Zweytes Buch.
Erſtes Capitel.
Jeder, der, mit lebhaften Kräften, vor un¬
ſern Augen, eine Abſicht zu erreichen ſtrebt,
kann, wir mögen ſeinen Zweck loben oder
tadeln, ſich unſre Theilnahme verſprechen;
ſobald über die Sache entſchieden iſt, wen¬
den wir unſer Auge ſogleich von ihm weg;
alles was geendigt, was abgethan da liegt,
kann unſre Aufmerkſamkeit keineswegs feſ¬
ſeln, beſonders wenn wir ſchon frühe der Un¬
ternehmung einen übeln Ausgang prophe¬
zeiht haben.
Deswegen ſollen unſre Leſer nicht um¬
ſtändlich mit dem Jammer und der Noth
unſers verunglückten Freundes unterhalten
werden, die ihn befielen, als er ſeine Hoff¬
nungen und Wünſche, auf eine ſo unerwar¬
tete Weiſe, zerſtört ſah. Wir überſpringen
vielmehr einige Jahre, und ſuchen ihn erſt
da wieder auf, wo wir ihn in einer Art von
Thätigkeit und Genuß zu finden hoffen,
wenn wir vorher nur kürzlich ſo viel, als
zum Zuſammenhang der Geſchichte nöthig iſt,
vorgetragen haben.
Die Peſt, oder ein böſes Fieber raſen in
einem geſunden, vollſaftigen Körper, den ſie
anfallen, ſchneller und heftiger, und ſo ward
der arme Wilhelm unvermuthet von einem
unglücklichen Schickſale überwältigt, daß in
Einem Augenblicke ſein ganzes Weſen zer¬
rüttet war. Wie wenn von ohngefähr unter
der Zurüſtung ein Feuerwerk in Brand ge¬
räth, und die künſtlich gebohrten und gefüll¬
ten Hülſen, die, nach einem gewiſſen Plane
geordnet und abgebrannt, prächtig abwech¬
ſelnde Feuer-Bilder in die Luft zeichnen ſoll¬
ten, nunmehr unordentlich und gefährlich
durch einander ziſchen und ſauſen; ſo gingen
auch jetzt in ſeinem Buſen Glück und Hoff¬
nung, Wolluſt und Freuden, Wirkliches und
Geträumtes auf einmal ſcheiternd durch ein¬
ander. In ſolchen wüſten Augenblicken er¬
ſtarrt der Freund, der zur Rettung hinzu
eilt, und dem, den es trift, iſt es eine Wohl¬
that, daß ihn die Sinne verlaſſen.
Tage des lauten, ewig wiederkehrenden
und mit Vorſatz erneuerten Schmerzens folg¬
ten darauf; doch ſind auch dieſe für eine
Gnade der Natur zu achten. In ſolchen
Stunden hatte Wilhelm ſeine Geliebte noch
nicht ganz verloren; ſeine Schmerzen waren
unermüdet erneuerte Verſuche, das Glück, das
ihm aus der Seele entfloh, noch feſt zu hal¬
ten, die Möglichkeit deſſelben in der Vor¬
ſtellung wieder zu erhaſchen, ſeinen auf im¬
mer abgeſchiedenen Freuden ein kurzes Nach¬
leben zu verſchaffen. Wie man einen Kör¬
per, ſo lange die Verweſung dauert, nicht
ganz todt nennen kann, ſo lange die Kräfte,
die vergebens nach ihren alten Beſtimmun¬
gen zu wirken ſuchen, an der Zerſtörung
der Theile, die ſie ſonſt belebten, ſich abar¬
beiten; nur dann, wenn ſich alles an einan¬
der aufgerieben hat, wenn wir das Ganze
in gleichgültigen Staub zerlegt ſehen, dann
entſteht in uns das erbärmliche, leere Ge¬
fühl des Todes, nur durch den Athem des
Ewiglebenden zu erquicken.
In einem ſo neuen, ganzen, lieblichen
Gemüthe war viel zu zerreiſſen, zu zer¬
ſtören, zu ertödten, und die ſchnellheilende
Kraft der Jugend gab ſelbſt der Gewalt des
Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit.
Der Streich hatte ſein ganzes Daſeyn an
der Wurzel getroffen. Werner, aus Noth
ſein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer
und Schwert, um einer verhaßten Leiden¬
ſchaft, dem Ungeheuer, ins innerſte Leben zu
dringen. Die Gelegenheit war ſo glücklich,
das Zeugniß ſo bey der Hand, und wieviel
Geſchichten und Erzählungen wußt’ er nicht
zu nutzen. Er trieb’s mit ſolcher Heftigkeit
und Grauſamkeit Schritt vor Schritt, ließ
dem Freunde nicht das Labſal des mindeſten
augenblicklichen Betruges, vertrat ihm jeden
Schlupfwinkel, in welchen er ſich vor der
Verzweiflung hätte retten können, daß die
Natur, die ihren Liebling nicht wollte zu
Grunde gehen laſſen, ihn mit Krankheit an¬
fiel, um ihm von der andern Seite Luft zu
machen.
Ein lebhaftes Fieber mit ſeinem Gefolge,
den Arzeneyen, der Überſpannung und der
Mattigkeit; dabey die Bemühungen der Fa¬
milie, die Liebe der Mitgebohrnen, die durch
Mangel und Bedürfniſſe ſich erſt recht fühl¬
bar macht, waren ſo viele Zerſtreuungen ei¬
nes veränderten Zuſtandes, und eine küm¬
merliche Unterhaltung. Erſt als er wieder
beſſer wurde, das heißt, als ſeine Kräfte er¬
ſchöpft waren, ſah Wilhelm, mit Entſetzen,
in den qualvollen Abgrund eines dürren
Elendes hinab, wie man in den ausgebrann¬
ten hohlen Becher eines Vulkans hinunter
blickt.
Nunmehr machte er ſich ſelbſt die bitter¬
ſten Vorwürfe, daß er, nach ſo großem Ver¬
luſt, noch einen ſchmerzloſen, ruhigen, gleich¬
gültigen Augenblick haben könne. Er ver¬
achtete ſein eigen Herz, und ſehnte ſich nach
dem Labſal des Jammers und der Thränen.
Um dieſe wieder in ſich zu erwecken,
brachte er vor ſein Andenken alle Scenen
des vergangnen Glücks. Mit der größten
Lebhaftigkeit mahlte er ſie ſich aus, ſtrebte
wieder in ſie hinein, und wenn er ſich zur
möglichſten Höhe hinauf gearbeitet hatte,
wenn ihm der Sonnenſchein voriger Tage
wieder die Glieder zu beleben, den Buſen
zu heben ſchien, ſah er rückwärts auf den
ſchrecklichen Abgrund, labte ſein Auge an der
zerſchmetternden Tiefe, warf ſich hinunter,
und erzwang von der Natur die bitterſten
Schmerzen. Mit ſo wiederholter Grauſam¬
keit zerriß er ſich ſelbſt, denn die Jugend,
die ſo reich an eingehüllten Kräften iſt, weiß
nicht, was ſie verſchleudert, wenn ſie dem
Schmerz, den ein Verluſt erregt, noch ſo vie¬
le erzwungene Leiden zugeſellt, als wollte ſie
dem Verlornen dadurch noch erſt einen rech¬
ten Werth geben. Auch war er ſo über¬
zeugt, daß dieſer Verluſt der Einzige, der
erſte und letzte ſey, den er in ſeinem Leben
empfinden könne, daß er jeden Troſt verab¬
ſcheute, der ihm dieſe Leiden als endlich vor¬
zuſtellen unternahm.
Zweytes Capitel.
Gewöhnt, auf dieſe Weiſe ſich ſelbſt zu quä¬
len, griff er nun auch das übrige, was ihm
nach der Liebe und mit der Liebe die größten
Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, ſein
Talent als Dichter und Schauſpieler, mit
hämiſcher Kritik von allen Seiten an. Er
ſah in ſeinen Arbeiten nichts als eine geiſt¬
loſe Nachahmung einiger hergebrachten For¬
men, ohne innern Werth; er wollte darin
nur ſteife Schulexercitien erkennen, denen es
an jedem Funken von Naturell, Wahrheit
und Begeiſterung fehle. In ſeinen Gedich¬
ten fand er nur ein monotones Sylbenmaaß,
in welchem, durch einen armſeligen Reim zu¬
ſammen gehalten, ganz gemeine Gedanken
und Empfindungen ſich hinſchleppten, und
ſo
ſo benahm er ſich auch jede Ausſicht, jede
Luſt, die ihn von dieſer Seite noch allenfalls
hätte wieder aufrichten können.
Seinem Schauſpieler-Talente ging es
nicht beſſer. Er ſchalt ſich, daß er nicht frü¬
her die Eitelkeit entdeckt, die allein dieſer
Anmaßung zum Grunde gelegen. Seine Fi¬
gur, ſein Gang, ſeine Bewegung und Dekla¬
mation mußten herhalten, und ſo ſprach er
ſich jede Art von Vorzug, jedes Verdienſt,
das ihn über das Gemeine empor gehoben
hätte, entſcheidend ab, und vermehrte ſeine
ſtumme Verzweiflung dadurch auf den höch¬
ſten Grad. Denn, wenn es hart iſt, der
Liebe eines Weibes zu entſagen, ſo iſt die
Empfindung nicht weniger ſchmerzlich, von
dem Umgange der Muſen ſich los zu reiſſen,
ſich ihrer Gemeinſchaft auf immer unwürdig
zu erklären, und auf den ſchönſten und näch¬
ſten Beyfall, der unſrer Perſon, unſerm Be¬
W. Meiſters Lehrj. N
tragen, unſrer Stimme öffentlich gegeben
wird, Verzicht zu thun.
Auf dieſe Weiſe hatte ſich unſer Freund
völlig reſignirt, und ſich zugleich mit großen
Eifer den Handelsgeſchäften gewidmet. Zum
Erſtaunen ſeines Freundes und zur größten
Zufriedenheit ſeines Vaters war niemand auf
dem Comtoir und der Börſe, im Laden und
Gewölbe thätiger, als er; Correſpondenz und
Rechnungen, und was ihm aufgetragen wur¬
de, beſorgte und verrichtete er mit größten
Fleiß und Eifer. Freylich nicht mit dem
heitern Fleiße, der zugleich dem Geſchäftigen
Belohnung iſt, wenn wir dasjenige, wozu
wir geboren ſind, mit Ordnung und Folge
verrichten, ſondern mit dem ſtillen Fleiße der
Pflicht, der den beſten Vorſatz zum Grunde
hat, der durch Überzeugung genährt und
durch ein innres Selbſtgefühl belohnt wird;
der aber doch oft, ſelbſt dann, wenn ihm das
ſchönſte Bewußtſeyn die Krone reicht, einen
vordringenden Seufzer kaum zu erſticken
vermag.
Auf dieſe Weiſe hatte Wilhelm eine Zeit¬
lang ſehr emſig fortgelebt und ſich überzeugt,
daß jene harte Prüfung vom Schickſale zu
ſeinem Beſten veranſtaltet worden. Er war
froh, auf dem Wege des Lebens ſich bey
Zeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt
zu ſehen, anſtatt daß andere ſpäter und
ſchwerer die Mißgriffe büßen, wozu ſie ein
jugendlicher Dünkel verleitet hat. Denn ge¬
wöhnlich wehrt ſich der Menſch ſo lange als
er kann, den Thoren, den er im Buſen hegt,
zu verabſchieden, einen Hauptirrthum zu be¬
kennen, und eine Wahrheit einzugeſtehen, die
ihn zur Verzweiflung bringt.
So entſchloſſen er war, ſeinen liebſten
Vorſtellungen zu entſagen, ſo war doch eini¬
ge Zeit nöthig, um ihn von ſeinem Unglücke
N 2
völlig zu überzeugen. Endlich aber hatte er
jede Hoffnung der Liebe, des poetiſchen Her¬
vorbringens und der perſönlichen Darſtellung,
mit triftigen Gründen, ſo ganz in ſich ver¬
nichtet, daß er Muth faßte, alle Spuren ſei¬
ner Thorheit, alles, was ihn irgend noch dar¬
an erinnern könnte, völlig auszulöſchen. Er
hatte daher an einem kühlen Abende ein
Kaminfeuer angezündet, und holte ein Reli¬
quienkäſtchen hervor, in welchem ſich hun¬
derterley Kleinigkeiten fanden, die er in be¬
deutenden Augenblicken von Marianen er¬
halten, oder derſelben geraubt hatte. Jede
vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit,
da ſie noch friſch in ihren Haaren blühte,
jedes Zettelchen an die glückliche Stunde,
wozu ſie ihn dadurch einlud, jede Schleife
an den lieblichen Ruheplatz ſeines Hauptes,
ihren ſchönen Buſen. Mußte nicht auf dieſe
Weiſe jede Empfindung, die er ſchon lange
getödtet glaubte, ſich wieder zu bewegen an¬
fangen? Mußte nicht die Leidenſchaft, über
die er, abgeſchieden von ſeiner Geliebten,
Herr geworden war, in der Gegenwart die¬
ſer Kleinigkeiten wieder mächtig werden?
Denn wir merken erſt, wie traurig und un¬
angenehm ein trüber Tag iſt, wenn ein ein¬
ziger, durchdringender Sonnenblick uns den
aufmunternden Glanz einer heitern Stunde
darſtellt.
Nicht ohne Bewegung ſah er daher dieſe
ſo lange bewahrten Heiligthümer nach ein¬
ander in Rauch und Flamme vor ſich aufge¬
hen. Einigemal hielt er zaudernd inne, und
hatte noch eine Perlenſchnur und ein flohr¬
nes Halstuch übrig, als er ſich entſchloß, mit
den dichteriſchen Verſuchen ſeiner Jugend das
abnehmende Feuer wieder aufzufriſchen.
Bis jetzt hatte er alles ſorgfältig aufge¬
hoben, was ihm, von der frühſten Entwick¬
lung ſeines Geiſtes an, aus der Feder ge¬
floſſen war. Noch lagen ſeine Schriften in
Bündel gebunden auf dem Boden des Kof¬
fers, wohin er ſie gepackt hatte, als er ſie
auf ſeiner Flucht mitzunehmen hoffte. Wie
ganz anders eröffnete er ſie jetzt, als er ſie
damals zuſammen band!
Wenn wir einen Brief, den wir unter
gewiſſen Umſtänden geſchrieben und geſiegelt
haben, der aber den Freund, an den er ge¬
richtet war, nicht antrift, ſondern wieder zu
uns zurück gebracht wird, nach einiger Zeit
eröffnen, überfällt uns eine ſonderbare Em¬
pfindung, indem wir unſer eignes Siegel
erbrechen, und uns mit unſern veränderten
Selbſt wie mit einer dritten Perſon unter¬
halten. Ein ähnliches Gefühl ergriff mit
Heftigkeit unſern Freund, als er das erſte
Paquet eröffnete, die zertheilten Hefte ins
Feuer warf, die eben gewaltſam aufloderten,
als Werner hereintrat, ſich über die lebhafte
Flamme verwunderte, und fragte, was hier
vorgehe?
Ich gebe einen Beweis, ſagte Wilhelm,
daß es mir ernſt ſey, ein Handwerk aufzu¬
geben, wozu ich nicht geboren ward; und
mit dieſen Worten warf er das zweyte Pa¬
quet in das Feuer. Werner wollte ihn ab¬
halten, allein es war geſchehen.
Ich ſehe nicht ein, wie du zu dieſem Ex¬
trem kommſt, ſagte dieſer. Warum ſollen
denn nun dieſe Arbeiten, wenn ſie nicht vor¬
trefflich ſind, gar vernichtet werden?
Weil ein Gedicht entweder vortrefflich
ſeyn, oder gar nicht exiſtiren ſoll. Weil
jeder, der keine Anlage hat, das Beſte zu
leiſten, ſich der Kunſt enthalten, und ſich
vor jeder Verführung dazu ernſtlich in Acht
nehmen ſollte. Denn freylich regt ſich in
jedem Menſchen ein gewiſſes unbeſtimmtes
Verlangen, dasjenige was er ſieht, nachzu¬
ahmen; aber dieſes Verlangen beweiſt gar
nicht, daß auch in uns die Kraft wohne, mit
dem, was wir unternehmen, zu Stande zu
kommen. Sieh nur die Knaben an, wie ſie
jedesmal, ſo oft Seiltänzer in der Stadt ge¬
weſen, auf allen Planken und Balken hin
und wieder gehen und balanciren, bis ein
anderer Reiz ſie wieder zu einem ähnlichen
Spiele hinzieht. Haſt du es nicht in dem
Zirkel unſrer Freunde bemerkt? So oft ſich
ein Virtuoſe hören läßt, finden ſich immer
einige, die ſogleich daſſelbe Inſtrument zu
lernen anfangen. Wie viele irren auf die¬
ſem Wege herum; glücklich wer den Fehl¬
ſchluß von ſeinen Wünſchen auf ſeine Kräfte
bald gewahr wird!
Werner widerſprach; die Unterredung
ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht
ohne Bewegung die Argumente, mit denen
er ſich ſelbſt ſo oft gequält hatte, gegen ſei¬
nen Freund wiederholen. Werner behaupte¬
te, es ſey nicht vernünftig, ein Talent, zu
dem man nur einigermaßen Neigung und
Geſchick habe, deswegen, weil man es nie¬
mals in der größten Vollkommenheit aus¬
üben werde, ganz aufzugeben. Es finde ſich
ja ſo manche leere Zeit, die man dadurch
ausfüllen, und nach und nach etwas hervor¬
bringen könne, wodurch wir uns und andern
ein Vergnügen bereiten.
Unſer Freund, der hierin ganz anderer
Meynung war, fiel ihm ſogleich ein, und
ſagte mit großer Lebhaftigkeit:
Wie ſehr irrſt du, lieber Freund, wenn
du glaubſt, daß ein Werk, deſſen erſte Vor¬
ſtellung die ganze Seele füllen muß, in un¬
terbrochenen, zuſammen gegeizten Stunden
könne hervorgebracht werden. Nein, der
Dichter muß ganz ſich, ganz in ſeinen ge¬
liebten Gegenſtänden leben. Er, der vom
Himmel innerlich auf das köſtlichſte begabt
iſt, der einen, ſich immer ſelbſt vermehrenden
Schatz im Buſen bewahrt, er muß auch von
auſſen ungeſtört mit ſeinen Schätzen in der
ſtillen Glückſeligkeit leben, die ein Reicher
vergebens mit aufgehäuften Gütern um ſich
hervorzubringen ſucht. Sieh die Menſchen
an, wie ſie nach Glück und Vergnügen ren¬
nen! Ihre Wünſche, ihre Mühe, ihr Geld
jagen raſtlos, und wornach? Nach dem, was
der Dichter von der Natur erhalten hat,
nach dem Genuß der Welt, nach dem Mit¬
gefühl ſeiner ſelbſt in andern, nach einem har¬
moniſchen Zuſammenſeyn mit vielen oft un¬
vereinbaren Dingen.
Was beunruhiget die Menſchen, als daß
ſie ihre Begriffe nicht mit den Sachen ver¬
binden können, daß der Genuß ſich ihnen
unter den Händen wegſtiehlt, daß das ge¬
wünſchte zu ſpät kommt, und daß alles er¬
reichte und erlangte auf ihr Herz nicht die
Wirkung thut, welche die Begierde uns in
der Ferne ahnden läßt. Gleichſam wie einen
Gott hat das Schickſal den Dichter über
dieſes alles hinüber geſetzt. Er ſieht das
Gewirre der Leidenſchaften, Familien und
Reiche ſich zwecklos bewegen, er ſieht die
unauflöslichen Räzel der Mißverſtändniſſe,
denen oft nur ein einſylbiges Wort zur Ent¬
wicklung fehlt, unſäglich verderbliche Ver¬
wirrungen verurſachen. Er fühlt das Trau¬
rige und das Freudige jedes Menſchenſchick¬
ſals mit. Wenn der Weltmenſch in einer
abzehrenden Melancholie über großen Ver¬
luſt ſeine Tage hinſchleicht, oder in ausge¬
laſſener Freude ſeinem Schickſale entgegen
geht, ſo ſchreitet die empfängliche leichtbe¬
wegliche Seele des Dichters, wie die wan¬
delnde Sonne, von Nacht zu Tag fort, und
mit leiſen Übergängen ſtimmt ſeine Harfe zu
Freude und Leid. Eingeboren auf den
Grund ſeines Herzens wächſt die ſchöne Blu¬
me der Weisheit hervor, und wenn die an¬
dern wachend träumen, und von ungeheuren
Vorſtellungen aus allen ihren Sinnen ge¬
ängſtiget werden, ſo lebt er den Traum des
Lebens als ein wachender, und das ſeltenſte,
was geſchieht, iſt ihm zugleich Vergangenheit
und Zukunft. Und ſo iſt der Dichter zugleich
Lehrer, Wahrſager, Freund der Götter und
der Menſchen. Wie! willſt du, daß er zu
einem kümmerlichen Gewerbe herunter ſteige,
er, der wie ein Vogel gebaut iſt, um die
Welt zu überſchweben, auf hohen Gipfeln
zu niſten, und ſeine Nahrung von Knospen
und Früchten, einen Zweig mit dem andern
leicht verwechſelnd, zu nehmen, der ſollte zu¬
gleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie
der Hund ſich auf eine Fährte gewöhnen,
oder vielleicht gar an die Kette geſchloſſen
einen Meyerhof durch ſein Bellen ſichern?
Werner hatte, wie man ſich denken kann,
mit Verwunderung zugehört. Wenn nur
auch die Menſchen, fiel er ihm ein, wie die
Vögel gemacht wären, und ohne daß ſie
ſpinnen und weben, holdſelige Tage in be¬
ſtändigem Genuß zubringen könnten. Wenn
ſie nur auch bey Ankunft des Winters ſich
ſo leicht in ferne Gegenden begäben, dem
Mangel auszuweichen, und ſich vor dem
Froſte zu ſichern.
So haben die Dichter in Zeiten gelebt,
wo das Ehrwürdige mehr erkannt ward, rief
Wilhelm aus, und ſo ſollten ſie immer leben.
Genugſam in ihrem Innerſten ausgeſtattet
bedurften ſie wenig von auſſen; die Gabe,
ſchöne Empfindungen, herrliche Bilder den
Menſchen in ſüßen, ſich an jeden Gegenſtand
anſchmiegenden, Worten und Melodien mit¬
zutheilen, bezauberte von jeher die Welt,
und war für den Begabten ein reichliches
Erbtheil. An der Könige Höfen, an den
Tiſchen der Reichen, vor den Thüren der
Verliebten horchte man auf ſie, indem ſich
das Ohr und die Seele für alles andere ver¬
ſchloß; wie man ſich ſelig preiſt und ent¬
zückt ſtille ſteht, wenn aus den Gebüſchen,
durch die man wandelt, die Stimme der
Nachtigall gewaltig rührend hervordringt!
