Bekenntniſſe
einer ſchönen Seele.
Bis in mein achtes Jahr war ich ein ganz
geſundes Kind, weiß mich aber von dieſer
Zeit ſo wenig zu erinnern, als von dem Ta¬
ge meiner Geburt. Mit dem Anfange des
achten Jahres bekam ich einen Blutſturz und
in dem Augenblick war meine Seele ganz
Empfindung und Gedächtniß. Die kleinſten
Umſtände dieſes Zufalls ſtehn mir noch vor
Augen als hätte er ſich geſtern ereignet.
Während des neun monatlichen Kranken¬
lagers, das ich mit Gedult aushielt, ward,
ſo wie mich dünkt, der Grund zu meiner
ganzen Denkart gelegt, indem meinem Geiſte
die erſten Hülfsmittel gereicht wurden, ſich
nach ſeiner eigenen Art zu entwickeln.
Ich litt und liebte, das war die eigentli¬
che Geſtalt meines Herzens. In dem heftig¬
ſten Huſten und abmattenden Fieber war ich
ſtille wie eine Schnecke, die ſich in ihr Haus
zieht; ſo bald ich ein wenig Luft hatte,
wollte ich etwas Angenehmes fühlen, und da
mir aller übrige Genuß verſagt war, ſuchte
ich mich durch Augen und Ohren ſchadlos zu
halten. Man brachte mir Puppenwerk und
Bilderbücher und wer Sitz an meinem Bette
haben wollte, mußte mir etwas erzählen.
Von meiner Mutter hörte ich die bibli¬
ſchen Geſchichten gern an; der Vater unter¬
hielt mich mit Gegenſtänden der Natur. Er
beſaß ein artiges Kabinet. Davon brachte er
gelegentlich eine Schublade nach der andern
her¬
herunter, zeigte mir die Dinge und erklärte
ſie mir nach der Wahrheit. Getrocknete
Pflanzen und Inſekten und manche Arten
von anatomiſchen Präparaten. Menſchenhaut,
Knochen, Mumien und dergleichen kamen
auf das Krankenbette der Kleinen; Vögel
und Thiere, die er auf der Jagd erlegte, wur¬
den mir vorgezeigt, ehe ſie nach der Küche
gingen, und damit doch auch der Fürſt der
Welt eine Stimme in dieſer Verſammlung
behielte, erzählte mir die Tante Liebesge¬
ſchichten und Feenmärchen. Alles ward an¬
genommen und alles faßte Wurzel. Ich
hatte Stunden, in denen ich mich lebhaft mit
dem unſichtbaren Weſen unterhielte, ich weiß
noch einige Verſe, die ich der Mutter damals
in die Feder dictirte.
Oft erzählte ich dem Vater wieder, was
ich von ihm gelernt hatte. Ich nahm nicht
leicht eine Arzeney, ohne zu fragen, wo wach¬
W. Meiſters Lehrj. 3. O
ſen die Dinge, aus denen ſie gemacht iſt?
Wie ſehen ſie aus? Wie heißen ſie? Aber
die Erzählungen meiner Tante waren auch
nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte
mich in ſchöne Kleider und begegnete den al¬
lerliebſten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬
ſten konnten, bis ſie wußten, wer die unbe¬
kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬
theuer mit einem reizenden kleinen Engel,
der im weißen Gewand und goldnen Flü¬
geln ſich ſehr um mich bemühte, ſetzte ich ſo
lange fort, daß meine Einbildungskraft ſein
Bild faſt bis zur Erſcheinung erhöhte.
Nach Jahresfriſt war ich ziemlich wieder
hergeſtellt; aber es war mir aus der Kind¬
heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich
konnte nicht einmal mit Puppen ſpielen, ich
verlangte nach Weſen, die meine Liebe erwie¬
derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬
chen mein Vater von allen Arten ernährte,
vergnügten mich ſehr; aber was hätte ich
nicht gegeben, ein Geſchöpf zu beſitzen, das
in einem der Märchen meiner Tante eine
ſehr wichtige Rolle ſpielte. Es war ein
Schäfchen, das von einem Bauermädchen in
dem Walde aufgefangen und ernährt wor¬
den war, aber in dieſem artigen Thiere ſtack
ein verwünſchter Prinz, der ſich endlich wie¬
der als ſchöner Jüngling zeigte und ſeine
Wohlthäterin durch ſeine Hand belohnte.
So ein Schäfchen hätte ich gar zu gerne
beſeſſen!
Nun wollte ſich aber keines finden, und
da alles neben mir ſo ganz natürlich zuging,
mußte mir nach und nach die Hoffnung auf
einen ſo köſtlichen Beſitz faſt vergehen. Un¬
terdeſſen tröſtete ich mich, indem ich ſolche
Bücher las, in denen wunderbare Begeben¬
heiten beſchrieben wurden. Unter allen war
mir der chriſtliche deutſche Herkules der lieb¬
O 2
ſte; die andächtige Liebesgeſchichte war ganz
nach meinem Sinne. Begegnete ſeiner Va¬
liska irgend etwas, und es begegneten ihr
grauſame Dinge, ſo betete er erſt, eh er ihr
zu Hülfe eilte, und die Gebete ſtanden aus¬
führlich im Buche. Wie wohl gefiel mir
das! Mein Hang zu dem Unſichtbaren, den
ich immer auf eine dunkle Weiſe fühle,
ward dadurch nur vermehrt; denn ein für
allemal ſollte Gott auch mein Vertrauter
ſeyn.
Als ich weiter heran wuchs, las ich, der
Himmel weiß was alles durch einander; aber
die römiſche Octavia behielt vor allen den
Preis. Die Verfolgungen der erſten Chriſten
in einen Roman gekleidet, erregten bey mir
das lebhafteſte Intereſſe.
Nun fing die Mutter an über das ſtete
Leſen zu ſchmälen; der Vater nahm ihr zu
Liebe mir einen Tag die Bücher aus der
Hand und gab ſie mir den andern wieder.
Sie war klug genug zu bemerken, daß hier
nichts auszurichten war, und drang nur dar¬
auf, daß auch die Bibel eben ſo fleißig ge¬
leſen wurde. Auch dazu ließ ich mich nicht
treiben, und ich las die heiligen Bücher mit
vielem Antheil. Dabey war meine Mutter
immer ſorgfältig, daß keine verführeriſchen
Bücher in meine Hände kämen, und ich ſelbſt
würde jede ſchändliche Schrift aus der Hand
geworfen haben, denn meine Prinzen und
Prinzeſſinnen waren alle äußerſt tugendhaft,
und ich wußte übrigens von der natürlichen
Geſchichte des menſchlichen Geſchlechts mehr
als ich merken ließ, und hatte es meiſtens
aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen
hielt ich mit Worten und Dingen die mir
vor Augen kamen zuſammen, und brachte bey
meiner Wißbegierde und Combinationsgabe
die Wahrheit glücklich heraus. Hätte ich
von Hexen gehört, ſo hätte ich auch mit der
Hexerey bekannt werden müſſen.
Meiner Mutter und dieſer Wißbegierde
hatte ich es zu danken, daß ich bey dem hef¬
tigen Hang zu Büchern doch kochen lernte;
aber dabey war etwas zu ſehen. Ein Huhn,
ein Ferkel aufzuſchneiden, war für mich ein
Feſt. Den Vater brachte ich die Eingeweide
und er redete mit mir darüber wie mit ei¬
nem jungen Studenten, und pflegte mich oft
mit inniger Freude ſeinen mißrathenen Sohn
zu nennen.
Nun war das zwölfte Jahr zurückgelegt.
Ich lernte franzöſiſch, tanzen und zeichnen,
und erhielt den gewöhnlichen Religionsunter¬
richt. Bey dem letzten wurden manche Em¬
pfindungen und Gedanken rege, aber nichts
was ſich auf meinen Zuſtand bezogen hätte.
Ich hörte gern von Gott reden, ich war ſtolz
darauf beſſer als meinesgleichen von ihm re¬
den zu können; ich las nun mit Eifer man¬
che Bücher, die mich in den Stand ſetzten von
Religion zu ſchwatzen, aber nie fiel es mir
ein zu denken, wie es denn mit mir ſtehe,
ob meine Seele auch ſo geſtaltet ſey, ob ſie
einem Spiegel gleiche, von dem die ewige
Sonne wieder glänzen könnte, das hatte ich
ein vor allemal ſchon vorausgeſetzt.
Franzöſiſch lernte ich mit vieler Begierde.
Mein Sprachmeiſter war ein wackrer Mann.
Er war nicht ein leichtſinniger Empiriker,
nicht ein trockner Grammatiker; er hatte
Wiſſenſchaften, er hatte die Welt geſehen.
Zugleich mit dem Sprachunterrichte ſättigte
er meine Wißbegierde auf mancherley Weiſe.
Ich liebte ihn ſo ſehr, daß ich ſeine Ankunft
immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeich¬
nen fiel mir nicht ſchwer, und ich würde es
weiter gebracht haben, wenn mein Meiſter
Kopf und Kenntniſſe gehabt hätte; er hatte
aber nur Hände und Übung.
Tanzen war Anfangs nur meine geringſte
Freude; mein Körper war zu empfindlich und
ich lernte nur in der Geſellſchaft meiner
Schweſter. Durch den Einfall unſers Tanz¬
meiſters allen ſeinen Schülern und Schüle¬
rinnen einen Ball zu geben, ward aber die
Luſt zu dieſer Übung ganz anders belebt.
Unter vielen Knaben und Mädchen zeich¬
neten ſich zwey Söhne des Hofmarſchalls
aus; der jüngſte ſo alt wie ich, der andere
zwey Jahr älter; Kinder von einer ſolchen
Schönheit, daß ſie nach dem allgemeinen Ge¬
ſtändniß alles übertrafen, was man je von
ſchönen Kindern geſehen hatte. Auch ich hatte
ſie kaum erblickt, ſo ſah ich niemand mehr
vom ganzen Haufen. In dem Augenblicke
tanzte ich mit Aufmerkſamkeit und wünſchte
ſchön zu tanzen. Wie es kam, daß auch dieſe
Knaben unter allen andern mich vorzüglich
bemerkten? — Genug in der erſten Stunde
waren wir die beſten Freunde, und die kleine
Luſtbarkeit ging noch nicht zu Ende, ſo hat¬
ten wir ſchon ausgemacht, wo wir uns näch¬
ſtens wieder ſehen wollten. Eine große Freu¬
de für mich! aber ganz entzückt war ich,
als beyde den andern Morgen jeder in einem
gallanten Billet, das mit einem Blumen¬
ſtrauß begleitet war, ſich nach meinem Be¬
finden erkundigten. So fühlte ich nie mehr,
wie ich da fühlte! Artigkeiten wurden mit
Artigkeiten, Briefchen mit Briefchen erwiedert.
Kirche und Promenaden wurden von nun an
zu Rendesvous; unſre jungen Bekannten lu¬
den uns ſchon jederzeit zuſammen ein, wir
aber waren ſchlau genug, die Sache derge¬
ſtalt zu verdecken, daß die Eltern nicht mehr
davon einſahen, als wir für gut hielten.
Nun hatte ich auf einmal zwey Liebhaber
bekommen. Ich war für keinen entſchieden;
ſie gefielen mir beyde, und wir ſtanden aufs
beſte zuſammen. Auf einmal ward der Äl¬
teſte ſehr krank, ich war ſelbſt ſchon oft ſehr
krank geweſen und wußte dem Leidenden
durch Überſendung mancher Artigkeiten und
für einen Kranken ſchicklicher Leckerbiſſen zu
erfreuen, daß ſeine Eltern die Aufmerkſam¬
keit dankbar erkannten, der Bitte des lieben
Sohns Gehör gaben und mich ſammt mei¬
nen Schweſtern, ſo bald er nur das Bette
verlaſſen hatte, zu ihm einluden. Die Zärt¬
lichkeit, womit er mich empfing, war nicht kin¬
diſch, und von dem Tage an war ich für ihn
entſchieden. Er warnte mich gleich, vor ſei¬
nem Bruder geheim zu ſeyn; allein das Feuer
war nicht mehr zu verbergen, und die Ei¬
ferſucht des Jüngſten machte den Roman
vollkommen. Er ſpielte uns tauſend Strei¬
che, mit Luſt vernichtete er unſre Freude,
und vermehrte dadurch die Leidenſchaft, die
er zu zerſtören ſuchte.
Nun hatte ich denn wirklich das gewünſchte
Schäfchen gefunden, und dieſe Leidenſchaft
hatte wie ſonſt eine Krankheit die Wirkung
auf mich, daß ſie mich ſtill machte und mich
von der ſchwärmenden Freude zurück zog.
Ich war einſam und gerührt und Gott fiel
mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter,
und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich
für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten
anhielt.
