die ihn als aus vielfach verbundnen Syſtemen zuſam¬
mengeſetzt, in vielfachen Verrichtungen die einge¬
bornen Kräfte äußernd, und innerlich durch immer
geſteigerte Mittelglieder jeden tieferliegenden Wider¬
ſtreit beſänftigend, gefaßt und ausgelegt.
Sie erkannten ſehr wohl, daß indem ſie die Zahl
dieſer Körperſchaften in ſolche Weiſe noch durch dieſe
ideale Reihe mehrten, ſie neben dem allgemeinen In¬
tereſſe, das wie das Lebensgefühl dem Ganzen bey¬
wohnt, noch eine Menge beſonderer Intereſſen ſchufen,
12*
die mit jenem ſich leicht in einen zerſtörenden Kampf
verſetzen mochten: aber einmal hatten ſie verſtanden,
daß nur im Hader alles Leben ſich gebähre, und daß, wo¬
fern nur die höhere zuſammenhaltende Liebe nicht dem
Ganzen fehle, der Zwiſt immer ſeine Beruhigung finde,
ehe er in eine gänzliche Zerſtörung ausgegangen; und ſie
wußten andrerſeits, daß Naturtriebe, die in der Ge¬
ſellſchaft zu Intereſſen werden, darum nicht aufge¬
hoben und vernichtet ſind, wenn man ihnen in der
Verfaſſung kein Organ angewieſen; und daß es thö¬
rigt ſey zu glauben, in einer allgemeinen Corporation
würden die beſondern Richtungen darum ſchlafend
bleiben und unthätig, wenn man durch eigene Inſti¬
tutionen ſie an ihr Daſeyn nicht erinnere.
Auch hatten ſie ſehr wohl eingeſehen, daß der Grund¬
ſatz allgemeiner Gleichheit, einmal für die idealen
Verhältniſſe anerkannt, nothwendig folgerecht bis zum
agrariſchen Geſetze zurückgehen, und nur erſt bey einer
entſchiednen Democratie ruhen könne. Als im Ver¬
laufe der florentiniſchen Geſchichten der niedere Adel
den höheren zuerſt bemeiſtert, wurde jener ſpäter von
den Zünften ausgetrieben. Gegen dieſe aber erhoben
ſich nun die Halbzünftigen, die ſpäter wieder von
den Heimathloſen in wüthendem Aufſtand beſtritten
wurden; wo denn nachdem alle Bande der Ordnung
ſich aufgelöſt, der Freyſtaat reif war, einem Tyran¬
nen zur Beute heimzufallen, der ſich in dem erſten
Medici in der Mitte des dritten Standes ſelbſt erhob.
So wird auch in den heutigen Anſichten das ſtäd¬
tiſche Weſen, gegenüber dem Bäuerlichen, bald als
eine unerträgliche Tyranney erſcheinen, und da jenes
der Zahl nach, die hier alles gilt, nicht die Hälfte
von dieſem erreicht, ſo wird es bald überwogen und
abgetrieben ſeyn. Im Fortſchritte werden dann den
alten Saſſiſchen Freyburgen die Dörfer, Städte im
Kleinen, verdächtig werden, und dann den Hinter¬
ſaſſen der ausſchließende Beſitz des Oberhofes ein
Greuel, und es kann auch hier keine Ruhe ſeyn,
bis alle Dörfer aufgelöſt, und alle Güter zerſchlagen
ſind, und jeder Einwohner ſein gemeſſenes und glei¬
ches Theil erhalten.
Wie daher das alte Caſtenweſen auf die durch die
Natur geſetzten, an die Raçe befeſtigten und durch
die Uebermacht gehandhabten Ungleichheit der Men¬
ſchen ſich gegründet; ſo bezieht ſich das Syſtem der
gegenwärtigen Politik auf ein Ideal, das am Ende
der Zeiten ſteht; wo durch die Macht des Geldes und
der Induſtrie alle Ungleichheit des Beſitzſtandes ſich
ausgeglichen; wo die Verſchiedenheit der Naturgaben
durch die Bildung ſich aufgehoben; wo alle Stände ſich
ſo durchdrungen, daß jeder Hausvater zugleich Ober¬
prieſter, Oberfeldherr und ein Mehrer und ein Näh¬
rer des ganzen Reichs ſeyn mag. Da aber die Ge¬
genwart zwiſchen dem Anfang und dem Ende der
Dinge mitten inne ſich befindet, und aller Wahrſchein¬
lichkeit nach, dem Beginne näher als dem Ausgang;
ſo wird Beides gleich unanwendbar, und zwar das
Letzte noch mehr als das Erſte ſeyn, und es wird
daher wohl bey einem Mittleren, dem modifizirten
Ständiſchen, ſein Bewenden haben.
Die Betrachtung, bey dieſem Punkte ange¬
langt, kann ſich nun ohne Schwierigkeit den Grund
des ganzen Mißverſtändniſſes bey der heutigen Theorie
erklären, der darin liegt, daß die Idee zwar aller¬
dings in ſich weſentlich frey und unbedingt iſt, bey
ihrem Eintritt in die reale Darſtellung aber den Be¬
dingungen einer Naturnothwendigkeit ſich unterwerfen
muß, die zwar bey einer gewaltthätigen Umkehr freilich
eine Zeitlang ſich abtreiben läßt, aber dann in der
Rückwirkung dieſe Nichtachtung nur allzu bald nach
ewigen Weltgeſetzen furchtbar ahndet. Darum konnte
das Chriſtenthum, das blos den idealen Menſchen
betrachtet, ſeine Gleichheit vor Gott unbedenklich aus¬
ſprechen; aber ſeine Ungleichheit vor dem Staate iſt
an Beziehungen geknüpft, die durch die Art, wie
die Natur ihre Gaben vertheilt, durch die Weiſe,
in der die lebendige Kraft das Dingliche in Beſitz
genommen, und durch poſitive Rechte, die ſich aus
früheren Zeiten überliefert haben, gegeben iſt. So
mochten die Alchymiſten der früheren Zeit, die an ſich
wohlbegründete Idee der Gleichartigkeit aller Metalle
theoretiſch feſtſetzen; wenn ſie aber dieſe Idee durch
die Verwandlung zu verwirklichen ſich bemühten,
fanden ſie eben an jenen Naturgeſetzen, die ſie nun
einmal getheilt dargeſtellt, einen unbeſiegbaren Wi¬
derſtand.
Gerade dieſe Metalle, die für die Geſellſchaft eigent¬
lich nur nach dem Maaßſtabe des Vortheils, den ſie
ihr gewähren, verſchiedene Geltung haben ſollten,
ſind für ſie ein Bild jener innern ſpezifiſchen Ver¬
ſchiedenheit geworden, indem ihr relativer Preis blos
nach einem ganz conventionellen Maaßſtab feſtgeſetzt,
in keine Weiſe nach jenem Nutzen ſich abgemeſſen;
ja beym Papiergelde derſelbe Lappen, ohne allen in¬
nern Werth das Einfache, Zehnfache, Hundertfache
gilt, blos weil die Geſellſchaft ihn ſo zu nehmen,
übereingekommen. Eben wie bey der Währung der
Metalle, ſo iſt vom Staate bey der Währung der
Stände verfahren worden, und dieſe läßt ſich, einmal
vorhanden, durch eine Reformation allerdings zeitge¬
mäß modifiziren, aber nur durch eine Revolution
gänzlich aufheben.
Es hat aber im älteſten Germanien ein Adel ſchon
beſtanden; dieſer hat nach vielfältigen Kämpfen in
den fränkiſchen Gefolgen endlich ganz Teutſchland und
zuletzt beynahe ganz Europa bezwungen; ſpäter im
Lehnsſyſtem zur Ritterſchaft ſich ausgebildet, und zum
Theil zur Unmittelbarkeit ſich erhoben; iſt noch ſpäter in
den ſtehenden Heeren und im Hofdienſt wieder in's
Gefolge eingetreten, und ſo nun in beſtimmter Ge¬
ſtalt und mit poſitiven Rechten auf uns gekommen.
Mit dieſen Rechten tritt er nun in den großen Rechts¬
ſtreit ein: er hat vom Congreſſe bis zu dieſer Stunde
hin geſehen, daß im Weltlauf Opfer bringen ohne
Zwang, eine Thorheit ſey, und daß die eigenwillige
Gewalt immer zuletzt Alles durchgeſetzt; und ſo macht
er denn auch ſeinerſeits dieſe Maxime geltend, und
fordert ſein Vorrecht als ſein Recht ganz ungekränkt
zurück.
Von der andern Seite ſteht der dritte Stand auf's
Höchſte erbittert, daß er zuletzt mit ſeinen Rechten
alle Schulden der Vergangenheit und Gegenwart lö¬
ſen ſoll. Man mag ihm reden von Romantik und
Mittelalter, vom patriarchaliſchen Zuſtand der alten
Zeit, von idealen und realen Richtungen; ſein geſun¬
der Menſchenverſtand und ſein richtiger Takt und
Naturinſtinkt giebt ihm ein, daß er ſeinen alten Ver¬
hältniſſen längſt entwachſen iſt; daß die Formen an
ſich erſtorben, ſeinem erweiterten Leben längſt zu enge
geworden; er fühlt, daß wenn Jenen alternde Rechte
aus grauen Zeiten zugekommen, in ihm junge grü¬
nende aufgeſtanden, die er in keine Weiſe aufgeben
darf; er fühlt endlich, daß die Zeit gekommen, wo
durchgängig ein neuer Vertrag zwiſchen den Claſſen
der Geſellſchaft abgeſchloſſen ſeyn muß. Wie nun auch
in der Hitze des Streites die Streitenden, wechſelſeitig
ſich negirend, übertreiben mögen; müſſen doch, da
von einem Vertrage die Rede iſt, die Vertragenden,
ſich zum Voraus die Fortdauer ihres Beſtands ge¬
währen.