Sie fanden eine gaſtfreye Welt, und ihr nie¬
drig ſcheinender Stand erhöhte ſie nur deſto
mehr; der Held lauſchte ihren Geſängen,
und der Überwinder der Welt huldigte einem
Dichter, weil er fühlte, daß, ohne dieſen, ſein
ungeheures Daſeyn nur wie ein Sturmwind
vorüberfahren würde; der Liebende wünſchte
ſein Verlangen und ſeinen Genuß ſo tauſend¬
fach und ſo harmoniſch zu fühlen, als ihn
die beſeelte Lippe zu ſchildern verſtand, und
ſelbſt der Reiche konnte ſeine Beſitzthümer,
ſeine Abgötter nicht mit eigenen Augen ſo
koſtbar ſehen, als ſie ihm vom Glanze des,
allen Werth fühlenden und erhöhenden Gei¬
ſtes beleuchtet erſchienen. Ja, wer hat, wenn
du willſt, Götter gebildet, uns zu ihnen er¬
hoben, ſie zu uns herniedergebracht, als der
Dichter?
Mein Freund, verſetzte Werner nach eini¬
gem Nachdenken, ich habe ſchon oft bedauert,
daß du das, was du ſo lebhaft fühlſt, mit
Gewalt aus deiner Seele zu verbannen
ſtrebſt. Ich müßte mich ſehr irren, wenn du
nicht beſſer thäteſt, dir ſelbſt einigermaßen
nachzugeben, als dich durch die Widerſprüche
eines ſo harten Entſagens aufzureiben, und
dir mit der Einen unſchuldigen Freude den
Genuß aller übrigen zu entziehen.
Darf ich dir’s geſtehen, mein Freund, ver¬
ſetzte der andre, und wirſt du mich nicht lä¬
cherlich finden, wenn ich dir bekenne, daß
jene Bilder mich noch immer verfolgen, ſo
ſehr ich ſie fliehe, und daß, wenn ich mein
Herz unterſuche, alle frühen Wünſche feſt, ja
noch feſter als ſonſt darin haften? Doch
was bleibt mir Unglücklichen gegenwärtig
übrig? Ach wer mir vorausgeſagt hätte, daß
die Arme meines Geiſtes ſobald zerſchmettert
werden ſollten, mit denen ich ins Unendliche
griff, und mit denen ich doch gewiß ein
Großes zu umfaſſen hofte. Wer mir das
vorausgeſagt hätte, würde mich zur Ver¬
zweiflung gebracht haben. Und noch jetzt,
da das Gericht über mich ergangen iſt, jetzt,
da ich die verloren habe, die anſtatt einer
Gottheit mich zu meinen Wünſchen hinüber
führen ſollte, was bleibt mir übrig, als mich
den bitterſten Schmerzen zu überlaſſen? O
mein Bruder, fuhr er fort, ich leugne nicht,
ſie war mir bey meinen heimlichen Anſchlä¬
gen
gen der Kloben, an den eine Strickleiter be¬
feſtigt iſt; gefährlich hoffend ſchwebt der
Abentheurer in der Luft, das Eiſen bricht,
und er liegt zerſchmettert am Fuße ſeiner
Wünſche. Es iſt auch nun für mich kein
Troſt, keine Hofnung mehr! Ich werde, rief
er aus, indem er aufſprang, von dieſen un¬
glückſeligen Papieren keines übrig laſſen. Er
faßte abermals ein Paar Hefte an, riß ſie
auf und warf ſie ins Feuer. Werner wollte
ihn abhalten, aber vergebens. Laß mich!
rief Wilhelm, was ſollen dieſe elenden Blät¬
ter? Für mich ſind ſie weder Stufe noch
Aufmunterung mehr. Sollen ſie übrig blei¬
ben, um mich bis ans Ende meines Lebens
zu peinigen? Sollen ſie vielleicht einmal der
Welt zum Geſpötte dienen, anſtatt Mitlei¬
den und Schauer zu erregen? Weh über
mich und über mein Schickſal! Nun verſtehe
ich erſt die Klagen der Dichter, der aus
W. Meiſters Lehrj. O
Noth weiſe gewordnen Traurigen. Wie lan¬
ge hielt ich mich für unzerſtörbar, für un¬
verwundlich, und ach! nun ſeh ich, daß ein
tiefer früher Schade nicht wieder auswach¬
ſen, ſich nicht wieder herſtellen kann; ich
fühle, daß ich ihn mit ins Grab nehmen
muß. Nein! keinen Tag des Lebens ſoll der
Schmerz von mir weichen, der mich noch zu¬
letzt umbringt, und auch ihr Andenken ſoll
bey mir bleiben, mit mir leben und ſterben,
das Andenken der Unwürdigen — ach, mein
Freund! wenn ich von Herzen reden ſoll —
der gewiß nicht ganz Unwürdigen ! Ihr
Stand, ihre Schickſale haben ſie tauſendmal
bey mir entſchuldigt. Ich bin zu grauſam
geweſen, du haſt mich in deine Kälte, in dei¬
ne Härte unbarmherzig eingeweiht, meine
zerrütteten Sinne gefangen gehalten und
mich verhindert, das für ſie und für mich
zu thun, was ich uns beiden ſchuldig war.
Wer weiß, in welchen Zuſtand ich ſie ver¬
ſetzt habe, und erſt nach und nach fällt mir’s
auf's Gewiſſen, in welcher Verzweiflung, in
welcher Hülfloſigkeit ich ſie verließ. War’s
nicht möglich, daß ſie ſich entſchuldigen konn¬
te? War’s nicht möglich? Wieviel Mißver¬
ſtändniſſe können die Welt verwirren, wie¬
viel Umſtände können dem größten Fehler
Vergebung erflehen? — Wie oft denke ich
mir ſie, in der Stille für ſich ſitzend, auf
ihren Ellenbogen geſtützt. — Das iſt, ſagt
ſie, die Treue, die Liebe, die er mir zu¬
ſchwur! Mit dieſem unſanften Schlag das
ſchöne Leben zu endigen, das uns verband! —
Er brach in einen Strom von Thränen aus,
indem er ſich mit dem Geſichte auf den
Tiſch warf, und die übergebliebenen Papiere
benetzte.
Werner ſtand in der größten Verlegen¬
heit dabey. Er hatte ſich dieſes raſche Auf¬
O 2
lodern der Leidenſchaft nicht vermuthet. Et¬
lichemal wollte er ſeinem Freunde in die
Rede fallen, etlichemal das Geſpräch wo an¬
ders hinlenken, vergebens! er widerſtand
dem Strome nicht. Auch hier übernahm die
ausdauernde Freundſchaft wieder ihr Amt.
Er ließ den heftigſten Anfall des Schmer¬
zens vorüber, indem er, durch ſeine ſtille Ge¬
genwart, eine aufrichtige reine Theilnehmung
am beſten ſehen ließ, und ſo blieben ſie die¬
ſen Abend; Wilhelm ins ſtille Nachgefühl
des Schmerzens verſenkt, und der andere
erſchreckt durch den neuen Ausbruch einer
Leidenſchaft, die er lange bemeiſtert und
durch guten Rath und eifriges Zureden über¬
wältigt zu haben glaubte.
Drittes Capitel.
Nach ſolchen Rückfällen pflegte Wilhelm
meiſt nur deſto eifriger ſich den Geſchäften
und der Thätigkeit zu widmen, und es war
der beſte Weg, dem Labyrinthe, das ihn wie¬
der anzulocken ſuchte, zu entfliehen. Seine
gute Art, ſich gegen Fremde zu betragen, ſei¬
ne Leichtigkeit, faſt in allen lebenden Spra¬
chen Correſpondenz zu führen, gaben ſeinem
Vater und deſſen Handelsfreunde immer
mehr Hoffnung, und tröſteten ſie über die
Krankheit, deren Urſache ihnen nicht bekannt
geworden war, und über die Pauſe, die ihren
Plan unterbrochen hatte. Man beſchloß
Wilhelms Abreiſe zum zweytenmal, und wir
finden ihn auf ſeinem Pferde, den Mantel¬
ſack hinter ſich, erheitert durch freye Luft
und Bewegung, dem Gebirge ſich nähern,
wo er einige Aufträge ausrichten ſollte.
Er durchſtrich langſam Thäler und Berge
mit der Empfindung des größten Vergnü¬
gens. Überhangende Felſen, rauſchende Waſ¬
ſerbäche, bewachſene Wände, tiefe Gründe
ſah er hier zum erſtenmal, und doch hatten
ſeine frühſten Jugendträume ſchon in ſolchen
Gegenden geſchwebt. Er fühlte ſich bey die¬
ſem Anblicke wieder verjüngt, alle erduldete
Schmerzen waren aus ſeiner Seele wegge¬
waſchen, und mit völliger Heiterkeit ſagte er
ſich Stellen aus verſchiedenen Gedichten, be¬
ſonders aus dem Paſtor fido vor, die an
dieſen einſamen Plätzen ſchaarenweis ſeinem
Gedächtniſſe zufloſſen. Auch erinnerte er ſich
mancher Stellen aus ſeinen eigenen Liedern,
die er mit einer beſondern Zufriedenheit rezi¬
tirte. Er belebte die Welt, die vor ihm lag,
mit allen Geſtalten der Vergangenheit, und
jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll
Ahndung wichtiger Handlungen und merk¬
würdiger Begebenheiten.
Mehrere Menſchen, die, auf einander fol¬
gend, hinter ihm herkamen, an ihm mit ei¬
nem Gruße vorbeygingen, und den Weg ins
Gebirge, durch ſteile Fußpfade, eilig fortſetz¬
ten, unterbrachen einigemal ſeine ſtille Unter¬
haltung, ohne daß er jedoch aufmerkſam auf
ſie geworden wäre. Endlich geſellte ſich ein
geſprächiger Gefährte zu ihm, und erzählte
die Urſache der ſtarken Pilgerſchaft.
Zu Hochdorf, ſagte er, wird heute Abend
eine Comödie gegeben, wozu ſich die ganze
Nachbarſchaft verſammlet.
Wie, rief Wilhelm, in dieſen einſamen
Gebirgen, zwiſchen dieſen undurchdringlichen
Wäldern hat die Schauſpielkunſt einen Weg
gefunden, und ſich einen Tempel aufgebaut?
und ich muß zu ihrem Feſte wallfahrten?
Sie werden ſich noch mehr wundern, ſag¬
te der andere, wenn Sie hören, durch wen
das Stück aufgeführt wird. Es iſt eine
große Fabrik in dem Orte, die viel Leute
ernährt. Der Unternehmer, der ſo zu ſagen
von aller menſchlichen Geſellſchaft entfernt
lebt, weiß ſeine Arbeiter im Winter nicht
beſſer zu beſchäftigen, als daß er ſie veran¬
laßt hat, Comödie zu ſpielen. Er leidet kei¬
ne Karten unter ihnen, und wünſcht ſie auch
ſonſt von rohen Sitten abzuhalten. So
bringen ſie die langen Abende zu, und heu¬
te, da des Alten Geburtstag iſt, geben ſie
ihm zu Ehren eine beſondere Feſtlichkeit.
Wilhelm kam zu Hochdorf an, wo er
übernachten ſollte, und ſtieg bey der Fabrik
ab, deren Unternehmer auch als Schuldner
auf ſeiner Liſte ſtand.
Als er ſeinen Nahmen nannte, rief der
Alte verwundert aus: ey, mein Herr, ſind
Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich
ſo viel Dank und bis jetzt noch Geld ſchul¬
dig bin? Ihr Herr Vater hat ſo viel Ge¬
duld mit mir gehabt, daß ich ein Böſewicht
ſeyn müßte, wenn ich nicht eilig und fröhlich
bezahlte. Sie kommen eben zur rechten Zeit,
um zu ſehen, daß es mir Ernſt iſt.
Er rief ſeine Frau herbey, welche eben ſo
erfreut war, den jungen Mann zu ſehen; ſie
verſicherte, daß er ſeinem Vater gleiche, und
bedauerte, daß ſie ihn wegen der vielen
Fremden die Nacht nicht beherbergen könne.
Das Geſchäft war klar und bald berich¬
tigt, Wilhelm ſteckte ein Röllchen Gold in
die Taſche, und wünſchte, daß ſeine übrigen
Geſchäfte auch ſo leicht gehen möchten.
Die Stunde des Schauſpiels kam heran,
man erwartete nur noch den Oberforſtmeiſter,
der endlich auch anlangte, mit einigen Jä¬
gern eintrat, und mit der größten Verehrung
empfangen wurde.
Die Geſellſchaft wurde nunmehr ins
Schauſpielhaus geführt, wozu man eine
Scheune eingerichtet hatte, die gleich am
Garten lag. Haus und Theater waren,
ohne ſonderlichen Geſchmack, munter und ar¬
tig genug angelegt. Einer von den Mah¬
lern, die auf der Fabrik arbeiteten, hatte bey
dem Theater in der Reſidenz gehandlangt,
und hatte nun Wald, Straße und Zimmer,
freylich etwas roh, hingeſtellt. Das Stück
hatten ſie von einer herumziehenden Truppe
geborgt, und nach ihrer eigenen Weiſe zu¬
recht geſchnitten. So wie es war, unterhielt
es. Die Intrigue, daß zwey Liebhaber ein
Mädchen ihrem Vormunde und wechſelsweiſe
ſich ſelbſt entreiſſen wollen, brachte allerley
intereſſante Situationen hervor. Es war
das erſte Stück, das unſer Freund nach ei¬
ner ſo langen Zeit wieder ſah; er machte
mancherley Betrachtungen; es war voller
Handlung, aber ohne Schilderung wahrer
Charactere. Es gefiel und ergötzte. So ſind
die Anfänge aller Schauſpielkunſt. Der rohe
Menſch iſt zufrieden, wenn er nur etwas
vorgehen ſieht: der gebildete will empfinden,
und Nachdenken iſt nur dem ganz ausgebil¬
deten angenehm.
Den Schauſpielern hätte er hie und da
gerne nachgeholfen; denn es fehlte nur we¬
nig, ſo hätten ſie um vieles beſſer ſeyn
können.
In ſeinen ſtillen Betrachtungen ſtörte ihn
der Tabacksdampf, der immer ſtärker und
ſtärker wurde. Der Oberforſtmeiſter hatte
bald nach Anfang des Stücks ſeine Pfeife
angezündet, und nach und nach nahmen ſich
mehrere dieſe Freyheit heraus. Auch mach¬
ten die großen Hunde dieſes Herrn ſchlimme
Auftritte. Man hatte ſie zwar ausgeſperrt;
allein ſie fanden bald den Weg zur Hinter¬
thüre herein, liefen auf das Theater, rann¬
ten wider die Acteurs, und geſellten ſich end¬
lich durch einen Sprung über das Orcheſter
zu ihrem Herrn, der den erſten Platz im
Parterr eingenommen hatte.
Zum Nachſpiel ward ein Opfer darge¬
bracht. Ein Portrait, das den Alten in ſei¬
nem Bräutigamskleide vorſtellte, ſtand auf
einem Altar mit Kränzen behangen. Alle
Schauſpieler huldigten ihm in demuthsvollen
Stellungen. Das jüngſte Kind trat, weiß
gekleidet, hervor, und hielt eine Rede in
Verſen, wodurch die ganze Familie und ſo¬
gar der Oberforſtmeiſter, der ſich dabey an
ſeine Kinder erinnerte, zu Thränen bewegt
wurde. So endigte ſich das Stück, und
Wilhelm konnte nicht umhin, das Theater
zu beſteigen, die Actricen in der Nähe zu
beſehen, ſie wegen ihres Spiels zu loben,
und ihnen auf die Zukunft einigen Rath zu
geben.
Die übrigen Geſchäfte unſers Freundes,
die er nach und nach in größeren und klei¬
neren Gebirgsorten verrichtete, liefen nicht
alle ſo glücklich, noch ſo vergnügt ab. Man¬
che Schuldner baten um Aufſchub, manche
waren unhöflich, manche leugneten. Nach
ſeinem Auftrage ſollte er einige verklagen;
er mußte einen Advokaten aufſuchen, dieſen
inſtruiren, ſich vor Gericht ſtellen, und was
dergleichen verdrießliche Geſchäfte noch mehr
waren.
Eben ſo ſchlimm erging es ihm, wenn
man ihm eine Ehre erzeigen wollte. Nur
wenig Leute fand er, die ihn einigermaßen
unterrichten konnten; wenige, mit denen er
in ein nützliches Handelsverhältniß zu kom¬
men hofte. Da nun auch unglücklicherweiſe
Regentage einfielen, und eine Reiſe zu Pferd
in dieſen Gegenden mit unerträglichen Be¬
ſchwerden verknüpft war; ſo dankte er dem
Himmel, als er ſich dem flachen Lande wie¬
der näherte, und am Fuße des Gebirges, in
einer ſchönen und fruchtbaren Ebene, an ei¬
nem ſanften Fluſſe, im Sonnenſcheine, ein
heiteres Landſtädtchen liegen ſah, in welchem
er zwar keine Geſchäfte hatte, aber eben des¬
wegen ſich entſchloß, ein Paar Tage daſelbſt
zu verweilen, um ſich und ſeinem Pferde,
das von dem ſchlimmen Wege ſehr gelitten
hatte, einige Erholung zu verſchaffen.
Viertes Capitel.
Als er in einem Wirthshauſe auf dem Mark¬
te abtrat, ging es darin ſehr luſtig, wenig¬
ſtens ſehr lebhaft zu. Eine große Geſell¬
ſchaft Seiltänzer, Springer und Gaukler, die
einen ſtarken Mann bey ſich hatten, waren
mit Weib und Kindern eingezogen, und mach¬
ten, indem ſie ſich auf eine öffentliche Er¬
ſcheinung bereiteten, einen Unfug über den
andern. Bald ſtritten ſie mit dem Wirthe,
bald unter ſich ſelbſt, und wenn ihr Zank
unleidlich war, ſo waren die Äuſſerungen
ihres Vergnügens ganz und gar unerträglich.
Unſchlüſſig, ob er gehen oder bleiben ſollte,
ſtand er unter dem Thore, und ſah den Ar¬
beitern zu, die auf dem Platze ein Gerüſt
aufzuſchlagen anfingen.
Ein Mädchen, das Roſen und andere
Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb dar,
und er kaufte ſich einen ſchönen Strauß, den
er mit Liebhaberey anders band und mit
Zufriedenheit betrachtete, als das Fenſter ei¬
nes, an der Seite des Platzes ſtehenden, an¬
dern Gaſthauſes ſich aufthat, und ein wohl¬
gebildetes Frauenzimmer ſich an demſelben
zeigte. Er konnte ohngeachtet der Entfer¬
nung bemerken, daß eine angenehme Heiter¬
keit ihr Geſicht belebte. Ihre blonden Haare
fielen nachläſſig aufgelößt um ihren Nacken,
ſie ſchien ſich nach dem Fremden umzuſehen.
Einige Zeit darauf trat ein junger Menſch,
der eine Friſirſchürze umgegürtet, und ein
weißes Jäckchen an hatte, aus der Thüre
jenes Hauſes, ging auf Wilhelmen los, be¬
grüßte ihn und ſagte, das Frauenzimmer am
Fenſter läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht
einen Theil der ſchönen Blumen abtreten
wol¬
wollen? — Sie ſtehn ihr alle zu Dienſten,
verſetzte Wilhelm, indem er dem leichten Bo¬
ten das Bouquet überreichte, und zugleich
der Schönen ein Kompliment machte, wel¬
ches ſie mit einem freundlichen Gegengruß
erwiederte, und ſich vom Fenſter zurückzog.
Nachdenkend über dieſes artige Aben¬
theuer ging er nach ſeinem Zimmer die Trep¬
pe hinauf, als ein junges Geſchöpf ihm ent¬
gegen ſprang, das ſeine Aufmerkſamkeit auf
ſich zog. Ein kurzes ſeidnes Weſtchen mit
geſchlitzten ſpaniſchen Ermeln, knappe, lange
Beinkleider mit Puffen ſtanden dem Kinde
gar artig. Lange ſchwarze Haare waren in
Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuſelt
und gewunden. Er ſah die Geſtalt mit Ver¬
wunderung an, und konnte nicht mit ſich ei¬
nig werden, ob er ſie für einen Knaben oder
für ein Mädchen erklären ſollte. Doch ent¬
ſchied er ſich bald für das letzte, und hielt
W. Meiſters Lehrj. P
ſie auf, da ſie bey ihm vorbey kam, bot ihr
einen guten Tag, und fragte ſie, wem ſie
angehöre? ob er ſchon leicht ſehen konnte,
daß ſie ein Glied der ſpringenden und tan¬
zenden Geſellſchaft ſeyn müſſe. Mit einem
ſcharfen, ſchwarzen Seitenblick ſah ſie ihn
an, indem ſie ſich von ihm losmachte, und
in die Küche lief, ohne zu antworten.
Als er die Treppe hinauf kam, fand er
auf dem weiten Vorſaale zwey Mannsper¬
ſonen, die ſich im Fechten übten, oder viel¬
mehr ihre Geſchicklichkeit an einander zu ver¬
ſuchen ſchienen. Der eine war offenbar von
der Geſellſchaft, die ſich im Hauſe befand,
der andere hatte ein weniger wildes Anſehn.
Wilhelm ſah ihnen zu, und hatte Urſache, ſie
beide zu bewundern, und als nicht lange dar¬
auf der ſchwarzbärtige nervige Streiter den
Kampfplatz verließ, bot der andere, mit vie¬
ler Artigkeit, Wilhelmen das Rappier an.
Wenn Sie einen Schüler, verſetzte dieſer,
in die Lehre nehmen wollen, ſo bin ich wohl
zufrieden, mit Ihnen einige Gänge zu wa¬
gen. Sie fochten zuſammen, und obgleich
der Fremde dem Ankömmling weit überlegen
war, ſo war er doch höflich genug zu verſi¬
chern, daß alles nur auf Übung ankomme,
und wirklich hatte Wilhelm auch gezeigt,
daß er früher von einem guten und gründli¬
chen deutſchen Fechtmeiſter unterrichtet wor¬
den war.
Ihre Unterhaltung ward durch das Ge¬
töſe unterbrochen, mit welchem die bunte Ge¬
ſellſchaft aus dem Wirthshauſe auszog, um
die Stadt von ihrem Schauſpiel zu benach¬
richtigen, und auf ihre Künſte begierig zu
machen. Einem Tambour folgte der Entre¬
preneur zu Pferde, hinter ihm eine Tänzerin
auf einem ähnlichen Gerippe, die ein Kind
vor ſich hielt, das mit Bändern und Flin¬
P 2
tern wohl herausgeputzt war. Darauf kam
die übrige Truppe zu Fuß, wovon einige auf
ihren Schultern Kinder, in abentheuerlichen
Stellungen, leicht und bequem daher trugen,
unter denen die junge, ſchwarzköpfige, düſtere
Geſtalt Wilhelms Aufmerkſamkeit aufs neue
erregte.
Pagliaſſo lief unter der andringenden
Menge drollig hin und her, und theilte mit
ſehr begreiflichen Späßen, indem er bald ein
Mädchen küßte, bald einen Knaben pritſchte,
ſeine Zettel aus, und erweckte unter dem
Volke eine unüberwindliche Begierde, ihn nä¬
her kennen zu lernen.
In den gedruckten Anzeigen waren die
mannichfaltigen Künſte der Geſellſchaft, be¬
ſonders eines Monſieur Narciß und der
Demoiſelle Landrinette herausgeſtrichen, wel¬
che beide, als Hauptperſonen, die Klugheit
gehabt hatten, ſich von dem Zuge zu ent¬
halten, ſich dadurch ein vornehmeres Anſehn
zu geben, und größre Neugier zu erwecken.