So viel kindiſches in dem Vorgang war,
ſo viel trug er zur Bildung meines Herzens
bey. Unſerm franzöſiſchen Sprachmeiſter mu߬
ten wir täglich, ſtatt der ſonſt gewöhnlichen
Überſetzung, Briefe von unſrer eignen Erfin¬
dung ſchreiben. Ich brachte meine Liebesge¬
ſchichte unter dem Namen Phyllis und Da¬
mon zu Markte. Der Alte ſah bald durch,
und, um mich treuherzig zu machen, lobte er
meine Arbeit gar ſehr. Ich wurde immer
kühner, ging offenherzig heraus und war bis
ins Detail der Wahrheit getreu. Ich weiß
nicht mehr, bey welcher Stelle er einſt Gele¬
genheit nahm, zu ſagen: wie das artig, wie
das natürlich iſt! Aber die gute Phillis mag
ſich in Acht nehmen, es kann bald ernſthaft
werden.
Mich verdroß, daß er die Sache nicht
ſchon für ernſthaft hielt, und fragte ihn pi¬
quirt, was er unter ernſthaft verſtehe? Er
ließ ſich nicht zweymal fragen, und erklärte
ſich ſo deutlich, daß ich meinen Schrecken
kaum verbergen konnte. Doch da ſich gleich
darauf bey mir der Verdruß einſtellte, und
ich ihm übel nahm, daß er ſolche Gedanken
hegen könne, faßte ich mich, wollte meine
Schöne rechtfertigen und ſagte mit feuerro¬
then Wangen: aber mein Herr, Phyllis iſt
ein ehrbares Mädchen.
Nun war er boshaft genug, mich mit
meiner ehrbaren Heldin aufzuziehen, und, in¬
dem wir franzöſiſch ſprachen, mit dem »hone¬
te» zu ſpielen, um die Ehrbarkeit der Phyl¬
lis durch alle Bedeutungen durchzuführen.
Ich fühlte das Lächerliche und war äußerſt
verwirrt. Er, der mich nicht furchtſam ma¬
chen wolte, brach ab, brachte aber das Ge¬
ſpräch bey andern Gelegenheiten wieder auf
die Bahn. Schauſpiele und kleine Geſchich¬
ten, die ich bey ihm las und überſetzte, ga¬
ben ihm oft Anlaß zu zeigen, was für ein
ſchwacher Schutz die ſogenannte Tugend ge¬
gen die Aufforderungen eines Affeckts ſey.
Ich widerſprach nicht mehr, ärgerte mich aber
immer heimlich, und ſeine Anmerkungen wur¬
den mir zur Laſt.
Mit meinem guten Damon kam ich nach
und nach aus aller Verbindung. Die Chi¬
kanen des jüngſten hatten unſern Umgang
zerriſſen. Nicht lange Zeit darauf ſtarben
beyde blühende Jünglinge. Es that mir
weh, aber bald waren ſie vergeſſen.
Phyllis wuchs nun ſchnell heran, war
ganz geſund und fing an die Welt zu ſehen.
Der Erbprinz vermählte ſich und trat bald
darauf nach dem Tode ſeines Vaters die Re¬
gierung an. Hof und Stadt waren in leb¬
hafter Bewegung. Nun hatte meine Neu¬
gierde mancherley Nahrung. Nun gab es
Comödien, Bälle und was ſich daran an¬
ſchließt, und ob uns gleich die Eltern ſo viel
als möglich zurück hielten, ſo mußte man
doch bey Hof, wo ich eingeführt war, erſchei¬
nen. Die Fremden ſtrömten herbey, in allen
Häuſern war große Welt, an uns ſelbſt wa¬
ren einige Cavaliere empfohlen und andre
introduzirt, und bey meinem Oheim waren
alle Nationen anzutreffen.
Mein ehrlicher Mentor fuhr fort, mich
auf eine beſcheidene und doch treffende Weiſe
zu warnen, und ich nahm es ihm immer
heimlich übel. Ich war keinesweges von der
Wahrheit ſeiner Behauptung überzeugt, und
vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬
leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬
len Umſtänden für ſo ſchwach zu halten;
aber er redete zugleich ſo zudringlich, daß
mir einſt bange wurde, er möchte Recht ha¬
ben, da ich denn ſehr lebhaft zu ihm ſagte:
weil die Gefahr ſo groß und das menſchliche
Herz ſo ſchwach iſt, ſo will ich Gott bitten,
daß er mich bewahre.
Die naive Antwort ſchien ihn zu freuen;
er lobte meinen Vorſatz; aber es war bey
mir nichts weniger als ernſtlich gemeynt;
diesmal war es nur ein leeres Wort; denn
die Empfindungen für den Unſichtbaren wa¬
ren bey mir faſt ganz verloſchen. Der große
Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerſtreute
mich und riß mich wie ein ſtarker Strom mit
fort. Es waren die leerſten Jahre meines
Lebens. Tagelang von nichts zu reden, kei¬
nen geſunden Gedanken zu haben, und nur
zu ſchwärmen, das war meine Sache. Nicht
einmal der geliebten Bücher wurde gedacht.
Die Leute, mit denen ich umgeben war, hat¬
ten keine Ahndung von Wiſſenſchaften; es
waren deutſche Hofleute und dieſe Klaſſe
hatte damals nicht die mindeſte Kultur.
Ein ſolcher Umgang, ſollte man denken,
hätte mich an den Rand des Verderbens
führen müſſen. Ich lebte in ſinnlicher Mun¬
terkeit nur ſo hin, ich ſammlete mich nicht,
ich betete nicht, ich dachte nicht an mich noch
an Gott; aber ich ſeh es als eine Führung
an, daß mir keiner von den vielen ſchönen,
reichen und wohlgekleideten Männern gefiel.
Sie waren liederlich und verſteckten es nicht,
das ſchreckte mich zurück; ihr Geſpräch zier¬
ten ſie mit Zweydeutigkeiten, das beleidigte
mich
mich und ich hielt mich kalt gegen ſie; ihre
Unart überſtieg manchmal allen Glauben,
und ich erlaubte mir, grob zu ſeyn.
Überdieß hatte mir mein Alter einmal
vertraulich eröffnet, daß mit den meiſten die¬
ſer leidigen Burſche nicht allein die Tugend
ſondern auch die Geſundheit eines Mädchens
in Gefahr ſey. Nun graute mir erſt vor
ihnen, und ich war ſchon beſorgt, wenn mir
einer auf irgend eine Weiſe zu nahe kam.
Ich hüthete mich vor Gläſern und Taſſen
wie vor dem Stuhle, von dem einer aufge¬
ſtanden war. Auf dieſe Weiſe war ich mo¬
raliſch und phyſiſch ſehr iſolirt, und alle die
Artigkeiten, die ſie mir ſagten, nahm ich ſtolz
für ſchuldigen Weyrauch auf.
Unter den Fremden, die ſich damals bey
uns aufhielten, zeichnete ſich ein junger Mann
beſonders aus, den wir im Scherz Narciß
nannten. Er hatte ſich in der diplomati¬
W. Meiſters Lehrj. 3. P
ſchen Laufbahn guten Ruf erworben, und
hoffte bey den verſchiedenen Veränderungen,
die an unſern neuen Hofe vorgingen, vor¬
theilhaft placirt zu werden. Er ward mit
meinem Vater bald bekannt, und ſeine Kennt¬
niſſe und ſein Betragen öffneten ihm den
Weg in eine geſchloſſene Geſellſchaft der wür¬
digſten Männer. Mein Vater ſprach viel
zu ſeinem Lobe, und ſeine ſchöne Geſtalt hät¬
te noch mehr Eindruck gemacht, wenn ſein
ganzes Weſen nicht eine Art von Selbſtge¬
fälligkeit gezeigt hätte. Ich hatte ihn geſe¬
hen, dachte gut von ihm, aber wir hatten
uns nie geſprochen.
Auf einem großen Balle, auf dem er ſich
auch befand, tanzten wir eine Menuet zu¬
ſammen; auch das ging ohne nähere Be¬
kanntſchaft ab. Als die heftigen Tänze an¬
gingen, die ich meinem Vater zu liebe, der
für meine Geſundheit beſorgt war, zu ver¬
meiden pflegte, begab ich mich in ein Neben¬
zimmer, und unterhielt mich mit ältern Freun¬
dinnen, die ſich zum Spiele geſetzt hatten.
Narciß, der eine Weile mit herumgeſprun¬
gen war, kam auch einmal in das Zimmer,
in dem ich mich befand, und fing, nachdem
er ſich von einem Naſenbluten, das ihn beym
Tanzen überfiel, erhohlt hatte, mit mir über
mancherley zu ſprechen an. Binnen einer
halben Stunde war der Discours ſo inte¬
reſſant, ob ſich gleich keine Spur von Zärt¬
lichkeit drein miſchte, daß wir nun beyde das
Tanzen nicht mehr vertragen konnten. Wir
wurden bald von den andern darüber ge¬
neckt, ohne daß wir uns dadurch irre machen
ließen. Den andern Abend konnten wir un¬
ſer Geſpräch wieder anknüpfen und ſchonten
unſre Geſundheit ſehr.
Nun war die Bekanntſchaft gemacht.
Narciß wartete mir und meinen Schweſtern
P 2
auf, und nun fing ich erſt wiede ran gewahr
zu werden, was ich alles wußte, worüber ich
gedacht, was ich empfunden hatte, und wor¬
über ich mich im Geſpräche auszudrücken
verſtand. Mein neuer Freund, der von je¬
her in der beſten Geſellſchaft geweſen war,
hatte außer dem hiſtoriſchen und politiſchen
Fache, das er ganz überſah, ſehr ausgebreite¬
te literariſche Kenntniſſe, und ihm blieb
nichts Neues, beſonders was in Frankreich
herauskam, unbekannt. Er brachte und ſen¬
dete mir manch angenehmes und nützliches
Buch, doch das mußte geheimer als ein ver¬
botenes Liebesverſtändniß gehalten werden.
Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich
gemacht, und man wollte auch die unterrich¬
teten nicht leiden, wahrſcheinlich, weil man
für unhöflich hielt, ſo viel unwiſſende Män¬
ner beſchämen zu laſſen. Selbſt mein Vater,
den dieſe neue Gelegenheit, meinen Geiſt aus¬
zubilden, ſehr erwünſcht war, verlangte aus¬
drücklich, daß dieſes literariſche Commerz ein
Geheimniß bleiben ſollte.
So währte unſer Umgang beynahe Jahr
und Tag, und ich konnte nicht ſagen, daß
Narciß auf irgend eine Weiſe Liebe oder
Zärtlichkeit gegen mich geäußert hätte. Er
blieb artig und verbindlich, aber zeigte kei¬
nen Affekt, vielmehr ſchien der Reiz meiner
jüngſten Schweſter, die damals außerordent¬
lich ſchön war, ihn nicht gleichgültig zu laſ¬
ſen. Er gab ihr im Scherze allerley freund¬
liche Namen aus fremden Sprachen, deren
mehrere er ſehr gut ſprach, und deren eigen¬
thümliche Redensarten er gern ins deutſche
Geſpräch miſchte. Sie erwiederte ſeine Ar¬
tigkeiten nicht ſonderlich; ſie war von einem
andern Fädchen gebunden, und da ſie über¬
haupt ſehr raſch und er empfindlich war, ſo
wurden ſie nicht ſelten über Kleinigkeiten
uneins. Mit der Mutter und den Tanten
wußte er ſich gut zu halten, und ſo war er
nach und nach ein Glied der Familie ge¬
worden.
Wer weiß wie lange wir noch auf dieſe
Weiſe fortgelebt hätten, hätte nicht ein ſon¬
derbarer Zufall unſere Verhältniſſe auf ein¬
mal verändert. Ich ward mit meinen Schwe¬
ſtern in ein gewiſſes Haus gebeten, wohin
ich nicht gerne ging. Die Geſellſchaft war
zu gemiſcht, und es fanden ſich dort oft
Menſchen, wo nicht vom rohſten doch vom
plattſten Schlage mit ein; dießmal war
Narciß auch mit geladen, und um ſeinet¬
willen war ich geneigt hin zu gehen; denn
ich war doch gewiß jemanden zu finden, mit
dem ich mich auf meine Weiſe unterhalten
konnte. Schon bey Tafel hatten wir man¬
ches auszuſtehen, denn einige Männer hat¬
ten ſtark getrunken; nach Tiſche ſollten und
mußten Pfänder geſpielt werden. Es ging
dabey ſehr rauſchend und lebhaft zu. Nar¬
ciß hatte ein Pfand zu löſen; man gab ihm
auf, der ganzen Geſellſchaft etwas ins Ohr
zu ſagen, das jedermann angenehm wäre.
Er mochte ſich bey meiner Nachbarin, der
Frau eines Hauptmanns, zu lange verwei¬
len. Auf einmal gab ihm dieſer eine Ohr¬
feige, daß mir, die ich gleich daran ſaß, der
Puder in die Augen flog. Als ich die Au¬
gen ausgewiſcht und mich vom Schrecken ei¬
nigermaßen erholt hatte, ſah ich beyde Män¬
ner mit bloßen Degen. Narciß blutete, und
der andere, außer ſich von Wein, Zorn und
Eiferſucht, konnte kaum von der ganzen
übrigen Geſellſchaft zurück gehalten werden.