Mag man noch ſo ſehr die Fürſten mit beſtechen¬
den Lobſprüchen erheben, aber den Adel, als die al¬
lein Schwarzen anklagen; Jene werden ſich nie im
Ernſte bereden laſſen, daß ein Stand, deſſen Rechte
mit ihrer Legitimität auf demſelben Grunde ruhen,
ihnen weſentlich feindlich iſt; der Adel aber, ohnehin
durch ſein Intereſſe gegen den Thron gezogen, nun
auch vom dritten Stande gewaltſam abgetrieben, muß
nothwendig mit beſchleunigter Bewegung der Politik
des Hofes ſich ergeben; was ſich praktiſch auch jedes¬
mal in Bayern, Baden, Naſſau und überall ausge¬
wieſen, ſobald die leeren Maulfechtereyen nur erſt zu
einem wirklichen Reſultate gedeihen ſollten.
Von der andern Seite iſt es auch ein heillos Werk
und ein verwegenes Spiel, das jene Standesgenoſſen
üben, die durch ihre Umtriebe den Abſchluß des
heilſamen Werks verzögernd, die Spannung immer
höher treiben, alle ruhenden Leidenſchaften wecken,
bis endlich, wenn das Thier aufgerichtet, und das
tobende Meer die ſchwachen Sanddünen durchgebro¬
chen, das Verderben die Frevelnden erreicht. Darum
haben beide Theile das gleiche Intereſſe, ſich auf güt¬
lichem Wege zu vergleichen, damit, indem die Einen
klüglich aufgeben, was nicht zu halten iſt, und mit
einem Theile ihrer allerdings dem ſtrengen Rechtsbe¬
griffe nach wohlbegründeten Forderung ſich begnügen;
die Andern aber bedenkend, daß gerade in der am
meiſten despotiſchen Verfaſſung, der Türkiſchen, gar
kein Adel zu finden, mit ſeinem Verſchwinden alſo
gegen die Willkühr des Regenten gar nichts gewon¬
nen iſt, indem ſie einen Nachlaß lieber einer friedli¬
chen Uebereinkunft verdanken, als das Ganze durch
Gewalt vernichten wollen, ein allgemeiner Bankbruch
abgewendet werde, wo freilich alle poſitiven Rechte
vor dem Naturrecht zu nichte werden, aber dafür an¬
dere Schulden auflaufen, für deren Zahlung jeder
vom Höchſten bis zum Geringſten perſönlich haften
muß.
Zu ſolchem Vertrage neigen denn auch in Teutſch¬
land ſichtbar die Ereigniſſe; es hat ſich nicht, wie in
Frankreich, die Kluft einer ſchon wirklich zurückge¬
legten Revolution zwiſchen den Verhandelnden aufge¬
than; vielmehr haben die Umſtände ſelbſt eine Verei¬
nigung eingeleitet. Der dritte Stand hat nämlich,
folgend in ſeiner Entwicklung dem allgemeinen Natur¬
gange, ſelbſt wieder nach ſeiner Weiſe die beiden hö¬
heren Stände aus ſich heraufgetrieben, den Lehrſtand
in den eigentlichen Gelehrten, die unter dem Vor¬
gange der Philoſophie den profanen Wiſſenſchaften ſich
ergeben; und einen Verdienſtadel, der vor allem in
der letzten Zeit die Kriegsehre zum größten Theil ſich
zugeeignet, und im Bürgerlichen nun ſeine Stelle in
der Kammer und der Ariſtocratie des Beſitzes und
des Talentes ſucht. Andrerſeits hat der Adel, in wie¬
fern er als Gutsbeſitzer zum großen Theile ſich auf
ſich ſelbſt geſetzt, eben dadurch, am meiſten in den
Rheinprovinzen, ſich mit dem dritten Stand verbun¬
den; und der Clerus grünt gleichfalls zur Zeit nur
beynahe noch allein in ſeinem volksmäßigen Elemente,
den Pfarrern und Seelſorgern fort.
Darum ſcheint der geſunde Menſchenverſtand auf
den einzigen Ausweg hinzudeuten, der zur Verſtän¬
digung übrig bleibt, daß der dritte Stand mit ſei¬
nem neuen Adel und Clerus von heute und geſtern
her, die gleichnamigen alten Stände, die aus einer
früheren Bildungszeit herüberreichen, nicht verdrängt,
ſondern Beyde in ſolcher Weiſe ſich verbinden, daß
indem ſie gleichmäßig alten Vorrechten und neuen An¬
maſſungen entſagen, die mit der zeitgemäßen Verfaſ¬
ſung im Widerſpruche ſtehen, der hiſtoriſche Adel ſich
dadurch verjünge, daß er zur Geburt das Verdienſt
als zweyten nothwendigen Faktor des künftigen Adels
anerkenne, und nun durch eben dieſen Faktor mit dem
beweglichen Verdienſtadel des dritten Standes in Ver¬
bindung trete; daß aber der Clerus, indem er die
Wiſſenſchaft nicht ferner mehr als die verführeriſche
Schlange flieht, vielmehr dadurch, daß er ihre gegen
die Religion centrifugale Richtung durch die Macht
der Ueberzeugung in die Centripetale zurücklenkt, in
Wahrheit ſie bezwingt, und alſo die geiſtige Freyheit,
der die Zeit in keine Weiſe entſagen kann, ehrend in
ihrem Rechte, ſie allein durch ſich ſelber bändigt, und
alſo die Religion wieder ins Leben führt. Die In¬
ſtitutionen auszufinden, durch die dieſe Verbindung,
hier nur im Allgemeinen angegeben, bis zum Beſon¬
derſten hin ins Werk geſetzt werden kann, wird die
Aufgabe der nächſt folgenden Zeiten ſeyn, deren Löſung,
wie wir glauben, im weſentlichſten Punkte der Cha¬
racter der künftigen Verfaſſungen bezeichnen wird.
In ſolcher Ordnung der Dinge wird, indem
das Veraltete immer aus der Quelle ewiger Jugend,
die im dritten Stande fließt, ſich erfriſcht, und hin¬
wiedrum durch ſein firnes im Lauf der Jahre gereif¬
tes Oel den raſchen Sprudel des jungen brauſenden
Weines ſänftigt und temperirt, ſich aus den Elemen¬
ten des alten hinfälligen Staatskörpers, von innen
heraus in allmähliger Verjüngung, ohne die gefähr¬
lichen revolutionären Zauberkünſte der Medea, im
Laufe der Zeiten wohl ein neuer und dauerhafter
Organism wiedergebähren, an dem wieder Jahrhun¬
derte vorübergehen können, ehe er ein neues Stufen¬
jahr erreicht. Wie der dritte Stand nach dem Eigen¬
thum in den beweglichen Güterreichthum und den
Grundbeſitz, und dieſer wieder in den fließenden und
den gefeſteten ſich theilt; ſo wird auch der Adel zwie¬
fach ſeyn, ein Verdienſtadel, der überall durch
die Wahl des Volks begründet, als Kriegsſtand in
der Landwehr, als Friedensſtand unter den Beamten
der Democratie und in ihren Vertretern ſitzt; und
ein Geburtsadel, der von oben herab und aus der
Vergangenheit herüberkommend, durch die Autorität
geſetzt, als Wehrſtand hauptſächlich beym ſtehenden
Heere, in bürgerlichen Verhältniſſen in den Hofſtel¬
len um die Perſon des Fürſten, bey der von oben
herab delegirten Beamtenwelt, und unter den erblichen
Vertretern ſeine Stellung hat. Da die Volkswahl
eben ſo oft die Geburt, wie die Wahl des Fürſten
das Verdienſt treffen kann, ſo werden beyde Elemente
ſich vollkommen in allen dieſen Inſtitutionen kreuzen.
Eben ſo wird der Lehrſtand in ſeinem zwiefachen
Charakter ſich erſt ergänzen, wenn einerſeits der Cle¬
rus als Bewahrer der Glaubenslehre, fußend auf
Schrift und Tradition, das Eſoteriſche, die Ueberliefe¬
rung vergangener Zeiten pflegt; aber das Exoteriſche,
die Reſultate der Erfahrung und Speculation in den
Wiſſenſchaften nicht ausſchließt, ſie vielmehr als die
reale Seite der Religion anerkennt; und indem er
ihre Pfleger, wie es eben in der alten Zeit geweſen,
als Genoſſen grüßt, nicht blos lebt in der Vergan¬
genheit, ſondern auch mit der Gegenwart ſich in einen
lebendigen Verkehr verſetzt: ein Verhältniß, das frey¬
lich anderwärts unmöglich ſcheinen mag, bey der Rich¬
tung aber, die die teutſche Philoſophie in letzter Zeit
genommen, als etwas durchaus Rationelles ſich wohl
begründet zeigt.
In dieſer zweygliedrigen Dreyheit der Stände wer¬
den alsdann die beyden Elemente des Staates aufs
vollkommenſte ſich durchdringen; die Autorität von
oben herabgehend als Ausdruck der Majeſtät einerſeits
ſich an die Autorität der Kirche knüpfend, wird ab¬
wärts durch den Hof, den Geburtsadel, die Beamten¬
welt und das Gefolge, Ausflüſſe der Legitimität, nie¬
derſteigen; die Freyheit aber weſentlich Ausfluß des
Volkes, wird im dritten Stande zuerſt die Lebens¬
baſis begründen, ſie wird alsdann durch die Land¬
wehr und die Beamten der Democratie ihre Willens¬
kraft äußern; ſie wird endlich als öffentliche Meynung
zur geiſtigen Höhe ſich erheben, und im gelehrten
Stande Organ gewinnen.
In gleicher Folge und Durchdringung wird dann
auch die Vertretung die zerſtreuten Strahlen dieſer
drey Facultäten nur in einem Brennpunkt ſammeln.