Während des Zuges hatte ſich auch die
ſchöne Nachbarin wieder am Fenſter ſehen
laſſen, und Wilhelm hatte nicht verfehlt, ſich
bey ſeinem Geſellſchafter nach ihr zu erkun¬
digen. Dieſer, den wir einſtweilen Laertes
nennen wollen, erbot ſich, Wilhelmen zu ihr
hinüber zu begleiten. Ich und das Frauen¬
zimmer, ſagte er lächelnd, ſind ein paar
Trümmer einer Schauſpielergeſellſchaft, die
vor kurzem hier ſcheiterte. Die Anmuth des
Orts hat uns bewogen, einige Zeit hier zu
bleiben, und unſre wenige geſammelte Baar¬
ſchaft in Ruhe zu verzehren, indeß ein
Freund ausgezogen iſt, ein Unterkommen für
ſich und uns zu ſuchen.
Laertes begleitete ſogleich ſeinen neuen
Bekannten zu Philinens Thüre, wo er ihn
einen Augenblick ſtehen ließ, um in einem
benachbarten Laden Zuckerwerk zu holen.
Sie werden mir es gewiß danken, ſagte er,
indem er zurück kam, daß ich Ihnen dieſe
artige Bekanntſchaft verſchaffe.
Das Frauenzimmer kam ihnen auf ein
paar leichten Pantöffelchen mit hohen Ab¬
ſätzen aus der Stube entgegen getreten. Sie
hatte eine ſchwarze Mantille über ein weißes
Negligee geworfen, das, eben weil es nicht
ganz reinlich war, ihr ein häusliches und
bequemes Anſehn gab; ihr kurzes Röckchen
ließ die niedlichſten Füße von der Welt
ſehen.
Seyn Sie mir willkommen! rief ſie Wil¬
helmen zu, und nehmen Sie meinen Dank
für die ſchönen Blumen. Sie führte ihn
mit der einen Hand ins Zimmer, indem ſie
mit der andern den Strauß an die Bruſt
drückte. Als ſie ſich niedergeſetzt hatten, und
in gleichgültigen Geſprächen begriffen waren,
denen ſie eine reizende Wendung zu geben
wußte, ſchüttete ihr Laertes gebrannte Man¬
deln in den Schooß, von denen ſie ſogleich
zu naſchen anfing. Sehn Sie, welch ein
Kind dieſer junge Menſch iſt! rief ſie aus,
er wird Sie überreden wollen, daß ich eine
große Freundin von ſolchen Näſchereyen ſey,
und er iſt’s, der nicht leben kann, ohne ir¬
gend etwas Leckeres zu genießen.
Laſſen Sie uns nur geſtehn, verſetzte
Laertes, daß wir hierin, wie in mehrerem,
einander gern Geſellſchaft leiſten. Zum Bey¬
ſpiel, ſagte er, es iſt heute ein ſehr ſchöner
Tag, ich dächte wir führen ſpatzieren und
nähmen unſer Mittagsmahl auf der Müh¬
le. — Recht gern, ſagte Philine, wir müſſen
unſerm neuen Bekannten eine kleine Verän¬
derung machen. Laertes ſprang fort, denn
er ging niemals, und Wilhelm wollte einen
Augenblick nach Hauſe, um ſeine Haare, die
von der Reiſe noch verworren ausſahen, in
Ordnung bringen zu laſſen. Das können
Sie hier, ſagte ſie, rief ihren kleinen Diener,
nöthigte Wilhelmen auf die artigſte Weiſe,
ſeinen Rock auszuziehn, ihren Pudermantel
anzulegen, und ſich in ihrer Gegenwart fri¬
ſiren zu laſſen. Man muß ja keine Zeit
verſäumen, ſagte ſie, man weiß nicht, wie
lange man beyſammen bleibt.
Der Knabe, mehr trotzig und unwillig
als ungeſchickt, benahm ſich nicht zum Be¬
ſten, raufte Wilhelmen, und ſchien ſo bald
nicht fertig werden zu wollen. Philine ver¬
wies ihm einigemal ſeine Unart, ſtieß ihn
endlich ungeduldig hinweg, und jagte ihn
zur Thüre hinaus. Nun übernahm ſie ſelbſt
die Bemühung, und kräuſelte die Haare
unſers Freundes mit großer Leichtigkeit
und Zierlichkeit, ob ſie gleich auch nicht zu
eilen ſchien, und bald dieſes bald jenes an
ihrer Arbeit auszuſetzen hatte, indem ſie nicht
vermeiden konnte mit ihren Knieen die ſeini¬
gen zu berühren, und Strauß und Buſen ſo
nahe an ſeine Lippen zu bringen, daß er
mehr als einmal in Verſuchung geſetzt ward,
einen Kuß darauf zu drücken.
Als Wilhelm mit einem kleinen Puder¬
meſſer ſeine Stirne gereinigt hatte, ſagte ſie
zu ihm: ſtecken Sie es ein, und gedenken
Sie meiner dabey. Es war ein artiges Meſ¬
ſer; der Griff von eingelegten Stahl zeigte
die freundlichen Worte: gedenkt mein.
Wilhelm ſteckte es zu ſich, dankte ihr, und
bat um die Erlaubniß, ihr ein kleines Ge¬
gengeſchenk machen zu dürfen.
Nun war man fertig geworden. Laertes
hatte die Kutſche gebracht, und nun begann
eine ſehr luſtige Fahrt. Philine warf jedem
Armen, der ſie anbettelte, etwas zum Schla¬
ge hinaus, indem ſie ihm zugleich ein mun¬
teres und freundliches Wort zurief.
Sie waren kaum auf der Mühle ange¬
kommen, und hatten ein Eſſen beſtellt, als
eine Muſik vor dem Hauſe ſich hören ließ.
Es waren Bergleute, die, zu Zitter und Tri¬
angel, mit lebhaften und grellen Stimmen,
verſchiedene artige Lieder vortrugen. Es
dauerte nicht lange, ſo hatte eine herbeyſtrö¬
mende Menge einen Kreis um ſie geſchloſſen,
und die Geſellſchaft nickte ihnen ihren Bey¬
fall aus den Fenſtern zu. Als ſie dieſe Auf¬
merkſamkeit geſehen, erweiterten ſie ihren
Kreis, und ſchienen ſich zu ihren wichtigſten
Stückchen vorzubereiten. Nach einer Pauſe
trat ein Bergmann mit einer Hacke hervor,
und ſtellte, indeß die andern eine ernſthafte
Melodie ſpielten, die Handlung des Schür¬
fens vor.
Es währte nicht lange, ſo trat ein Bauer
aus der Menge, und gab jenem pantomi¬
miſch drohend zu verſtehen, daß er ſich von
hier hinwegbegeben ſolle. Die Geſellſchaft
war darüber verwundert, und erkannte erſt
den, in einen Bauer verkleideten, Bergmann,
als er den Mund aufthat, und in einer Art
von Rezitativ den andern ſchalt, daß er
wage, auf ſeinem Acker zu handthieren. Je¬
ner kam nicht aus der Faſſung, ſondern fing
an, den Landmann zu belehren, daß er
Recht habe hier einzuſchlagen, und gab ihm
dabey die erſten Begriffe vom Bergbau.
Der Bauer, der die fremde Terminologie
nicht verſtand, that allerley alberne Fragen,
worüber die Zuſchauer, die ſich klüger fühl¬
ten, ein herzliches Gelächter aufſchlugen.
Der Bergmann ſuchte ihn zu rectificiren,
und bewies ihm den Vortheil, der zuletzt
auch auf ihn fließe, wenn die unterirrdiſchen
Schätze des Landes herausgewühlt würden.
Der Bauer, der jenem zuerſt mit Schlägen
gedroht hatte, ließ ſich nach und nach be¬
ſänftigen, und ſie ſchieden als gute Freunde
von einander; beſonders aber zog ſich der
Bergmann auf die honorabelſte Art aus die¬
ſem Streite.
Wir haben, ſagte Wilhelm bey Tiſche,
an dieſem kleinen Dialog das lebhafteſte
Beyſpiel, wie nützlich allen Ständen das
Theater ſeyn könnte, wie vielen Vortheil der
Staat ſelbſt daraus ziehen müßte, wenn
man die Handlungen, Gewerbe und Unter¬
nehmungen der Menſchen von ihrer guten,
lobenswürdigen Seite und in dem Geſichts¬
punkte auf das Theater brächte, aus wel¬
chem ſie der Staat ſelbſt ehren und ſchützen
muß. Jetzt ſtellen wir nur die lächerliche
Seite der Menſchen dar; der Luſtſpieldichter
iſt gleichſam nur ein hämiſcher Controlleur,
der auf die Fehler ſeiner Mitbürger überall
ein wachſames Auge hat, und froh zu ſeyn
ſcheint, wenn er ihnen eins anhängen kann.
Sollte es nicht eine angenehme und würdige
Arbeit für einen Staatsmann ſeyn, den na¬
türlichen, wechſelſeitigen Einfluß aller Stän¬
de zu überſchauen, und einen Dichter, der
Humor genug hätte, bey ſeinen Arbeiten zu
leiten? Ich bin überzeugt, es könnten auf
dieſem Wege manche ſehr unterhaltende, zu¬
gleich nützliche und luſtige Stücke erſonnen
werden.
So viel ich, ſagte Laertes, überall wo ich
herumgeſchwärmt bin, habe bemerken kön¬
nen, weiß man nur zu verbieten, zu hindern
und abzulehnen; ſelten aber zu gebieten, zu
befördern und zu belohnen. Man läßt alles
in der Welt gehn, bis es ſchädlich wird, dann
zürnt man und ſchlägt drein.
Laßt mir den Staat und die Staatsleute
weg, ſagte Philine, ich kann mir ſie nicht
anders als in Perücken vorſtellen, und eine
Perücke, es mag ſie aufhaben wer da will
erregt in meinen Fingern eine krampfhafte
Bewegung; ich möchte ſie gleich dem ehr¬
würdigen Herrn herunter nehmen, in der
Stube herumſpringen und den Kahlkopf aus¬
lachen.
Mit einigen lebhaften Geſängen, welche
ſie ſehr ſchön vortrug, ſchnitt Philine das
Geſpräch ab, und trieb zu einer ſchnellen
Rückfahrt, damit man die Künſte der Seil¬
tänzer am Abende zu ſehen nicht verſäumen
möchte. Drollig bis zur Ausgelaſſenheit,
ſetzte ſie ihre Freygebigkeit gegen die Armen
auf dem Heimwege fort, indem ſie zuletzt,
da ihr und ihren Reiſegefährten das Geld
ausging, einem Mädchen ihren Strohhut
und einem alten Weibe ihr Halstuch zum
Schlage hinaus warf.
Philine lud beide Begleiter zu ſich in
ihre Wohnung, weil man, wie ſie ſagte,
aus ihren Fenſtern das öffentliche Schauſpiel
beſſer als im andern Wirthshauſe ſehen
könne.
Als ſie ankamen, fanden ſie das Gerüſt
aufgeſchlagen, und den Hintergrund mit auf¬
gehängten Teppichen geziert. Die Schwung¬
breter waren ſchon gelegt, das Schlappſeil
an die Pfoſten befeſtigt, und das ſtraffe
Seil über die Böcke gezogen. Der Platz
war ziemlich mit Volk gefüllt, und die Fen¬
ſter mit Zuſchauern einiger Art beſetzt.
Pagliaß bereitete erſt die Verſammlung
mit einigen Albernheiten, worüber die Zu¬
ſchauer immer zu lachen pflegen, zur Auf¬
merkſamkeit und guten Laune vor. Einige
Kinder, deren Körper die ſeltſamſten Verren¬
kungen darſtellten, erregten bald Verwunde¬
rung, bald Grauſen, und Wilhelm konnte
ſich des tiefen Mitleidens nicht enthalten,
als er das Kind, an dem er beym erſten
Anblicke Theil genommen, mit einiger Mühe,
die ſonderbaren Stellungen hervorbringen
ſah. Doch bald erregten die luſtigen Sprin¬
ger ein lebhaftes Vergnügen, wenn ſie erſt
einzeln, dann hinter einander und zuletzt alle
zuſammen ſich vorwärts und rückwärts in
der Luft überſchlugen. Ein lautes Hände¬
klatſchen und Jauchzen erſcholl aus der gan¬
zen Verſammlung.
Nun aber ward die Aufmerkſamkeit auf
einen andern Gegenſtand gewendet. Die
Kinder, eins nach dem andern, mußten das
Seil betreten, und zwar die Lehrlinge zuerſt,
damit ſie durch ihre Übungen das Schauſpiel
verlängerten, und die Schwierigkeit der Kunſt
ins Licht ſetzten. Es zeigten ſich auch einige
Männer und erwachſene Frauensperſonen
mit ziemlicher Geſchicklichkeit; allein es war
noch nicht Monſieur Narciß, noch nicht De¬
moiſelle Landrinette.
Endlich traten auch dieſe aus einer Art
von
von Zelt, hinter aufgeſpannten rothen Vor¬
hängen hervor, und erfüllten durch ihre an¬
genehme Geſtalt und zierlichen Putz die bis¬
her glücklich genährte Hoffnung der Zu¬
ſchauer. Er, ein munteres Bürſchchen von
mittlerer Größe, ſchwarzen Augen und einem
ſtarken Haarzopf; ſie, nicht weniger niedlich
doch ſtark gebildet; beide zeigten ſich nach
einander auf dem Seile mit leichten Bewe¬
gungen, Sprüngen und ſeltſamen Poſituren.
Ihre Leichtigkeit, ſeine Verwegenheit, die
Genauigkeit, womit beide ihre Kunſtſtücke
ausführten, erhöhten mit jedem Schritt und
Sprung das allgemeine Vergnügen. Der
Anſtand, womit ſie ſich betrugen, die anſchei¬
nende Bemühungen der andern um ſie, ga¬
ben ihnen das Anſehn, als wenn ſie Herr
und Meiſter der ganzen Truppe wären, und
jedermann hielt ſie des Ranges werth.
Die Begeiſterung des Volks theilte ſich
W. Meiſters Lehrj. Q
den Zuſchauern an den Fenſtern mit, die
Damen ſahen unverwandt nach Narciſſen,
die Herrn nach Landrinetten. Das Volk
jauchzte, und das feinere Publikum enthielt
ſich nicht des Klatſchens, kaum daß man
noch über Pagliaſſen lachte. Wenige nur
ſchlichen ſich weg, als einige von der Truppe,
um Geld zu ſammlen, ſich mit zinnernen
Tellern durch die Menge drängten.
Sie haben ihre Sache, dünkt mich, gut
gemacht, ſagte Wilhelm zu Philinen, die bey
ihm am Fenſter lag, ich bewundere ihren
Verſtand, womit ſie auch geringe Kunſtſtück¬
chen, nach und nach und zur rechten Zeit an¬
gebracht, gelten zu machen wußten, und wie
ſie aus der Ungeſchicklichkeit ihrer Kinder und
aus der Virtuoſität ihrer Beſten ein Ganzes
zuſammen arbeiteten, das erſt unſre Aufmerk¬
ſamkeit erregte, und dann uns auf das an¬
genehmſte unterhielt.
Das Volk hatte ſich nach und nach ver¬
laufen, und der Platz war leer geworden,
indeß Philine und Laertes über die Geſtalt
und die Geſchicklichkeit Narciſſens und Lan¬
drinettens in Streit geriethen, und ſich wech¬
ſelsweiſe neckten. Wilhelm ſah das wunder¬
bare Kind auf der Straße bey andern ſpie¬
lenden Kindern ſtehen, machte Philinen dar¬
auf aufmerkſam, die ſogleich, nach ihrer leb¬
haften Art, dem Kinde rief und winkte, und
da es nicht kommen wollte, ſingend die
Treppe hinunter klapperte und es herauf¬
führte.
Hier iſt das Räthſel, rief ſie, als ſie das
Kind zur Thüre herein zog. Es blieb am
Eingange ſtehen, eben als wenn es gleich
wieder hinaus ſchlüpfen wollte, legte die
rechte Hand vor die Bruſt, die linke vor die
Stirn, und bückte ſich tief. Fürchte dich
nicht, liebe Kleine, ſagte Wilhelm, indem er
Q 2
auf ſie los ging. Sie ſah ihn mit unſicherm
Blick an, und trat einige Schritte näher.
Wie nennſt du dich? fragte er. — Sie
heißen mich Mignon. — Wie viel Jahre
haſt du? — Es hat ſie niemand gezählt. —
Wer war dein Vater? — Der große Teufel
iſt todt. —
Nun das iſt wunderlich genug! rief Phi¬
line aus. Man fragte ſie noch einiges; ſie
brachte ihre Antworten in einem gebrochnen
Deutſch und mit einer ſonderbar feyerlichen
Art vor, dabey legte ſie jedesmal die Hände
an Bruſt und Haupt, und neigte ſich tief.
Wilhelm konnte ſie nicht genug anſehen.
Seine Augen und ſein Herz wurden unwi¬
derſtehlich von dem geheimnißvollen Zuſtan¬
de dieſes Weſens angezogen. Er ſchätzte ſie
zwölf bis dreyzehn Jahre; ihr Körper war
gut gebaut, nur daß ihre Glieder einen ſtär¬
kern Wuchs verſprachen, oder einen zurück¬
gehaltenen ankündigten. Ihre Bildung war
nicht regelmäßig aber auffallend; ihre Stirne
geheimnißvoll, ihre Naſe auſſerordentlich
ſchön, und der Mund, ob er ſchon für ihr
Alter zu ſehr geſchloſſen ſchien, und ſie manch¬
mal mit den Lippen nach einer Seite zuckte,
noch immer treuherzig und reizend genug.
Ihre bräunliche Geſichtsfarbe konnte man
durch die Schminke kaum erkennen. Dieſe
Geſtalt prägte ſich Wilhelmen ſehr tief ein;
er ſah ſie noch immer an, ſchwieg und ver¬
gaß der Gegenwärtigen über ſeinen Betrach¬
tungen. Philine weckte ihn aus ſeinem Halb¬
traume, indem ſie dem Kinde etwas übrigge¬
bliebenes Zuckerwerk reichte, und ihm ein
Zeichen gab, ſich zu entfernen. Es machte
ſeinen Bückling, wie oben, und fuhr blitz¬
ſchnell zur Thüre hinaus.
Die Zeit kam nunmehr herbey, daß unſe¬
re neue Bekannten ſich für dieſen Abend
trennen ſollten, und redeten vorher noch eine
Spatzierfahrt auf den morgenden Tag ab.
Sie wollten abermals an einem andern Orte,
auf einem benachbarten Jägerhauſe, ihr Mit¬
tagsmahl einnehmen. Wilhelm ſprach dieſen
Abend noch manches zu Philinens Lobe, wor¬
auf Laertes nur kurz und leichtſinnig ant¬
wortete.
Den andern Morgen, als ſie ſich aber¬
mals eine Stunde im Fechten geübt hatten,
gingen ſie nach Philinens Gaſthofe, vor wel¬
chem ſie die beſtellte Kutſche ſchon hatten an¬
fahren ſehen. Aber wie verwundert war
Wilhelm, als die Kutſche verſchwunden, und
wie noch mehr, als Philine nicht zu Hauſe,
anzutreffen war. Sie hatte ſich, ſo erzählte
man, mit ein paar Fremden, die dieſen Mor¬
gen angekommen waren, in den Wagen ge¬
ſetzt, und war mit ihnen davon gefahren.
Unſer Freund, der ſich in ihrer Geſellſchaft
eine angenehme Unterhaltung verſprochen
hatte, konnte ſeinen Verdruß nicht verbergen.
Dagegen lachte Laertes, und rief: ſo gefällt
ſie mir! das ſieht ihr ganz ähnlich! Laſſen
Sie uns nur gerade nach dem Jagdhauſe
gehen, ſie mag ſeyn, wo ſie will, wir wollen
ihretwegen unſere Promenade nicht ver¬
ſäumen.
Als Wilhelm unterweges dieſe Inconſe¬
quenz des Betragens zu tadeln fortfuhr, ſag¬
te Laertes: ich kann nicht inconſequent fin¬
den, wenn jemand ſeinem Character treu
bleibt. Wenn ſie ſich etwas vornimmt oder
jemanden etwas verſpricht, ſo geſchieht es
nur unter der ſtillſchweigenden Bedingung,
daß es ihr auch bequem ſeyn werde, den
Vorſatz auszuführen oder ihr Verſprechen zu
halten. Sie verſchenkt gern, aber man muß
immer bereit ſeyn, ihr das Geſchenkte wieder
zu geben.
Dieß iſt ein ſeltſamer Character, verſetzte
Nichts weniger als ſeltſam, nur daß ſie
keine Heuchlerin iſt. Ich liebe ſie deswegen,
ja ich bin ihr Freund, weil ſie mir das Ge¬
ſchlecht ſo rein darſtellt, das ich zu haſſen ſo
viel Urſache habe. Sie iſt mir die wahre
Eva, die Stammmutter des weiblichen Ge¬
ſchlechts; ſo ſind alle, nur wollen ſie es nicht
Wort haben.
Unter mancherley Geſprächen, in welchen
Laertes ſeinen Haß gegen das weibliche Ge¬
ſchlecht ſehr lebhaft ausdruckte, ohne jedoch
die Urſache davon anzugeben, waren ſie in
den Wald gekommen, in welchen Wilhelm
ſehr verſtimmt eintrat, weil die Äuſſerungen
des Laertes ihm die Erinnerung an ſein Ver¬
hältniß zu Marianen wieder lebendig ge¬
macht hatten. Sie fanden nicht weit von
einer beſchatteten Quelle, unter herrlichen al¬
ten Bäumen, Philinen allein, an einem ſtei¬
nernen Tiſche, ſitzen. Sie ſang ihnen ein
luſtiges Liedchen entgegen, und als Laertes
nach ihrer Geſellſchaft fragte, rief ſie aus:
ich habe ſie ſchön angeführt, ich habe ſie
zum Beſten gehabt, wie ſie es verdienten.
Schon unterwegs ſetzte ich ihre Freygebigkeit
auf die Probe, und da ich bemerkte, daß ſie
von den kargen Näſchern waren, nahm ich
mir gleich vor, ſie zu beſtrafen. Nach unſrer
Ankunft fragten ſie den Kellner, was zu ha¬
ben ſey? der mit der gewöhnlichen Geläufig¬
keit ſeiner Zunge alles, was da war, und
mehr als da war, hererzählte. Ich ſah ihre
Verlegenheit, ſie blickten einander an, ſtot¬
terten, und fragten nach dem Preiſe. Was
bedenken Sie ſich lange, rief ich aus, die
Tafel iſt das Geſchäft eines Frauenzimmers,
laſſen Sie mich dafür ſorgen. Ich fing dar¬
auf an, ein unſinniges Mittagmahl zu be¬
ſtellen, wozu noch manches durch Boten aus
der Nachbarſchaft geholt werden ſollte. Der
Kellner, den ich durch ein paar ſchiefe Mäu¬
ler zum Vertrauten gemacht hatte, half mir
endlich, und ſo haben wir ſie durch die Vor¬
ſtellung eines herrlichen Gaſtmahls dergeſtalt
geängſtigt, daß ſie ſich kurz und gut zu ei¬
nem Spatziergange in den Wald entſchloſ¬
ſen, von dem ſie wohl ſchwerlich zurück kom¬
men werden. Ich habe eine Viertelſtunde
auf meine eigene Hand gelacht, und werde
lachen, ſo oft ich an die Geſichter denke.