Ich nahm Narciſſen beym Arm und führte
ihn zur Thüre hinaus eine Treppe hinauf
in ein ander Zimmer, und weil ich meinen
Freund vor ſeinem tollen Gegner nicht ſicher
glaubte, riegelte ich die Thüre ſogleich zu.
Wir hielten beyde die Wunde nicht für
ernſthaft, denn wir ſahen nur einen leichten
Hieb über die Hand; bald aber wurden wir
einen Strom von Blut, der den Rücken hin¬
unterfloß, gewahr, und es zeigte ſich eine
große Wunde auf dem Kopfe. Nun ward
mir bange. Ich eilte auf den Vorplatz um
nach Hülfe zu ſchicken, konnte aber niemand
anſichtig werden, denn alles war unten ge¬
blieben, den raſenden Menſchen zu bändigen.
Endlich kam eine Tochter des Hauſes her¬
auf geſprungen und ihre Munterkeit ängſtig¬
te mich nicht wenig, da ſie ſich über den tol¬
len Spectakel und über die verfluchte Co¬
mödie faſt zu Tode lachen wollte. Ich bat
ſie dringend mir einen Wundarzt zu ſchaffen,
und ſie, nach ihrer wilden Art, ſprang gleich
die Treppe hinunter, ſelbſt einen zu hohlen.
Ich ging wieder zu meinem Verwunde¬
ten, band ihm mein Schnupftuch um die
Hand und ein Handtuch das an der Thüre
hing, um den Kopf. Er blutete noch immer
heftig, kein Wundarzt kam, der Verwunde¬
te erblaßte und ſchien in Ohnmacht zu ſin¬
ken. Niemand war in der Nähe, der mir
hätte beyſtehen können; ich nahm ihn ſehr
ungezwungen in den Arm und ſuchte ihn
durch Streicheln und Schmeicheln aufzumun¬
tern. Es ſchien die Wirkung eines geiſtigen
Lebensmittels zu thun; er blieb bey ſich,
aber ſaß todtenbleich da.
Nun kam endlich die thätige Hausfrau
und wie erſchrak ſie nicht, als ſie den Freund
in dieſer Geſtalt in meinen Armen liegen
und uns alle beyde mit Blut überſtrömt
ſahe, denn niemand hatte ſich vorgeſtellt,
daß Narciß verwundet ſey, alle meynten, ich
habe ihn glücklich hinaus gebracht.
Nun war Wein, wohlriechendes Waſſer
und was nur erquicken und erfriſcheuerfriſchen konn¬
te, im Überfluß da, nun kam auch der Wund¬
arzt und ich hätte wohl abtreten können;
allein Narciß hielt mich feſt bey der Hand,
und ich wäre ohne gehalten zu werden ſte¬
hen geblieben. Ich fuhr während des Ver¬
bandes fort, ihn mit Wein anzuſtreichen und
achtete es wenig, daß die ganze Geſellſchaft
nunmehr umher ſtand. Der Wundarzt hat¬
te geendigt, der Verwundete nahm einen
ſtummen verbindlichen Abſchied von mir und
wurde nach Hauſe getragen.
Nun führte mich die Hausfrau in ihr
Schlafzimmer; ſie mußte mich ganz ausklei¬
den und ich darf nicht verſchweigen, daß ich,
da man ſein Blut von meinem Körper ab¬
wuſch, zum erſtenmal zufällig im Spiegel
gewahr wurde, daß ich mich auch ohne Hül¬
le für ſchön halten durfte. Ich konnte kei¬
nes meiner Kleidungsſtücke wieder anziehn,
und da die Perſonen im Hauſe alle kleiner
oder ſtärker waren als ich, ſo kam ich in ei¬
ner ſeltſamen Verkleidung zum größten Er¬
ſtaunen meiner Eltern nach Hauſe. Sie wa¬
ren über mein Schrecken, über die Wunden
des Freundes, über den Unſinn des Haupt¬
manns, über den ganzen Vorfall äußerſt
verdrießlich. Wenig fehlte, ſo hätte mein Va¬
ter ſelbſt, ſeinen Freund auf der Stelle zu
rächen, den Hauptmann heraus gefordert.
Er ſchalt die anweſenden Herren, daß ſie
ein ſolches meuchelmörderiſches Beginnen nicht
auf der Stelle geahndet; denn es war nur
zu offenbar, daß der Hauptmann ſogleich,
nachdem er geſchlagen, den Degen gezogen
und Narciſſen von hinten verwundet habe;
der Hieb über die Hand war erſt geführt
worden, als Narciß ſelbſt zum Degen griff.
Ich war unbeſchreiblich alterirt und afficirt,
oder wie ſoll ich es ausdrücken; der Affekt,
der im tiefſten Grunde des Herzens ruhte,
war auf einmal losgebrochen, wie eine Flam¬
me die Luft bekömmt. Und wenn Luſt und
Freude ſehr geſchickt ſind, die Liebe zuerſt zu
erzeugen und im Stillen zu nähren; ſo wird
ſie, die von Natur herzhaft iſt, durch den
Schrecken am leichteſten angetrieben, ſich zu
entſcheiden und zu erklären. Man gab dem
Töchterchen Arzney ein und legte es zu Bet¬
te. Mit dem frühſten Morgen eilte mein
Vater zu dem verwundeten Freund, der an
einem ſtarken Wundfieber recht krank dar¬
nieder lag.
Mein Vater ſagte mir wenig von dem,
was er mit ihm geredet hatte, und ſuchte
mich wegen der Folgen, die dieſer Vorfall
haben könnte, zu beruhigen. Es war die
Rede, ob man ſich mit einer Abbitte begnü¬
gen könne, ob die Sache gerichtlich werden
müſſe und was dergleichen mehr war. Ich
kannte meinen Vater zu wohl, als daß ich
ihm geglaubt hätte, daß er dieſe Sache ohne
Zweykampf geendigt zu ſehen wünſchte; al¬
lein ich blieb ſtill, denn ich hatte von mei¬
nem Vater früh gelernt, daß Weiber in ſol¬
che Händel ſich nicht zu miſchen hätten.
Übrigens ſchien es nicht, als wenn zwiſchen
den beyden Freunden etwas vorgefallen wä¬
re, das mich betroffen hätte; doch bald ver¬
traute mein Vater den Inhalt ſeiner wei¬
tern Unterredung meiner Mutter. Narciß,
ſagte er, ſey äußerſt gerührt von meinem ge¬
leiſteten Beyſtand, habe ihn umarmt, ſich
für meinen ewigen Schuldner erklärt, be¬
zeigt, er verlange kein Glück, wenn er es
nicht mit mir theilen ſollte, er habe ſich die
Erlaubniß ausgebeten, ihn als Vater anſehn
zu dürfen. Mama ſagte mir das alles treu¬
lich wieder, hängte aber die wohlmeynende
Erinnerung daran, auf ſo etwas, das in der
erſten Bewegung geſagt worden, dürfe man
ſo ſehr nicht achten. Ja freylich, antworte¬
te ich mit angenommener Kälte, und fühlte
der Himmel weiß was und wieviel dabey.
Narciß blieb zwey Monate krank, konn¬
te wegen der Wunde an der rechten Hand
nicht einmal ſchreiben, bezeigte mir aber in¬
zwiſchen ſein Andenken durch die verbindlich¬
ſte Aufmerkſamkeit. Alle dieſe mehr als ge¬
wöhnliche Höflichkeiten hielt ich mit dem,
was ich von der Mutter erfahren hatte, zu¬
ſammen, und beſtändig war mein Kopf vol¬
ler Grillen. Die ganze Stadt unterhielt
ſich von der Begebenheit. Man ſprach mit
mir davon in einem beſondern Tone, man
zog Folgerungen daraus, die, ſo ſehr ich ſie
abzulehnen ſuchte, mir immer ſehr nahe gin¬
gen. Was vorher Tändeley und Gewohn¬
heit geweſen war, ward nun Ernſt und Nei¬
gung. Die Unruhe in der ich lebte, war
um ſo heftiger, je ſorgfältiger ich ſie vor al¬
len Menſchen zu verbergen ſuchte. Der Ge¬
danke ihn zu verlieren, erſchreckte mich und
die Möglichkeit einer nähern Verbindung
machte mich zittern. Der Gedanke des Ehe¬
ſtandes hat für ein halbkluges Mädchen ge¬
wiß etwas Schreckhaftes.
Durch dieſe heftigen Erſchütterungen ward
ich wieder an mich ſelbſt erinnert. Die bun¬
ten Bilder eines zerſtreuten Lebens, die mir
ſonſt Tag und Nacht vor den Augen ſchweb¬
ten, waren auf einmal weggeblaſen. Meine
Seele fing wieder an ſich zu regen; allein
die ſehr unterbrochene Bekanntſchaft mit dem
unſichtbaren Freunde war ſo leicht nicht wie¬
der hergeſtellt. Wir blieben noch immer in
ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas,
aber gegen ſonſt ein großer Unterſchied.
Ein Zweykampf, worin der Hauptmann
ſtark verwundet wurde, war vorüber, ohne
daß ich etwas davon erfahren hatte, und
die öffentliche Meynung war in jedem Sin¬
ne auf der Seite meines Geliebten, der end¬
lich wieder auf dem Schauplatze erſchien.
Vor allen Dingen ließ er ſich mit verbund¬
nem Haupt und eingewickelter Hand in un¬
ſer Haus tragen. Wie klopfte mir das Herz
bey dieſem Beſuche! Die ganze Familie
war gegenwärtig; es blieb auf beyden Sei¬
ten nur bey allgemeinen Dankſagungen und
Höflichkeiten, doch fand er Gelegenheit mir
einige geheime Zeichen ſeiner Zärtlichkeit zu
geben, wodurch meine Unruhe nur zu ſehr
vermehrt ward. Nachdem er ſich völlig wie¬
der erhohlt, beſuchte er uns den ganzen Win¬
ter auf eben dem Fuß wie ehemals, und bey
allen leiſen Zeichen von Empfindung und
Liebe, die er mir gab, blieb alles unerörtert.
Auf dieſe Weiſe ward ich in ſteter Übung
gehal¬
gehalten. Ich konnte mich keinem Menſchen
vertrauen und von Gott war ich zu weit
entfernt. Ich hatte dieſen während vier wil¬
der Jahre ganz vergeſſen, nun dachte ich
dann und wann wieder an ihn, aber die
Bekanntſchaft war erkaltet; es waren nur
Cerimonienviſiten, die ich ihm machte, und
da ich überdies, wenn ich vor ihm erſchien,
immer ſchöne Kleider anlegte, meine Tugend,
Ehrbarkeit und Vorzüge, die ich vor andern
zu haben glaubte, ihm mit Zufriedenheit
vorwies; ſo ſchien er mich in dem Schmucke
gar nicht zu bemerken.
Ein Höfling würde, wenn ſein Fürſt, von
dem er ſein Glück erwartet, ſich ſo gegen ihn
betrüge, ſehr beunruhigt werden; mir aber
war nicht übel dabey zu Muthe, ich hatte
was ich brauchte, Geſundheit und Bequem¬
lichkeit, wollte ſich Gott mein Andenken ge¬
fallen laſſen, ſo war es gut, wo nicht, ſo
W. Meiſters Lehrj. 3. Q
glaubte ich doch meine Schuldigkeit gethan
zu haben.
So dachte ich freylich damals nicht von
mir; aber es war doch die wahrhafte Geſtalt
meiner Seele. Meine Geſinnungen zu än¬
dern und zu reinigen waren aber auch
ſchon Anſtalten gemacht.
Der Frühling kam heran, und Narciß be¬
ſuchte mich unangemeldet zu einer Zeit, da
ich ganz allein zu Hauſe war. Nun erſchien
er als Liebhaber und fragte mich, ob ich ihm
mein Herz, und wenn er eine ehrenvolle,
wohlbeſoldete Stelle erhielte, auch dereinſt
meine Hand ſchenken wollte?
Man hatte ihn zwar in unſre Dienſte
genommen; allein zum Anfange hielt man
ihn, weil man ſich vor ſeinem Ehrgeiz fürch¬
tete, mehr zurück, als daß man ihn ſchnell em¬
por gehoben hätte und ließ ihn, weil er eignes
Vermögen hatte, bey einer kleinen Beſoldung.
Bey aller meiner Neigung zu ihm wußte
ich, daß er der Mann nicht war, mit dem
man ganz gerade handeln konnte. Ich nahm
mich daher zuſammen und verwies ihn an
meinen Vater, an deſſen Einwilligung er
nicht zu zweifeln ſchien, und mit mir erſt auf
der Stelle einig ſeyn wollte. Endlich ſagte
ich Ja, indem ich die Beyſtimmung meiner
Eltern zur nothwendigen Bedingung machte.
Er ſprach alsdann mit beyden förmlich; ſie
zeigten ihre Zufriedenheit, man gab ſich das
Wort auf den bald zu hoffenden Fall, daß
man ihn weiter avanciren werde. Schwe¬
ſtern und Tanten wurden davon benachrich¬
tigt, und ihnen das Geheimnis auf das
ſtrengſte anbefohlen.