Man hat in neuerer Zeit nach dem Vorgang Englands
größentheils allgemein das Zweykammernſyſtem beliebt,
indem man eine Mehrzahl des Adels mit einer Min¬
derzahl von Prälaten und Univerſitäts-Abgeordneten
in eine Kammer verbindet, und die Zweyte allein
aus den Gemeinen zuſammenſetzt. Eine ſolche Ord¬
nung, indem ſie durch beynahe gänzliche Abſorption
des geiſtigen Elementes, die Dreyheit in eine Zwey¬
heit verwandelt, führt alle Nachtheile eines Gegen¬
ſatzes herbey, der keine Bindung findet. Der Adel,
der in der Pairskammer vorherrſcht, kann ſeiner Na¬
tur nach nicht der Vermittler zwiſchen den Gemeinen
und dem Throne ſeyn; eben weil er ein Ausfluß der
Majeſtät iſt, wird er zwar von ihr beſchattet, ſteht
aber in der Regel auf ihrer Seite, und tritt daher
in ſolchem Streite als Parthey dem dritten Stande
gegenüber. Es kämpft alſo in den Kammern jedes¬
mal die Autorität mit der Freyheit um die Intereſ¬
ſen; und wenn nun eine gegen die Andere das veto
hat, ſo wird, da ſich entgegengeſetzte gleiche Kräfte
vollkommen aufheben, das ganze Thun in allen wich¬
tigen Dingen eine leere Spiegelfechterey, eine bloße
Staatscomödie und Parade, wo zwar viel gefochten
und auf- und abmarſchirt, aber mit aller Anſtrengung
blos ein Spiel und kein ernſtes Geſchäft betrieben
wird. Da überdem die ſtreitenden Partheyen, durch
Wände getrennt, nur in einem todten ſchriftlichen
Verkehre miteinander ſtehen, ſo iſt auch jene Annähe¬
rung, die der lebendige und mündliche Verkehr von
Angeſicht zu Angeſicht herbeyführt, abgeſchnitten, und
die feindlichen Brüder ſind vollends unverſöhnlich
jeder in ſeiner Behauſung eingeſchloſſen. Für die
eine Kammer kämpft natürlich die Meinung; die An¬
dere alſo, von Volke abgeſchloſſen, muß übelgelaunt
im Schmollwinkel ihre Stelle nehmen, und ſich in der
Gnade des Hofes ſonnen; der Adel aber, dem jede
Gelegenheit zu lebendiger Gymnaſtik im Ringen mit
den Gemeinen abgeſchnitten, hat nicht Gelegenheit
ſich die geforderten Verdienſte zu erwerben, und ver¬
kümmert und verrottet vollends in ſeiner langweiligen
Einſamkeit.
Darum würde es, um ein friſches, raſches Leben
in die Ständeverſammlung zu bringen, und ein reg¬
ſames Wechſelſpiel der Kräfte, an dem alle Talente
zum Vortheil des Ganzen Antheil nehmen, hervorzu¬
rufen, am füglichſten ſeyn, die drey Stände in eine
Kammer zu vereinigen, und ſie dort in drey Curien
zu ordnen. Die Erſte würden die Gemeinen zuſam¬
menſetzen, und zwar in ſolcher Weiſe, daß wenig¬
ſtens die Hauptintereſſen, in die dieſer Stand ſich
theilt, vertreten ſind. Da die Innungen größten¬
theils aufgehoben ſind, und ihre Wiedereinführung,
von oben herab wenigſtens, nur die Gewaltthätigkeit
wiederholen würde, die bey ihrer Aufhebung ſtatt ge¬
funden; überdem die Theilung der Vertretung unter
den heutigen Verhältniſſen nach den Gewerken ſpielend
und größtentheils unnütz ſich erweißt, ſo bleibt für
jetzt nur zuvörderſt der Gegenſatz von Stadt und
Land zurück.
Der ſtädtiſche Verkehr iſt dem Athemzug im Leben zu
vergleichen, der Ackerbau auf dem Lande aber der Er¬
nährung; und wie nun in der thieriſchen Haushal¬
tung, obgleich der Apparat für die letztere Verrich¬
tung quantitativ größer iſt, als jener der dem Ath¬
mungsprozeſſe dient, beide doch qualitativ, ſich einan¬
der völlig gleich ſtehen, in wiefern ſie als Faktoren
des Lebens beide gleich unentbehrlich zu ſeinem Be¬
ſtande zuſammenwirken, ſo ſind auch hier beide Ver¬
richtungen der Geſellſchaft von vollkommen gleich¬
mäßiger Wichtigkeit, und der Würde nach iſt die
Letztere noch einen Grad höher hinauf gerückt. Dar¬
um würde ſchon hier der Antheil der ausſchließlich
qualitativen Vertretung ſich am offenbarſten zeigen,
indem das Land mit ſeiner doppelten Anzahl von Abge¬
ordneten jedesmal die Städte überſtimmen wird, was, ſo¬
bald die Vertreter nur erſt über ihre Intereſſen ver¬
ſtändigt ſind, gleich ſchon bey der Frage über das
Verhältniß der direkten zu den indirekten Steuern,
bey Korngeſetzen u. ſ. w. die nachtheiligſten Folgen
zeigen würde. Darum mögte es billig und räthlich
ſeyn, beiden zwar insgeſamt eine größere Anzahl
von Vertretern, als die beiden höheren Stände ſen¬
den, zu geſtatten; Stadt und Land aber, in dieſer
Hinſicht ſich gleich zu ſetzen, und Beyde in zwey Bän¬
ke zu vertheilen. Die Städtebank würde dann allen¬
falls ſich noch in zwey Andere theilen, Die des Geld¬
beſitzes für Kaufleute, Kapitaliſten u. ſ. w., wie die
des platten Landes nach dem Verhältniß des Beſitz¬
ſtandes gewählt, und die der Gewerbe und der Indu¬
ſtrie für Fabrikanten und Gewerke, nach der Zahl
der Stimmenden erleſen.
Die zweyte Curie des Adels würde gleichfalls in
zwey Bänke getheilt erſcheinen, deren Eine perennirend
die erblichen Pairs des alten Adels von wegen ihrer
Geburt beſetzen; die Andere aber Jene aus dem Ver¬
dienſtadel, die der Fürſt hinberufen aus den Beamten
der Democratie, den Hauptleuten der Landwehr u. ſ. w.
periodiſch. Endlich würde die dritte Curie eben ſo
aus einer Bank beſtehen, durch den Prieſterſtand der
verſchiednen Confeſſionen, theils durch Wahlen, theils
vermöge des Amts beſetzt, und aus der zweyten Ge¬
lehrtenbank in den Provinzialverſammlungen, wie eh¬
mals von den Aebten der Klöſter, ſo etwa von den
Direktoren der Gymnaſien und andern Schulanſtal¬
ten, deren Wahl und Dotirung aber alsdann noth¬
wendig und ſchicklicher Weiſe an die Democratie ge¬
knüpft ſeyn müßte; bey den Reichsverſammlungen
aber durch Deputirte aus ihrer Mitte, und Andere
von den Univerſitäten und Academien geſchickt.
In einer ſolchen Kammer würden durch alle drey
Curien,
Curien, die beyden Hauptelemente aller Verfaſſung
ſich beyſammenfinden, dadurch aber daß ſie wieder
ſpezifiſch in verſchiedne Organe ſich vertheilen, würde
eine gewiſſe Heilkraft in das Ganze kommen, vermöge
welcher die entzweyten Gegenſätze ihre Beruhigung fin¬
den, und Streitigkeiten, die ſich erhoben, nicht wie
bey dem Zweykammerſyſtem auf ſich beruhen, oder
durch die Gewalt geſchlichtet werden müſſen, ſondern
innerlich ſich vertragen laſſen.
Da inzwiſchen in ſolcher Ordnung eine denkbare,
oft genug eingetretene Verbindung der beyden höheren
Stände mit dem Hofe leicht die Gemeinen unterdrü¬
cken könnte, ſo müßte für dieſen Fall in ſolcher Weiſe
vorgeſorgt werden, daß ihre großen und ſtehenden
Intereſſen durch die Stimmweiſe ſchon gedeckt erſchie¬
nen, indem dieſe nach dem vorherrſchenden Charakter
des vorliegenden Gegenſtandes auch verſchieden ſich
modifizirte. So da bey den Steuerbewilligungen und
Conſcriptionen die geometriſche und ponderable Größe
des Beſitzes einerſeits, und andrerſeits die arithmetiſche
Zahl die Leiſtung zu machen hat, ſo würde hier auch
die Zahl in einfacher Stimmenmehrheit beym Zuſam¬
menzählen der Votirenden entſcheiden; wobey wie bil¬
lig der dritte Stand die entſcheidende Stimme hat.
Bey allen Erörterungen, die das democratiſche Ele¬
ment der Verfaſſung und ſeine Verhältniſſe nach auf¬
wärts, ſo wie die des AriſtokatiſchenAriſtokratiſchen nach abwärts
hin betreffen, würde nach Bänken zu ſtimmen ſeyn.
In allen höheren Beziehungen, für alle Gegenſtände
der obern Geſetzgebung, für alles worin das monar¬
chiſche Princip und das Kirchliche überwiegt, würde,
da man vorausſetzen muß, daß die Einſicht weſentlich
in der Regierung, und den ihr nähern Ständen eben
ſo ruht, wie die Tüchtigkeit im Volke, nach Curien
geſtimmt werden; jedoch alſo, daß für Abänderungen
der vertragenen Verfaſſung in weſentlichen Punkten,
mit der Einwilligung des Fürſten zugleich die Bey¬
ſtimmung einer Mehrheit in den drey Curien erfor¬
dert würde. In allen andern Streitfragen der höhe¬
ren Art würde, da immer drey Glieder vorhanden
13
ſind, von denen je Eines, das Andere in einem Ele¬
mente berührt, zu zweyen Streitenden immer ein drit¬
tes Beruhigendes gefunden werden, und am häufigſten,
da Adel und Gemeine am öfterſten in den Widerſtreit
der Intereſſen kommen, wird der Lehrſtand alsdann
Schiedsrichteramt verſehen.