Bey Tiſche erinnerte ſie Laertes an ähnliche
Fälle; ſie kamen in den Gang, luſtige Ge¬
ſchichten, Mißverſtändniſſe und Prellereyen
zu erzählen.
Ein junger Mann, von ihrer Bekannt¬
ſchaft aus der Stadt, kam mit einem Buche
durch den Wald geſchlichen, ſetzte ſich zu
ihnen, und rühmte den ſchönen Platz. Er
machte ſie auf das Rieſeln der Quelle, auf
die Bewegung der Zweige, auf die einfallen¬
den Lichter und auf den Geſang der Vögel
aufmerkſam. Philine ſang ein Liedchen vom
Kuckuk, welches dem Ankömmling nicht zu
behagen ſchien; er empfahl ſich bald.
Wenn ich nur nichts mehr von Natur
und Naturſcenen hören ſollte, rief Philine
aus, als er weg war, es iſt nichts unerträg¬
licher, als ſich das Vergnügen vorrechnen zu
laſſen, das man genießt. Wenn ſchön Wet¬
ter iſt, geht man ſpatzieren, wie man tanzt,
wenn aufgeſpielt wird. Wer mag aber nur
einen Augenblick an die Muſik, wer an’s
ſchöne Wetter denken? Der Tänzer intereſ¬
ſirt uns, nicht die Violine, und in ein paar
ſchöne ſchwarze Augen zu ſehen, thut einem
paar blauen Augen gar zu wohl. Was ſol¬
len dagegen Quellen und Brunnen, und alte
morſche Linden! Sie ſah, indem ſie ſo ſprach,
Wilhelmen, der ihr gegenüber ſaß, mit ei¬
nem Blick in die Augen, dem er nicht weh¬
ren konnte, wenigſtens bis an die Thüre ſei¬
nes Herzens vorzudringen.
Sie haben Recht, verſetzte er mit einiger
Verlegenheit, der Menſch iſt dem Menſchen
das Intereſſanteſte, und ſollte ihn vielleicht
ganz allein intereſſiren. Alles andere, was
uns umgiebt, iſt entweder nur Element, in
dem wir leben, oder Werkzeug, deſſen wir
uns bedienen. Jemehr wir uns dabey auf¬
halten, jemehr wir darauf merken und Theil
daran nehmen, deſto ſchwächer wird das Ge¬
fühl unſers eignen Werthes und das Gefühl
der Geſellſchaft. Die Menſchen, die einen
großen Werth auf Gärten, Gebäude, Klei¬
der, Schmuck oder irgend ein Beſitzthum le¬
gen, ſind weniger geſellig und gefällig; ſie
verlieren die Menſchen aus den Augen, wel¬
che zu erfreuen und zu verſammlen nur ſehr
wenigen glückt. Sehn wir es nicht auch auf
dem Theater? Ein guter Schauſpieler macht
uns bald eine elende, unſchickliche Dekoration
vergeſſen, dahingegen das ſchönſte Theater
den Mangel an guten Schauſpielern erſt
recht fühlbar macht.
Nach Tiſche ſetzte Philine ſich in das be¬
ſchattete hohe Gras. Ihre beiden Freunde
mußten ihr Blumen in Menge herbeyſchaf¬
fen. Sie wand ſich einen vollen Kranz, und
ſetzte ihn auf; ſie ſah unglaublich reizend
aus. Die Blumen reichten noch zu einem
andern hin, auch den flocht ſie, indem ſich
beide Männer neben ſie ſetzten. Als er un¬
ter allerley Scherz und Anſpielungen fertig
geworden war, drückte ſie ihn Wilhelmen
mit der größten Anmuth auf’s Haupt, und
rückte ihn mehr als einmal anders, bis er
recht zu ſitzen ſchien. Und ich werde, wie es
ſcheint, leer ausgehen? ſagte Laertes.
Mit nichten, verſetzte Philine. Ihr ſollt
Euch keinesweges beklagen. Sie nahm
ihren Kranz vom Haupte, und ſetzte ihn
Laertes auf.
Wären wir Nebenbuhler, ſagte dieſer, ſo
würden wir ſehr heftig ſtreiten können, wel¬
chen von beiden du am meiſten begünſtigſt.
Da wär’t ihr rechte Thoren, verſetzte ſie,
indem ſie ſich zu ihm hinüberbog, und ihm
den Mund zum Kuß reichte; ſich aber ſo¬
gleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen
ſchlang, und einen lebhaften Kuß auf ſeine
Lippen drückte. Welcher ſchmeckt am beſten?
fragte ſie neckiſch.
Wunderlich! rief Laertes. Es ſcheint als
wenn ſo etwas niemals nach Wermuth ſchmek¬
ken könne.
So wenig, ſagte Philine, als irgend eine
Gabe, die jemand ohne Neid und Eigenſinn
genießt. Nun hätte ich, rief ſie aus, noch
Luſt, eine Stunde zu tanzen, und dann müſ¬
ſen wir wohl wieder nach unſern Springern
ſehen.
Man ging nach dem Hauſe, und fand
Muſik daſelbſt. Philine, die eine gute Tän¬
zerin war, belebte ihre beiden Geſellſchafter.
Wilhelm war nicht ungeſchickt, allein es fehl¬
te ihm an einer künſtlichen Übung. Seine
beiden Freunde nahmen ſich vor, ihn zu un¬
terrichten.
Man verſpätete ſich. Die Seiltänzer
hatten ihre Künſte ſchon zu produziren an¬
gefangen. Auf dem Platze hatten ſich viele
Zuſchauer eingefunden, doch war unſern
Freunden, als ſie ausſtiegen, ein Getümmel
merkwürdig, das eine große Anzahl Men¬
ſchen nach dem Thore des Gaſthofes, in
welchem Wilhelm eingekehrt war, hingezo¬
gen hatte. Wilhelm ſprang hinüber, um zu
ſehen, was es ſey, und mit Entſetzen erblickte
er, als er ſich durch's Volk drängte, den
Herrn der Seiltänzergeſellſchaft, der das in¬
tereſſante Kind bey den Haaren aus dem
Hauſe zu ſchleppen bemüht war, und mit
einem Peitſchenſtiel unbarmherzig auf den
kleinen Körper losſchlug.
Wilhelm fuhr wie ein Blitz auf den
Mann zu, und faßte ihn bey der Bruſt.
Laß das Kind los! ſchrie er wie ein Raſen¬
der, oder einer von uns bleibt hier auf der
Stelle. Er faßte zugleich den Kerl mit einer
Gewalt, die nur der Zorn geben kann‚ bey
der Kehle, daß dieſer zu erſticken glaubte,
das Kind losließ, und ſich gegen den An¬
greifenden zu vertheidigen ſuchte. Einige
Leute, die mit dem Kinde Mitleiden fühlten‚
aber Streit anzufangen nicht gewagt hat¬
ten, fielen dem Seiltänzer ſogleich in die
Arme, entwaffneten ihn, und drohten ihm
mit vielen Schimpfreden. Dieſer, der ſich
jetzt
jetzt nur auf die Waffen ſeines Mundes re¬
duzirt ſah, fing gräßlich zu drohen und zu
fluchen an, die faule unnütze Kreatur wolle
ihre Schuldigkeit nicht thun; ſie verweigere
den Eiertanz zu tanzen, den er dem Publiko
verſprochen habe; er wolle ſie todtſchlagen,
und es ſolle ihn niemand daran hindern.
Er ſuchte ſich los zu machen, um das Kind,
das ſich unter der Menge verkrochen hatte,
aufzuſuchen. Wilhelm hielt ihn zurück, und
rief: du ſollſt nicht eher dieſes Geſchöpf we¬
der ſehen noch berühren, bis du vor Gericht
Rechenſchaft giebſt, wo du es geſtohlen haſt;
ich werde dich auf’s äuſſerſte treiben, du
ſollſt mir nicht entgehen. Dieſe Rede, wel¬
che Wilhelm in der Hitze, ohne Gedanken
und Abſicht, aus einem dunklen Gefühl, oder
wenn man will, aus Inſpiration ausgeſpro¬
chen hatte, brachte den wüthenden Menſchen
auf einmal zur Ruhe. Er rief: was hab’
W. Meiſters Lehrj. R
ich mit der unnützen Kreatur zu ſchaffen!
Zahlen Sie mir, was mich ihre Kleider ko¬
ſten, und Sie mögen ſie behalten, wir wol¬
len dieſen Abend noch einig werden. Er
eilte darauf, die unterbrochene Vorſtellung
fortzuſetzen, und die Unruhe des Publikums
durch einige bedeutende Kunſtſtücke zu be¬
friedigen.
Wilhelm ſuchte nunmehr, da es ſtille ge¬
worden war, nach dem Kinde, das ſich aber
nirgends fand. Einige wollten es auf dem
Boden, andere auf den Dächern der benach¬
barten Häuſer geſehen haben. Nachdem man
es aller Orten geſucht hatte, mußte man
ſich beruhigen, und abwarten, ob es nicht
von ſelbſt wieder herbey kommen wolle.
Indeß war Narciß nach Hauſe gekom¬
men, welchen Wilhelm über die Schickſale
und die Herkunft des Kindes befragte. Die¬
ſer wußte nichts davon, denn er war nicht
lange bey der Geſellſchaft; erzählte dagegen
mit großer Leichtigkeit und vielem Leichtſinne
ſeine eigenen Schickſale. Als ihm Wilhelm
zu dem großen Beyfall Glück wünſchte, deſ¬
ſen er ſich zu erfreuen hatte, äuſſerte er ſich
ſehr gleichgültig darüber. Wir ſind gewohnt,
ſagte er, daß man über uns lacht, und unſre
Künſte bewundert; aber wir werden durch
den auſſerordentlichen Beyfall um nichts ge¬
beſſert. Der Entrepreneur zahlt uns, und
mag ſehen, wie er zurechte kömmt. Er beur¬
laubte ſich darauf, und wollte ſich eilig ent¬
fernen.
Auf die Frage, wo er ſo ſchnell hin wol¬
le? lächelte der junge Menſch, und geſtand,
daß ſeine Figur und Talente ihm einen ſoli¬
dern Beyfall zugezogen, als der des großen
Publikums ſey. Er habe von einigen Frauen¬
zimmern Botſchaft erhalten, die ſehr eifrig
verlangten, ihn näher kennen zu lernen, und
R 2
er fürchte, mit den Beſuchen, die er abzule¬
gen habe, vor Mitternacht kaum fertig zu
werden. Er fuhr fort mit der größten Auf¬
richtigkeit ſeine Abentheuer zu erzählen, und
hätte die Namen, Straßen und Häuſer an¬
gezeigt, wenn nicht Wilhelm eine ſolche In¬
diſcretion abgelehnt und ihn höflich entlaſſen
hätte.
Laertes hatte indeſſen Landrinetten unter¬
halten, und verſicherte, ſie ſey vollkommen
würdig, ein Weib zu ſeyn und zu bleiben.
Nun ging die Unterhandlung mit dem
Entrepreneur wegen des Kindes an, das un¬
ſerm Freunde für dreyßig Thaler überlaſſen
wurde, gegen welche der ſchwarzbärtige hef¬
tige Italiener ſeine Anſprüche völlig abtrat;
von der Herkunft des Kindes aber weiter
nichts bekennen wollte, als daß er ſolches
nach dem Tode ſeines Bruders, den man,
wegen ſeiner auſſerordentlichen Geſchicklich¬
keit, den großen Teufel genannt, zu ſich ge¬
nommen habe.
Der andere Morgen ging meiſt mit Auf¬
ſuchen des Kindes hin. Vergebens durchkroch
man alle Winkel des Hauſes und der Nach¬
barſchaft; es war verſchwunden, und man
fürchtete, es mögte in ein Waſſer geſprun¬
gen ſeyn, oder ſich ſonſt ein Leid angethan
haben.
Philinens Reize konnten die Unruhe un¬
ſers Freundes nicht ableiten. Er brachte ei¬
nen traurigen nachdenklichen Tag zu. Auch
des Abends, da Springer und Tänzer alle
ihre Kräfte aufboten, um ſich dem Publiko
auf’s Beſte zu empfehlen, konnte ſein Ge¬
müth nicht erheitert und zerſtreut werden.
Durch den Zulauf aus benachbarten Ort¬
ſchaften hatte die Anzahl der Menſchen auſ¬
ſerordentlich zugenommen, und ſo wälzte ſich
auch der Schneeball des Beyfalls zu einer
ungeheuren Größe. Der Sprung über die
Degen und durch das Faß mit papiernen
Böden machte eine große Senſation. Der
ſtarke Mann ließ zum allgemeinen Grauſen,
Entſetzen und Erſtaunen, indem er ſich mit
dem Kopf und den Füßen auf ein Paar aus¬
einander geſchobene Stühle legte, auf ſeinen
hohlſchwebenden Leib einen Ambos heben
und auf demſelben, von einigen wackern
Schmiedegeſellen, ein Hufeiſen fertig ſchmie¬
den.
Auch war die ſogenannte Herkules-Stär¬
ke, da eine Reihe Männer auf den Schul¬
tern einer erſten Reihe ſtehend, abermals
Frauen und Jünglinge trägt, ſo daß zuletzt
eine lebendige Pyramide entſteht, deren Spitze
ein Kind auf den Kopf geſtellt, als Knopf
und Wetterfahne ziert, in dieſen Gegenden
noch nie geſehen worden, und endigte wür¬
dig das ganze Schauſpiel. Narciß und Lan¬
drinette ließen ſich in Tragſeſſeln auf den
Schultern der übrigen durch die vornehmſten
Straßen der Stadt unter lautem Freuden¬
geſchrey des Volks tragen. Man warf ihnen
Bänder, Blumenſträuße und ſeidene Tücher
zu, und drängte ſich, ſie ins Geſicht zu faſ¬
ſen. Jedermann ſchien glücklich zu ſeyn, ſie
anzuſehn, und von ihnen eines Blicks gewür¬
digt zu werden.
Welcher Schauſpieler, welcher Schriftſtel¬
ler, ja welcher Menſch überhaupt würde ſich
nicht auf dem Gipfel ſeiner Wünſche ſehen,
wenn er durch irgend ein edles Wort oder
eine gute That einen ſo allgemeinen Ein¬
druck hervorbrächte? Welche köſtliche Em¬
pfindung müßte es ſeyn, wenn man gute,
edle, der Menſchheit würdige Gefühle eben
ſo ſchnell durch einen elektriſchen Schlag
ausbreiten, ein ſolches Entzücken unter dem
Volke erregen könnte, als dieſe Leute durch
ihre körperliche Geſchicklichkeit gethan haben;
wenn man der Menge das Mitgefühl alles
Menſchlichen geben, wenn man ſie mit der
Vorſtellung des Glücks und Unglücks, der
Weisheit und Thorheit, ja des Unſinns und
der Albernheit entzünden, erſchüttern, und
ihr ſtockendes Innere in freye, lebhafte und
reine Bewegung ſetzen könnte! So ſprach
unſer Freund, und da weder Philine noch
Laertes geſtimmt ſchienen, einen ſolchen Dis¬
kurs fortzuſetzen, unterhielt er ſich allein mit
dieſen Lieblingsbetrachtungen, als er bis ſpät
in die Nacht um die Stadt ſpazierte, und
ſeinen alten Wunſch, das Gute, Edle, Große
durch das Schauſpiel zu verſinnlichen, wie¬
der einmal mit aller Lebhaftigkeit und aller
Freyheit einer losgebundenen Einbildungs¬
kraft verfolgte.
Fünftes Capitel.
Des andern Tages, als die Seiltänzer mit
großem Geräuſch abgezogen waren, fand ſich
Mignon ſogleich wieder ein, und trat hinzu,
als Wilhelm und Laertes ihre Fechtübungen
auf dem Saale fortſetzten. Wo haſt du ge¬
ſteckt? fragte Wilhelm freundlich, du haſt
uns viel Sorge gemacht. Das Kind ant¬
wortete nichts, und ſah ihn an. Du biſt
nun unſer, rief Laertes, wir haben dich ge¬
kauft. — Was haſt du bezahlt? fragte das
Kind ganz trocken. — Hundert Dukaten, ver¬
ſetzte Laertes, wenn du ſie wieder giebſt,
kannſt du frey ſeyn. — Das iſt wohl viel?
fragte das Kind. — O ja, du magſt dich
nur gut aufführen. — Ich will dienen, ver¬
ſetzte ſie.
Von dem Augenblicke an merkte ſie ge¬
nau, was der Kellner den beiden Freunden
für Dienſte zu leiſten hatte, und litt ſchon
des andern Tages nicht mehr, daß er ins
Zimmer kam. Sie wollte alles ſelbſt thun,
und machte auch ihre Geſchäfte zwar lang¬
ſam und mit unter unbehülflich, doch genau
und mit großer Sorgfalt.
Sie ſtellte ſich oft an ein Gefäß mit
Waſſer, und wuſch ihr Geſicht mit ſo großer
Emſigkeit und Heftigkeit, daß ſie ſich faſt
die Backen aufrieb, und Laertes erfuhr durch
Fragen und Necken, daß ſie die Schminke
von ihren Wangen auf alle Weiſe los zu
werden ſuche, und über dem Eifer, womit ſie
es that, die Röthe, die ſie durchs Reiben
hervorgebracht hatte, für die hartnäckigſte
Schminke halte. Man bedeutete ſie, und ſie
ließ ab, und nachdem ſie wieder zur Ruhe
gekommen war, zeigte ſich eine ſchöne brau¬
ne, obgleich nur von wenigem Roth erhöhte
Geſichtsfarbe.
Durch die frevelhaften Reize Philinens,
durch die geheimnißvolle Gegenwart des Kin¬
des, mehr als er ſich ſelbſt geſtehen durfte,
unterhalten, brachte Wilhelm verſchiedene
Tage in dieſer ſonderbaren Geſellſchaft zu,
und rechtfertigte ſich bey ſich ſelbſt durch eine
fleißige Übung in der Fecht- und Tanz-
Kunſt, wozu er ſo leicht nicht wieder Gele¬
genheit zu finden glaubte.
Nicht wenig verwundert, und gewiſſer¬
maßen erfreut war er, als er eines Tages
Herrn und Frau Melina ankommen ſah,
welche, gleich nach dem erſten frohen Gruße,
ſich nach der Directrice und den übrigen
Schauſpielern erkundigten, und mit großem
Schrecken vernahmen, daß jene ſich ſchon
lange entfernt habe, und dieſe bis auf weni¬
ge zerſtreut ſeyen.
Das junge Paar hatte ſich nach ihrer
Verbindung, zu der, wie wir wiſſen, Wil¬
helm behülflich geweſen, an einigen Orten
nach Engagement umgeſehen, keines gefun¬
den, und war endlich in dieſes Städtchen
gewieſen worden, wo einige Perſonen, die
ihnen unterwegs begegneten, ein gutes Thea¬
ter geſehen haben wollten.
Philinen wollte Madam Melina, und
Herr Melina dem lebhaften Laertes, als ſie
Bekanntſchaft machten, keinesweges gefallen.
Sie wünſchten die neuen Ankömmlinge gleich
wieder los zu ſeyn, und Wilhelm konnte
ihnen keine günſtige Geſinnungen beybrin¬
gen, ob er ihnen gleich wiederholt verſicherte,
daß es recht gute Leute ſeyen.
Eigentlich war auch das bisherige luſtige
Leben unſrer drey Abentheurer durch die Er¬
weiterung der Geſellſchaft auf mehr als eine
Weiſe geſtört; denn Melina fing im Wirths¬
hauſe (er hatte in eben demſelben, in wel¬
chem Philine wohnte, Platz gefunden) gleich
zu markten und zu quängeln an. Er wollte
für weniges Geld beſſeres Quartier, reichli¬
chere Mahlzeit und promptere Bedienung
haben. In kurzer Zeit machten Wirth und
Kellner verdrießliche Geſichter, und wenn die
andern, um froh zu leben, ſich alles gefallen
ließen, und nur geſchwind bezahlten, um
nicht länger an das zu denken, was ſchon
verzehrt war; ſo mußte die Mahlzeit, die
Melina regelmäßig ſogleich berichtigte, jeder¬
zeit von vorn wieder durchgenommen wer¬
den, ſo daß Philine ihn, ohne Umſtände, ein
wiederkäuendes Thier nannte.
Noch verhaßter war Madam Melina
dem luſtigen Mädchen. Dieſe junge Frau
war nicht ohne Bildung, doch fehlte es ihr
gänzlich an Geiſt und Seele. Sie deklamir¬
te nicht übel, und wollte immer deklamiren;
allein man merkte bald, daß es nur eine
Wortdeklamation war, die auf einzelne Stel¬
len laſtete, und die Empfindung des Ganzen
nicht ausdruckte. Bey dieſem allen war ſie
nicht leicht jemanden, beſonders Männern,
unangenehm. Vielmehr ſchrieben ihr diejeni¬
gen, die mit ihr umgingen, gewöhnlich einen
ſchönen Verſtand zu; denn ſie war, was ich
mit Einem Worte eine Anempfinderinn
nennen möchte; ſie wußte einem Freunde,
um deſſen Achtung ihr zu thun war, mit
einer beſondern Aufmerkſamkeit zu ſchmei¬
cheln, in ſeine Ideen ſo lange als möglich
einzugehen; ſo bald ſie aber ganz über ihren
Horizont waren, mit Extaſe eine ſolche neue
Erſcheinung aufzunehmen. Sie verſtand zu
ſprechen und zu ſchweigen, und ob ſie gleich
kein tückiſches Gemüth hatte, mit großer Vor¬
ſicht aufzupaſſen, wo des andern ſchwache
Seite ſeyn möchte.
Sechstes Capitel.
Melina hatte ſich indeſſen nach den Trüm¬
mern der vorigen Direction genau erkundigt.
Sowohl Dekorationen als Garderobe waren
an einige Handelsleute verſetzt, und ein No¬
tarius hatte den Auftrag von der Directrice
erhalten, unter gewiſſen Bedingungen, wenn
ſich Liebhaber fänden, in den Verkauf aus
freyer Hand zu willigen. Melina wollte die
Sachen beſehen, und zog Wilhelmen mit
ſich. Dieſer empfand, als man ihnen die
Zimmer eröffnete, eine gewiſſe Neigung dazu,
die er ſich jedoch ſelbſt nicht geſtand. In ſo
einem ſchlechten Zuſtande auch die gekleckſten
Dekorationen waren, ſo wenig ſcheinbar auch
türkiſche und heidniſche Kleider, alte Karika¬
tur–Röcke für Männer und Frauen, Kutten
für Zauberer, Juden und Pfaffen ſeyn moch¬
ten; ſo konnt’ er ſich doch der Empfindung
nicht erwehren, daß er die glücklichſten Au¬
genblicke ſeines Lebens in der Nähe eines
ähnlichen Trödelkrams gefunden hatte. Hät¬
te Melina in ſein Herz ſehen können, ſo
würde er ihm eifriger zugeſetzt haben, eine
Summe Geldes auf die Befreyung, Aufſtel¬
lung und neue Belebung dieſer zerſtreuten
Glieder zu einem ſchönen Ganzen herzuge¬
ben. Welch ein glücklicher Menſch, rief
Melina aus, könnte ich ſeyn, wenn ich nur
zwey hundert Thaler beſäße, um zum An¬
fange den Beſitz dieſer erſten theatraliſchen
Bedürfniſſe zu erlangen. Wie bald wollt’
ich ein kleines Schauſpiel beyſammen haben,
das uns in dieſer Stadt, in dieſer Gegend
gewiß ſogleich ernähren ſollte. Wilhelm
ſchwieg, und beide verließen nachdenklich die
wieder eingeſperrten Schätze.