Nun war aus einem Liebhaber ein Bräu¬
tigam geworden. Die Verſchiedenheit zwi¬
ſchen beyden zeigte ſich ſehr groß. Könnte
jemand die Liebhaber aller wohldenkenden
Q 2
Mädchen in Bräutigame verwandeln, ſo
wäre es eine große Wohlthat für unſer Ge¬
ſchlecht, ſelbſt wenn auf dieſes Verhältniß
keine Ehe erfolgen ſollte. Die Liebe zwiſchen
beyden Perſonen nimmt dadurch nicht ab,
aber ſie wird vernünftiger. Unzählige kleine
Thorheiten, alle Koketterien und Launen fal¬
len gleich hinweg. Äußert uns der Bräuti¬
gam, daß wir ihm in einer Morgenhaube
beſſer als in dem ſchönſten Aufſatze gefallen,
dann wird einem wohldenkenden Mädchen
gewiß die Friſur gleichgültig, und es iſt
nichts natürlicher, als daß er auch ſolid denkt
und lieber ſich eine Hausfrau als der Welt
eine Putzdocke zu bilden wünſcht. Und ſo
geht es durch alle Fächer durch.
Hat ein ſolches Mädchen dabey das
Glück, daß ihr Bräutigam Verſtand und
Kenntniſſe beſitzt, ſo lernt ſie mehr als hohe
Schulen und fremde Länder geben können.
Sie nimmt nicht nur alle Bildung gern an,
die er ihr giebt, ſondern ſie ſucht ſich auch auf
dieſem Wege ſo immer weiter zu bringen. Die
Liebe macht vieles Unmögliche möglich, und
endlich geht die dem weiblichen Geſchlecht ſo
nöthige und anſtändige Unterwerfung ſogleich
an; der Bräutigam herrſcht nicht wie der
Ehemann; er bittet nur, und ſeine Geliebte
ſucht ihm abzumerken, was er wünſcht, um
es noch eher zu vollbringen als er bittet.
So hat mich die Erfahrung gelehrt, was
ich nicht um vieles miſſen möchte. Ich war
glücklich, wahrhaft glücklich, wie man es in
der Welt ſeyn kann, daß heißt, auf kurze
Zeit.
Ein Sommer ging unter dieſen ſtillen
Freuden hin. Narciß gab mir nicht die min¬
deſte Gelegenheit zu Beſchwerden; er ward
mir immer lieber, meine ganze Seele hing
an ihm, das wußte er wohl und wußte es
zu ſchätzen. Inzwiſchen entſpann ſich aus
anſcheinenden Kleinigkeiten etwas, das un¬
ſerm Verhältniſſe nach und nach ſchädlich
wurde
Narciß ging als Bräutigam mit mir um,
und nie wagte er es, das von mir zu begeh¬
ren, was uns noch verboten war. Allein
über die Grenzen der Tugend und Sittſam¬
keit waren wir ſehr verſchiedener Meynung.
Ich wollte ſicher gehen und erlaubte durch¬
aus keine Freyheit, als welche allenfalls die
ganze Welt hätte wiſſen dürfen. Er, an
Näſchereyen gewöhnt, fand dieſe Diät ſehr
ſtreng; hier ſetzte es nun beſtändigen Wider¬
ſpruch; er lobte mein Verhalten und ſuchte
meinen Entſchluß zu untergraben.
Mir fiel das ernſthaft meines alten
Sprachmeiſters wieder ein, und zugleich das
Hülfsmittel, das ich damals dagegen ange¬
geben hatte.
Mit Gott war ich wieder ein wenig be¬
kannter geworden. Er hatte mir ſo einen
lieben Bräutigam gegeben und dafür wußte
ich ihm Dank. Die irdiſche Liebe ſelbſt con¬
centrirte meinen Geiſt und ſetzte ihn in Be¬
wegung, und meine Beſchäftigung mit Gott
widerſprach ihr nicht. Ganz natürlich klagte
ich ihm, was mich bange machte, und bemerkte
nicht, daß ich ſelbſt das, was mich bange mach¬
te, wünſchte und begehrte. Ich kam mir ſehr
ſtark vor und betete nicht etwa: bewahre
mich vor Verſuchung, über die Verſuchung
war ich meinen Gedanken nach weit hinaus.
In dieſem loſen Flitterſchmuck eigner Tugend
erſchien ich dreiſt vor Gott; er ſtieß mich
nicht weg, auf die geringſte Bewegung zu
ihm hinterließ er einen ſanften Eindruck in
meiner Seele, und dieſer Eindruck bewegte
mich ihn immer wieder aufzuſuchen.
Die ganze Welt war mir auſſer Narciſ¬
ſen todt, nichts hatte außer ihm einen Reiz
für mich. Selbſt meine Liebe zum Putz hatte
nur den Zweck, ihm zu gefallen; wußte ich,
daß er mich nicht ſah, ſo konnte ich keine
Sorgfalt darauf wenden. Ich tanzte gern,
wenn er aber nicht dabey war, ſo ſchien mir,
als wenn ich die Bewegung nicht vertragen
könnte. Auf ein brillantes Feſt, bey dem er
nicht zugegen war, konnte ich mir weder etwas
neues anſchaffen, noch das alte der Mode
gemäß aufſtutzen. Einer war mir ſo lieb
als der andere, doch möchte ich lieber ſagen,
einer ſo läſtig als der andere. Ich glaubte
meinen Abend recht gut zugebracht zu haben,
wenn ich mir mit ältern Perſonen ein Spiel
ausmachen konnte, wozu ich ſonſt nicht die
mindeſte Luſt hatte, und wenn ein alter gu¬
ter Freund mich etwa ſcherzhaft darüber
aufzog, lächelte ich vielleicht das erſtemal
den ganzen Abend. So ging es mit Pro¬
menaden und allen geſellſchaftlichen Vergnü¬
gungen, die ſich nur denken laſſen:
Ich hatt’ ihn einzig mir erkohren;
Ich ſchien mir nur für ihn gebohren,
Begehrte nichts als ſeine Gunſt.
So war ich oft in der Geſellſchaft ein¬
ſam, und die völlige Einſamkeit war mir
meiſtens lieber. Allein mein geſchäftiger Geiſt
konnte weder ſchlafen noch träumen; ich
fühlte und dachte und erlangte nach und
nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindun¬
gen und Gedanken mit Gott zu reden. Da
entwickelten ſich Empfindungen anderer Art
in meiner Seele, die jenen nicht widerſpra¬
chen. Denn meine Liebe zu Narciß war dem
ganzen Schöpfungsplane gemäß und ſtieß
nirgend gegen meine Pflichten an. Sie wi¬
derſprachen ſich nicht und waren doch unend¬
lich verſchieden. Narciß war das einzige
Bild, das mir vorſchwebte, auf das ſich meine
ganze Liebe bezog; aber das andere Gefühl
bezog ſich auf kein Bild und war unaus¬
ſprechlich angenehm. Ich habe es nicht
mehr und kann es mir nicht mehr geben.
Mein Geliebter, der ſonſt alle meine Ge¬
heimniſſe wußte, erfuhr nichts hiervon. Ich
merkte bald daß er anders dachte; er gab
mir öfters Schriften, die alles, was man Zu¬
ſammenhang mit dem Unſichtbaren heißen
kann, mit leichten und ſchweren Waffen be¬
ſtritten. Ich las die Bücher, weil ſie von
ihm kamen, und wußte am Ende kein Wort
von allem dem, was darin geſtanden hatte.
Über Wiſſenſchaften und Kenntniſſe ging
es auch nicht ohne Widerſpruch ab; er machte
es wie alle Männer, ſpottete über gelehrte
Frauen und bildete unaufhörlich an mir.
Über alle Gegenſtände, die Rechtsgelehrſam¬
keit ausgenommen, pflegte er mit mir zu
ſprechen, und indem er mir Schriften aller¬
ley Art beſtändig zubrachte, wiederholte er
oft die bedenkliche Lehre: daß ein Frauen¬
zimmer ſein Wiſſen heimlicher halten müßte,
als der Calviniſt ſeinen Glauben im katho¬
liſchen Lande, und indem ich wirklich auf
eine ganz natürliche Weiſe vor der Welt
mich nicht klüger und unterrichteter als ſonſt
zu zeigen pflegte, war er der erſte, der gele¬
gentlich der Eitelkeit nicht widerſtehen konnte,
von meinen Vorzügen zu ſprechen.
Ein berühmter und damals wegen ſeines
Einfluſſes, ſeiner Talente und ſeines Geiſtes
ſehr geſchätzter Weltmann, fand an unſerm
Hofe großen Beyfall. Er zeichnete Narciſ¬
ſen beſonders aus und hatte ihn beſtändig
um ſich. Sie ſtritten auch über die Tugend
der Frauen. Narciß vertraute mir weitläuf¬
tig ihre Unterredung; ich blieb mit meinen
Anmerkungen nicht dahinten, und mein Freund
verlangte von mir einen ſchriftlichen Aufſatz.
Ich ſchrieb ziemlich geläufig franzöſiſch; ich
hatte bey meinem Alten einen guten Grund
gelegt. Die Correſpondenz mit meinem
Freunde war in dieſer Sprache geführt, und
eine feinere Bildung konnte man überhaupt
damals nur aus franzöſiſchen Büchern neh¬
men. Mein Aufſatz hatte dem Grafen ge¬
fallen; ich mußte einige kleine Lieder herge¬
ben, die ich vor kurzen gedichtet hatte. Ge¬
nug, Narciß ſchien ſich auf ſeine Geliebte
ohne Rückhalt etwas zu gute zu thun, und
die Geſchichte endigte zu ſeiner großen Zu¬
friedenheit mit einer geiſtreichen Epiſtel in
franzöſiſchen Verſen, die ihm der Graf bey
ſeiner Abreiſe zuſandte, worin ihres freund¬
ſchaftlichen Streites gedacht war, und mein
Freund am Ende glücklich geprieſen wurde,
daß er nach ſo manchen Zweifeln und Irr¬
thümern in den Armen einer reizenden und
tugendhaften Gattin, was Tugend ſey, am
ſicherſten erfahren würde.
Dieſes Gedicht ward mir vor allen und
dann aber auch faſt jederman gezeigt, und
jeder dachte dabey was er wollte. So ging
es in mehreren Fällen und ſo mußten alle
Fremden, die er ſchätzte, in unſerm Hauſe be¬
kannt werden.
Eine gräfliche Familie hielt ſich wegen
unſres geſchickten Arztes eine Zeitlang hier
auf. Auch in dieſem Hauſe war Narciß
wie ein Sohn gehalten; er führte mich da¬
ſelbſt ein, man fand bey dieſen würdigen
Perſonen eine angenehme Unterhaltung für
Geiſt und Herz, und ſelbſt die gewöhnlichen
Zeitvertreibe der Geſellſchaft ſchienen in die¬
ſem Hauſe nicht ſo leer wie anderwärts.
Jedermann wußte wie wir zuſammen ſtan¬
den, man behandelte uns, wie es die Um¬
ſtände mit ſich brachten, und ließ das Haupt¬
verhältniß unberührt. Ich erwähne dieſer
einen Bekanntſchaft, weil ſie in der Folge
meines Lebens manchen Einfluß auf mich
hatte.
Nun war faſt ein Jahr unſerer Verbin¬
dung verſtrichen, und mit ihm war auch
unſer Frühling dahin. Der Sommer kam,
und alles wurde ernſthafter und heißer.
Durch einige unerwartete Todesfälle wa¬
ren Ämter erledigt, auf die Narciß Anſpruch
machen konnte. Der Augenblick war nahe,
in dem ſich mein ganzes Schickſal entſchei¬
den ſollte, und indeß Narciß und alle Freun¬
de ſich bey Hofe die möglichſte Mühe ga¬
ben, gewiſſe Eindrücke, die ihm ungünſtig
waren, zu vertilgen, und ihm den erwünſch¬
ten Platz zu verſchaffen, wendete ich mich
mit meinem Anliegen zu dem unſichtbaren
Freunde. Ich war ſo freundlich aufgenom¬
men, daß ich gern wiederkam. Ganz frey
geſtand ich meinen Wunſch, Narciß möchte
zu der Stelle gelangen; allein meine Bitte
war nicht ungeſtüm, und ich forderte nicht,
daß es um meines Gebets willen geſchehen
ſollte.
Die Stelle ward durch einen viel gerin¬
geren Concurrenten beſetzt. Ich erſchrak hef¬
tig über die Zeitung, und eilte in mein
Zimmer, das ich feſt hinter mir zumachte.
Der erſte Schmerz löſte ſich in Thränen auf,
der nächſte Gedanke war: es iſt aber doch
nicht von ohngefähr geſchehen, und ſogleich
folgte die Entſchließung, es mir recht wohl
gefallen zu laſſen, weil auch dieſes anſchei¬
nende Übel zu meinem wahren Beſten gerei¬
chen würde. Nun drangen die ſanfteſten
Empfindungen, die alle Wolken des Kum¬
mers zertheilten, herbey; ich fühlte, daß ſich
mit dieſer Hülfe alles ausſtehn ließ. Ich
ging heiter zu Tiſche zum größten Erſtaunen
meiner Hausgenoſſen.