Das Alles ſind Formen, die obgleich ſie nach
den Geſetzen der bildenden Naturkraft geſtaltet ſind,
doch ſo oder anders gewendet und vielfach anders
modifizirt werden können; wie eben die Natur allen
ihren lebendigen Bildungen zwar die menſchliche Ge¬
ſtalt als Grundtypus untergelegt, aber vielfältig wech¬
ſelnd in den Elementen und den Verhältniſſen, aus
denen das Ganze ſich zuſammenſetzt, die eine Urform
in vielen Thierbildern auseinandergezogen und ver¬
ſchoben hat. Aber in ihnen iſt nur erſt der Automat
des Staats gegeben, der nichts als ein lebloſer Leich¬
nam iſt, wenn ihm die innere Beſelung fehlt, die ihn
allein erhalten, treiben und begeiſtigen kann.
Es giebt aber drey Grundprinzipe dieſer Beſeelung,
die je nach der Höhe der Fakultät, worin ſie wur¬
zeln, in Würde verſchieden ſich erweiſen. Das erſte
iſt die Religion, die ihre Weihe vom Ueberirdiſchen
ableitend, das Irdiſche damit durchdringend zu heili¬
gen ſucht, und den Staat zu einem Sacramente macht.
Im Vorherrſchen dieſes Prinzipes haben die alten
Prieſterſtaaten ſich gebildet, mit denen überall die
Geſchichte beginnt, indem das erſte Regiment auf Er¬
den als Theocratie ſich geſtaltet. Indem aber das Prie¬
ſterthum im Verlauf der Zeit ſich im Hochmuth über¬
hoben, hat bald die Macht ihr Recht behauptet und
die Kraft und der Muth, und nun ſind die Könige
aufgekommen, die an der Spitze ihrer Gefolge vom
Aufgang bis zum Niedergang die Völker ſich unter¬
worfen haben, und nach und nach jene Weltmonarchien
zuſammengeballt, deren Thaten das Buch der Zeiten
aufgeſchrieben. Hier hat die Ehre vorgeherrſcht und
die kriegeriſche Tugend, und wie dort der Krumm¬
ſtab, ſo iſt das Schwert hier der Zepter, der geho¬
ben und geneigt, lenkt und führt. Dann aber, als
die Gewalt in Despotismus ausgeartet, der eine un¬
erträgliche Laſt, auf den Völkern gedrückt; da haben
Alle, in denen noch eine Energie und eine geiſtige
Schnellkraft zurückgeblieben, endlich das Joch von
ihrem Nacken abgeworfen, und Democratien ſind ent¬
ſtanden, und Winkel und Richtmaaß ſind zu Ehren
kommen und die Pflugſchaar; bürgerliche Tugenden
haben nun ſich geltend gemacht und republicaniſcher
Sinn; ſtatt der Ehre Ehrlichkeit, ſtatt der Heiligung
die ethiſche Würde, abwärts ruhend auf der mora¬
liſchen Natur des Menſchen und dem Gewiſſen.
Das iſt der Gang, den die Verfaſſung durch das
ganze Alterthum, abſteigend von der Höhe überſinn¬
licher Motive, bis zur ſinnlichen derben, tüchtigen
Wirklichkeit genommen; ſo im Orient; ſo bey den
Griechen aus der Prieſterzeit, durch die Heroiſche in
die Volkszeit; ſo bey den Römern, deren Theocratie
in die Hetruriſche aufgeht, die dann unter den Kö¬
nigen ſchnell die zweyte Periode durchlaufen, um zu¬
letzt den größten Theil ihrer Dauer mit der Democratie
zu erfüllen.
Es iſt aber im Alterthum nur die eine abſteigende
Hälfte der Geſchichte dargeſtellt; die Neuere iſt eben
ſo in umgekehrter Folge bis ins Mittelalter hinan¬
geſtiegen. Nachdem dies Aufſteigen bey den Völkern
der alten Cultur mit Alexander und den römiſchen
Imperatoren in's Verderben der Democratie eingetre¬
ten, und dann das Chriſtenthum in ihrer Mitte ei¬
nen neuen Prieſterſtaat gegründet, hat es den Nor¬
den zuerſt in den Kreis der Bildung ziehend, dort
aus der noch grünenden Democratie germaniſcher Völ¬
kerſchaften, zuerſt in Carl dem Großen eine neue Welt¬
monarchie heraufgetrieben, und dann über ihr den
großen Prieſterſtaat durch ganz Europa herverbreitet.
Aber als die Krieger mit den Prieſtern unter den
rheinfränkiſchen Kaiſern, mitten in der höchſten Blüthe
ihrer Macht, jene harte Fehde gekämpft, da haben
ſie ſich untereinander aufgerieben; alſo, daß die welt¬
liche Macht zuerſt hingewelkt, und mit den ſchwäbi¬
ſchen Kaiſern der Ruhm und die Stärke Teutſchlands
13*
ausgegangen; die Prieſterherrſchaft aber, nachdem
ihre Stütze erſt gefallen, gleichfalls durch innere Ent¬
zweyung geſchwächt, dann in Entartung aufgelöſt,
endlich von der Reformation im ganzen Norden ge¬
ſtürzt, und im Süden wenigſtens in ihren Grundve¬
ſten erſchüttert wurde. Ihr folgte im Untergang das
Kaiſerthum, indem es in die Territorialherrſchaft
hingewelkt; dieſe ſelbſt löste ſich in ihren Abſtractio¬
nen auf, und ſo iſt in der ſchon früher geſchilderten
Weiſe, da, wenn die Blüthe gewelkt, und die Pflanze
eingedorrt, das Leben im Samen beſchloſſen, rück¬
kehrt in die Erde, mitten im Reich der allgemeinen
Willkühr die urſprüngliche Democratie, wenn auch
nicht factiſch, doch potentialiter durch eine zweyte ab¬
ſteigende Bewegung wiederhergeſtellt.
Zwar iſt es nicht die alte, ſproſſende Waldkraft,
mit ihrer Fülle von Naturtrieben, die hier zurückge¬
kehrt; denn es liegt eine ganze Culturzeit hinter ihr,
und die Reproduction iſt im Charakter der fortſchrei¬
tenden Geſchichte vorgegangen: aber was ſie nach der
Naturſeite eingebüßt, iſt ihr nach der Geiſtigen wie¬
der zugewachſen. Darum treibt ein innerer Inſtinkt
ſie bewußtlos nach Allem hin, wodurch ſie den neuen
Kreis, der ihr eröffnet iſt, erfüllen kann; ſie ſtrebt
und ringt mit allen ihren Kräften, ſich von jener
Willkühr vor Allem loszuwinden, bey der, wie ſie
fühlt, fernerhin kein Verlaß mehr iſt, keine Sicher¬
heit nach außen, und kein Friede nach innen hin,
nicht Würde, Hoffnung oder Liebe.
Dieſe Willkühr ſelbſt hat ſolcher Stimmung vorge¬
arbeitet; jener ſtatiſtiſche Kram, jene ſtaatswirthſchaft¬
liche Mäſtungslehre, die den Menſchen zur Stallfüt¬
terung eingeſtellt, und um des Gewinnes Willen ſein
Leibliches auf Unkoſten des Geiſtigen herausgefüttert,
und die, wenn es in allem ihr nach Wunſch gegan¬
gen, und nicht wider ihren Willen geiſtige Erregun¬
gen wie Blitze durchgezuckt, am Ende mit jenem ſcheu߬
lichen Cretinism geendet hätte, wo der ganze höhere
Menſch in die blos vegetative Sphäre herabgeſunken,
nur noch in den Drüſen lebt: das Alles bewies, daß
die Autorität ſchon längſt zu einer krankhaften Lebens¬
kraft herabgeſunken, und nahe daran geweſen, dem
Automatiſchen anheim zu fallen.
Darum iſt es ganz im Geiſte dieſer nun wirklich
ſich emanzipirenden Zeit, daß ſie im Gefühle ihrer
Noth und im Verſtändniß, wo ihre Stärke und wo
die Schwäche, vorläufig von nichts als dem ſinnlich
Greifbaren hören will; und es iſt begreiflich, woher
ihr die Neigung kömmt, in den Verfaſſungen Maſchi¬
nen zu bauen nach den Geſetzen des Hebels und der
ſchiefen Ebne, worin der Grundbeſitz als ziehen¬
des Gewicht, das Geld als treibende Feder die bewe¬
genden Kräfte bilden; die Beamten, Räder und Ge¬
triebe, die Kammer den Pendul machen ſoll, der alle
Bewegungen regulirt; der Fürſt den Zeiger, der die
Zeit anzeigen muß. Nicht iſt dieſe Neigung zum Pon¬
derabeln auf dem Puncte, wohin die Sache jetzt ge¬
diehen, zu tadeln; jede Zeit ſoll handeln in dem Geiſte,
der ſie beſeelt, und da der bildende Proteus jetzt ein
Mechanicus geworden, der politiſche Planetarien zim¬
mert, ſo ſoll man ihn eben nicht durch hartnäckigen
Widerſpruch im Werke irren.