Me¬
Melina hatte von dieſer Zeit an keinen
andern Diskurs als Projecte und Vorſchlä¬
ge, wie man ein Theater einrichten, und da¬
bey ſeinen Vortheil finden könnte. Er ſuch¬
te Philinen und Laertes zu intereſſiren, und
man that Wilhelmen Vorſchläge, Geld her¬
zuſchießen, und Sicherheit dagegen anzuneh¬
men. Dieſem fiel aber erſt bey dieſer Gele¬
genheit recht auf, daß er hier ſo lange nicht
hätte verweilen ſollen; er entſchuldigte ſich,
und wollte Anſtalten machen, ſeine Reiſe
fortzuſetzen.
Indeſſen war ihm Mignons Geſtalt und
Weſen immer reizender geworden. In allem
ſeinem Thun und Laſſen hatte das Kind et¬
was ſonderbares. Es ging die Treppe we¬
der auf noch ab, ſondern ſprang; es ſtieg
auf den Geländern der Gänge weg, und eh'
man ſich’s verſah, ſaß es oben auf dem
Schranke, und blieb eine Weile ruhig. Auch
W. Meiſters Lehrj. S
hatte Wilhelm bemerkt, daß es für jeden
eine beſondere Art von Gruß hatte. Ihn
grüßte ſie, ſeit einiger Zeit, mit über die
Bruſt geſchlagenen Armen. Manche Tage
war ſie ganz ſtumm, zu Zeiten antwortete
ſie mehr auf verſchiedene Fragen, immer ſon¬
derbar, doch ſo, daß man nicht unterſcheiden
konnte, ob es Witz oder Unkenntniß der
Sprache war, indem ſie ein gebrochnes mit
franzöſiſch und italieniſch durchflochtenes
Deutſch ſprach. In ſeinem Dienſte war das
Kind unermüdet, und früh mit der Sonne
auf; es verlor ſich dagegen Abends zeitig,
ſchlief in einer Kammer auf der nackten Erde,
und war durch nichts zu bewegen, ein Bette
oder einen Strohſack anzunehmen. Er fand
ſie oft, daß ſie ſich wuſch. Auch ihre Klei¬
der waren reinlich, obgleich alles faſt doppelt
und dreyfach an ihr geflickt war. Man ſag¬
te Wilhelmen auch, daß ſie alle Morgen
ganz früh in die Meſſe gehe, wohin er ihr
einmal folgte, und ſie in der Ecke der Kirche
mit dem Roſenkranze knien und andächtig
beten ſah. Sie bemerkte ihn nicht, er ging
nach Hauſe, machte ſich vielerley Gedanken
über dieſe Geſtalt, und konnte ſich bey ihr
nichts beſtimmtes denken.
Neues Andringen Melinas um eine Sum¬
me Geldes, zur Auslöſung der mehr erwähn¬
ten Theatergeräthſchaften, beſtimmte Wil¬
helmen noch mehr, an ſeine Abreiſe zu den¬
ken. Er wollte den Seinigen, die lange nichts
von ihm gehört hatten, noch mit dem heuti¬
gen Poſttage ſchreiben, er fing auch wirklich
einen Brief an Wernern an, und war mit
Erzählung ſeiner Abenteuer, wobey er, ohne
es ſelbſt zu bemerken, ſich mehrmal von der
Wahrheit entfernt hatte, ſchon ziemlich weit
gekommen, als er, zu ſeinem Verdruß, auf
der hintern Seite des Briefblatts ſchon eini¬
S 2
ge Verſe geſchrieben fand, die er für Ma¬
dam Melina aus ſeiner Schreibtafel zu co¬
piren angefangen hatte. Unwillig zerriß er
das Blatt und verſchob die Wiederholung
ſeines Bekenntniſſes auf den nächſten Poſt¬
tag.
Siebentes Capitel.
Unſre Geſellſchaft befand ſich abermals bey¬
ſammen, und Philine, die auf jedes Pferd,
das vorbey kam, auf jeden Wagen, der an¬
fuhr, äuſſerſt aufmerkſam war, rief mit gro¬
ßer Lebhaftigkeit: unſer Pedant! da kommt
unſer allerliebſter Pedant! Wen mag er bey
ſich haben? Sie rief und winkte zum Fenſter
hinaus, und der Wagen hielt ſtille.
Ein kümmerlich armer Teufel, den man
an ſeinem verſchabten, graulich-braunem
Rocke und an ſeinen übelconditionirten Un¬
terkleidern für einen Magiſter, wie ſie auf
Akademien zu vermodern pflegen, hätte hal¬
ten ſollen, ſtieg aus dem Wagen, und ent¬
blößte, indem er Philinen zu grüßen den
Hut abthat, eine übelgepuderte, aber übri¬
gens ſehr ſteife Perrücke, und Philine warf
ihm hundert Kußhände zu.
So wie ſie ihre Glückſeligkeit fand, einen
Theil der Männer zu lieben und ihrer Liebe
zu genießen; ſo war das Vergnügen nicht
viel geringer, das ſie ſich ſo oft als möglich
gab, die übrigen, die ſie eben in dieſem Au¬
genblicke nicht liebte, auf eine ſehr leichtfer¬
tige Weiſe zum Beſten zu haben.
Über den Lärm, womit ſie dieſen alten
Freund empfing, vergaß man auf die übri¬
gen zu achten, die ihm nachfolgten. Doch
glaubte Wilhelm die zwey Frauenzimmer
und einen ältlichen Mann, der mit ihnen
hereintrat, zu kennen. Auch entdeckte ſich’s
bald, daß er ſie alle drey, vor einigen Jah¬
ren, bey der Geſellſchaft, die in ſeiner Vater¬
ſtadt ſpielte, mehrmals geſehen hatte. Die
Töchter waren ſeit der Zeit heran gewach¬
ſen; der Alte aber hatte ſich wenig verän¬
dert. Dieſer ſpielte gewöhnlich die gutmü¬
thigen, polternden Alten, wovon das deut¬
ſche Theater nicht leer wird, und die man
auch im gemeinen Leben nicht ſelten antrift.
Denn da es der Character unſrer Landsleute
iſt, das Gute ohne viel Prunk zu thun und
zu leiſten; ſo denken ſie ſelten daran, daß
es auch eine Art gebe, das Rechte mit Zier¬
lichkeit und Anmuth zu thun, und verfallen
vielmehr, von einem Geiſte des Widerſpruchs
getrieben, leicht in den Fehler, durch ein
mürriſches Weſen, ihre liebſte Tugend im
Contraſte darzuſtellen.
Solche Rollen ſpielte unſer Schauſpieler
ſehr gut, und er ſpielte ſie ſo oft und aus¬
ſchließlich, daß er darüber eine ähnliche Art
ſich zu betragen im gemeinen Leben ange¬
nommen hatte.
Wilhelm gerieth in große Bewegung, ſo¬
bald er ihn erkannte, denn er erinnerte ſich,
wie oft er dieſen Mann neben ſeiner gelieb¬
ten Mariane auf dem Theater geſehen hat¬
te; er hörte ihn noch ſchelten, er hörte ihre
ſchmeichelnde Stimme, mit der ſie ſeinem
rauhen Weſen in manchen Rollen zu be¬
gegnen hatte.
Die erſte lebhafte Frage an die neuen
Ankömmlinge, ob ein Unterkommen aus¬
wärts zu finden und zu hoffen ſey? ward
leider mit nein beantwortet, und man mußte
vernehmen, daß die Geſellſchaften, bey denen
man ſich erkundigt, beſetzt, und einige davon
ſogar in Sorgen ſeyen, wegen des bevorſte¬
henden Krieges auseinander gehen zu müſ¬
ſen. Der polternde Alte hatte mit ſeinen
Töchtern aus Verdruß und Liebe zur Ab¬
wechſelung ein vortheilhaftes Engagement
aufgegeben, hatte mit dem Pedanten, den er
unterwegs antraf, einen Wagen gemiethet,
um hieher zu kommen, wo denn auch, wie
ſie fanden, guter Rath theuer war.
Die Zeit, in welcher ſich die übrigen über
ihre Angelegenheiten ſehr lebhaft unterhiel¬
ten, brachte Wilhelm nachdenklich zu. Er
wünſchte den Alten allein zu ſprechen,
wünſchte und fürchtete von Marianen zu
hören, und befand ſich in der größten Un¬
ruhe.
Die Artigkeiten der neuangekommenen
Frauenzimmer konnten ihn nicht aus ſeinem
Traume reiſſen; aber ein Wortwechſel, der
ſich erhub, machte ihn aufmerkſam. Es war
Friedrich, der blonde Knabe, der Philinen
aufzuwarten pflegte, ſich aber diesmal leb¬
haft widerſetzte, als er den Tiſch decken und
Eſſen herbeyſchaffen ſollte. Ich habe mich
verpflichtet, rief er aus, Ihnen zu dienen,
aber nicht allen Menſchen aufzuwarten. Sie
geriethen darüber in einen heftigen Streit.
Philine beſtand darauf, er habe ſeine Schul¬
digkeit zu thun, und als er ſich hartnäckig
widerſetzte, ſagte ſie ihm ohne Umſtände, er
könne gehn, wohin er wolle.
Glauben Sie etwa, daß ich mich nicht
von Ihnen entfernen könne? rief er aus,
ging trotzig weg, machte ſeinen Bündel zu¬
ſammen, und eilte ſogleich zum Hauſe hin¬
aus. Geh, Mignon, ſagte Philine, und
ſchaff uns, was wir brauchen; ſag es dem
Kellner, und hilf aufwarten.
Mignon trat vor Wilhelm hin, und frag¬
te in ſeiner lakoniſchen Art: ſoll ich? darf
ich? und Wilhelm verſetzte: thu mein Kind,
was Mademoiſelle dir ſagt.
Das Kind beſorgte alles, und wartete
den ganzen Abend mit großer Sorgfalt den
Gäſten auf. Nach Tiſche ſuchte Wilhelm
mit dem Alten einen Spatziergang allein zu
machen; es gelang ihm, und nach mancher¬
ley Fragen, wie es ihm bisher gegangen?
wendete ſich das Geſpräch auf die ehmalige
Geſellſchaft, und Wilhelm wagte zuletzt nach
Marianen zu fragen.
Sagen Sie mir nichts von dem abſcheu¬
lichen Geſchöpf! rief der Alte, ich habe ver¬
ſchworen, nicht mehr an ſie zu denken. Wil¬
helm erſchrak über dieſe Äußerung, war aber
noch in größerer Verlegenheit, als der Alte
fortfuhr, auf ihre Leichtfertigkeit und Lieder¬
lichkeit zu ſchmählen. Wie gern hätte unſer
Freund das Geſpräch abgebrochen; allein er
mußte nun einmal die polternden Ergießun¬
gen des wunderlichen Mannes aushalten.
Ich ſchäme mich, fuhr dieſer fort, daß ich
ihr ſo geneigt war. Doch hätten Sie das
Mädchen näher gekannt, Sie würden mich
gewiß entſchuldigen. Sie war ſo artig, na¬
türlich und gut, ſo gefällig und in jedem
Sinne leidlich. Nie hätt’ ich mir vorgeſtellt,
daß Frechheit und Undank die Hauptzüge
ihres Characters ſeyn ſollten.
Schon hatte ſich Wilhelm gefaßt gemacht,
das Schlimmſte von ihr zu hören, als er
auf einmal mit Verwunderung bemerkte, daß
der Ton des Alten milder wurde, ſeine Rede
endlich ſtockte, und er ein Schnupftuch aus
der Taſche nahm, um die Thränen zu trock¬
nen, die zuletzt ſeine Rede völlig unter¬
brachen.
Was iſt Ihnen? rief Wilhelm aus. Was
giebt Ihren Empfindungen auf einmal eine
ſo entgegengeſetzte Richtung? Verbergen Sie
mir es nicht, ich nehme an dem Schickſale
dieſes Mädchens mehr Antheil als Sie glau¬
ben, nur laſſen Sie mich alles wiſſen.
Ich habe wenig zu ſagen, verſetzte der
Alte, indem er wieder in ſeinen ernſtlichen,
verdrießlichen Ton überging ich werde es
ihr nie vergeben, was ich um ſie geduldet
habe. Sie hatte, fuhr er fort, immer ein
gewiſſes Zutrauen zu mir; ich liebte ſie wie
meine Tochter, und hatte, da meine Frau
noch lebte, den Entſchluß gefaßt, ſie zu mir
zu nehmen, und ſie aus den Händen der
Alten zu retten, von deren Anleitung ich mir
nicht viel Gutes verſprach. Meine Frau
ſtarb, das Project zerſchlug ſich.
Gegen das Ende des Aufenthalts in
Ihrer Vaterſtadt, es ſind nicht gar drey
Jahre, merkte ich ihr eine ſichtbare Traurig¬
keit an; ich fragte ſie, aber ſie wich aus.
Endlich machten wir uns auf die Reiſe. Sie
fuhr mit mir in Einem Wagen, und ich be¬
merkte, was ſie mir auch bald geſtand, daß
ſie guter Hoffnung ſey, und in der größten
Furcht ſchwebe, von unſerm Director ver¬
ſtoßen zu werden. Auch dauerte es nur kur¬
ze Zeit, ſo machte er die Entdeckung, kün¬
digte ihr den Contract, der ohnedies nur
auf ſechs Wochen ſtand, ſogleich auf, zahlte
was ſie zu fordern hatte, und ließ ſie, aller
Vorſtellungen ungeachtet, in einem kleinen
Städtchen, in einem ſchlechten Wirthshauſe
zurück.
Der Henker hole alle liederliche Dirnen!
rief der Alte mit Verdruß, und beſonders
dieſe, die mir ſo manche Stunde meines Le¬
bens verdorben hat. Was ſoll ich lange er¬
zählen, wie ich mich ihrer angenommen, was
ich für ſie gethan, was ich an ſie gehängt,
wie ich auch in der Abweſenheit für ſie ge¬
ſorgt habe. Ich wollte lieber mein Geld in
den Teich werfen, und meine Zeit anwenden,
räudige Hunde zu erziehen, als nur jemals
wieder auf ſo ein Geſchöpf die mindeſte Auf¬
merkſamkeit zu wenden. Was war’s? Im
Anfang erhielt ich Dankſagungsbriefe, Nach¬
richt von einigen Orten ihres Aufenthalts,
und zuletzt kein Wort mehr, nicht einmal
Dank für das Geld, das ich ihr zu ihren
Wochen geſchickt hatte. O die Verſtellung
und der Leichtſinn der Weiber iſt ſo recht
zuſammengepaart, um ihnen ein bequemes
Leben, und einem ehrlichen Kerl manche ver¬
drießliche Stunde zu ſchaffen!
Achtes Capitel.
Man denke ſich Wilhelms Zuſtand, als er
von dieſer Unterredung nach Hauſe kam.
Alle ſeine alten Wunden waren wieder auf¬
geriſſen, und das Gefühl, daß ſie ſeiner Liebe
nicht ganz unwürdig geweſen, wieder lebhaft
geworden; denn in dem Intereſſe des Alten,
in dem Lobe, das er ihr wider Willen geben
mußte, war unſerm Freunde ihre ganze Lie¬
benswürdigkeit wieder erſchienen; ja ſelbſt
die heftige Anklage des leidenſchaftlichen
Mannes enthielt nichts, das ſie vor Wil¬
helms Augen hätte herabſetzen können. Denn
dieſer bekannte ſich ſelbſt als Mitſchuldigen
ihrer Vergehungen, und ihr Schweigen zu¬
letzt ſchien ihm nicht tadelhaft, er machte ſich
vielmehr nur traurige Gedanken darüber,
ſah
ſah ſie als Wöchnerin, als Mutter in der
Welt ohne Hülfe herumirren, wahrſcheinlich
mit ſeinem eigenen Kinde herumirren. Vor¬
ſtellungen, welche das ſchmerzlichſte Gefühl
in ihm erregten.
Mignon hatte auf ihn gewartet, und
leuchtete ihn die Treppe hinauf. Als ſie
das Licht niedergeſetzt hatte, bat ſie ihn, zu
erlauben, daß ſie ihm heute Abend mit einem
Kunſtſtücke aufwarten dürfe. Er hätte es
lieber verbeten, beſonders da er nicht wußte,
was es werden ſollte. Allein er konnte die¬
ſem guten Geſchöpfe nichts abſchlagen. Nach
einer kurzen Zeit trat ſie wieder herein. Sie
trug einen Teppich unter dem Arme, den ſie
auf der Erde ausbreitete. Wilhelm ließ ſie
gewähren. Sie brachte darauf vier Lichter,
ſtellte eins in jeden Winkel des Teppichs.
Ein Körbchen mit Eiern, das ſie darauf hol¬
te, machte die Abſicht deutlicher. Künſtlich
W. Meiſters Lehrj. T
abgemeſſen ſchritt ſie nunmehr auf dem Tep¬
pich hin und her, und legte in gewiſſen
Maaßen die Eier auseinander, dann rief ſie
einen Menſchen herein, der im Hauſe auf¬
wartete und die Violine ſpielte. Er trat mit
ſeinem Inſtrumente in die Ecke, ſie verband
ſich die Augen, gab das Zeichen, und fing
zugleich mit der Muſik, wie ein aufgezoge¬
nes Räderwerk, ihre Bewegungen an, indem
ſie Takt und Melodie mit dem Schlage der
Caſtagnetten begleitete.
Behende, leicht, raſch, genau führte ſie
den Tanz. Sie trat ſo ſcharf und ſo ſicher
zwiſchen die Eier hinein, bey den Eiern nie¬
der, daß man jeden Augenblick dachte, ſie
müſſe eins zertreten, oder bey ſchnellen Wen¬
dungen das andre fortſchleudern. Mit nich¬
ten! Sie berührte keines, ob ſie gleich mit
allen Arten von Schritten, engen und wei¬
ten, ja ſogar mit Sprüngen, und zuletzt
halb kniend ſich durch die Reihen durch¬
wand.
Unaufhaltſam, wie ein Uhrwerk, lief ſie
ihren Weg, und die ſonderbare Muſik gab
dem immer wieder von vorne anfangenden
und losrauſchenden Tanze bey jeder Wieder¬
holung einen neuen Stoß. Wilhelm war
von dem ſonderbaren Schauſpiele ganz hin¬
geriſſen, er vergas ſeiner Sorgen, folgte je¬
der Bewegung der geliebten Creatur, und
war verwundert, wie in dieſem Tanze ſich
ihr Charakter vorzüglich entwickelte.
Streng, ſcharf, trocken, heftig, und in
ſanften Stellungen mehr feyerlich als ange¬
nehm, zeigte ſie ſich. Er empfand, was er
ſchon für Mignon gefühlt, in dieſem Augen¬
blicke auf einmal. Er ſehnte ſich, dieſes ver¬
laſſene Weſen an Kindesſtatt ſeinem Herzen
einzuverleiben, es in ſeine Arme zu nehmen,
T 2
und mit der Liebe eines Vaters Freude des
Lebens in ihm zu erwecken.
Der Tanz ging zu Ende; ſie rollte die
Eier mit den Füßen ſachte zuſammen auf
ein Häufchen, ließ keines zurück, beſchädigte
keines, und ſtellte ſich dazu, indem ſie die
Binde von den Augen nahm, und ihr Kunſt¬
ſtück mit einem Bücklinge endigte.
Wilhelm dankte ihr, daß ſie ihm den
Tanz, den er zu ſehen gewünſcht, ſo artig
und unvermuthet vorgetragen habe. Er
ſtreichelte ſie, und bedauerte, daß ſie ſich’s
habe ſo ſauer werden laſſen. Er verſprach
ihr ein neues Kleid, worauf ſie heftig ant¬
wortete: deine Farbe! Auch das verſprach
er ihr, ob er gleich nicht deutlich wußte, was
ſie darunter meyne. Sie nahm die Eier zu¬
ſammen, den Teppich unter den Arm, fragte
ob er noch etwas zu befehlen habe, und
ſchwang ſich zur Thüre hinaus.
Von dem Muſicus erfuhr er, daß ſie ſich
ſeit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm
den Tanz, welches der bekannte Fandango
war, ſo lange vorzuſingen, bis er ihn habe
ſpielen können. Auch habe ſie ihm für ſeine
Bemühungen etwas Geld angeboten, das er
aber nicht nehmen wollen.
Neuntes Capitel.
Nach einer unruhigen Nacht, die unſer
Freund theils wachend, theils von ſchweren
Träumen geängſtigt, zubrachte, in denen er
Marianen bald in aller Schönheit, bald in
kümmerlicher Geſtalt, jetzt mit einem Kinde
auf dem Arm, bald deſſelben beraubt ſah,
war der Morgen kaum angebrochen, als
Mignon ſchon mit einem Schneider herein¬
trat. Sie brachte graues Tuch und blauen
Taffet, und erklärte nach ihrer Art, daß ſie
ein neues Weſtchen und Schifferhoſen, wie
ſie ſolche an den Knaben in der Stadt geſe¬
hen, mit blauen Aufſchlägen und Bändern
haben wolle.
Wilhelm hatte ſeit dem Verluſt Maria¬
nens alle muntere Farben abgelegt. Er hat¬
te ſich an das Grau, an die Kleidung der
Schatten, gewöhnt, und nur etwa ein him¬
melblaues Futter oder ein kleiner Kragen
von dieſer Farbe belebte einigermaßen jene
ſtille Kleidung. Mignon, begierig ſeine Far¬
be zu tragen, trieb den Schneider, der in
kurzem die Arbeit zu liefern verſprach.
Die Tanz– und Fecht–Stunden, die un¬
ſer Freund heute mit Laertes nahm, wollten
nicht zum Beſten glücken. Auch wurden ſie
bald durch Melinas Ankunft unterbrochen,
der umſtändlich zeigte, wie jetzt eine kleine
Geſellſchaft beyſammen ſey, mit welcher man
ſchon Stücke genug aufführen könne. Er
erneuerte ſeinen Antrag, daß Wilhelm eini¬
ges Geld zum Etabliſſement vorſtrecken ſolle,
wobey dieſer auch wie vormals ſeine Unent¬
ſchloſſenheit zeigte.
Philine und die Mädchen kamen bald
hierauf mit Lachen und Lärmen herein. Sie
hatten ſich abermals eine Spatzierfahrt aus¬
gedacht. Denn Veränderung des Orts und
der Gegenſtände war eine Luſt, nach der ſie
ſich immer ſehnten. Täglich an’ einem an¬
dern Orte zu eſſen, war ihr höchſter Wunſch.