Narciß hatte weniger Kraft als ich, und
ich mußte ihn tröſten. Auch in ſeiner Fa¬
milie begegneten ihm Widerwärtigkeiten, die
ihn ſehr drückten, und bey dem wahren
Vertrauen, das unter uns Statt hatte, ver¬
traute er mir alles. Seine Negotiationen
in fremde Dienſte zu gehen, waren auch nicht
glücklicher, alles fühlte ich tief um ſeinet-
und meinetwillen, und alles trug ich zuletzt
an den Ort, wo mein Anliegen ſo wohl auf¬
genommen wurde.
Je ſanfter dieſe Erfahrungen waren, deſto
öfter ſuchte ich ſie zu erneuern, und ich ſuch¬
te immer da den Troſt, wo ich ihn ſo oft
gefunden hatte; allein ich fand ihn nicht
immer, es war mir wie einem, der ſich an
der Sonne wärmen will, und dem etwas im
Wege ſteht, das Schatten macht. Was iſt
das? fragte ich mich ſelbſt. Ich ſpürte der
Sache eifrig nach, und bemerkte deutlich,
daß
daß alles von der Beſchaffenheit meiner
Seele abhing; wenn die nicht ganz in der
geradeſten Richtung zu Gott gekehrt war,
ſo blieb ich kalt; ich fühlte ſeine Rückwir¬
kung nicht, und konnte ſeine Antwort nicht
vernehmen. Nun war die zweyte Frage:
was verhindert dieſe Richtung? Hier war
ich in einem weiten Felde, und verwickelte
mich in eine Unterſuchung, die beynah das
ganze zweyte Jahr meiner Liebesgeſchichte
fortdauerte. Ich hätte ſie früher endigen
können, denn ich kam bald auf die Spur,
aber ich wollte es nicht geſtehen, und ſuchte
tauſend Ausflüchte.
Ich fand ſehr bald, daß die gerade Rich¬
tung meiner Seele durch thörichte Zerſtreuung
und Beſchäftigung mit unwürdigen Sachen
geſtöhrt werde; das Wie und Wo war mir
bald klar genug. Nun aber wie heraus¬
kommen? in einer Welt wo alles gleichgül¬
W. Meiſters Lehrj. 3. R
tig oder toll iſt. Gern hätte ich die Sache
an ihren Ort geſtellt ſeyn laſſen, und hätte
auf geradewohl hingelebt wie andere Leute
auch, die ich ganz wohlauf ſah; allein ich
durfte nicht, mein Innres widerſprach mir
zu oft. Wollte ich mich der Geſellſchaft ent¬
ziehen und meine Verhältniſſe verändern, ſo
konnte ich nicht. Ich war nun einmal in
einen Kreis hinein geſperrt; gewiſſe Verbin¬
dungen konnte ich nicht los werden, und in
der mir ſo angelegenen Sache drängten und
häuften ſich die Fatalitäten. Ich legte mich
oft mit Thränen zu Bette, und ſtand nach
einer ſchlafloſen Nacht auch wieder ſo auf;
ich bedurfte einer kräftigen Unterſtützung,
und die verlieh mir Gott nicht, wenn ich
mit der Schellenkappe herum lief.
Nun ging es an ein Abwiegen aller und
jeder Handlungen; Tanzen und Spielen
wurden am erſten in Unterſuchung genom¬
men. Nie iſt etwas vor oder gegen dieſe
Dinge geredet, gedacht, oder geſchrieben wor¬
den, das ich nicht aufſuchte, beſprach, las,
erwog, vermehrte, verwarf, und mich uner¬
hört herumplagte. Unterließ ich dieſe Dinge,
ſo war ich gewiß, Narciſſen zu beleidigen.
Denn er fürchtete ſich äußerſt vor dem Lä¬
cherlichen, das uns der Anſchein ängſtlicher
Gewiſſenhaftigkeit vor der Welt giebt. Weil
ich nun das, was ich für Thorheit, für
ſchädliche Thorheit hielt, nicht einmal aus
Geſchmack, ſondern blos um ſeinetwillen that,
ſo wurde mir alles entſetzlich ſchwer.
Ohne unangenehme Weitläuftigkeiten und
Wiederholungen würde ich die Bemühungen
nicht darſtellen können, welche ich anwende¬
te, um jene Handlungen, die mich nun ein¬
mal zerſtreuten und meinen innern Frieden
ſtöhrten, ſo zu verrichten, daß dabey mein
Herz für die Einwirkungen des unſichtbaren
R 2
Weſens offen bliebe, und wie ſchmerzlich ich
empfinden mußte, daß der Streit auf dieſe
Weiſe nicht beygelegt werden könne. Denn
ſobald ich mich in das Gewand der Thor¬
heit kleidete, blieb es nicht bloß bey der
Maske, ſondern die Narrheit durchdrang
mich ſogleich durch und durch.
Darf ich hier das Geſetz einer blos hi¬
ſtoriſchen Darſtellung überſchreiten, und eini¬
ge Betrachtungen über dasjenige machen,
was in mir vorging? Was konnte das ſeyn,
das meinen Geſchmack und meine Sinnes¬
art ſo änderte, daß ich im zwey und zwan¬
zigſten Jahre, ja früher, kein Vergnügen an
Dingen fand, die Leute von dieſem Alter
unſchuldig beluſtigen können? Warum wa¬
ren ſie mir nicht unſchuldig? Ich darf wohl
antworten: eben weil ſie mir nicht unſchul¬
dig waren, weil ich nicht wie andre meines
gleichen unbekannt mit meiner Seele war.
Nein, ich wußte aus Erfahrungen, die ich
ungeſucht erlangt hatte, daß es höhere Em¬
pfindungen gebe, die uns ein Vergnügen
wahrhaftig gewährten, das man vergebens
bey Luſtbarkeiten ſucht, und daß in dieſen
höhern Freuden zugleich ein geheimer Schatz
zur Stärkung im Unglück aufbewahrt ſey.
Aber die geſelligen Vergnügungen und
Zerſtreuungen der Jugend mußten doch noth¬
wendig einen ſtarken Reiz für mich haben,
weil es mir nicht möglich war, ſie zu thun,
als thäte ich ſie nicht. Wie manches könnte
ich jetzt mit großer Kälte thun, wenn ich
nur wollte, was mich damals irre machte,
ja Meiſter über mich zu werden drohete.
Hier konnte kein Mittelweg gehalten wer¬
den, ich mußte entweder die reizenden Ver¬
gnügungen oder die erquickenden innerlichen
Empfindungen entbehren.
Aber ſchon war der Streit in meiner
Seele ohne mein eigentliches Bewußtſeyn
entſchieden. Wenn auch etwas in mir war,
das ſich nach den ſinnlichen Freuden hin¬
ſehnte, ſo konnte ich ſie doch nicht mehr ge¬
nießen. Wer den Wein noch ſo ſehr liebt,
dem wird alle Luſt zum Trinken vergehen,
wenn er ſich bey vollen Fäſſern in einem
Keller befände, in welchem die verdorbene
Luft ihn zu erſticken drohete. Reine Luft iſt
mehr als Wein, das fühlte ich nur zu leb¬
haft, und es hätte gleich von Anfang an
wenig Überlegung bey mir gekoſtet, das
Gute dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich
die Furcht, Narciſſens Gunſt zu verlieren,
nicht abgehalten hätte. Aber da ich endlich
nach tauſendfältigem Streit, nach immer
wiederholter Betrachtung, auch ſcharfe Blicke
auf das Band warf, das mich an ihn feſt
hielt, entdeckte ich, daß es nur ſchwach war,
daß es ſich zerreiſſen laſſe. Ich erkannte
auf einmal, daß es nur eine Glasglocke ſey,
die mich in den luftleeren Raum ſperrte;
nur noch ſo viel Kraft ſie entzwey zu ſchla¬
gen, und du biſt gerettet.
Gedacht gewagt. Ich zog die Maske
ab und handelte jedesmal wie mirs ums
Herz war. Narciſſen hatte ich immer zärt¬
lich lieb; aber das Thermometer, das vorher
im heißen Waſſer geſtanden, hing nun an
der natürlichen Luft; es konnte nicht höher
ſteigen, als die Atmoſphäre warm war.
Unglücklicherweiſe erkältete ſie ſich ſehr.
Narciß fing an ſich zurück zu ziehen und
fremd zu thun, das ſtand ihm frey; aber
mein Thermometer fiel, ſo wie er ſich zurück
zog. Meine Familie bemerkte es, man be¬
fragte mich, man wollte ſich verwundern.
Ich erklärte mit männlichem Trotz, daß ich
mich bisher genug aufgeopfert habe, daß ich
bereit ſey, noch ferner und bis ans Ende
meines Lebens alle Widerwärtigkeiten mit
ihm zu theilen, daß ich aber für meine Hand¬
lungen völlige Freyheit verlange, daß mein
Thun und Laſſen von meiner Überzeugung
abhängen müſſe; daß ich zwar niemals ei¬
genſinnig auf meiner Meynung beharren,
vielmehr jede Gründe gerne anhören wollte,
aber da es mein eigenes Glück betreffe, müſ¬
ſe die Entſcheidung von mir abhängen, und
keine Art von Zwang würde ich dulden.
So wenig das Raiſonnement des größten
Arztes mich bewegen würde, eine ſonſt viel¬
leicht ganz geſunde und von vielen ſehr ge¬
liebte Speiſe zu mir zu nehmen, ſo bald mir
meine Erfahrung bewieſe, daß ſie mir jeder¬
zeit ſchädlich ſey, wie ich den Gebrauch des
Kaffees zum Beyſpiel anführen könnte, ſo
wenig und noch viel weniger würde ich mir
irgend eine Handlung, die mich verwirrte,
als für mich moraliſch zuträglich aufdemon¬
ſtriren laſſen.
Da ich mich ſo lange im Stillen vorbe¬
reitet hatte, ſo waren mir die Debatten hier¬
über eher angenehm als verdrießlich. Ich
machte meinem Herzen Luft, und fühlte den
ganzen Werth meines Entſchluſſes. Ich wich
nicht ein Haar breit, und wem ich nicht kind¬
lichen Reſpect ſchuldig war, der wurde derb
abgefertigt. In meinem Hauſe ſiegte ich
bald. Meine Mutter hatte von Jugend
auf ähnliche Geſinnungen, nur waren ſie bey
ihr nicht zur Reife gediehen; keine Noth
hatte ſie gedrängt, und den Muth ihre Über¬
zeugung durchzuſetzen erhöht. Sie freute
ſich durch mich ihre ſtillen Wünſche erfüllt
zu ſehen. Die jüngere Schweſter ſchien ſich
an mich anzuſchließen; die zweyte war auf¬
merkſam und ſtill. Die Tante hatte am
meiſten einzuwenden. Die Gründe, die ſie
vorbrachte, ſchienen ihr unwiderleglich, und
waren es auch, weil ſie ganz gemein waren.
Ich war endlich genöthigt, ihr zu zeigen, daß
ſie in keinem Sinne eine Stimme in dieſer
Sache habe, und ſie ließ nur ſelten merken,
daß ſie auf ihrem Sinne verharre. Auch
war ſie die einzige, die dieſe Begebenheit
von nahen anſah und ganz ohne Empfin¬
dung blieb. Ich thue ihr nicht zu viel,
wenn ich ſage, daß ſie kein Gemüth und die
eingeſchränkteſten Begriffe hatte.
Der Vater benahm ſich ganz ſeiner Denk¬
art gemäß. Er ſprach wenig, aber öfter mit
mir über die Sache, und ſeine Gründe wa¬
ren verſtändig, und als ſeine Gründe un¬
widerleglich; nur das tiefe Gefühl meines
Rechts gab mir Stärke, gegen ihn zu diſpu¬
tiren. Aber bald veränderten ſich dieſe Sce¬
nen; ich mußte an ſein Herz Anſpruch ma¬
chen. Gedrängt von ſeinem Verſtande brach
ich in die affektvollſten Vorſtellungen aus.
Ich ließ meiner Zunge und meinen Thränen
freyen Lauf. Ich zeigte ihm, wie ſehr ich
Narciſſen liebte, und welchen Zwang ich mir
ſeit zwey Jahren angethan hatte, wie ge¬
wiß ich ſey, daß ich recht handle, daß ich
bereit ſey dieſe Gewißheit mit dem Verluſt
des geliebten Bräutigams und anſcheinenden
Glücks, ja wenn es nöthig wäre, mit Haab
und Gut zu verſiegeln; daß ich lieber mein
Vaterland, Eltern und Freunde verlaſſen,
und mein Brod in der Fremde verdienen,
als gegen meine Einſichten handeln wollte.
Er verbarg ſeine Rührung, ſchwieg einige
Zeit ſtille und erklärte ſich endlich öffentlich
für mich.
Narciß vermied ſeit jener Zeit unſer Haus,
und nun gab mein Vater die wöchentliche
Geſellſchaft auf, in der ſich dieſer befand.