Aber dann auch ſoll man vor Allem nicht vergeſſen,
daß wie man in der äußern Mechanik die Naturge¬
ſetze als unverbrüchlich längſt ſich gefallen läßt; und
ihnen zuwider zu handeln für eine Thorheit hält, ſo
auch in der geiſtig politiſchen die ethiſchen Geſetze,
die auf gleicher Höhe mit jenen phyſiſchen ſtehen, und
gleich unerbittlich jede Uebertretung ahnden, aner¬
kenne. So ſicher und unbedingt wie die phyſiſchen
Sätze: daß bey ungleichen Hebelarmen im Gleichge¬
wichte die Laſten ſich umgekehrt wie die Längen der
Arme verhalten müſſen; daß beym Falle der Körper
die Räume wie die Quadrate der Fallzeiten ſich ver¬
halten, für die Natur Geltung haben, ſo für die Gei¬
ſterwelt die moraliſchen Geſetze: daß Rechte und Pflich¬
ten, Freyheit und Gehorſam, Geben und Nehmen
wechſelſeitig ſich bedingen; daß jede Gewaltthat eine
Entgegengeſetzte herausfordert und jedes Aeußerſte ein
Aeußerſtes zum Gegenſtreite; daß, das Unterlaſſen
eines gebotenen Guten eben ſo als Miſſethat geahndet
wird, wie das Thun eines verbotenen Schlechten;
daß der Krieg zwar nothwendig die äußerſten Gegen¬
ſätze hält, der Friede aber nur in der Temperatur der
Mitte gefunden wird u. ſ. w. Alle dieſe ethiſchen Geſetze
müſſen in der Geſellſchaft mit der Gewißheit mathe¬
matiſcher Axiome geltend werden; ſie müſſen als all¬
gemein unverbrüchliche Maximen ſie in allen ihren
Elementen durchdrungen haben: dann mag ſie im¬
merhin ohne Gefahr ihrem Inſtinkte folgen; ſie mag
ihre Verfaſſungen gründen einzig auf den Ackerboden und
den Verkehr, auf Actien und Erben und die Ariſto¬
cratie der Meiſtbeerbten; ſie mag die wirkenden, le¬
bendigen Kräfte in der Verfaſſung vielfältig zerſetzend,
und wieder nach der Diagonale ſie vereinigend ihre
mathematiſchen Beluſtigungen und ihre ſtöchyometri¬
ſchen Calcüle treiben, und die Geſellſchaft auf der
unterſten Stufe des Lebens einſtweilen zum tauſend¬
armigen Polypen machen.
Nur erſt, wenn die bürgerliche Tugend die einzige
Staatsklugheit geworden, hat dieſer Mechanism ſeine
Beſeelung, wie ſie die Zeit ihm geben kann, erlangt,
und nur dann wird er wie ein organiſcher Körper
ſich ſelbſt ſchützen und erhalten; aber nimmermehr,
wenn man die Schlechtigkeit aller Menſchen als be¬
kannt vorausſetzend, nach dem jetzt, beſonders in Frank¬
reich herrſchenden Vorurtheil, in der Form und allen
ihren Cautelen und Gegenſätzen und Controlen, ein
Surrogat der fehlenden Ehrlichkeit zu finden glaubt,
und alſo, da ein Verſuch um den andern mißlingt,
in der moraliſchen Welt einem beynahe noch weſenlo¬
ſeren Phantom nachjagt, als das perpetuum mobile von
je in der Mechanik ſich erwieſen. Mit vollem Rechte und
mit der lobenswürdigſten Beharrlichkeit eifert Adam
Müller, in allen ſeinen Schriften, aus ſeinem höhe¬
ren Standpunkt gegen dieſen furchtbaren Irrthum,
der, aus der gröbſten materialiſtiſchen Anſicht hervor¬
gegangen, den Franzoſen in der Politik eben ſo eigen¬
thümlich iſt, wie das Syſtem des Genuſſes und der wohl¬
verſtandnen Eigenliebe ihrer Moral ſeit Helvetius: aber
eben deswegen, wenn auch Teutſche an ihm Theil ge¬
nommen, ſo iſt dies nur eine Verirrung Einzelner,
die in dem ethiſchen Sinne der Nation nie dauerhafte
Wurzel ſchlagen wird.
Es neigt vielmehr ſichtbar Alles zu dem Punkte,
daß auf der Stufe, wo ſie ſich jetzt befindet, wirklich
eine allgemeine Rechtlichkeit und der Inbegriff republi¬
caniſcher Tugenden, gemildert und getragen von dem,
was noch von religiöſen Motiven wirkt und treibt, vor¬
herrſchend die Begeiſtigung ihres öffentlichen Lebens
zu werden im Begriffe ſteht. Dann ſolt man aber auch
nicht ſchelten, daß der Gang der Zeiten zu ſo kör¬
perhaften Anſichten von Staat und Verfaſſung hinge¬
trieben; es iſt die nothwendige Folge der Entwicklung;
und wie im Mutterleibe nur allein die plaſtiſchen Kräfte
im Dunkel des Geheimniſſes walten, und die Geiſti¬
gen erſt ſpäter übertreten, ſo auch im Bildungswerke
des Jahrhunderts. Man ſoll erhalten für die Zukunft
Alles, was noch von der vorigen Bildungsſtufe her
grünend und lebendig ſteht, und es ſichern gegen den
wilden Zerſtörungstrieb, der in dieſe Zeit hineinge¬
fahren; man mag hindeutend auf das Höhere, anfa¬
chen die geiſtige Flamme, da, wo ſie nur trübe
brennt; und der Geiſt der ſchwebend über der Maſſe
ſteht, ſoll in denen, die der Zeit vorangeeilt, die Flü¬
gel ſchwingen und regen, daß der Athem des Lebens
das Werk wärmend und bebrütend durchziehe.
Aber man kann die Zukunft nicht poſtuliren, wie
man die Vergangenheit nicht wieder erwecken mag;
die Religion, die ſich meiſt in die Herzen zurückgezo¬
gen, hat für den Augenblick aufgehört, ein großes
architectoniſches Princip zu ſeyn; eben wie die alte
Ehre, die in der allgemeinen Ehrloſigkeit der letzten
Jahrhunderte verſiegt. Darum bildet der Werkmeiſter
in dieſer Zeit allein mit den Arbeitern, die noch rü¬
ſtig ſich beweiſen, und braucht die Andern nur als
Gehülfen, inſofern ſie noch bey Kraft und Vermögen
ſind. Iſt das Geſchlecht erſt dahingegangen, das im
Drange einer ſtürmiſchen Zeit nur für die Gegen¬
wart erſtarkt, aber den Sinn für Zukunft und Ver¬
gangenheit darüber eingebüßt; hat die Democratie ſich
erſt von jenem formalen Despotism losgerungen und
wieder Wurzel im alten Boden ſchlagend, zuerſt ſich
und dann auch die ohnmächtige Monarchie gekräftigt
und belebt; und iſt dann, nachdem der Argwohn erſt
gewichen, ruhiges Gemach und ein unbefangner Sinn
zurückgekehrt: dann wird allmählig das Höhere wie¬
der ſein Recht behaupten, und die Bewegung, die
ſeit ſo vielen Jahrhunderten, bey ſtets zunehmender
Schwerkraft, immerfort in der Verfaſſung ſinkend ge¬
weſen, wird wieder eine ſteigende werden, indem die
Triebkraft der im Volke entwickelten Geiſtigkeit end¬
lich die träge Maſſe bezwingt und wieder aufwärts
hebt.
Dann wird ſich im Wetteifer, zwiſchen dem Verdienſt¬
adel von unten herauf und dem Geburtsadel von
oben herab zuerſt wieder die wahre Ehre zu einem
herrſchenden Trieb erheben; ſie, die in der Mitte zwi¬
ſchen religiöſem Glauben und irdiſcher Begreiflichkeit
wie die alte Herrenlehre, alsdann von der tüchtigen
Unterlage des Verdienſtes Schrot und Korn, von der
geſellſchaftlichen Uebereinkunft aber die Währung er¬
hält, und die darum zu einem Vereinigungspunkte
ſtarker Willenskräfte in Zeiten der Gefahr oder gro¬
ßer Bewegungen werden kann. In dem Maße, wie
der alte Adel dann erkennt, daß ſeine wahre Ahnen¬
probe allein die Verdienſtprobe iſt, wird auch wohl
in den Plebeyern wieder das dem Menſchen natürliche
Verlangen von neuem ſich beleben, ihre Ehre wie je¬
den andern Beſitz auf ihrer würdige Nachkommen zu
verpflanzen, auf daß ſie nicht blos eine Welle im
brandenden Meere ſich verliere, ſondern wie ein zu¬
ſammenhängender Strom durch die Zeiten gehe, und
dadurch zu einem noch ſtärkern Bande der Verbindung
werde. Iſt dann durch glücklichen Wurf dort jene
Verjüngung, hier dieſe Forterbung durch mehrere Ge¬
nerationen hindurch gelungen, dann werden wieder
wie im alten Rom Geſchlechter ſich erheben, die ent¬
weder zum Volke niedergeſtiegen, oder aus ſeiner
Mitte erwachten ſind; die als große ſtehende Charak¬
tertypen das blos Vorübergehende überdauern, und
nicht allein durch ſich, ſondern auch noch durch die
reiche Erbe alter im Gedächtniſſe des Volkes immer
gegenwärtiger Ehre gelten, und darum ſeine Achtung
zugleich mit ſeiner Neigung und Dankbarkeit an ſich
feſſeln, die es Beydes dem jetzigen dürren, hohlen,
nichtigen Weſen zuzuwenden nicht in Verſuchung kömmt.
Dann wird auch die Zeit wieder kommen, wo alle teutſchen
Stämme nach der Erkenntniß, die ihnen ſchon jetzt
beywohnt, auch handeln werden, begreifend daß ihre
Vielheit zwar ein koſtbares Gut ſey, das ſie beynahe vor
allen jetzigen Völkern ſich erhalten; daß dieſer Segen
aber zu einem Fluche werden müſſe, wenn ihr keine
bindende Einheit gegeben wird; und dieſe wird, wenn
manche Eidgenoſſenſchaft ſich als nicht hinreichend im
Drange der Zeit für die gemeine Freyheit und Sicher¬
heit erwieſen, wohl auch einmal wieder von einem
ſtarken Geſchlechte gehandhabt werden, das die Krone
Carls des Großen unter ihrer Laſt nicht niederdrückt,
dem ſein Mantel gerecht, und das ſein Schwerd zu
ſchwingen im Stande iſt.