Diesmal ſollte es eine Waſſerfahrt werden.
Das Schiff, womit ſie die Krümmungen
des angenehmen Fluſſes hinunterfahren woll¬
ten, war ſchon durch den Pedanten beſtellt.
Philine trieb, die Geſellſchaft zauderte nicht,
und war bald eingeſchifft.
Was fangen wir nun an? ſagte Philine,
indem ſich alle auf die Bänke niedergelaſſen
hatten.
Das Kürzeſte wäre, verſetzte Laertes, wir
extemporirten ein Stück. Nehme jeder eine
Rolle, die ſeinem Character am angemeſſen¬
ſten iſt, und wir wollen ſehen, wie es uns
gelingt.
Fürtrefflich! ſagte Wilhelm, denn in einer
Geſellſchaft, in der man ſich nicht verſtellt,
in welcher jedes nur ſeinem Sinne folgt,
kann Anmuth und Zufriedenheit nicht lange
wohnen, und wo man ſich immer verſtellt,
dahin kommen ſie gar nicht. Es iſt alſo
nicht übel gethan, wir geben uns die Ver¬
ſtellung gleich von Anfange zu, und ſind
nachher unter der Maſke ſo aufrichtig, als
wir wollen.
Ja, ſagte Laertes, deswegen geht ſich’s
ſo angenehm mit Weibern um, die ſich nie¬
mals in ihrer natürlichen Geſtalt ſehen laſſen.
Das macht, verſetzte Madam Melina,
daß ſie nicht ſo eitel ſind wie Männer, wel¬
che ſich einbilden, ſie ſeyen ſchon immer lie¬
benswürdig genug, wie ſie die Natur her¬
vorgebracht hat.
Indeſſen war man zwiſchen angenehmen
Büſchen und Hügeln, zwiſchen Gärten und
Weinbergen hingefahren, und die jungen
Frauenzimmer, beſonders aber Madam Me¬
lina, druckten ihr Entzücken über die Gegend
aus. Letztre fing ſogar ein artiges Gedicht
von der beſchreibenden Gattung über eine
ähnliche Naturſcene feyerlich herzuſagen an
allein Philine unterbrach ſie, und ſchlug ein
Geſetz vor, daß ſich niemand unterfangen
ſolle, von einem unbelebten Gegenſtande zu
ſprechen; ſie ſetzte vielmehr den Vorſchlag
zur extemporirten Komödie mit Eifer durch.
Der polternde Alte ſollte einen penſionirten
Officier, Laertes einen vacirenden Fechtmei¬
ſter, der Pedant einen Juden vorſtellen; ſie
ſelbſt wolle eine Tyrolerin machen, und über¬
ließ den übrigen ſich ihre Rollen zu wählen.
Man ſollte fingiren, als ob ſie eine Geſell¬
ſchaft weltfremder Menſchen ſeyen, die ſo
eben auf einem Marktſchiffe zuſammen komme.
Sie fing ſogleich mit dem Juden ihre
Rolle zu ſpielen an, und eine allgemeine
Heiterkeit verbreitete ſich.
Man war nicht lange gefahren, als der
Schiffer ſtille hielt, um mit Erlaubniß der
Geſellſchaft noch jemand einzunehmen, der
am Ufer ſtand, und gewinkt hatte.
Das iſt eben noch, was wir brauchten,
rief Philine, ein blinder Paſſagier fehlte
noch der Reiſegeſellſchaft.
Ein wohlgebildeter Mann ſtieg in das
Schiff, den man an ſeiner Kleidung und ſei¬
ner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geiſt¬
lichen hätte nehmen können. Er begrüßte
die Geſellſchaft, die ihm nach ihrer Weiſe
dankte, und ihn bald mit ihrem Scherz be¬
kannt machte. Er nahm darauf die Rolle
eines Landgeiſtlichen an, die er zur Verwun¬
derung aller auf das artigſte durchſetzte, in¬
dem er bald ermahnte, bald Hiſtörchen er¬
zählte, einige ſchwache Seiten blicken ließ,
und ſich doch im Reſpekt zu erhalten wußte.
Indeſſen hatte jeder, der nur ein einzi¬
gesmal aus ſeinem Character herausgegan¬
gen war, ein Pfand geben müſſen. Philine
hatte ſie mit großer Sorgfalt geſammlet, und
beſonders den geiſtlichen Herrn mit vielen
Küſſen bey der künftigen Einlöſung bedroht,
ob er gleich ſelbſt nie in Strafe genommen
ward. Melina dagegen war völlig ausge¬
plündert, Hemdenknöpfe und Schnallen, und
alles was Bewegliches an ſeinem Leibe war‚
hatte Philine zu ſich genommen. Denn er
wollte einen reiſenden Engländer vorſtellen,
und konnte auf keine Weiſe in ſeine Rolle
hineinkommen.
Die Zeit war indeß auf das angenehmſte
vergangen, jedes hatte ſeine Einbildungskraft
und ſeinen Witz auf’s möglichſte angeſtrengt,
und jedes ſeine Rolle mit angenehmen und
unterhaltenden Scherzen ausſtaffirt. So
kam man an dem Orte an, wo man ſich den
Tag über aufhalten wollte, und Wilhelm ge¬
rieth mit dem Geiſtlichen, wie wir ihn, ſei¬
nem Ausſehn und ſeiner Rolle nach, nennen
wollen, auf dem Spatziergange bald in ein
intereſſantes Geſpräch.
Ich finde dieſe Übung, ſagte der Unbe¬
kannte, unter Schauſpielern, ja in Geſell¬
ſchaft von Freunden und Bekannten, ſehr
nützlich. Es iſt die beſte Art, die Menſchen
aus ſich heraus und durch einen Umweg wie¬
der in ſich hinein zu führen. Es ſollte bey
jeder Truppe eingeführt ſeyn, daß ſie ſich
manchmal auf dieſe Weiſe üben müßte, und
das Publikum würde gewiß dabey gewinnen,
wenn alle Monate ein nicht geſchriebenes
Stück aufgeführt würde, worauf ſich freylich
die Schauſpieler in mehreren Proben mü߬
ten vorbereitet haben.
Man dürfte ſich, verſetzte Wilhelm, ein
extemporirtes Stück nicht als ein ſolches den¬
ken, das aus dem Stegreife ſogleich compo¬
nirt würde, ſondern als ein ſolches, wovon
zwar Plan, Handlung und Scenen-Einthei¬
lung gegeben wären, deſſen Ausführung aber
dem Schauſpieler überlaſſen bliebe.
Ganz richtig, ſagte der Unbekannte, und
eben was dieſe Ausführung betrifft, würde
ein ſolches Stück, ſobald die Schauſpieler
nur einmal im Gang wären, auſſerordentlich
gewinnen. Nicht die Ausführung durch
Worte, denn durch dieſe muß freylich der
überlegende Schriftſteller ſeine Arbeit zieren,
ſondern die Ausführung durch Gebährden
und Minen, Ausrufungen und was dazu ge¬
hört; kurz das ſtumme, halblaute Spiel,
welches nach und nach bey uns ganz verlo¬
ren zu gehen ſcheint. Es ſind wohl Schau¬
ſpieler in Deutſchland, deren Körper das
zeigt, was ſie denken und fühlen, die durch
Schweigen, Zaudern, durch Winke, durch
zarte anmuthige Bewegungen des Körpers
eine Rede vorzubereiten, und die Pauſen des
Geſprächs durch eine gefällige Pantomime
mit dem Ganzen zu verbinden wiſſen; aber
eine Übung, die einem glücklichen Naturell
zu Hülfe käme, und es lehrte, mit dem
Schriftſteller zu wetteifern, iſt nicht ſo im
Gange, als es zum Troſte derer, die das
Theater beſuchen, wohl zu wünſchen wäre.
Sollte aber nicht, verſetzte Wilhelm, ein
glückliches Naturell, als das erſte und letzte,
einen Schauſpieler, wie jeden andern Künſt¬
ler, ja vielleicht wie jeden Menſchen, allein
zu einem ſo hochaufgeſteckten Ziele bringen?
Das erſte und letzte, Anfang und Ende
möchte es wohl ſeyn und bleiben; aber in
der Mitte dürfte dem Künſtler manches feh¬
len, wenn nicht Bildung das erſt aus ihm
macht, was er ſeyn ſoll, und zwar frühe
Bildung; denn vielleicht iſt derjenige, dem
man Genie zuſchreibt, übler daran als der,
der nur gewöhnliche Fähigkeiten beſitzt; denn
jener kann leichter verbildet und viel hefti¬
ger auf falſche Wege geſtoßen werden, als
dieſer.
Aber, verſetzte Wilhelm, wird das Genie
ſich nicht ſelbſt retten, die Wunden, die es
ſich geſchlagen, ſelbſt heilen?
Mit nichten, verſetzte der andere, oder
wenigſtens nur nothdürftig; denn niemand
glaube die erſten Eindrücke der Jugend ver¬
winden zu können. Iſt er in einer löblichen
Freyheit, umgeben von ſchönen und edlen
Gegenſtänden, in dem Umgange mit guten
Menſchen aufgewachſen, haben ihn ſeine
Meiſter das gelehrt, was er zuerſt wiſſen
mußte, um das übrige leichter zu begreifen,
hat er gelernt, was er nie zu verlernen
braucht, wurden ſeine erſten Handlungen ſo
geleitet, daß er das Gute künftig leichter
und bequemer vollbringen kann, ohne ſich
ir
irgend etwas abgewöhnen zu müſſen; ſo
wird dieſer Menſch ein reineres, vollkomm¬
neres und glücklicheres Leben führen, als ein
anderer, der ſeine erſten Jugendkräfte im
Widerſtand und im Irrthum zugeſetzt hat.
Es wird ſo viel von Erziehung geſprochen
und geſchrieben, und ich ſehe nur wenig
Menſchen, die den einfachen aber großen
Begriff, der alles andere in ſich ſchließt,
faſſen und in die Ausführung übertragen
können.
Das mag wohl wahr ſeyn, ſagte Wil¬
helm, denn jeder Menſch iſt beſchränkt ge¬
nug, den andern zu ſeinem Ebenbild erzie¬
hen zu wollen. Glücklich ſind diejenigen da¬
her, deren ſich das Schickſal annimmt, das
jeden nach ſeiner Weiſe erzieht!
Das Schickſal, verſetzte lächelnd der an¬
dere, iſt ein vornehmer, aber theurer Hof¬
meiſter. Ich würde mich immer lieber an
W. Meiſters Lehrj. U
die Vernunft eines menſchlichen Meiſters hal¬
ten. Das Schickſal, für deſſen Weisheit ich
alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall,
durch den es wirkt, ein ſehr ungelenkes Or¬
gan haben. Denn ſelten ſcheint dieſer genau
und rein auszuführen, was jenes beſchloſſen
hatte.
Sie ſcheinen einen ſehr ſonderbaren Ge¬
danken auszuſprechen, verſetzte Wilhelm.
Mit nichten! Das meiſte, was in der
Welt begegnet, rechtfertigt meine Meinung.
Zeigen viele Begebenheiten im Anfange nicht
einen großen Sinn, und gehen die meiſten
nicht auf etwas albernes hinaus?
Sie wollen ſcherzen.
Und iſt es nicht, fuhr der andere fort,
mit dem, was einzelnen Menſchen begegnet,
eben ſo? Geſetzt, das Schickſal hätte einen
zu einem guten Schauſpieler beſtimmt, (und
warum ſollt’ es uns nicht auch mit guten
Schauſpielern verſorgen?) unglücklicherweiſe
führte der Zufall aber den jungen Mann in
ein Puppenſpiel, wo er ſich früh nicht ent¬
halten könnte, an etwas Abgeſchmackten Theil
zu nehmen, etwas Albernes leidlich, wohl
gar intereſſant zu finden, und ſo die jugend¬
lichen Eindrücke, welche nie verlöſchen, denen
wir eine gewiſſe Anhänglichkeit nie entziehen
können, von einer falſchen Seite zu em¬
pfangen.
Wie kommen Sie auf’s Puppenſpiel?
fiel ihm Wilhelm mit einiger Beſtürzung ein.
Es war nur ein willkürliches Beyſpiel;
wenn es Ihnen nicht gefällt, ſo nehmen wir
ein anderes. Geſetzt das Schickſal hätte ei¬
nen zu einem großen Mahler beſtimmt, und
dem Zufall beliebte es, ſeine Jugend in
ſchmutzige Hütten, Ställe und Scheunen zu
verſtoßen, glauben Sie, daß ein ſolcher
Mann ſich jemals zur Reinlichkeit, zum
U 2
Adel, zur Freyheit der Seele erheben werde?
Mit je lebhafterm Sinne er das Unreine in
ſeiner Jugend angefaßt, und nach ſeiner Art
veredelt hat, deſto gewaltſamer wird es ſich
in der Folge ſeines Lebens an ihm rächen,
indem es ſich, inzwiſchen daß er es zu über¬
winden ſuchte, mit ihm auf's innigſte ver¬
bunden hat. Wer früh in ſchlechter unbe¬
deutender Geſellſchaft gelebt hat, wird ſich,
wenn er auch ſpäter eine beſſere haben kann,
immer nach jener zurückſehnen deren Ein¬
druck ihm, zugleich mit der Erinnerung ju¬
gendlicher, nur ſelten zu wiederholender Freu¬
den, geblieben iſt.
Man kann denken, daß unter dieſem Ge¬
ſpräche ſich nach und nach die übrige Geſell¬
ſchaft entfernt hatte. Beſonders war Phili¬
ne gleich vom Anfang auf die Seite getre¬
ten. Man kam durch einen Seitenweg zu
ihnen zurück. Philine brachte die Pfänder
hervor, welche auf allerley Weiſe gelöſt
werden mußten, wobey der Fremde ſich
durch die artigſten Erfindungen und durch
eine ungezwungene Theilnahme der ganzen
Geſellſchaft, und beſonders den Frauenzim¬
mern, ſehr empfahl, und ſo floſſen die Stun¬
den des Tages unter Scherzen, Singen, Küſ¬
ſen und allerley Neckereyen auf das ange¬
nehmſte vorbey.
Zehntes Capitel.
Als ſie ſich wieder nach Hauſe begeben woll¬
ten, ſahen ſie ſich nach ihrem Geiſtlichen um;
allein er war verſchwunden, und an keinem
Orte zu finden.
Es iſt nicht artig von dem Manne, der
ſonſt viel Lebensart zu haben ſcheint, ſagte
Madam Melina, eine Geſellſchaft, die ihn
ſo freundlich aufgenommen, ohne Abſchied zu
verlaſſen.
Ich habe mich die ganze Zeit her ſchon
beſonnen, ſagte Laertes, wo ich dieſen ſonder¬
baren Mann ſchon ehemals möchte geſehen
haben. Ich war eben im Begriff, ihn beym
Abſchiede darüber zu befragen.
Mir ging es eben ſo, verſetzte Wilhelm,
und ich hätte ihn gewiß nicht entlaſſen, bis
er uns etwas Näheres von ſeinen Umſtän¬
den entdeckt hätte. Ich müßte mich ſehr ir¬
ren, wenn ich ihn nicht ſchon irgendwo ge¬
ſprochen hätte.
Und doch könntet ihr euch, ſagte Philine,
darin wirklich irren. Dieſer Mann hat ei¬
gentlich nur das falſche Anſehn eines Be¬
kannten, weil er ausſieht wie ein Menſch,
und nicht wie Hans oder Kunz.
Was ſoll das heißen, ſagte Laertes, ſehen
wir nicht auch aus wie Menſchen?
Ich weiß, was ich ſage, verſetzte Philine,
und wenn ihr mich nicht begreift, ſo laßt’s
gut ſeyn. Ich werde nicht am Ende noch
gar meine Worte auslegen ſollen.
Zwey Kutſchen fuhren vor. Man lobte
die Sorgfalt des Laertes, der ſie beſtellt hat¬
te. Philine nahm neben Madam Melina
Wilhelmen gegenüber Platz, und die übrigen
richteten ſich ein, ſo gut ſie konnten. Laertes
ſelbſt ritt auf Wilhelms Pferde, das auch
mit heraus gekommen war, nach der Stadt
zurück.
Philine ſaß kaum in dem Wagen, als ſie
artige Lieder zu ſingen und das Geſpräch
auf Geſchichten zu lenken wußte, von denen
ſie behauptete, daß ſie mit Glück dramatiſch
behandelt werden könnten. Durch dieſe klu¬
ge Wendung hatte ſie gar bald ihren jungen
Freund in ſeine beſte Laune geſetzt, und er
komponirte aus dem Reichthum ſeines leben¬
digen Bildervorraths ſogleich ein ganzes
Schauſpiel mit allen ſeinen Akten, Scenen,
Characteren und Verwicklungen. Man fand
für gut, einige Arien und Geſänge einzuflech¬
ten; man dichtete ſie und Philine, die in al¬
les einging, paßte ihnen gleich bekannte Me¬
lodien an, und ſang ſie aus dem Stegreife.
Sie hatte eben heute ihren ſchönen, ſehr
ſchönen Tag, ſie wußte mit allerley Necke¬
reyen unſern Freund zu beleben; es ward ihm
wohl, wie es ihm lange nicht geweſen war.
Seitdem ihn jene grauſame Entdeckung
von der Seite Marianens geriſſen hatte,
war er dem Gelübde treu geblieben, ſich vor
der zuſammenſchlagenden Falle einer weibli¬
chen Umarmung zu hüthen, das treuloſe Ge¬
ſchlecht zu meiden, ſeine Schmerzen, ſeine
Neigung, ſeine ſüßen Wünſche in ſeinem
Buſen zu verſchließen. Die Gewiſſenhaftig¬
keit, womit er dieß Gelübde beobachtete, gab
ſeinem ganzen Weſen eine geheime Nahrung,
und wenn ſein Herz nicht ohne Theilneh¬
mung bleiben konnte, ſo ward eine liebevolle
Mittheilung nun zum Bedürfniſſe. Er ging
wieder wie von dem erſten Jugendnebel be¬
gleitet umher, ſeine Augen faßten jeden rei¬
zenden Gegenſtand mit Freuden auf, und nie
war ſein Urtheil über eine liebenswürdige
Geſtalt ſchonender geweſen. Wie gefährlich
ihm in einer ſolchen Lage das verwegene
Mädchen werden mußte, läßt ſich leider nur
zu gut einſehen.
Zu Hauſe fanden ſie auf Wilhelms Zim¬
mer ſchon alles zum Empfang bereit, die
Stühle zu einer Vorleſung zurechte geſtellt,
und den Tiſch in die Mitte geſetzt, auf wel¬
chem der Punſchnapf ſeinen Platz nehmen
ſollte.
Die deutſchen Ritterſtücke waren damals
eben neu, und hatten die Aufmerkſamkeit
und Neigung des Publikums an ſich gezo¬
gen. Der alte Polterer hatte eines dieſer
Art mitgebracht, und die Vorleſung war be¬
ſchloſſen worden. Man ſetzte ſich nieder.
Wilhelm bemächtigte ſich des Exemplars,
und fing zu leſen an.
Die geharniſchten Ritter, die alten Bur¬
gen, die Treuherzigkeit, Rechtlichkeit und
Redlichkeit, beſonders aber die Unabhängig¬
keit der handelnden Perſonen wurden mit
großem Beyfall aufgenommen. Der Vorle¬
ſer that ſein Möglichſtes, und die Geſell¬
ſchaft kam ganz auſſer ſich. Zwiſchen dem
zweyten und dritten Akte kam der Punſch
in einem großen Napfe, und da in dem
Stücke ſelbſt ſehr viel getrunken und ange¬
ſtoßen wurde; ſo war nichts natürlicher, als
daß die Geſellſchaft, bey jedem ſolchen Falle,
ſich lebhaft an den Platz der Helden verſetz¬
te, gleichfalls anſtieß, und die Günſtlinge
unter den handelnden Perſonen hoch leben
ließ.
Jedermann war von dem Feuer des edel¬
ſten Nationalgeiſtes entzündet. Wie ſehr ge¬
fiel es dieſer deutſchen Geſellſchaft, ſich, ihrem
Character gemäß, auf eignem Grund und
Boden poetiſch zu ergötzen! Beſonders tha¬
ten die Gewölbe und Keller, die verfallenen
Schlöſſer, das Moos und die hohlen Bäume,
über alles aber die nächtlichen Zigeunerſcenen
und das heimliche Gericht eine ganz un¬
glaubliche Wirkung. Jeder Schauſpieler ſah
nun, wie er bald in Helm und Harniſch,
jede Schauſpielerin, wie ſie mit einem großen
ſtehenden Kragen ihre Deutſchheit vor dem
Publiko produziren werde. Jeder wollte ſich
ſogleich einen Namen aus dem Stücke oder
aus der deutſchen Geſchichte zueignen, und
Madam Melina betheuerte, Sohn oder Toch¬
ter, wozu ſie Hoffnung hatte, nicht anders
als Adelbert oder Mathilde taufen zu laſſen.
Gegen den fünften Akt ward der Beyfall
lärmender und lauter, ja zuletzt, als der Held
wirklich ſeinem Unterdrücker entging, und der
Tyrann geſtraft wurde, war das Entzücken
ſo groß, daß man ſchwur, man habe nie ſo
glückliche Stunden gehabt. Melina, den der
Trank begeiſtert hatte, war der lauteſte, und
da der zweyte Punſchnapf geleert war, und
Mitternacht herannahete, ſchwur Laertes hoch
und theuer, es ſey kein Menſch würdig, an
dieſe Gläſer jemals wieder eine Lippe zu
ſetzen, und warf mit dieſer Betheuerung ſein
Glas hinter ſich und durch die Scheiben auf
die Gaſſe hinaus. Die übrigen folgten ſei¬
nem Beyſpiele, und ohnerachtet der Proteſta¬
tionen des Wirthes, der herbeylief, wurde
der Punſchnapf ſelbſt, der nach einem ſolchen
Feſte durch unheiliges Getränk nicht wieder
entweiht werden ſollte, in tauſend Stücke ge¬
ſchlagen. Philine, der man ihren Rauſch
am wenigſten anſah, indeß die beiden Mäd¬
chen nicht in den anſtändigſten Stellungen
auf dem Kanape lagen, reizte die andern
mit Schadenfreude zum Lärm. Madam Me¬
lina rezitirte einige erhabene Gedichte, und
ihr Mann, der im Rauſche nicht ſehr liebens¬
würdig war, fing an auf die ſchlechte Berei¬
tung des Punſches zu ſchelten, verſicherte,
daß er ein Feſt ganz anders einzurichten ver¬
ſtehe, und ward zuletzt, als Laertes Still¬
ſchweigen gebot, immer gröber und lauter,
ſo daß dieſer, ohne ſich lange zu bedenken,
ihm die Scherben des Napfs an den Kopf
warf, und dadurch den Lärm nicht wenig
vermehrte.