Die Sache machte Aufſehn bey Hofe und in
der Stadt. Man ſprach darüber wie ge¬
wöhnlich in ſolchen Fällen, an denen das
Publikum heftigen Theil zu nehmen pflegt,
weil es verwöhnt iſt, auf die Entſchließun¬
gen ſchwacher Gemüther einigen Einfluß zu
haben. Ich kannte die Welt genug, und
wußte, daß man oft von eben den Perſonen
über das getadelt wird, wozu man ſich durch
ſie hat bereden laſſen, und auch ohne das
würden mir bey meiner innern Verfaſſung
alle ſolche vorübergehende Meynungen we¬
niger als nichts geweſen ſeyn.
Dagegen verſagte ich mir nicht, meiner
Neigung zu Narciſſen nachzuhängen. Er
war mir unſichtbar geworden, und mein
Herz hatte ſich nicht gegen ihn geändert.
Ich liebte ihn zärtlich, gleichſam auf das
neue und viel geſetzter als vorher. Wollte
er meine Überzeugung nicht ſtöhren, ſo war
ich die Seine, ohne dieſe Bedingung hätte
ich ein Königreich mit ihm ausgeſchlagen.
Mehrere Monate lang trug ich dieſe Em¬
pfindungen und Gedanken mit mir herum,
und da ich mich endlich ſtill und ſtark ge¬
nug fühlte, um ruhig und geſetzt zu Werke
zu gehen, ſo ſchrieb ich ihm ein höfliches,
nicht zärtliches, Billet, und fragte ihn, war¬
um er nicht mehr zu mir komme?
Da ich ſeine Art kannte, ſich ſelbſt in
geringern Dingen nicht gern zu erklären,
ſondern ſtillſchweigend zu thun, was ihm gut
däuchte; ſo drang ich gegenwärtig mit Vor¬
ſatz in ihn. Ich erhielt eine lange und wie
mir ſchien abgeſchmackte Antwort, in einem
weitläuftigen Styl und unbedeutenden Phra¬
ſen: daß er ohne beſſere Stellen ſich nicht
einrichten, und mir ſeine Hand anbieten kön¬
ne, daß ich am beſten wiſſe, wie hinderlich
es ihm bisher gegangen, daß er glaube, ein
ſo lang fortgeſetzter fruchtloſer Umgang kön¬
ne meiner Renommée ſchaden, ich würde ihm
erlauben, ſich in der bisherigen Entfernung
zu halten; ſo bald er im Stande wäre, mich
glücklich zu machen, würde ihm das Wort,
das er mir gegeben, heilig ſeyn.
Ich antwortete ihm auf der Stelle: da
die Sache aller Welt bekannt ſey, möge es
zu ſpät ſeyn, meine Renommée zu menagiren,
und für dieſe wären mir mein Gewiſſen und
meine Unſchuld die ſicherſten Bürgen; Ihm
aber gäbe ich hiermit ſein Wort ohne Be¬
denken zurück, und wünſchte, daß er dabey
ſein Glück finden möchte. In eben der
Stunde erhielt ich eine kurze Antwort, die
im Weſentlichen mit der erſten völlig gleich¬
lautend war. Er blieb dabey, daß er nach
erhaltener Stelle bey mir anfragen würde,
ob ich ſein Glück mit ihm theilen wollte.
Mir hieß das nun ſo viel als nichts ge¬
ſagt. Ich erklärte meinen Verwandten und
Bekannten, die Sache ſey abgethan und ſie
war es auch wirklich. Denn als er neun
Monate hernach auf das erwünſchteſte beför¬
dert wurde, ließ er mir ſeine Hand nochmals
antragen, freylich mit der Bedingung, daß
ich als Gattin eines Mannes, der ein Haus
machen müßte, meine Geſinnungen würde zu
ändern haben. Ich dankte höflich, und eilte
mit Herz und Sinn von dieſer Geſchichte
weg, wie man ſich aus dem Schauſpielhauſe
heraus ſehnt, wenn der Vorhang gefallen
iſt. Und da er kurze Zeit darauf, wie es
ihm nun ſehr leicht war, eine reiche und an¬
ſehnliche Partie gefunden hatte, und ich ihn
nach ſeiner Art glücklich wußte, ſo war meine
Beruhigung ganz vollkommen.
Ich darf nicht mit Stillſchweigen überge¬
hen, daß einigemal, noch eh er eine Bedie¬
nung erhielt, auch nachher anſehnliche Hei¬
rathsanträge an mich gethan wurden, die ich
aber ganz ohne Bedenken ausſchlug, ſo ſehr
Vater und Mutter mehr Nachgiebigkeit von
meiner Seite gewünſcht hätten.
Nun ſchien mir nach einem ſtürmiſchen
März und April das ſchönſte Maywetter
beſchert zu ſeyn. Ich genoß bey einer guten
Geſundheit eine unbeſchreibliche Gemüths¬
ruhe; ich mochte mich umſehen, wie ich wollte,
ſo hatte ich bey meinem Verluſte noch ge¬
wonnen. Jung und voll Empfindung wie
ich war, däuchte mir die Schöpfung tauſend¬
mal ſchöner als vorher, da ich Geſellſchaften
und Spiele haben mußte, damit mir die
Weile in dem ſchönen Garten nicht zu lang
wurde. Da ich mich einmal meiner Fröm¬
migkeit nicht ſchämte, ſo hatte ich Herz meine
Liebe zu Künſten und Wiſſenſchaften nicht
zu verbergen. Ich zeichnete, mahlte, las
und fand Menſchen genug, die mich unter¬
ſtützten; ſtatt der großen Welt, die ich ver¬
laſſen hatte, oder vielmehr, die mich verließ,
bildete ſich eine kleinere um mich her, die
weit reicher und unterhaltender war. Ich
hatte
hatte eine Neigung zum geſellſchaftlichen Le¬
ben, und ich läugne nicht, daß mir, als ich
meine ältern Bekanntſchaften aufgab, vor
der Einſamkeit grauete. Nun fand ich mich
hinlänglich, ja vielleicht zu ſehr entſchädigt.
Meine Bekanntſchaften wurden erſt recht
weitläuftig, nicht nur mit Einheimiſchen, de¬
ren Geſinnungen mit den meinigen überein¬
ſtimmten, ſondern auch mit Fremden. Meine
Geſchichte war ruchtbar geworden, und es
waren viele Menſchen neugierig, das Mäd¬
chen zu ſehen, die Gott mehr ſchätzte als ih¬
ren Bräutigam. Es war damals überhaupt
eine gewiſſe religiöſe Stimmung in Deutſch¬
land bemerkbar. In mehreren fürſtlichen und
gräflichen Häuſern war eine Sorge für das
Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an
Edelleuten die gleiche Aufmerkſamkeit heg¬
ten, und in den geringern Ständen war
durchaus dieſe Geſinnung verbreitet.
W. Meiſters Lehrj. 3. S
Die gräfliche Familie, deren ich oben er¬
wähnt, zog mich nun näher an ſich. Sie
hatte ſich indeſſen verſtärkt, indem ſich einige
Verwandte in die Stadt gewendet hatten.
Dieſe ſchätzbaren Perſonen ſuchten meinen
Umgang, wie ich den ihrigen. Sie hatten
große Verwandtſchaft, und ich lernte in die¬
ſem Hauſe einen großen Theil der Fürſten,
Grafen und Herrn des Reichs kennen. Meine
Geſinnungen waren niemanden ein Geheim¬
niß, und man mochte ſie ehren oder auch nur
ſchonen, ſo erlangte ich doch meinen Zweck
und blieb ohne Anfechtung.
Noch auf eine andere Weiſe ſollte ich
wieder in die Welt geführt werden. Zu eben
der Zeit verweilte ein Stiefbruder meines
Vaters, der uns ſonſt nur im Vorbeygehn
beſucht hatte, länger bey uns. Er hatte die
Dienſte ſeines Hofes, wo er geehrt und von
Einfluß war, nur deswegen verlaſſen, weil
nicht alles nach ſeinem Sinne ging. Sein
Verſtand war richtig und ſein Charakter
ſtreng, und er war darin meinem Vater ſehr
ähnlich; nur hatte dieſer dabey einen gewiſ¬
ſen Grad von Weichheit, wodurch ihm leich¬
ter ward in Geſchäften nachzugeben und et¬
was gegen ſeine Überzeugung nicht zu thun,
aber geſchehen zu laſſen, und den Unwillen
darüber alsdann entweder in der Stille für
ſich oder vertraulich mit ſeiner Familie zu
verkochen. Mein Oheim war um vieles jün¬
ger, und ſeine Selbſtſtändigkeit ward durch
ſeine äußern Umſtände nicht wenig beſtätigt.
Er hatte eine ſehr reiche Mutter gehabt,
und hatte von ihren nahen und fernen Ver¬
wandten noch ein großes Vermögen zu hof¬
fen; er bedurfte keines fremden Zuſchuſſes,
anſtatt daß mein Vater bey ſeinem mäßigen
Vermögen durch Beſoldung an den Dienſt
feſt geknüpft war.
S 2
Noch unbiegſamer war mein Oheim durch
häusliches Unglück geworden. Er hatte
eine liebenswürdige Frau und einen hoff¬
nungsvollen Sohn früh verloren, und
er ſchien von der Zeit an alles von ſich
entfernen zu wollen, was nicht von ſeinem
Willen abhing.
In der Familie ſagte man ſich gelegent¬
lich mit einiger Selbſtgefälligkeit in die Oh¬
ren, daß er wahrſcheinlich nicht wieder heira¬
then werde, und daß wir Kinder uns ſchon
als Erben ſeines großen Vermögens anſehen
könnten. Ich achtete nicht weiter darauf;
allein das Betragen der übrigen ward nach
dieſen Hoffnungen nicht wenig geſtimmt Bey
der Feſtigkeit ſeines Charakters hatte er ſich
gewöhnt, in der Unterredung niemand zu wi¬
derſprechen, vielmehr die Meynung eines je¬
den freundlich anzuhören, und die Art wie
ſich jeder eine Sache dachte noch ſelbſt durch
Argumente und Beyſpiele zu erheben. Wer
hnihn nicht kannte glaubte ſtets mit ihm einer¬
ley Meynung zu ſeyn, denn er hatte einen
überwiegenden Verſtand und konnte ſich in
alle Vorſtellungsarten verſetzen. Mit mir
ging es ihm nicht ſo glücklich, denn hier
war von Empfindungen die Rede, von
denen er gar keine Ahndung hatte, und
ſo ſchonend, theilnehmend und verſtändig
er mit mir über meine Geſinnungen ſprach,
ſo war es mir doch auffallend, daß er
von dem, worin der Grund aller meiner
Handlungen lag, offenbar keinen Begriff
hatte.
So geheim er übrigens war, entdeckte ſich
doch der Entzweck ſeines ungewöhnlichen
Auffenthalts bey uns nach einiger Zeit. Er
hatte, wie man endlich bemerken konnte, ſich
unter uns die jüngſte Schweſter auserſehen,
um ſie nach ſeinem Sinne zu verheirathen
und glücklich zu machen; und gewiß ſie konnte
nach ihren körperlichen und geiſtigen Gaben,
beſonders wenn ſich ein anſehnliches Vermö¬
gen noch mit auf die Schaale legte, auf die
erſten Partien Anſpruch machen. Seine Ge¬
ſinnungen gegen mich gab er gleichfalls pan¬
tomimiſch zu erkennen, indem er mir den
Platz einer Stiftsdame verſchafte, wovon ich
ſehr bald auch die Einkünfte zog.
Meine Schweſter war mit ſeiner Für¬
ſorge nicht ſo zufrieden und nicht ſo dankbar
wie ich. Sie entdeckte mir eine Herzensan¬
gelegenheit, die ſie bisher ſehr weislich ver¬
borgen hatte, denn ſie fürchtete wohl, was
auch wirklich geſchah, daß ich ihr auf alle
mögliche Weiſe die Verbindung mit einem
Manne, der ihr nicht hätte gefallen ſollen,
widerrathen würde. Ich that mein möglich¬
ſtes, und es gelang mir. Die Abſichten des
Oheims waren zu ernſthaft und zu deutlich,
und die Ausſicht für meine Schweſter, bey
ihrem Weltſinne, ſo reizend, als daß ſie
nicht eine Neigung, die ihr Verſtand ſelbſt
mißbilligte, aufzugeben Kraft hätte haben
ſollen.
Da ſie nun den ſanften Leitungen des
Oheims nicht mehr wie bisher auswich, ſo
war der Grund zu ſeinem Plane bald ge¬
legt. Sie ward Hofdame an einem benach¬
barten Hofe, wo er ſie einer Freundin, die
als OherhofmeiſterinOberhofmeiſterin in großem Anſehn ſtand,
zur Aufſicht und Ausbildung übergeben konn¬
te. Ich begleitete ſie zu dem Ort ihres neuen
Aufenthaltes. Wir konnten beyde mit der
Aufnahme, die wir erfuhren, ſehr zufrieden
ſeyn, und manchmal mußte ich über die Per¬
ſon, die ich nun als Stiftsdame, als junge
und fromme Stiftsdame, in der Welt ſpielte,
heimlich lächeln.