Unterdeſſen wird denn auch der religiöſe Sinn wie¬
der ſich ſeiner jetzigen Beſchloſſenheit entwinden, und
man wird wieder allgemein erkennen, daß Religion
nicht das Mährchen iſt, das die Amme Goldmund
den kindiſch horchenden Völkern vorerzählt; ſondern
das Band, das die Geiſter eint, das Wort des bil¬
denden Weltgeiſtes in der Menſchenſprache ausgeſpro¬
chen; daß ſelbſt die Natur bewußtlos ihre Myſterien
feyert; daß der Staat nur das Erdgeſchoß der Kirche
iſt, und das öffentliche Leben und die Pflege der Wiſ¬
ſenſchaften ſelbſt ein Gottesdienſt. In der katholiſchen
Geiſtlichkeit wird aus der ſittlichen Reinheit, die ſie
durchgängig in Teutſchland noch immerfort bezeichnet,
wieder leicht jener höhere Sinn erblühen, und in ihm
ſich jene Begeiſtrung entzünden, die die jetzige Erſtar¬
rung löſt, und den Formen den vergeßnen Inhalt
wieder giebt. Sie wird erkennen, daß nicht ein dum¬
pfer, ſchwerer Obſcurantism zu dieſem Ziele führt, der
in unverſtändigem Eifer Gottes edelſte Gabe das Licht
verfolgt, — frevelnd an der Wahrheit, die ſich ſelber
ſiegreich überall behauptet, und die nur ein verworre¬
nes Wiſſen ſich ſelbſt zum Nachtheil trübt, ein gan¬
zes und gründliches aber immer aufs Neue ſichert und
bewährt; frevelnd an der Freyheit, die Gott dem
Menſchen gegönnt, die halb gebraucht, wohl zum
Irrthum führt, in voller Entwicklung aber, wenn
ſie nur aufrichtigen Herzens iſt, ſich ſelbſt wieder ihr
Maaß giebt, und ihre Gränze — : ſondern indem ſie
ſelbſt im Heiligthume die Fackel zündet, die mit der
Finſterniß auch die Frivolität zerſtreut, in die allein
der Unglaube von je ſeine Wurzel geſchlagen. Die Pro¬
teſtantiſche wird dieſem Streben entgegen kommen, in¬
dem ſie den rechten Gebrauch von ihrer Freyheit macht;
nicht verwechſelnd eigenwillige, launenhafte Menſchen¬
ſatzung, die mit dem Menſchen kömmt und geht, mit
der ewigen Wahrheit, die für alle Zeiten gilt. Sie
wird immerhin nach ihrer Weiſe, geleitet durch die
Schrift, aus den Verhältniſſen der endlichen Perſön¬
lichkeit die Verhältniſſe des Unendlichen erſchließen;
aber ſie wird jene zu dieſem Behufe erſt von aller
Befangenheit, Eigenſucht und jenen irdiſchen Leiden¬
ſchaften klären, daß ſie im hellen Waſſer des edeln
Geſteines dem höheren Lichte durch und durch geöff¬
net ſteht, das aber jeder ſteigende Hochmuth, indem
er den Schlamm der Tiefe rührt, nur allzu leicht
trübt und wölkt. Die Wiſſenſchaften nicht blos als
ein weltliches Handwerk geübt, das in die Kümmer¬
lichkeit des irdiſchen Daſeyns niederzieht, ſondern nach
alter Weiſe immer auf das höchſte Myſterium, wie
der Philoſophie ſo der Religion zurückbezogen, werden
nicht ferner wie ſchwere Gewichte ſich dem ſtrebenden
Geiſt anhängen, ſondern wie Schwingen ihn zu ſeiner
höheren Beſtimmung tragen. Dann werden die ver¬
ſchiednen Confeſſionen ſich wieder einander und dem
Stamme nahen, nicht formal durch Laune oder irgend
eine Abſicht und Gewalt beſtimmt, die nur den ſchlafen¬
den Fanatism zu wecken dient; ſondern weil gerade
die volle Freyheit ſich ſelbſt in die Nothwendigkeit um¬
beugt. Neue Kirchenväter werden ſich dann erheben,
die wie die Alten das griechiſche Wiſſen, ſo und in
noch größerem Maaße die Weisheit der Zeit bemei¬
ſtern, daß ſie ſich freywillig vor ihrer Herrin beugt,
und die Wiſſenſchaften wieder ihr Haupt mit ihrer Ster¬
nenkrone kränzen. Sie werden nicht etwa ein Pfaffenthum
begründen, das unter dem Vorwande des Heiligen blos ir¬
diſche Zwecke verfolgt, gemeine Leidenſchaften für Ein¬
gebungen eines höheren Geiſtes geltend zu machen
verſucht, verſchmitzter Herrſchſucht fröhnt, oder in
feiſtem Wohlleben ſich gefällt: das Alles iſt gebro¬
chen, zerriſſen und abgethan, und nimmermehr wird
die Zeit ſich zu ſeiner Herſtellung bereden laſſen. Aber
ein würdiges Prieſterthum wird ſie wieder gewinnen,
das zwar wie alles Irdiſche an einer Wurzel auf
Erden befeſtigt iſt, deſſen Domäne aber in dem ſtets
ſich erweiternden geiſtigen Reiche liegt, und aus deſſen
Munde jener längſt verheiſſene Paraclet reden wird,
deſſen die Zeit ſo oft geharrt.
Man mag ſolche Anſicht chiliaſtiſche Thorheit
ſchelten, aber auf ſolche Thorheit war das Chriſten¬
thum gebaut, das die Geſtalt der Welt verwandelt
hat, und der jetzige Geiſt einer ſcharfen, kalten Welt¬
klugheit in ihrer religiöſen Sonnenferne wird wenigſtens
nicht unſterblicher ſeyn, als die Begeiſterung früherer
Zeiten in der warmen Sonnennähe.Es kann aber je¬
ner klügelnde Geiſt eben keinen andern Weg angeben,
der nicht durch Blutvergießen, Bürgerkrieg, Aufſtand
und Frevel führt; vor Allem aber wird die Hoffnung
verlarvter Gier, die da glaubt auf dem Wege des
Territorialſyſtems durch Unterjochung der verſchied¬
nen Stämme zur Oberherrſchaft zu gelangen, an dem
erwachten Nationalgefühle und den vielen unbezwing¬
baren Gegenſätzen, die Gott in die Nation gelegt,
aufs ſchmählichſte zu Schanden werden; und minder
phantaſtiſch iſt eine teutſche Republik, und näher liegt
ein Bundesſtaat in den Formen des Amerikaniſchen
der Gegenwart, als eine ſolche Hegemonie, die keiner
ſich gefallen zu laſſen die mindeſte ReigungNeigung hat. Da¬
rum iſt, da die Natur der Dinge ſelbſt alle Neben¬
wege gänzlich abgeſchnitten, der einzige gerade, hi¬
ſtoriſche noch übrig, der zum Ziele führt: alles Sträu¬
ben iſt vergeblich, alles Hemmen überflüſſig, alle Li¬
ſten ſind verloren, er muß gegangen ſeyn. Ob ſie
zagen, ob ſie zürnen, ob ſie Künſte üben, ob ſie die
Gewalt zu Hülfe nehmen; nimmer ſteht die Geſchichte
ihrem Rufe ſtill, es kömmt die Fluth herangerauſcht,
haben auch alle Könige ihre Stühle ans Meeresufer
hingeſtellt. Darum ſoll man zu göttlichem Rathſchluß
den menſchlichen Willen thun, damit dieſer vor dem
Stärkern nicht zu Schanden werde; man ſoll den
Dingen ihren Lauf geſtatten, und mit Gewalt nicht
irren von oben noch von unten die Ereigniſſe. Nur
in Treue und Gerechtigkeit handelt der Teutſche ſei¬
ner Natur gemäß, alles was er außer ihr unternimmt,
iſt ungeſchickt, dumm und ohne Segen.
Darum zuvörderſt Ihr vom dritten Stande! laßt
Euch in keine Weiſe ableiten von der Bahn der Ge¬
ſetzlichkeit! Ihr habt gegen jenes Phantom der Will¬
kühr Euch erhoben, das despotiſche Miniſter und
Höflinge des Auslands zuerſt für ihre Zwecke erfun¬
den, und herriſche Söldner befeſtigt haben, und das
dann zu uns herübergebracht, abſtrakte Schriftgelehrte,
denen alles Leben fremd geworden, und Juriſten, die
überall den Vorwurf ſich mit Rechte zugezogen, daß
ſie durch Verrath die Völker um ihre Freyheiten be¬
trügen helfen, in jene pedantiſche Form gebracht, die
es zwar in ſeiner Schärfe abgeſtumpft, aber darum
dem öffentlichen Geiſte nur noch nachtheiliger gemacht.
Indem Ihr gegen dies weſenloſe Abſtraktum, das ſich
geſpenſtiſch zwiſchen die Monarchie und das Volk ge¬
ſchoben, aufgeſtanden,habt Ihr Eure alten unverjährten
Freyheiten zurückverlangt, und ſie müſſen Euch zu
Theile werden. Ihr wollt nicht länger zinſen und zah¬
len nach fremdem Gutbefinden, als wäret Ihr der
Kammer alle insgeſammt als hörig und leibeigen un¬
terthan; vielmehr wollt Ihr wie ehmals allein erbetne
nicht gebotne Steuern dem Staat entrichten. Ihr
wollt Euch nicht länger bannen laſſen zum Heer¬
gefolge und jeder Fehde, ſondern, wie es bey den
Vorvordern der Fall geweſen, mannen allein zur
Nothwehr bey Feindes Ueberzug. Ihr wollt nicht Recht
nehmen vor Gerichten, die in leeren Formen und
Grübeleyen ſich verlieren; ihr wollt es weiſen fortan
durch Schöpfen und Geſchworne. Ihr wollt, daß das
Verdienſt ausgleiche jeden Ranges Unterſchied, und daß
der Verkehr, die Rede und der Gedanke frey ſey wie der
Athem. Ihr wollet endlich blind in keinem Dinge dem Ge¬
heiße der Willkühr dienen; ſondern allein in freyer
Unterwerfung Euch Geſetzen fügen, zu denen Ihr
ſelbſt zuvor die Einwilligung gegeben. Das ſind Eure
Rechte, und ſie können Euch nicht beſtritten werden;
ihre Einräumung iſt keine Vergünſtigung, die man
nach Belieben ausſetzen und verzögern könnte, am
wenigſten in einer Zeit, die unaufhörlich mit neuen
verderblichen Organiſationen und Anmaßungen, wie
mit Ungeheuern, ſchwanger geht.