Indeſſen war die Schaarwache herbey ge¬
kommen, und verlangte ins Haus eingelaſſen
zu werden. Wilhelm, vom Leſen ſehr erhitzt,
ob er gleich nur wenig getrunken, hatte ge¬
nug zu thun, um mit Beyhülfe des Wirths
die Leute durch Geld und gute Worte zu be¬
friedigen, und die Glieder der Geſellſchaft in
ihren mißlichen Umſtänden nach Hauſe zu
ſchaffen. Er warf ſich, als er zurück kam,
vom Schlafe überwältigt, voller Unmuth,
unausgekleidet auf’s Bette, und nichts glich
der unangenehmen Empfindung, zu der er
des andern Morgens erwachte, und, als er
die Augen aufſchlug, mit düſterm Blick auf
die Verwüſtungen des vergangenen Tages,
den Unrath und die böſen Wirkungen hin¬
ſah, die ein geiſtreiches, lebhaftes und wohl¬
gemeyntes Dichterwerk hervorgebracht hatte.
Eilftes Capitel.
Nach einem kurzen Bedenken rief er ſogleich
den Wirth herbey, und ließ ſowohl den
Schaden als die Zeche auf ſeine Rechnung
ſchreiben. Zugleich vernahm er nicht ohne
Verdruß, daß ſein Pferd von Laertes geſtern
bey dem Hereinreiten dergeſtalt angegriffen
worden, daß es wahrſcheinlich, wie man zu
ſagen pflegt, verſchlagen habe, und daß der
Schmidt wenig Hoffnung zu ſeinem Aufkom¬
men gebe.
Ein Gruß von Philinen, den ſie ihm aus
ihrem Fenſter zuwinkte, verſetzte ihn dagegen
wieder in einen heitern Zuſtand, und er ging
ſogleich in den nächſten Laden, um ihr ein
kleines Geſchenk, das er ihr gegen das Pu¬
dermeſſer noch ſchuldig war, zu kaufen, und
wir
wir müſſen bekennen, er hielt ſich nicht in
den Grenzen eines proportionirten Gegenge¬
ſchenks. Er kaufte ihr nicht allein ein Paar
ſehr niedliche Ohrringe, ſondern nahm dazu
noch einen Hut und Halstuch, und einige
andere Kleinigkeiten, die er ſie den erſten
Tag hatte verſchwenderiſch wegwerfen ſehen.
Madam Melina, die ihn eben als er
ſeine Gaben überreichte, zu beobachten kam,
ſuchte noch vor Tiſche eine Gelegenheit, ihn
ſehr ernſtlich über die Empfindung für dieſes
Mädchen zur Rede zu ſetzen, und er war
um ſo erſtaunter, als er nichts weniger als
dieſe Vorwürfe zu verdienen glaubte. Er
ſchwur hoch und theuer, daß es ihm keines¬
wegs eingefallen ſey, ſich an dieſe Perſon,
deren ganzen Wandel er wohl kenne, zu
wenden, er entſchuldigte ſich ſo gut er konnte
über ſein freundliches und artiges Betragen
gegen ſie, und befriedigte Madam Melina
W. Meiſters Lehrj. X
auf keine Weiſe, vielmehr ward dieſe immer
verdrießlicher, da ſie bemerken mußte, daß
die Schmeicheley, wodurch ſie ſich eine Art
von Neigung unſers Freundes erworben hat¬
te, nicht hinreiche, dieſen Beſitz gegen die
Angriffe einer lebhaften, jüngern und von
der Natur glücklicher begabten Perſon zu
vertheidigen.
Ihren Mann fanden ſie gleichfalls, da
ſie zu Tiſche kamen, bey ſehr üblem Humor,
und er fing ſchon an, ihn über Kleinigkeiten
auszulaſſen, als der Wirth hereintrat und
einen Harfenſpieler anmeldete. Sie werden,
ſagte er, gewiß Vergnügen an der Muſik
und an den Geſängen dieſes Mannes finden,
es kann ſich niemand, der ihn hört, enthal¬
ten, ihn zu bewundern, und ihm etwas we¬
niges mitzutheilen.
Laſſen Sie ihn weg, verſetzte Melina, ich
bin nichts weniger als geſtimmt einen Leyer¬
mann zu hören, und wir haben allenfalls
Sänger unter uns, die gern etwas verdien¬
ten. Er begleitete dieſe Worte mit einem
tückiſchen Seitenblicke, den er auf Philinen
warf. Sie verſtand ihn, und war gleich be¬
reit, zu ſeinem Verdruß, den angemeldeten
Sänger zu beſchützen. Sie wendete ſich zu
Wilhelmen, und ſagte, ſollen wir den Mann
nicht hören, ſollen wir nichts thun, um uns
aus der erbärmlichen Langenweile zu retten?
Melina wollte ihr antworten, und der
Streit wäre lebhafter geworden, wenn nicht
Wilhelm den im Augenblick hereintretenden
Mann begrüßt und ihn herbeygewinkt hätte.
Die Geſtalt dieſes ſeltſamen Gaſtes ſetzte
die ganze Geſellſchaft in Erſtaunen, und er
hatte ſchon von einem Stuhle Beſitz genom¬
men, ehe jemand ihn zu fragen oder ſonſt
etwas vorzubringen das Herz hatte. Sein
kahler Scheitel war von wenig grauen Haa¬
X 2
ren umkränzt, große blaue Augen blickten
ſanft unter langen weißen Augenbraunen
hervor. An eine wohlgebildete Naſe ſchloß
ſich ein langer weißer Bart an, ohne die ge¬
fällige Lippe zu bedecken, und ein langes
dunkelbraunes Gewand umhüllte den ſchlan¬
ken Körper vom Halſe bis zu den Füßen,
und ſo fing er auf der Harfe, die er vor
ſich genommen hatte, zu präludiren an.
Die angenehmen Töne, die er aus dem
Inſtrumente hervorlockte, erheiterten gar bald
die Geſellſchaft.
Ihr pflegt auch zu ſingen, guter Alter,
ſagte Philine.
Gebt uns etwas, das Herz und Geiſt zu¬
gleich mit den Sinnen ergötze, ſagte Wil¬
helm. Das Inſtrument ſollte nur die Stim¬
me begleiten; denn Melodien, Gänge und
Läufe ohne Worte und Sinn, ſcheinen mir
Schmetterlingen oder ſchönen bunten Vögeln
ähnlich zu ſeyn, die in der Luft vor unſern
Augen herum ſchweben, die wir allenfalls
haſchen und uns zueignen mögten; da ſich
der Geſang dagegen wie ein Genius gen
Himmel hebt, und das beſſere Ich in uns
ihn zu begleiten anreizt.
Der Alte ſah Wilhelmen an, alsdann in
die Höhe, that einige Griffe auf der Harfe,
und begann ſein Lied. Es enthielt ein Lob
auf den Geſang, pries das Glück der Sän¬
ger, und ermahnte die Menſchen, ſie zu ehren.
Er trug das Lied mit ſo viel Leben und
Wahrheit vor, daß es ſchien, als hätte er es
in dieſem Augenblicke und bey dieſem An¬
laſſe gedichtet. Wilhelm enthielt ſich kaum,
ihm um den Hals zu fallen, nur die Furcht,
ein lautes Gelächter zu erregen, zog ihn auf
ſeinen Stuhl zurück; denn die übrigen mach¬
ten ſchon halb laut einige alberne Anmer¬
kungen, und ſtritten, ob es ein Pfaffe oder
Jude ſey.
Als man nach dem Verfaſſer des Liedes
fragte, gab er keine beſtimmte Antwort, nur
verſicherte er, daß er reich an Geſängen ſey,
und wünſche nur, daß ſie gefallen möchten.
Der größte Theil der Geſellſchaft war fröh¬
lig und freudig, ja ſelbſt Melina nach ſeiner
Art offen geworden, und indem man unter
einander ſchwatzte und ſcherzte, fing der Alte
das Lob des geſelligen Lebens auf das geiſt¬
reichſte zu ſingen an. Er pries Einigkeit
und Gefälligkeit mit einſchmeichelnden Tönen.
Auf einmal ward ſein Geſang trocken, rauh
und verworren, als er gehäſſige Verſchloſſen¬
heit, kurzſinnige Feindſchaft und gefährlichen
Zwieſpalt bedauerte, und gern warf jede
Seele dieſe unbequemen Feſſeln ab, als er,
auf den Fittigen einer vordringenden Melo¬
die getragen, die Friedensſtifter prieß, und
das Glück der Seelen, die ſich wieder finden,
ſang.
Kaum hatte er geendigt, als ihm Wil¬
helm zurief: wer du auch ſeyſt, der du als
ein hülfreicher Schutzgeiſt mit einer ſegnen¬
den und belebenden Stimme zu uns kommſt,
nimm meine Verehrung und meinen Dank,
fühle, daß wir alle dich bewundern, und ver¬
trau uns, wenn du etwas bedarfſt.
Der Alte ſchwieg, ließ erſt ſeine Finger
über die Saiten ſchleichen, dann griff er ſie
ſtärker an, und ſang:
Was hör’ ich draußen vor dem Thor?
Was auf der Brücke ſchallen?
Laßt den Geſang zu unſerm Ohr
Im Saale wiederhallen!
Der König ſprach's, der Page lief,
Der Knabe kam, der König rief:
Bring ihn herein den Alten.
Gegrüßet ſeyd ihr hohe Herrn,
Gegrüßt ihr ſchöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern bey Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt Augen euch, hier iſt nicht Zeit
Sich ſtaunend zu ergötzen.
Der Sänger drückt die Augen ein,
Und ſchlug die vollen Töne,
Der Ritter ſchaute muthig drein,
Und in den Schoos die Schöne.
Der König, dem das Lied gefiel,
Ließ ihm, zum Lohne für ſein Spiel,
Eine goldne Kette holen.
Die goldne Kette gieb mir nicht,
Die Kette gieb den Rittern,
Vor deren kühnem Angeſicht
Der Feinde Lanzen ſplittern.
Gieb ſie dem Kanzler, den du haſt,
Und laß ihn noch die goldne Laſt
Zu andern Laſten tragen.
Ich ſinge, wie der Vogel ſingt,
Der in den Zweigen wohnet.
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Iſt Lohn, der reichlich lohnet;
Doch darf ich bitten, bitt’ eins,
Laßt einen Trunk des beſten Weins
In reinem Glaſe bringen.
Er ſetzt es an, er trank es aus.
O Trank der ſüßen Labe!
O! dreymal hochbeglücktes Haus
Wo das iſt kleine Gabe!
Ergeht’s euch wohl, ſo denkt an mich,
Und danket Gott, ſo warm als ich
Für dieſen Trunk euch danke.
Da der Sänger nach geendigtem Liede
ein Glas Wein, das für ihn eingeſchenkt da
ſtand, ergriff, und es mit freundlicher Mie¬
ne, ſich gegen ſeine Wohlthäter wendend,
austrank, entſtand eine allgemeine Freude in
der Verſammlung. Man klatſchte, und rief
ihm zu, es möge dieſes Glas zu ſeiner Ge¬
ſundheit, zur Stärkung ſeiner alten Glieder
gereichen. Er ſang noch einige Romanzen,
und erregte immer mehr Munterkeit in der
Geſellſchaft.
Kannſt du die Melodie, Alter, rief Phi¬
line, der Schäfer putzte ſich zum Tanz?
O ja, verſetzte er, wenn Sie das Lied
ſingen und aufführen wollen, an mir ſoll es
nicht fehlen.
Philine ſtand auf, und hielt ſich fertig.
Der Alte begann die Melodie, und ſie ſang
ein Lied, das wir unſern Leſern nicht mit¬
theilen können, weil ſie es vielleicht abge¬
ſchmackt oder wohl gar unanſtändig finden
könnten.
Inzwiſchen hatte die Geſellſchaft, die im¬
mer heiterer geworden war, noch manche
Flaſche Wein ausgetrunken, und fing an ſehr
laut zu werden. Da aber unſerm Freunde
die böſen Folgen ihrer Luſt noch in friſchen
Andenken ſchwebten, ſuchte er abzubrechen,
ſteckte dem Alten für ſeine Bemühung eine
reichliche Belohnung in die Hand, die andern
thaten auch etwas, man ließ ihn abtreten
und ruhen, und verſprach ſich auf den Abend
eine wiederholte Freude von ſeiner Geſchick¬
lichkeit.
Als er hinweg war, ſagte Wilhelm zu
Philinen, ich kann zwar in Ihrem Leibge¬
ſange weder ein dichteriſches noch ſittliches
Verdienſt finden; doch wenn Sie mit eben
der Naivität, Eigenheit und Zierlichkeit et¬
was ſchickliches auf dem Theater jemals aus¬
führen, ſo wird Ihnen allgemeiner lebhafter
Beyfall gewiß zu Theil werden.
Ja, ſagte Philine, es müßte eine recht
angenehme Empfindung ſeyn, ſich am Eiſe
zu wärmen.
Überhaupt, ſagte Wilhelm, wie ſehr be¬
ſchämt dieſer Mann manchen Schauſpieler.
Haben Sie bemerkt, wie richtig der dramati¬
ſche Ausdruck ſeiner Romanzen war? Gewiß
es lebte mehr Darſtellung in ſeinem Geſang,
als in unſern ſteifen Perſonen auf der Büh¬
ne; man ſollte die Aufführung mancher
Stücke eher für eine Erzählung halten, und
dieſen muſikaliſchen Erzählungen eine ſinnli¬
che Gegenwart zuſchreiben.
Sie ſind ungerecht, verſetzte Laertes, ich
gebe mich weder für einen großen Schauſpie¬
ler noch Sänger; aber das weiß ich, daß,
wenn die Muſik die Bewegungen des Kör¬
pers leitet, ihnen Leben giebt, und ihnen zu¬
gleich das Maaß vorſchreibt; wenn Decla¬
mation und Ausdruck ſchon von dem Com¬
poſiteur auf mich übertragen werden: ſo bin
ich ein ganz anderer Menſch, als wenn ich
im proſaiſchen Drama das alles erſt erſchaf¬
fen, und Takt und Declamation mir erſt er¬
finden ſoll, worin mich noch dazu jeder Mit¬
ſpielende ſtören kann.
So viel weiß ich, ſagte Melina, daß uns
dieſer Mann in Einem Punkte gewiß be¬
ſchämt, und zwar in einem Hauptpunkte.
Die Stärke ſeiner Talente zeigt ſich in dem
Nutzen, den er davon zieht. Uns, die wir
vielleicht bald in Verlegenheit ſeyn werden,
wo wir eine Mahlzeit hernehmen, bewegt er,
unſre Mahlzeit mit ihm zu theilen. Er weiß
uns das Geld, das wir anwenden könnten,
um uns in einige Verfaſſung zu ſetzen, durch
ein Liedchen aus der Taſche zu locken. Es
ſcheint ſo angenehm zu ſeyn, das Geld zu
verſchleudern, womit man ſich und andern
eine Exiſtenz verſchaffen könnte.
Das Geſpräch bekam durch dieſe Bemer¬
kung nicht die angenehmſte Wendung. Wil¬
helm, auf den der Vorwurf eigentlich gerich¬
tet war, antwortete mit einiger Leidenſchaft,
und Melina, der ſich eben nicht der größten
Feinheit befliß, brachte zuletzt ſeine Beſchwer¬
den mit ziemlich trocknen Worten vor. Es
ſind nun ſchon vierzehn Tage, ſagte er, daß
wir das hier verpfändete Theater und die
Garderobe beſehen haben, und beides konn¬
ten wir für eine ſehr leidliche Summe haben.
Sie machten mir damals Hoffnung, daß Sie
mir ſo viel creditiren würden, und bis jetzt
habe ich noch nicht geſehen, daß Sie die
Sache weiter bedacht oder ſich einem Ent¬
ſchluß genähert hätten. Griffen Sie damals
zu, ſo wären wir jetzt im Gange. Ihre Ab¬
ſicht zu verreiſen haben Sie auch noch nicht
ausgeführt, und Geld ſcheinen Sie mir dieſe
Zeit über auch nicht geſpart zu haben; we¬
nigſtens giebt es Perſonen, die immer Gele¬
genheit zu verſchaffen wiſſen, daß es geſchwin¬
der weggehe.
Dieſer nicht ganz ungerechte Vorwurf traf
unſern Freund. Er verſetzte einiges darauf
mit Lebhaftigkeit, ja mit Heftigkeit, und er¬
griff, da die Geſellſchaft aufſtund und ſich
zerſtreute, die Thüre, indem er nicht undeut¬
lich zu erkennen gab, daß er ſich nicht lange
mehr bey ſo unfreundlichen und undankba¬
ren Menſchen aufhalten wolle. Er eilte ver¬
drießlich hinunter, ſich auf eine ſteinerne
Bank zu ſetzen, die vor dem Thore ſeines
Gaſthofs ſtand, und bemerkte nicht, daß er
halb aus Luſt, halb aus Verdruß mehr als
gewöhnlich getrunken hatte.
Zwölftes Capitel.
Nach einer kurzen Zeit, die er, beunruhigt
von mancherley Gedanken, ſitzend und vor
ſich hinſehend zugebracht hatte, ſchlenderte
Philine ſingend zur Hausthüre heraus, ſetzte
ſich zu ihm, ja man dürfte beynahe ſagen,
auf ihn, ſo nahe rückte ſie an ihn heran,
lehnte ſich auf ſeine Schultern, ſpielte mit
ſeinen Locken, ſtreichelte ihn, und gab ihm
die beſten Worte von der Welt. Sie bat
ihn, er mögte ja bleiben, und ſie nicht in
der Geſellſchaft allein laſſen, in der ſie vor
langer Weile ſterben müßte; ſie könne es
nicht mehr mit Melina unter Einem Dache
ausdauern, und habe ſich deswegen herüber
quartirt.
Ver¬
Vergebens ſuchte er ſie abzuweiſen, ihr
begreiflich zu machen, daß er länger weder
bleiben könne noch dürfe. Sie ließ mit Bit¬
ten nicht ab, ja unvermuthet ſchlang ſie ihren
Arm um ſeinen Hals, und küßte ihn mit
dem lebhafteſten Ausdrucke des Verlangens.
Sind Sie toll, Philine? rief Wilhelm
aus, indem er ſich loszumachen ſuchte. Die
öffentliche Straße zum Zeugen ſolcher Lieb¬
koſungen zu machen, die ich auf keine Weiſe
verdiene. Laſſen Sie mich los, ich kann
nicht und ich werde nicht bleiben.
Und ich werde dich feſt halten, ſagte ſie,
und ich werde dich hier auf öffentlicher Gaſſe
ſo lange küſſen, bis du mir verſprichſt, was
ich wünſche. Ich lache mich zu Tode, fuhr
ſie fort; nach dieſer Vertraulichkeit halten
mich die Leute gewiß für deine Frau von
vier Wochen, und die Ehemänner, die eine
ſo anmuthige Scene ſehen, werden mich ihren
W. Meiſters Lehrj. Y
Weibern als ein Muſter einer kindlich un¬
befangenen Zärtlichkeit anpreiſen.
Eben gingen einige Leute vorbey, und ſie
liebkoſte ihn auf das anmuthigſte, und er,
um kein Skandal zu geben, war gezwungen,
die Rolle des geduldigen Ehemannes zu ſpie¬
len. Dann ſchnitt ſie den Leuten Geſichter
im Rücken, und trieb voll Übermuth aller¬
hand Ungezogenheiten, bis er zuletzt verſpre¬
chen mußte, noch heute und morgen und
übermorgen zu bleiben.
Sie ſind ein rechter Stock, ſagte ſie dar¬
auf, indem ſie von ihm abließ, und ich eine
Thörin, daß ich ſo viel Freundlichkeit an
Sie verſchwende. Sie ſtand verdrießlich auf
und ging einige Schritte; dann kehrte ſie
lachend zurück, und rief: ich glaube eben,
daß ich darum in dich vernarrt bin, ich will
nur gehen und meinen Strickſtrumpf holen,
daß ich etwas zu thun habe. Bleibe ja, da¬
mit ich den ſteinernen Mann auf der ſteiner¬
nen Bank wieder finde.
Dießmal that ſie ihm unrecht; denn ſo
ſehr er ſich von ihr zu enthalten ſtrebte, ſo
würde er doch in dieſem Augenblicke, hätte
er ſich mit ihr in einer einſamen Laube be¬
funden, ihre Liebkoſungen wahrſcheinlich nicht
unerwiedert gelaſſen haben.
Sie ging, nachdem ſie ihm einen leicht¬
fertigen Blick zugeworfen, in das Haus. Er
hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr
hatte ihr Betragen einen neuen Widerwillen
in ihm erregt; doch hob er ſich, ohne ſelbſt
recht zu wiſſen warum, von der Bank, um
ihr nachzugehen.
Er war eben im Begriff in die Thüre zu
treten, als Melina herbeykam, ihn beſchei¬
den anredete, und ihn wegen einiger im
Wortwechſel zu hart ausgeſprochener Aus¬
drücke um Verzeihung bat. Sie nehmen mir
Y 2
nicht übel, fuhr er fort, wenn ich in dem
Zuſtande, in dem ich mich befinde, mich viel¬
leicht zu ängſtlich bezeige; aber die Sorge
für eine Frau, vielleicht bald für ein Kind,
verhindert mich von einem Tag in dem an¬
dern, ruhig zu leben, und meine Zeit mit
dem Genuß angenehmer Empfindungen hin¬
zubringen, wie Ihnen noch erlaubt iſt. Über¬
denken Sie, und wenn es Ihnen möglich iſt,
ſo ſetzen Sie mich in den Beſitz der theatra¬
liſchen Geräthſchaften, die ſich hier vorfin¬
den. Ich werde nicht lange Ihr Schuldner
und Ihnen dafür ewig dankbar bleiben.
Wilhelm, der ſich ungern auf der Schwel¬
le aufgehalten ſah, über die ihn eine unwi¬
derſtehliche Neigung in dieſem Augenblicke
zu Philinen hinüberzog, ſagte mit einer über¬
raſchten Zerſtreuung und eilfertigen Gutmü¬
thigkeit: wenn ich Sie dadurch glücklich und
zufrieden machen kann, ſo will ich mich nicht
länger bedenken. Gehn Sie hin, machen
Sie alles richtig. Ich bin bereit, noch die¬
ſen Abend oder morgen früh das Geld zu
zahlen. Er gab hierauf Melina'n die Hand
zur Beſtätigung ſeines Verſprechens, und
war ſehr zufrieden, als er ihn eilig über die
Straße weggehen ſah; leider aber wurde er
von ſeinem Eindringen ins Haus zum zwey¬
tenmal und auf eine unangenehmere Weiſe
zurück gehalten.
Ein junger Menſch mit einem Bündel
auf dem Rücken kam eilig die Straße her,
und trat zu Wilhelmen, der ihn gleich für
Friedrichen erkannte.
Da bin ich wieder! rief er aus, indem er
ſeine großen blauen Augen freudig umher
und hinauf an alle Fenſter gehen ließ; wo
iſt Mamſell? Der Henker mag es länger in
der Welt aushalten, ohne ſie zu ſehen!
Der Wirth, der eben dazu getreten war,
verſetzte, ſie iſt oben, und mit wenigen
Sprüngen war er die Treppe hinauf, und
Wilhelm blieb wie auf der Schwelle einge¬
wurzelt ſtehen. Er hätte in den erſten Au¬
genblicken den Jungen bey den Haaren rück¬
wärts die Treppe herunterreiſſen mögen;
dann hemmte der heftige Kampf einer ge¬
waltſamen Eiferſucht auf einmal den Lauf
ſeiner Lebensgeiſter und ſeiner Ideen, und
da er ſich nach und nach von ſeiner Erſtar¬
rung erholte, überfiel ihn eine Unruhe, ein
Unbehagen, dergleichen er in ſeinem Leben
noch nicht empfunden hatte.