In frühern Zeiten würde ein ſolches Ver¬
hältniß mich ſehr verwirrt, ja mir vielleicht
den Kopf verrückt haben; nun aber war ich
bey allem, was mich umgab, ſehr gelaſſen.
Ich ließ mich in großer Stille ein paar
Stunden friſiren, putzte mich und dachte
nichts dabey, als daß ich in meinem Ver¬
hältniſſe dieſe Gallalivrée anzuziehen ſchuldig
ſey. In den angefüllten Sälen ſprach ich
mit allen und jeden, ohne daß mir irgend
eine Geſtalt oder ein Weſen einen ſtarken
Eindruck zurück gelaſſen hätte. Wenn ich
wieder nach Hauſe kam, waren müde Beine
meiſt alles Gefühl, was ich mit zurück brachte.
Meinem Verſtande nützten die vielen Men¬
ſchen, die ich ſah, und als Muſter aller
menſchlichen Tugenden eines guten und edlen
Betragens lernte ich einige Frauen, beſon¬
ders die Oberhofmeiſterin, kennen, unter der
meine Schweſter ſich zu bilden das Glück
hatte.
Doch fühlte ich bey meiner Rückkunft
nicht ſo glückliche körperliche Folgen von
dieſer Reiſe. Bey der größten Enthaltſam¬
keit und der genauſten Diät war ich doch
nicht wie ſonſt Herr von meiner Zeit und
meinen Kräften. Nahrung, Bewegung, Auf¬
ſtehn und Schlafengehn, Ankleiden und Aus¬
fahren hing nicht wie zu Hauſe von meinem
Willen und meinem Empfinden ab. Im
Laufe des geſelligen Kreiſes darf man nicht
ſtocken, ohne unhöflich zu ſeyn, und alles
was nöthig war, leiſtete ich gern, weil ich es
für Pflicht hielt, weil ich wußte, daß es bald
vorüber gehen würde, und weil ich mich ge¬
ſunder als jemals fühlte. Demohngeachtet
mußte dieſes fremde unruhige Leben auf mich
ſtärker als ich fühlte gewirkt haben. Denn
kaum war ich zu Hauſe angekommen und
hatte meine Eltern mit einer befriedigenden
Erzählung erfreut, ſo überfiel mich ein Blut¬
ſturz, der, ob er gleich nicht gefährlich war
und ſchnell vorüber ging, doch lange Zeit
eine merkliche Schwachheit hinterließ.
Hier hatte ich nun wieder eine neue Lek¬
tion aufzuſagen. Ich that es freudig; nichts
feſſelte mich an die Welt, und ich war über¬
zeugt, daß ich hier das Rechte niemals fin¬
den würde, und ſo war ich in dem heiterſten
und ruhigſten Zuſtande, und ward, indem ich
Verzicht aufs Leben gethan hatte, beym Le¬
ben erhalten.
Eine neue Prüfung hatte ich auszuſtehen,
da meine Mutter mit einer drückenden Be¬
ſchwerde überfallen wurde, die ſie noch fünf
Jahre trug, ehe ſie die Schuld der Natur
bezahlte. In dieſer Zeit gab es manche
Übung. Oft wenn ihr die Bangigkeit zu ſtark
wurde, ließ ſie uns des Nachts alle vor ihr
Bette rufen, um wenigſtens durch unſre Ge¬
genwart zerſtreut, wo nicht gebeſſert zu wer¬
den. Schwerer, ja kaum zu tragen, war der
Druck, als mein Vater auch elend zu werden
anfing. Von Jugend auf hatte er öfters
heftige Kopfſchmerzen, die aber aufs längſte
nur ſechs und dreißig Stunden anhielten.
Nun aber wurden ſie bleibend und wenn ſie
auf einen hohen Grad ſtiegen, ſo zerriß der
Jammer mir das Herz. Bey dieſen Stür¬
men fühlte ich meine körperliche Schwäche
am meiſten, weil ſie mich hinderte, meine hei¬
ligſten liebſten Pflichten zu erfüllen, oder mir
doch ihre Ausübung äußerſt beſchwerlich
machte.
Nun konnte ich mich prüfen, ob auf dem
Wege, den ich eingeſchlagen, Wahrheit oder
Phantaſie ſey, ob ich vielleicht nur nach an¬
dern gedacht, oder ob der Gegenſtand mei¬
nes Glaubens eine Realität habe, und zu
meiner größten Unterſtützung fand ich immer
das letzte. Die gerade Richtung meines
Herzens zu Gott, der Umgang mit den belo¬
ved ones hatte ich geſucht und gefunden und
das war was mir alles erleichterte. Wie
der Wanderer in den Schatten, ſo eilte
meine Seele nach dieſem Schutzort. Wenn
mich alles von außen drückte und kam nie¬
mals leer zurück.
In der neuern Zeit haben einige Verfech¬
ter der Religion, die mehr Eifer als Gefühl
für dieſelbe zu haben ſcheinen, ihre Mitgläu¬
bigen aufgefordert, Beyſpiele von wirklichen
Gebetserhörungen bekannt zu machen, wahr¬
ſcheinlich, weil ſie ſich Brief und Siegel
wünſchten, um ihren Gegnern recht diploma¬
tiſch und juriſtiſch zu Leibe zu gehen. Wie
unbekannt muß ihnen das wahre Gefühl
ſeyn, und wie wenig ächte Erfahrungen mö¬
gen ſie ſelbſt gemacht haben.
Ich darf ſagen, ich kam nie leer zurück,
wenn ich unter Druck und Noth Gott ge¬
ſucht hatte. Es iſt unendlich viel geſagt,
und doch kann und darf ich nicht mehr ſa¬
gen. So wichtig jede Erfahrung in dem
kritiſchen Augenblicke für mich war, ſo matt,
ſo unbedeutend, unwahrſcheinlich würde die
Erzählung werden, wenn ich einzelne Fälle
anführen wollte. Wie glücklich war ich, daß
tauſend kleine Vorgänge zuſammen, ſo ge¬
wiß als das Athemholen Zeichen meines Le¬
bens iſt, mir bewieſen: daß ich nicht ohne
Gott auf der Welt ſey. Er war mir nahe,
ich war vor ihm. Das iſts, was ich mit ge¬
fliſſentlicher Vermeidung aller theologiſchen
Syſtemſprache mit größter Wahrheit ſagen
kann.
Wie ſehr wünſchte ich, daß ich mich auch
damals ganz ohne Syſtem befunden hätte;
aber wer kommt früh zu dem Glücke, ſich
ſeines eigenen Selbſts, ohne fremde Formen
in reinen Zuſammenhang bewußt zu ſeyn.
Mir war es Ernſt mit meiner Seligkeit. Ich
vertraute beſcheiden fremdem Anſehn; ich er¬
gab mich völlig dem halliſchen Bekehrungs¬
ſyſtem, und mein ganzes Weſen wollte auf
keine Wege hineinpaſſen.
Nach dieſem Lehrplan muß die Verände¬
rung des Herzens mit einem tiefen Schrecken
über die Sünde anfangen; das Herz muß
in dieſer Noth bald mehr bald weniger die
verſchuldete Strafe erkennen und den Vor¬
ſchmack der Hölle koſten, der die Luſt der
Sünde verbittert. Endlich muß man eine
ſehr merkliche Verſicherung der Gnade füh¬
len, die aber im Fortgange ſich oft verſteckt
und mit Ernſt wieder geſucht werden muß.
Das alles traf bey mir weder nahe noch
ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig ſuchte,
ſo ließ er ſich finden, und hielt mir von ver¬
gangenen Dingen nichts vor. Ich ſah hin¬
ten nach wohl ein, wo ich unwürdig geweſen
und wußte auch, wo ich es noch war; aber
die Erkenntniß meiner Gebrechen war ohne
alle Angſt. Nicht einen Augenblick iſt mir
eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja
die Idee eines böſen Geiſtes und eines Straf-
und Quälortes nach dem Tode konnte kei¬
nesweges in dem Kreiſe meiner Ideen Platz
finden. Ich fand die Menſchen, die ohne
Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und
der Liebe gegen den Unſichtbaren zugeſchloſſen
war, ſchon ſo unglücklich, daß eine Hölle und
äußere Strafen mir eher für ſie eine Linde¬
rung zu verſprechen, als eine Schärfung der
Strafe zu drohen ſchienen. Ich durfte nur
Menſchen auf dieſer Welt anſehen, die ge¬
häſſigen Gefühlen in ihrem Buſen Raum
geben, die ſich gegen das Gute von irgend
einer Art verſtocken und ſich und andern das
Schlechte aufdringen wollen, die lieber bey
Tage die Augen zuſchließen, um nur behaup¬
ten zu können, die Sonne gebe keinen Schein
von ſich; wie über allen Ausdruck ſchienen
mir dieſe Menſchen elend! Wer hätte eine
Hölle ſchaffen können, um ihren Zuſtand zu
verſchlimmern.
Dieſe Gemüthsbeſchaffenheit blieb mir ei¬
nen Tag wie den andern zehn Jahre lang.
Sie erhielt ſich durch viele Proben, auch am
ſchmerzhaften Sterbebette meiner geliebten
Mutter. Ich war offen genug, um bey die¬
ſer Gelegenheit meine heitere Gemüthsver¬
faſſung frommen aber ganz ſchulgerechten
Leuten nicht zu verbergen, und ich mußte
darüber manchen freundſchaftlichen Verweis
erdulden. Man meynte mir eben zur rech¬
ten Zeit vorzuſtellen, welchen Ernſt man an¬
zuwenden hätte, um in geſunden Tagen ei¬
nen guten Grund zu legen.
An Ernſt wollte ich es auch nicht fehlen
laſſen. Ich ließ mich für den Augenblick
über¬
überzeugen und wäre um mein Leben gern
traurig und voll Schrecken geweſen. Wie
verwundert war ich aber, da es ein für alle¬
mal nicht möglich war. Wenn ich an Gott
dachte, war ich heiter und vergnügt, auch
bey meiner lieben Mutter ſchmerzensvollen
Ende graute mich vor dem Tode nicht. Doch
lernte ich vieles und ganz andre Sachen, als
meine unberufenen Lehrmeiſter glaubten, in
dieſen großen Stunden.
Nach und nach ward ich an den Einſich¬
ten ſo mancher hochberühmten Leute zweifel¬
haft nndund bewahrte meine Geſinnungen in
der Stille. Eine gewiſſe Freundin, der ich
erſt zu viel eingeräumt hatte, wollte ſich im¬
mer in meine Angelegenheiten mengen; auch
von dieſer war ich genöthigt mich los zu ma¬
chen, und einſt ſagte ich ihr ganz entſchieden:
ſie ſollte ohne Mühe bleiben, ich brauchte
ihren Rath nicht; ich kannte meinen Gott
W. Meiſters Lehrj. 3. T
und wollte ihn ganz allein zum Führer ha¬
ben. Sie fand ſich ſehr beleidigt und ich
glaube, ſie hat mirs nie ganz verziehen.
Dieſer Entſchluß, mich dem Rathe und
der Einwirkung meiner Freunde in geiſtlichen
Sachen zu entziehen, hatte die Folge, daß
ich auch in äußerlichen Verhältniſſen meinen
eigenen Weg zu gehen Muth gewann. Ohne
den Beyſtand meines treuen unſichtbaren
Führers hätte es mir übel gerathen können,
und noch muß ich über die weiſe und glück¬
liche Leitung erſtaunen. Niemand wußte ei¬
gentlich worauf es bey mir ankam, und ich
wußte es ſelbſt nicht.
Das Ding, das noch nie erklärte böſe
Ding, das uns von dem Weſen trennt, von
dem wir das Leben empfangen haben und
aus dem alles, was Leben genannt werden
ſoll, ſich unterhalten muß, das Ding das man
Sünde nennt, kannte ich noch gar nicht.
In dem Umgange mit dem unſichtbaren
Freunde fühlte ich den ſüßeſten Genuß aller
meiner Lebenskräfte. Das Verlangen, dieſes
Glück immer zu genießen, war ſo groß, daß
ich gern unterließ, was dieſen Umgang ſtörte,
und hierin war die Erfahrung mein beſter
Lehrmeiſter. Allein es ging mir wie den
Kranken die keine Arzney haben und ſich
mit der Diät zu helfen ſuchen. Es thut et¬
was, aber lange nicht genug.
In der Einſamkeit konnte ich nicht immer
bleiben, ob ich gleich in ihr das beſte Mit¬
tel gegen die mir ſo eigene Zerſtreuung der
Gedanken fand. Kam ich nachher in Ge¬
tümmel, ſo machte es einen deſto größern
Eindruck auf mich. Mein eigentlichſter Vor¬
theil beſtand darin, daß die Liebe zur Stille
herrſchend war, und ich mich am Ende im¬
mer dahin wieder zurück zog. Ich erkannte
wie in einer Art von Dämmerung, mein
T 2
Elend und meine Schwäche, und ich ſuchte
mir dadurch zu helfen, daß ich mich ſchonte,
daß ich mich nicht ausſetzte.