Aber ſo gutes Recht ſollt Ihr durch kein Unrecht
Euch verderben, Ihr würdet die Gegner allein damit
erfreuen. Iſt der Himmel doch jenes ſchlangenfüßigen
Titanen Meiſter worden, der die Revolution verſchlun¬
gen, und in ihrer furchtbaren Kraft gewirkt, was
ſollte ihm ſonſt noch widerſtehen in dieſer Zeit? Alles
Unrecht will wider den Strom der Geſchichte an; laßt
die Thoren ſich abmüden, wenn ſie glauben, ſie ſeyen
hoch hinauf, landen ſie athemlos tiefer, als von wan¬
nen ſie ausgeſchwommen. Allein auf dem Rechte ruht
die Autorität, will ſie von ihm ſich loszuſagen verſu¬
chen, dann wird ihre gänzliche Unmacht ihr bald den
Irrthum begreiflich machen, den ſie begangen hat.
Alle Heere, die auf Erden ſind, mögen nicht eine ein¬
zige mathematiſche Wahrheit zu nichte machen, noch
weniger werden ſie ein ethiſches Weltgeſetz erſchüttern.
Jedes Unrecht iſt von Gott verlaſſen, der allein der
gerechten Sache hilft; mag auch die Gewalt auf ſei¬
ner Seite ſtehen, es verwickelt ſich nur allzu bald in
ſeine eignen Widerſprüche, wird in ſeinen Sophismen
verfangen und in ſeinen Inconſequenzen verſtrickt,
daß ihm zuletzt kein Entrinnen mehr möglich iſt.
Aber freilich nicht das todte Recht, das auf dem
Papiere ſteht, kann ſich geltend machen; nur allein
das, was aus den Herzen in's Leben eingedrungen,
wird dort leicht ſiegreich werden. Darum je mehr die
Willkühr ſich erlaubt, um ſo enger ſollen ſich Alle an¬
einander ſchließen; wenn Alle ihrer Augen Licht im¬
mer auf eine Stelle richten, dann wird dort wie in
einem Brennpunkt ſich eine Flamme ſammeln, der
das Feuerfeſteſte ſelbſt nicht widerſtehen mag. Laßt
nicht ab zu fordern, was Euch angehört, kommt im¬
mer wieder auf denſelben Punkt zurück; aber alſo ſey
Euer Gang, daß Ihr keine Zwiſchenſtufe ungeduldig
überſpringet, noch auch einen Schritt vorwärts thut,
den Ihr zurückzuthun Euch genöthigt ſähet, und ſo
Ihr dann mit Muthe für Eure Sache ſteht, wird der
Erfolg nicht dem Bemühen fehlen. Aber indem Ihr
Recht nehmt, vergeßt nicht Recht zu geben, wem
Recht gebührt; und indem Ihr der Strenge des Grund¬
ſatzes nichts vergebt, unterlaßt nicht in der Anwen¬
dung Billigkeit zu üben: denn die Theorie iſt ſcharf
wie Schwertes Schneide und wie Feuers Flamme
freſſend; alles Menſchliche aber iſt aus Entgegenge¬
ſetztem gemiſcht, und in milden Uebergängen tempe¬
rirt, und ſeine Natur haßt wie Gift alles Unmäßige.
Laßt Euch nicht zu thörichtem Streit verhetzen, ſchon
die unlautere Quelle, aus der Euch der Antrieb
kömmt, ſoll Euch Verdacht einflößen; indem Ihr ha¬
dert, denken ſie lachend die Beute davon zu tragen.
Glaubt nicht, daß Euch eine neue Freyheit zu Theile
werde, ohne eine neue Leiſtung und daß das Gute
ohne Euer Zuthun Euch im Schlaf anfliege; das
ganze Streben dieſer Zeit kann nur einen vernünfti¬
gen Sinn in ſich haben: daß ſie reger, lebendiger
und tüchtiger zu ſeyn ſich vorgenommen, als die Frü¬
here geweſen; thut ſie in dieſer Weiſe, dann wird ihr
auch ein glücklicher Loos zu Theile fallen; iſt es an¬
ders, dann wird ſie ſich jämmerlich betrogen finden.
Denn Verfaſſungen ſind gar nichts ohne Bürgertu¬
gend, hätte dieſe in uns gelebt, dann wäre die Frey¬
heit nicht zu Grund gegangen; das bloße Verlangen
nach ihrer Wiederherſtellung iſt aber noch kein Be¬
weis, daß die Tüchtigkeit dazu zurückgekehrt. Nur all¬
zu gegründet iſt der Vorwurf dieſer Zeit gemacht,
daß ſie zu gehorchen verlernt, und doch nicht frey zu
ſeyn verſteht; das iſt ein großes Recht der Regierun¬
gen bey allem Unrecht, das ſie in Vielem haben mögen:
denn die Zügel der Herrſchaft können nicht im Winde
fliegen. Nur zu oft hat die ganze Liberalität dieſes
Geſchlechtes ſich nur als eine verlarvte Willkühr aus¬
gewieſen, wie ſich häufig genug gerade an den Libe¬
ralſten gezeigt, wenn ſie in den Fall gekommen, ihre
Grundſätze auszuüben. Wer Alles allein für ſich ha¬
ben will und dem Andern nichts vergönnt, ſey es
Stand, Perſon oder Körperſchaft, iſt ein Tyrann und
folglich auch ein Sclave; die Freyheit in der Mitte
aber will nicht blos liberal im Nehmen, ſondern auch
im Geſtatten ſeyn.
Ihr vom Adel! erinnert Euch wieder der zwie¬
fachen Natur, die ſich in Euch begegnen ſoll, wovon die
Eine der Monarchie ſich zugewendet, die Andere dem
Volke ſich zugekehrt. Indem Ihr in den letzten Zei¬
ten Euch allzu ausſchließlich jener ergeben habt, indem
Ihr im Hofdienſt und im ſtehenden Heere Euch ſelbſt
hörig gemacht ohne Vorbehalt, iſt eure eigentliche
Standesehre vor dem Volke hingeſchwunden, das in
Euch nur Leibeigne der Landeshoheit erblicken konnte.
Mit dieſer Landeshoheit habt Ihr die Beute des Reichs
getheilt, indem Ihr in euern Lehngütern Euch die
Dotation des Krieges zugeeignet; das bedenkend wer¬
det Ihr der Billigkeit nicht Gehör verſagen im jetzigen
Streite, der ſich mit den Gemeinen erhoben hat.
Vor Revolutionen kann keine Verjährung gelten, ſie
fahren ſchnell über die Jahrhunderte bis zum Urſprung
des Mißbrauchs hin, und die Franzöſiſche hat ihren
Baronen mit einemmale ihren ganzen Feudalbeſitz ab¬
gefordert. Darum wendet Euch nicht ab von billigem
Vergleiche, der Euch den Beſitzſtand gewähren will,
und nur das Unrecht nicht anerkennt, das durch die
Verderbniß der Zeiten zu einem Recht geworden. Keine
Rechte auf die Perſon dürft Ihr fortan in Anſpruch neh¬
men; bey den Steuern ſollte vielmehr Euer Ehrgeiz
ſeyn, verhältnißmäßig mehr als Andere beyzutragen,
weil Ihr mehr als ſie gelten wollt. Wie ſelbſt die Lan¬
deshoheit ſich zu neuem Vertrage und neuen Einräu¬
mungen entſchließen muß; ſo ſollt Ihr in Allem was
die Verfaſſung betreffen mag, dem gleichen Anſpruche
der Zeit auf Erneuerung der alten Bündte Euch in
keine Weiſe entziehen. Aber daß die Auseinanderſetz¬
ung auf dem Wege gütlicher Uebereinkunft geſchehen
möge, das zu verlangen habt ihr ein gutes Recht;
auch daß, ſind die Grundſätze erſt feſtgeſtellt, die nö¬
thige Friſt zur Ausführung geſtattet werde. Je mehr
ihr beweißt, daß noch wirklich die Standesehre in
Euch lebendig iſt, um ſo mehr wird die Idee auch
den Widerſagern Achtung abgewinnen; wollt Ihr Euch
aber nur wie Penſionäre des aufgelösten Reiches hal¬
ten, dann wird freylich Euer Ausſterben als wün¬
ſchenswerth erſcheinen. Nicht auf ein Flickwerk iſt es
bey der Verfaſſung abgeſehen, wie es die letzten Jahr¬
hunderte immer geliefert haben; nicht auf eine diplo¬
matiſche Halbheit, die nur mechaniſch theilt, und Un¬
gleichartiges gewaltſam bindet, darum aber alle Par¬
theyen gleich unbefriedigt läßt; vielmehr ſollen alle
Aftergebilde einer krankhaften Zeit abgelöſt werden
vom Körper des Staates, daß indem jedem Organ
das Seine zu Theile wird, das Ganze wieder in fri¬
ſcher Geſundheit blühe. Wer aber böſen Mißbrauch
vertreten will, der erhält das Siechthum des Vater¬
landes, und muß als ein inneeerinnerer Feind und ſelbſt ein
Krankheitsſtoff betrachtet werden. Darum wollet nicht
Euer Unrecht mit euerm Rechte decken, damit nicht
euer Recht mit dem Unrecht herausgeworfen werde.