Er ging auf ſeine Stube, und fand Mi¬
gnon mit Schreiben beſchäftigt. Das Kind
hatte ſich eine Zeit her mit großem Fleiße
bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu
ſchreiben, und hatte ſeinem Herrn und Freund
das Geſchriebene zu korrigiren gegeben. Sie
war unermüdet, und faßte gut; aber die
Buchſtaben blieben ungleich, und die Linien
krumm. Auch hier ſchien ihr Körper dem
Geiſte zu widerſprechen. Wilhelm, dem die
Aufmerkſamkeit des Kindes, wenn er ruhigen
Sinnes war, große Freude machte, achtete
dießmal wenig auf das, was ſie ihm zeigte;
ſie fühlte es, und betrübte ſich darüber nur
deſtomehr, als ſie glaubte, dießmal ihre
Sache recht gut gemacht zu haben.
Wilhelms Unruhe trieb ihn auf den Gän¬
gen des Hauſes auf und ab, und bald wie¬
der an die Hausthüre. Ein Reiter ſprengte
vor, der ein gutes Anſehn hatte, und der
bey geſetzten Jahren noch viel Munterkeit
verrieth. Der Wirth eilte ihm entgegen,
reichte ihm als einem bekannten Freunde die
Hand, und rief: ey, Herr Stallmeiſter, ſieht
man Sie auch einmal wieder?
Ich will nur hier füttern, verſetzte der
Fremde, ich muß gleich hinüber auf das
Gut, um in der Geſchwindigkeit allerley
einrichten zu laſſen. Der Graf kömmt mor¬
gen mit ſeiner Gemahlin, ſie werden ſich eine
Zeitlang drüben aufhalten, um den Prinzen
von * * * auf das Beſte zu bewirthen, der in
dieſer Gegend wahrſcheinlich ſein Hauptquar¬
tier aufſchlägt.
Es iſt Schade, daß Sie nicht bey uns
bleiben können, verſetzte der Wirth, wir ha¬
ben gute Geſellſchaft. Der Reitknecht, der
nachſprengte, nahm dem Stallmeiſter das
Pferd ab, der ſich unter der Thüre mit dem
Wirth unterhielt, und Wilhelmen von der
Seite anſah.
Dieſer, da er merkte, daß von ihm die
Rede ſey, begab ſich weg, und ging einige
Straßen auf und ab.
Dreyzehntes Capitel.
In der verdrießlichen Unruhe, in der er ſich
befand, fiel ihm ein, den Alten aufzuſuchen,
durch deſſen Harfe er die böſen Geiſter zu
verſcheuchen hofte. Man wies ihn, als er
nach dem Manne fragte, an ein ſchlechtes
Wirthshaus in einem entfernten Winkel des
Städtchens, und in demſelben die Treppe
hinauf bis auf den Boden, wo ihm der ſüße
Harfenklang aus einer Kammer entgegen
ſchallte. Es waren herzrührende, klagende
Töne, von einem traurigen, ängſtlichen Ge¬
ſange begleitet. Wilhelm ſchlich an die Thü¬
re, und da der gute Alte eine Art von Phan¬
taſie vortrug, und wenige Strophen theils
ſingend theils recitirend immer wiederholte,
konnte der Horcher, nach einer kurzen
Aufmerkſamkeit, ungefähr folgendes ver¬
ſtehen :
Wer nie ſein Brod mit Thränen as,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf ſeinem Bette weinend ſas,
Der kennt euch nicht, ihr himmliſchen Mächte.
Ihr führt ins Leben uns hinein,
Ihr laßt den Armen ſchuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein;
Denn alle Schuld rächt ſich auf Erden.
Die wehmüthige herzliche Klage drang
tief in die Seele des Hörers. Es ſchien ihm,
als ob der Alte manchmal von Thränen ge¬
hindert würde fortzufahren; dann klangen
die Saiten allein, bis ſich wieder die Stim¬
me leiſe in gebrochenen Lauten dazwiſchen
miſchte. Wilhelm ſtand an dem Pfoſten, ſei¬
ne Seele war tief gerührt, die Trauer des
Unbekannten ſchloß ſein beklommenes Herz
auf; er widerſtand nicht dem Mitgefühl,
und konnte und wollte die Thränen nicht zu¬
rück halten, die des Alten herzliche Klage
endlich auch aus ſeinen Augen hervorlockte.
Alle Schmerzen, die ſeine Seele drückten,
löſten ſich zu gleicher Zeit auf, er überließ
ſich ihnen ganz, ſtieß die Kammerthüre auf,
und ſtand vor dem Alten, der ein ſchlechtes
Bette, den einzigen Hausrath dieſer armſeli¬
gen Wohnung, zu ſeinem Sitze zu nehmen
genöthigt geweſen.
Was haſt du mir für Empfindungen rege
gemacht, guter Alter? rief er aus: Alles,
was in meinem Herzen ſtockte, haſt du los
gelöst; laß dich nicht ſtören, ſondern fahre
fort, indem du deine Leiden linderſt, einen
Freund glücklich zu machen. Der Alte woll¬
te aufſtehen und etwas reden, Wilhelm ver¬
hinderte ihn daran; denn er hatte zu Mit¬
tage bemerkt, daß der Mann ungern ſprach;
er ſetzte ſich vielmehr zu ihm auf den Stroh¬
ſack nieder.
Der Alte trocknete ſeine Thränen, und
fragte mit einem freundlichen Lächeln: wie
kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen die¬
ſen Abend wieder aufwarten.
Wir ſind hier ruhiger, verſetzte Wilhelm,
ſinge mir, was du willſt, was zu deiner Lage
paßt, und thue nur, als ob ich gar nicht hier
wäre. Es ſcheint mir, als ob du heute nicht
irren könnteſt, ich finde dich ſehr glücklich,
daß du dich in der Einſamkeit ſo angenehm
beſchäftigen und unterhalten kannſt, und da
du überall ein Fremdling biſt, in deinem
Herzen die angenehme Bekanntſchaft findeſt.
Der Alte blickte auf ſeine Saiten, und
nachdem er ſanft präludirt, ſtimmte er an
und ſang:
Wer ſich der Einſamkeit ergiebt
Ach! der iſt bald allein,
Ein jeder lebt, ein jeder liebt,
Und läßt ihn ſeiner Pein.
Ja! laßt mich meiner Qual!
Und kann ich nur einmal
Recht einſam ſeyn,
Dann bin ich nicht allein.
Es ſchleicht ein Liebender lauſchend ſacht,
Ob ſeine Freundin allein?
So überſchleicht bey Tag und Nacht
Mich Einſamen die Pein,
Mich Einſamen die Qual.
Ach werd’ ich erſt einmal
Einſam im Grabe ſeyn,
Da läßt ſie mich allein!
Wir würden zu weitläuftig werden, und
doch die Anmuth der ſeltſamen Unterredung
nicht ausdrucken können, die unſer Freund
mit dem abentheuerlichen Fremden hielt. Auf
alles, was der Jüngling zu ihm ſagte, ant¬
wortete der Alte mit der reinſten Überein¬
ſtimmung durch Anklänge, die alle verwand¬
te Empfindungen rege machten, und der Ein¬
bildungskraft ein weites Feld eröffneten.
Wer einer Verſammlung frommer Men¬
ſchen, die ſich, abgeſondert von der Kirche,
reiner, herzlicher und geiſtreicher zu erbauen
glauben, beygewohnt hat, wird ſich auch ei¬
nen Begriff von der gegenwärtigen Scene
machen können; er wird ſich erinnern, wie
der Liturg ſeinen Worten den Vers eines
Geſanges anzupaſſen weiß, der die Seele da¬
hin erhebt, wohin der Redner wünſcht, daß
ſie ihren Flug nehmen möge, wie bald dar¬
auf ein anderer aus der Gemeinde, in einer
andern Melodie, den Vers eines andern Lie¬
des hinzufügt, und an dieſen wieder ein drit¬
ter einen dritten anknüpft, wodurch die ver¬
wandten Ideen der Lieder, aus denen ſie
entlehnt ſind, zwar erregt werden, jede
Stelle aber durch die neue Verbindung neu
und individuell wird, als wenn ſie in dem
Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch
denn aus einem bekannten Kreiſe von Ideen,
aus bekannten Liedern und Sprüchen, für
dieſe beſondere Geſellſchaft, für dieſen Au¬
genblick ein eigenes Ganze entſteht, durch
deſſen Genuß ſie belebt, geſtärkt und erquickt
wird. So erbaute der Alte ſeinen Gaſt, in¬
dem er, durch bekannte und unbekannte Lie¬
der und Stellen, nahe und ferne Gefühle,
wachende und ſchlummernde, angenehme und
ſchmerzliche Empfindungen in eine Zirkula¬
tion brachte, von der in dem gegenwärtigen
Zuſtande unſers Freundes das Beſte zu hof¬
fen war.
Vierzehntes Capitel.
Denn wirklich fing er auf dem Rückwege
über ſeine Lage lebhafter, als bisher geſche¬
hen, zu denken an, und war mit dem Vor¬
ſatze, ſich aus derſelben heraus zu reiſſen,
nach Hauſe gelangt, als ihm der Wirth ſo¬
gleich im Vertrauen eröffnete, daß Made¬
moiſelle Philine an dem Stallmeiſter des
Grafen eine Eroberung gemacht habe, der,
nachdem er ſeinen Auftrag auf dem Guthe
ausgerichtet, in höchſter Eile zurück gekom¬
men ſey, und ein gutes Abendeſſen oben auf
ihrem Zimmer mit ihr verzehre.
In eben dieſem Augenblicke trat Melina
mit dem Notarius herein; ſie gingen zuſam¬
men auf Wilhelms Zimmer, wo dieſer, wie¬
wohl mit einigem Zaudern, ſeinem Verſpre¬
chen
chen Genüge leiſtete, dreyhundert Thaler, auf
Wechſel, an Melina auszahlte, welche dieſer
ſogleich dem Notarius übergab, und dage¬
gen das Document über den geſchloſſenen
Kauf der ganzen theatraliſchen Geräthſchaft
erhielt, welche ihm morgen früh übergeben
werden ſollte.
Kaum waren ſie auseinander gegangen,
als Wilhelm ein entſetzliches Geſchrey in
dem Hauſe vernahm. Er hörte eine jugend¬
liche Stimme, die, zornig und drohend, durch
ein unmäßiges Weinen und Heulen, durch¬
brach. Er hörte dieſe Wehklage von oben
herunter an ſeiner Stube vorbey nach dem
Hausplatze eilen.
Als die Neugierde unſern Freund herun¬
ter lockte, fand er Friedrichen in einer Art
von Raſerey. Der Knabe weinte, knirſchte,
ſtampfte, drohte mit geballten Fäuſten, und
ſtellte ſich ganz ungebährdig vor Zorn und
W. Meiſters Lehrj. Z
Verdruß. Mignon ſtand gegenüber und ſah
mit Verwunderung zu, und der Wirth er¬
klärte einigermaßen dieſe Erſcheinung.
Der Knabe ſey nach ſeiner Rückkunft, da
ihn Philine gut aufgenommen, zufrieden,
luſtig und munter geweſen, habe geſungen
und geſprungen bis zur Zeit, da der Stall¬
meiſter mit Philinen Bekanntſchaft gemacht.
Nun habe das Mittelding zwiſchen Kind
und Jüngling angefangen, ſeinen Verdruß
zu zeigen, die Thüren zuzuſchlagen, und auf
und nieder zu rennen. Philine habe ihm
befohlen, heute Abend bey Tiſche aufzuwar¬
ten, worüber er nur noch mürriſcher und
trotziger geworden; endlich habe er eine
Schüſſel mit Ragout, anſtatt ſie auf den
Tiſch zu ſetzen, zwiſchen Mademoiſelle und
den Gaſt, die ziemlich nahe zuſammen geſeſ¬
ſen, hineingeworfen, worauf ihm der Stall¬
meiſter ein paar tüchtige Ohrfeigen gegeben,
und ihn zur Thüre hinausgeſchmiſſen. Er,
der Wirth, habe darauf die beiden Perſonen
ſäubern helfen, deren Kleider ſehr übel zuge¬
richtet geweſen.
Als der Knabe die gute Wirkung ſeiner
Rache vernahm, fing er laut zu lachen an,
indem ihm noch immer die Thränen die Bak¬
ken herunter liefen. Er freute ſich einige
Zeit herzlich, bis ihm der Schimpf, den ihm
der Stärkere angethan, wieder einfiel, da er
denn von neuem zu heulen und zu drohen
anfing.
Wilhelm ſtand nachdenklich und beſchämt
vor dieſer Scene. Er ſah ſein eignes In¬
nerſtes, mit ſtarken und übertriebenen Zügen
dargeſtellt, auch er war von einer unüber¬
windlichen Eiferſucht entzündet, auch er,
wenn ihn der Wohlſtand nicht zurückgehal¬
ten hätte, würde gern ſeine wilde Laune be¬
friedigt, gern, mit tückiſcher Schadenfreude,
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den geliebten Gegenſtand verletzt, und ſeinen
Nebenbuhler ausgefordert haben; er hätte
die Menſchen, die nur zu ſeinem Verdruſſe
da zu ſeyn ſchienen, vertilgen mögen.
Laertes, der auch herbey gekommen war,
und die Geſchichte vernommen hatte, beſtärk¬
te ſchelmiſch den aufgebrachten Knaben, als
dieſer betheuerte und ſchwur, der Stallmei¬
ſter müſſe ihm Satisfaction geben, er habe
noch keine Beleidigung auf ſich ſitzen laſſen;
weigere ſich der Stallmeiſter, ſo werde er ſich
zu rächen wiſſen.
Laertes war hier gerade in ſeinem Fache.
Er ging ernſthaft hinauf, den Stallmeiſter
im Namen des Knaben heraus zu fordern.
Das iſt luſtig, ſagte dieſer, einen ſolchen
Spaß hätte ich mir heut Abend kaum vor¬
geſtellt. Sie gingen hinunter, und Philine
folgte ihnen. Mein Sohn, ſagte der Stall¬
meiſter zu Friedrichen, du biſt ein braver
Junge, und ich weigere mich nicht, mit dir
zu fechten; nur da die Ungleichheit unſrer
Jahre und Kräfte die Sache ohnehin etwas
abentheuerlich macht, ſo ſchlag ich ſtatt an¬
derer Waffen ein Paar Rappiere vor, wir
wollen die Knöpfe mit Kreide beſtreichen,
und wer dem andern den erſten, oder die
meiſten Stöße auf den Rock zeichnet, ſoll
für den Überwinder gehalten, und von dem
andern mit dem beſten Weine, der in der
Stadt zu haben iſt, tractirt werden.
Laertes entſchied, daß dieſer Vorſchlag
angenommen werden könnte; Friedrich ge¬
horchte ihm als ſeinem Lehrmeiſter. Die Rap¬
piere kamen herbey. Philine ſetzte ſich hin,
ſtrickte, und ſah beiden Kämpfern mit großer
Gemüthsruhe zu.
Der Stallmeiſter, der ſehr gut focht, war
gefällig genug, ſeinen Gegner zu ſchonen, und
ſich einige Kreidenflecke auf den Rock brin¬
gen zu laſſen, worauf ſie ſich umarmten,
und Wein herbeygeſchaft wurde. Der Stall¬
meiſter wollte Friedrichs Herkunft und ſeine
Geſchichte wiſſen, der denn ein Mährchen
erzählte, das er ſchon oft wiederholt hatte,
und mit dem wir ein andermal unſre Leſer
bekannt zu machen denken.
In Wilhelms Seele vollendete indeſſen
dieſer Zweykampf die Darſtellung ſeiner eige¬
nen Gefühle; denn er konnte ſich nicht leug¬
nen, daß er das Rappier, ja lieber noch
einen Degen ſelbſt gegen den Stallmeiſter
zu führen wünſchte, wenn er ſchon einſah,
daß ihm dieſer in der Fechtkunſt weit über¬
legen ſey. Doch würdigte er Philinen nicht
eines Blicks, hütete ſich vor jeder Äuſſerung,
die ſeine Empfindung hätte verrathen kön¬
nen, und eilte, nachdem er einigemal auf die
Geſundheit der Kämpfer Beſcheid gethan,
auf ſein Zimmer, wo ſich tauſend unange¬
nehme Gedanken auf ihn zudrängten.
Er erinnerte ſich der Zeit, in der ſein
Geiſt durch ein unbedingtes hoffnungsreiches
Streben empor gehoben wurde, wo er in
dem lebhafteſten Genuſſe aller Art, wie in
einem Elemente ſchwamm. Es ward ihm
deutlich, wie er jetzt in ein unbeſtimmtes
Schlendern gerathen war, in welchem er nur
noch ſchlürfend koſtete, was er ſonſt mit vol¬
len Zügen eingeſogen hatte; aber deutlich
konnte er nicht ſehen, welches unüberwindli¬
che Bedürfniß ihm die Natur zum Geſetz ge¬
macht hatte, und wie ſehr dieſes Bedürfniß
durch Umſtände nur gereizt, halb befriedigt
und irre geführt worden war.
Es darf alſo niemand wundern, wenn er
bey Betrachtung ſeines Zuſtandes, und in¬
dem er ſich aus demſelben heraus zu denken
arbeitete, in die größte Verwirrung gerieth.
Es war nicht genug, daß er durch ſeine
Freundſchaft zu Laertes, durch ſeine Neigung
zu Philinen, durch ſeinen Antheil den er
an Mignon nahm, länger als billig an ei¬
nem Ort und in einer Geſellſchaft feſtgehal¬
ten wurde, in welcher er ſeine Lieblingsnei¬
gung hegen, gleichſam verſtohlen ſeine Wün¬
ſche befriedigen, und ohne ſich einen Zweck
vorzuſetzen, ſeinen alten Träumen nachſchlei¬
chen konnte. Aus dieſen Verhältniſſen ſich
los zu reiſſen, und gleich zu ſcheiden, glaubte
er Kraft genug zu beſitzen. Nun hatte er
aber vor wenigen Augenblicken ſich mit Me¬
lina in ein Geldgeſchäft eingelaſſen, er hatte
den räthſelhaften Alten kennen lernen, wel¬
chen zu entziffern er eine unbeſchreibliche Be¬
gierde fühlte. Allein auch dadurch ſich nicht
zurück halten zu laſſen, war er nach lang hin
und her geworfenen Gedanken entſchloſſen,
oder glaubte wenigſtens entſchloſſen zu ſeyn.
Ich muß fort, rief er aus, ich will fort! Er
warf ſich in einen Seſſel, und war ſehr bewegt.
Mig¬
Mignon trat herein und fragte, ob ſie
ihn aufwickeln dürfe? Sie kam ſtill; es
ſchmerzte ſie tief, daß er ſie heute ſo kurz
abfertigte.
Nichts iſt rührender, als wenn eine Liebe,
die ſich im Stillen genährt, eine Treue, die
ſich im Verborgenen befeſtiget hat, endlich
dem, der ihrer bisher nicht werth geweſen,
zur rechten Stunde nahe kommt, und ihm
offenbar wird. Die lange und ſtreng ver¬
ſchloſſene Knoſpe war reif, und Wilhelms
Herz konnte nicht empfänglicher ſeyn.
Sie ſtand vor ihm, und ſah ſeine Un¬
ruhe. — Herr! rief ſie aus, wenn du un¬
glücklich biſt, was ſoll Mignon werden? —
Liebes Geſchöpf, ſagte er, indem er ihre Hän¬
de nahm, du biſt auch mit unter meinen
Schmerzen. — Ich muß fort. — Sie ſah
ihm in die Augen, die von verhaltenen Thrä¬
nen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor
W. Meiſters Lehrj. A a
ihm nieder. Er behielt ihre Hände, ſie legte
ihr Haupt auf ſeine Knie, und war ganz
ſtill. Er ſpielte mit ihren Haaren, und war
freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich
fühlte er an ihr eine Art Zucken, das ganz
ſachte anfing, und ſich durch alle Glieder
wachſend verbreitete — Was iſt dir Mig¬
non? rief er aus, was iſt dir? — Sie rich¬
tete ihr Köpfchen auf, und ſah ihn an, fuhr
auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer
Gebährde, die Schmerzen verbeißt. Er hub
ſie auf, und ſie fiel auf ſeinen Schoos, er
druckte ſie an ſich, und küßte ſie. Sie ant¬
wortete durch keinen Händedruck, durch keine
Bewegung. Sie hielt ihr Herz feſt, und
auf einmal that ſie einen Schrey, der mit
krampfigen Bewegungen des Körpers beglei¬
tet war. Sie fuhr auf, und fiel auch ſo¬
gleich wie an allen Gelenken gebrochen vor
ihm nieder. Es war ein gräßlicher An¬
blick! — Mein Kind! rief er aus, indem er
ſie aufhob und feſt umarmte, mein Kind,
was iſt dir? — Die Zuckung dauerte fort,
die vom Herzen ſich den ſchlotternden Glie¬
dern mittheilte; ſie hing nur in ſeinen Ar¬
men. Er ſchloß ſie an ſein Herz, und be¬
netzte ſie mit ſeinen Thränen. Auf einmal
ſchien ſie wieder angeſpannt, wie eins, das
den höchſten körperlichen Schmerz erträgt;
und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden
alle ihre Glieder wieder lebendig, und ſie
warf ſich ihm, wie ein Reſſort, das zuſchlägt,
um den Hals, indem in ihrem Innerſten wie
ein gewaltiger Riß geſchah, und in dem Au¬
genblicke floß ein Strom von Thränen aus
ihren geſchloſſenen Augen in ſeinen Buſen.
Er hielt ſie feſt. Sie weinte, und keine
Zunge ſpricht die Gewalt dieſer Thränen
aus. Ihre langen Haare waren aufgegan¬
gen, und hingen von der Weinenden nieder,
und ihr ganzes Weſen ſchien in einen Bach
von Thränen unaufhaltſam dahin zu ſchmel¬
zen. Ihre ſtarren Glieder wurden gelinde,
es ergoß ſich ihr Innerſtes, und in der Ver¬
irrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm,
ſie werde in ſeinen Armen zerſchmelzen, und
er nichts von ihr übrig behalten. Er hielt
ſie nur feſter und feſter. — Mein Kind!
rief er aus, mein Kind! du biſt ja mein!
wenn dich das Wort tröſten kann. Du biſt
mein! ich werde dich behalten, dich nicht ver¬
laſſen! — Ihre Thränen floſſen noch im¬
mer. — Endlich richtete ſie ſich auf. Eine
weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Geſich¬
te. — Mein Vater! rief ſie, du willſt mich
nicht verlaſſen! willſt mein Vater ſeyn! —
Ich bin dein Kind!
Sanft fing vor der Thüre die Harfe an
zu klingen; der Alte brachte ſeine herzlich¬
ſten Lieder dem Freunde zum Abendopfer,
der, ſein Kind immer feſter in Armen hal¬
tend, des reinſten unbeſchreiblichſten Glückes
genoß.