Alles was auf den Mißbrauch und das Schlechte in
der Verfaſſung mit ſeinem Beſtande angewieſen, fin¬
det nicht ferner mehr Gnade vor der Meinung. Die
Thorheit des leeren Hochmuths auf blos conventionelle
Vorzüge, die Aufgeblaſenheit hohler Eitelkeit, das
ganze dünkelhafte, anmaßliche Junkerthum iſt die Fa¬
bel und der Spott der Zeit geworden; aber ein wah¬
rer, rechter, tüchtiger und ehrenfeſter Adel fehlt uns
überall, am meiſten in den höchſten Stellen, wo nur
allzu oft die kahlſte, flachſte, plattſte, erbärmlichſte
Gemeinheit
ohne Würde, Anſtand und eine Spur adelicher Ge¬
ſinnung durch den Trödel äußerer Auszeichnung im
Contraſte nur um ſo ſchärfer ſticht, und die Nation
bey jeder Gelegenheit vor dem Ausland ſchändet. Ein
ſolcher Adel, nicht im langweiligen Müßiggang der
Höfe ausgeblaſen; nicht im Stillleben auf ſeinem Be¬
ſitz verbauert, kann allein aus einem regen öffentli¬
chen Leben in der Gymnaſtik der Kammern und der
Volksbewaffnung, wieder uns erwachſen, und dieſe
Schule vor Allem müſſen die Geſchlechter ſuchen, wenn
ſie ſich hiſtoriſch zu behaupten Sinnes ſind.
Ihr von der Geiſtlichkeit! Ihr ſeyd berufen
dem Volke zu predigen den Gehorſam gegen die Obrig¬
keit; ſo folgt dann dem Berufe, lehrt es die bürger¬
liche Ordnung ſelbſt in ihrem tiefſten Verfalle achtend
ehren, daß es nicht weiche vom Wege der Geſetzlich¬
keit; und nie im Aufſtand eigenmächtig die ſittlichen
Schranken zu durchbrechen unternehme. Aber dann
auch tretet vor die Fürſten und ihre Räthe, und
ruft ſie unter dem Schutze euers heiligen Amtes,
warnend, ſtrafend wie ihr Gewiſſen an. Erinnert
ſie, daß ſie nicht länger Gott verſuchen, und wenn
er ein Zeichen gethan, das ihre Schwarzkünſtler
nach eitler Wiſſenſchaft gedeutet, immer wieder Neue
von ihm fordern, damit er nicht endlich in ſeinem
Zorn entbrenne, und ihnen das Letzte ſendet, das
ſie und ihr Geſchlecht verzehrt. Nicht um Verfaſ¬
ſungen handelt ſichs allein, ſie werden nun, mag
man wohl oder übel wollen, nicht länger mehr
ſich vorenthalten laſſen; aber ſie allein ſind, wie
die Erfahrung eines Menſchenalters ausgewieſen,
für ſich gar wenig, tönende Schellen und hohlklingen¬
des Erz, ſo lange der Geiſt bleibt, gegen den man ſie
angerufen: jene gänzlich bewußtlos gewordne Willkühr,
jene durch alle Verhältniſſe durchfahrende Gewaltthätig¬
keit, jene Teutſchvergeſſenheit und jenes Verkennen
aller höheren und edleren Motive in öffentlichen An¬
gelegenheiten, jener Centralitäts- und Buchſtabenkram,
jene Finanzſchwindeleyen durch ewigen Kriegsſtand mit¬
ten im Frieden herbeygeführt, und jener furchtbare
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rechtloſe Zuſtand, der wenn auch nicht ſo gewaltthä¬
tig, wie in jener verrufenen kaiſerloſen Zeit, doch
beynahe eben ſo unerträglich iſt. Es klagen die Völ¬
ker auf ihre Rechte, die die Willkühr ihnen vorent¬
halten; ſie haben ihre Urkunden vorgelegt und ihre
Briefe; die Geſchichte ſteht an ihrer Seite, daß ſie
Zeugniß gebe; alle göttlichen und menſchlichen Ge¬
ſetze ſprechen zu ihren Gunſten, die Ehre und die un¬
verbrüchliche Heiligkeit der Verträge und die Unver¬
letzlichkeit des Schwures; alle gütlichen Mittel ſind
verſucht, alle rechtlichen Friſten abgelaufen. Sie
aber ſind von Gott auf den Richterſtuhl geſetzt, er
hat ſie zu Ausſpendern und Vertretern ſeiner ewigen
Gerechtigkeit gemacht, wehe denen! die nicht thun,
was ihr heiliges Amt gebietet, und das Recht ver¬
ſagen, nach dem die Kläger rufen. Sagt ihnen, daß
auf ihrem Haupt alle Verantwortlichkeit der Zukunft
ruhe, daß vor jenem Richterſtuhle nicht bloß die böſe
That, ſondern auch Unterlaſſen des gebotnen Thuns
gerichtet werde. Erinnert ſie, wie oft ſchon Gott an
Teutſchland ſeit einem Menſchenalter ihr Unterlaſſen
durch furchtbares Unglück heimgeſucht, und wie all
ihr paſſives Wohlmeinen vor ſeinem Zorne nichts ge¬
golten. Sagt Ihnen, daß wenn Sie auf der Höhe
Recht mit Unrecht, Geſetzlichkeit mit Tyranney, die Ge¬
rechtigkeit mit Gewalt vermengen und verwirren, die¬
ſelbe Verwirrung bald auch der Maſſe ſich mittheilen wird,
deren Stärke allein durch das Maaß der Mitte ge¬
bändigt iſt; und daß, hat das empörte Rechtsgefühl,
das nirgend Recht gefunden, endlich einmal wüthend
zur Selbſthülfe ſich entſchloſſen, der Streit bald ge¬
ſchlichtet iſt. Auf dem Papiere hat keine Verſchwö¬
rung ſich vorgefunden; ja nachdem man vor ganz Eu¬
ropa auf Hochverrath geklagt, hat man offiziell läug¬
nen müſſen, daß man je auf eine Conſpiration inqui¬
rirt: aber nichts deſtoweniger glimmt das Feuer in
den Herzen; von Zeit zu Zeit ſchlagen kleine Flam¬
men zuckend auf, damit ſie ein Zeichen ſeyen des
Brandes, der unterirdiſch glüht, und der täglich wei¬
ter um ſich frißt, und den Boden furchtbar unter¬
höhlt. Darum iſt es rathſam, denen das Recht zu
geſtatten, die das Recht allein begehren, damit man
bey längerer Weigerung ſich nicht genöthigt ſehe, de¬
nen zu Willen zu thun, die dazu noch das Unrecht
wollen. Nicht dahin geht das wohlverſtandne Streben
der Beſſern in der Zeit, die Autorität zu untergraben,
oder jede verwegene Neuerung irgend eines verrückten
Kopfes auszuführen; nur gerade bey der Willkühr iſt
jene unheilbare Neuerungsſucht, und gegen ſie eben
hat die Zeit ſich aufgelehnt. Mag ein Uſurpator, dem
die blutige Erbſchaft einer Revolution anheimgefallen,
ihre demagogiſchen Künſte in despotiſche umgewan¬
delt, gegen ſie ſelber wenden; aber was ſollen legitime
Fürſten, durchgängig gutmüthig und wohlmeinend wie
die der Unſern ſind, mit dem Schatten einer Macht,
die nur ein Tyrann in Wirklichkeit beſitzen und hand¬
haben mag, und die für ſie nur das Hemd des Neſ¬
ſus iſt, das der Centaur mit Blute getränkt, ihnen
zum Verderben im Tod vermacht. Dieſe Regentenge¬
ſchlechter, die mit dem Volke aus der Tiefe der Jahr¬
hunderte heraufgekommen, mit ihm eins ſind und ver¬
bunden durch die Folge ſo vieler Menſchenalter, ſol¬
len herrſchen nicht wie Imperatoren durch Bajonette,
todte Buchſtaben, Bannformeln und Cabinettsordern;
ſondern wie Väter im Familienkreiſe durch die Ehr¬
furcht des Alters, die Liebe der Blutsverwandſchaft,
das Vertrauen, das oft geprüfte Weisheit und Ge¬
rechtigkeit begründet, die Achtung, die überall die
ſittliche Würde gebiethet, und die Neigung, womit
angeſtammte Milde aller Herzen bindet. Das ſind
Motive, deren die gegenwärtige Zeit gar wohl fähig iſt,
wenn erſt einmal das Vertrauen ſich wiederhergeſtellt: aber
in ihr iſt kaum eine Spur des brutalen Aberglaubens,
der da der beſchränkten menſchlichen Weisheit zumuthet,
daß ſie allwiſſend ſey, und der Unmacht, daß ſie all¬
mächtig thue, und im Getriebe perſönlicher Leiden¬
ſchaften, Unfehlbarkeit verlangt. Sie will, daß jener
unwürdige Götzendienſt ein Ende nehme; daß nicht
länger mehr der Wind eitler Theorien durch die
dürren Blätter der Akten rauſche, ſondern der Men¬
ſchenverſtand ſelbſt in menſchlichen Dingen mit zu
Rathe gehe, und das Leben und der Geiſt wieder
da ihr Recht behaupten, wo durch leidige Erfahrun¬
gen ihr Beyſtand ſich am unentbehrlichſten erwieſen.
Das Alles ſollt Ihr ihnen ſagen und noch ein Meh¬
reres, wenn es vonnöthen iſt, damit ſie erkennen die
Wunder, die der Himmel gethan, und ſich beugen vor
der Macht der Ideen, die ſich in dieſer Zeit kund
gegeben. Zwanzig Jahre haben ſie gegen dieſe Ideen
angeſtritten, und ſind beynahe bis zur Austilgung
geſchlagen worden; endlich als Gott ihres Unglücks
und ihrer Zerknirſchung ſich erbarmt, und ihnen wie¬
der ihr Zeichen voraufgeſendet, da haben ſie unter
ihm ihrerſeits über die Feinde triumphirt, die nun
die Rolle mit ihnen umgetauſcht. Ihre Autorität iſt
auch eine Idee den andern ebenbürtig, ihre Weihe
und Salbung iſt auch im Namen der Idee geſchehen;
wer unter ihnen ſie verläugnet, ſinkt zu den gemeinen
Sterblichen herab. Nur der herrſcht fortan, der wieder das
Haupt in ihrem Aether trägt; der aber muß als Sclave,
wenn auch nur ſeinen Irrthümern und Leidenſchaften
dienen, wer nur in den irdiſchen Lüften ſchwer und
beklommen athmet, und die Geſchichte wird ſeinen
Namen in ihren Büchern tilgen.
Discite justitiam moniti, et non temnere Divos