Sieben Jahre lang hatte ich meine diä¬
tetiſche Vorſicht ausgeübt. Ich hielt mich
nicht für ſchlimm und fand meinen Zuſtand
wünſchenswerth. Ohne ſonderbare Umſtände
und Verhältniſſe wäre ich auf dieſer Stufe
ſtehen geblieben, und ich kam nur auf einem
ſonderbaren Wege weiter; gegen den Rath
aller meiner Freunde knüpfte ich ein neues
Verhältniß an. Ihre Einwendungen mach¬
ten mich anfangs ſtutzig. Sogleich wandte
ich mich an meinen unſichtbaren Führer, und
da dieſer es mir vergönnte, ging ich ohne
Bedenken auf meinem Wege fort.
Ein Mann von Geiſt, Herz und Talen¬
ten hatte ſich in der Nachbarſchaft angekauft.
Unter den Fremden, die ich kennen lernte, war
auch er und ſeine Familie. Wir ſtimmten in
unſern Sitten, Hausverfaſſungen und Ge¬
wohnheiten ſehr überein, und konnten uns
daher bald an einander anſchließen.
Philo, ſo will ich ihn nennen, war ſchon
in gewiſſen Jahren, und meinem Vater, deſ¬
ſen Kräfte abzunehmen anfingen, in gewiſ¬
ſen Geſchäften von der größten Beyhülfe.
Er ward bald der innige Freund unſeres
Hauſes, und da er, wie er ſagte, an mir eine
Perſon fand, die nicht das Ausſchweifende
und Leere der großen Welt, und nicht das
Trockne und Ängſtliche der Stillen im Lande
habe; ſo waren wir bald vertraute Freunde.
Er war mir ſehr angenehm und ſehr brauchbar.
Ob ich gleich nicht die mindeſte Anlage
noch Neigung hatte, mich in weltliche Ge¬
ſchäfte zu miſchen und irgend einen Einfluß
zu ſuchen; ſo hörte ich doch gerne davon,
und wußte gern, was in der Nähe und Ferne
vorging. Von weltlichen Dingen liebte ich,
mir eine gefühlloſe Deutlichkeit zu verſchaf¬
fen. Emfindung, Innigkeit, Neigung be¬
wahrte ich für meinen Gott, für die meini¬
gen und für meine Freunde.
Dieſe letzten waren, wenn ich ſo ſagen
darf, auf meine neue Verbindung mit Philo
eiferſüchtig, und hatten dabey von mehr als
einer Seite Recht, wenn ſie mich hierüber
warnten. Ich litt viel in der Stille, denn
ich konnte ſelbſt ihre Einwendungen nicht
ganz für leer oder eigennützig halten. Ich
war von jeher gewohnt, meine Einſichten
unterzuordnen, und doch wollte diesmal meine
Überzeugung nicht nach. Ich flehte zu mei¬
nem Gott, auch hier mich zu warnen, zu
hindern, zu leiten, und da mich hierauf mein
Herz nicht abmahnte, ſo ging ich meinen
Pfad getroſt fort.
Philo hatte im Ganzen eine entfernte
Ähnlichkeit mit Narciſſen, nur hatte eine
fromme Erziehung ſein Gefühl mehr zuſam¬
men gehalten und belebt. Er hatte weniger
Eitelkeit, mehr Charakter, und wenn jener in
weltlichen Geſchäften fein, genau, anhaltend
und unermüdlich war, ſo war dieſer klar,
ſcharf, ſchnell, und arbeitete mit einer unglaub¬
lichen Leichtigkeit. Durch ihn erfuhr ich die
innerſten Verhältniſſe faſt aller der vorneh¬
men Perſonen, deren Äußeres ich in der Ge¬
ſellſchaft hatte kennen lernen und ich war
froh von meiner Warte dem Getümmel von
weiten zuzuſehen. Philo konnte mir nichts
mehr verhehlen; er vertraute mir nach und
nach ſeine äußern und innern Verbindungen.
Ich fürchtete für ihn, denn ich ſah gewiſſe
Umſtände und Verwickelungen voraus, und
das Übel kam ſchneller als ich vermuthet hatte.
Denn er hatte mit gewiſſen Bekenntniſſen
immer zurückgehalten und auch zuletzt ent¬
deckte er mir nur ſo viel, daß ich das
Schlimmſte vermuthen konnte.
Welche Wirkung hatte das auf mein
Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die
mir ganz neu waren. Ich ſah mit unbe¬
ſchreiblicher Wehmuth einen Agathon, der
in den Hainen von Delphos erzogen, das
Lehrgeld noch ſchuldig war, und es nun mit
ſchweren rückſtändigen Zinſen abzahlte, und
dieſer Agathon war mein genau verbunde¬
ner Freund. Meine Theilnahme war leb¬
haft und vollkommen; ich litt mit ihm, und
wir befanden uns beyde in dem ſonderbar¬
ſten Zuſtande.
Nachdem ich mich lange mit ſeiner Ge¬
müthsverfaſſung beſchäftigt hatte, wendete
ſich meine Betrachtung auf mich ſelbſt. Der
Gedanke, du biſt nicht beſſer als er, ſtieg
wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete
ſich nach und nach aus, und verfinſterte mei¬
ne ganze Seele.
Nun dachte ich nicht mehr bloß, du biſt
nicht beſſer als er; ich fühlte es, und fühlte
es ſo, daß ich es nicht noch einmal fühlen
möchte: Und es war kein ſchneller Übergang.
Mehr als ein Jahr mußte ich empfinden,
daß wenn mich eine unſichtbare Hand nicht
umſchränkt hätte, ich ein Girard, ein Car¬
touche, ein Damiens und welches Ungeheuer
man nennen will, hätte werden können: die
Anlage dazu fühlte ich deutlich in meinem
Herzen. Gott welche Entdeckung!
Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der
Sünde in mir durch die Erfahrung nicht
einmal auf das leiſeſte gewahr werden kön¬
nen; ſo war mir jetzt die Möglichkeit der¬
ſelben in der Ahndung aufs ſchrecklichſte
deutlich geworden, und doch kannte ich das
Übel nicht, ich fürchtete es nur; ich fühlte,
daß ich ſchuldig ſeyn könnte, und hatte mich
nicht anzuklagen.
So tief ich überzeugt war, daß eine ſol¬
che Geiſtesbeſchaffenheit, wofür ich die mei¬
nige anerkennen mußte, ſich nicht zu einer
Vereinigung mit dem höchſten Weſen, die
ich nach dem Tode hofte, ſchicken können; ſo
wenig fürchtete ich, in eine ſolche Trennung
zu gerathen. Bey allem Böſen, das ich in
mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte
was ich fühlte, ja ich wünſchte es noch ernſt¬
licher zu haſſen, und mein ganzer Wunſch
war, von dieſer Krankheit, und dieſer Anla¬
ge zur Krankheit erlöst zu werden, und ich
war gewiß, daß mir der große Arzt ſeine
Hülfe nicht verſagen würde.
Die einzige Frage war: was heilt dieſen
Schaden? Tugendübungen? An die konnte
ich nicht einmal denken. Denn zehn Jahre
hatte ich ſchon mehr als nur bloße Tugend
geübt, und die nun erkannten Greuel hat¬
ten dabey tief in meiner Seele verborgen
gelegen; hätten ſie nicht auch wie bey Da¬
vid losbrechen können, als er Bathſeba er¬
blickte, und war er nicht auch ein Freund
Gottes, und war ich nicht im Innerſten
überzeugt, daß Gott mein Freund ſey?
Sollte es alſo wohl eine unvermeidliche
Schwäche der Menſchheit ſeyn? müſſen wir
uns nun gefallen laſſen, daß wir irgend ein¬
mal die Herrſchaft unſrer Neigung empfin¬
den, und bleibt uns bey dem beſten Willen
nichts anders übrig als den Fall, den wir
gethan, zu verabſcheuen, und bey einer ähn¬
lichen Gelegenheit wieder zu fallen?
Aus der Sittenlehre konnte ich keinen
Troſt ſchöpfen. Weder ihre Strenge, wo¬
durch ſie unſre Neigung bemeiſtern will, noch
ihre Gefälligkeit, mit der ſie unſre Neigun¬
gen zu Tugenden machen möchte, konnte mir
genügen. Die Grundbegriffe die mir der Um¬
gang mit dem unſichtbaren Freunde einge¬
flößt hatte, hatten für mich ſchon einen viel
entſchiedenern Werth.
Indem ich einſt die Lieder ſtudierte, wel¬
che David nach jener häßlichen Kataſtrophe
gedichtet hatte, war mir ſehr auffallend, daß
er das in ihm wohnende Böſe ſchon in dem
Stoff, woraus er geworden war, erblickte;
daß er aber entſündigt ſeyn wollte, und daß
er auf das dringendſte um ein reines Herz
flehte.
Wie nun aber dazu zu gelangen? Die
Antwort aus den ſymboliſchen Büchern wu߬
te ich wohl; es war mir auch eine Bibel¬
wahrheit, daß das Blut Jeſu Chriſti uns
von allen Sünden reinige. Nun aber be¬
merkte ich erſt, daß ich dieſen ſo oft wieder¬
holten Spruch noch nie verſtanden hatte.
Die Fragen: was heißt das? Wie ſoll das
zugehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir
ſich durch. Endlich glaubte ich bey einem
Schimmer zu ſehen, daß das, was ich ſuchte,
in der Menſchwerdung des ewigen Worts,
durch das alles und auch wir erſchaffen ſind,
zu ſuchen ſey. Daß der Uranfängliche ſich
in die Tiefen, in denen wir ſtecken, die er
durchſchaut und umfaßt, einſtmal als Be¬
wohner begeben habe, durch unſer Verhält¬
niß von Stufe zu Stufe von der Empfäng¬
nis und Geburt bis zu dem Grabe durch¬
gegangen ſey, daß er durch dieſen ſonderba¬
ren Umweg wieder zu den lichten Höhen
aufgeſtiegen, wo wir auch wohnen ſollten,
um glücklich zu ſeyn: das ward mir, wie in
einer dämmernden Ferne, offenbart.
O warum müſſen wir, um von ſolchen
Dingen zu reden, Bilder gebrauchen, die nur
äußere Zuſtände anzeigen? Wo iſt vor ihm
etwas Hohes oder Tiefes, etwas Dunkles
oder Helles; wir nur haben ein Oben und
Unten, einen Tag und eine Nacht. Und
eben darum iſt er uns ähnlich geworden,
weil wir ſonſt keinen Theil an ihm haben
könnten.
Wie können wir aber an dieſer unſchätz¬
baren Wohlthat Theil nehmen? Durch den
Glauben, antwortet uns die Schrift. Was
iſt denn Glauben? Die Erzählung einer
Begebenheit für wahr zu halten, was kann
mir das helfen? ich muß mir ihre Wirkun¬
gen, ihre Folgen zueignen können. Dieſer
zueignende Glaube muß ein eigener, dem
natürlichen Menſchen ungewöhnlicher Zu¬
ſtand des Gemüths ſeyn.
Nun, Allmächtiger! ſo ſchenke mir Glau¬
ben, flehte ich einſt in dem größten Druck
des Herzens. Ich lehnte mich auf einen
kleinen Tiſch, an dem ich ſaß, und verbarg
mein bethräntes Geſicht in meinen Händen.
Hier war ich in der Lage, in der man ſeyn
muß, wenn Gott auf unſer Gebet achten
ſoll, und in der man ſelten iſt.
Ja wer nun ſchildern könnte, was ich
da fühlte. Ein Zug brachte meine Seele
nach dem Kreuze hin, an dem Jeſus einſt
erblaßte; ein Zug war es, ich kann es nicht
anders nennen; demjenigen völlig gleich,
wodurch unſre Seele zu einem abweſenden
Geliebten geführt wird, ein Zunahen, das
vermuthlich viel weſentlicher und wahrhafter
iſt, als wir nicht vermuthen. So nahte
meine Seele dem Menſchgewordnen und
am Kreuz geſtorbenen, und in dem Augen¬
blicke wußte ich, was Glauben war.
Das iſt Glauben, ſagte ich, und ſprang
wie halb erſchreckt in die Höhe. Ich ſuchte
nun meiner Empfindung, meines Anſchauens
gewiß zu werden, und im Kurzen war ich
überzeugt, daß mein Geiſt eine Fähigkeit
ſich aufzuſchwingen erhalten habe, die ihm
ganz neu war.
Bey dieſen Empfindungen verlaſſen uns
die Worte. Ich konnte ſie ganz deutlich
von aller Phantaſie unterſcheiden; ſie waren
ganz ohne Phantaſie, ohne Bild, und ga¬
ben doch eben die Gewißheit eines Gegen¬
ſtandes, auf den ſie ſich bezogen, als die Ein¬
bildungskraft, indem ſie uns die Züge eines
abweſenden Geliebten vormahlt.
Als das erſte Entzücken vorüber war,
bemerkte ich, daß mir dieſer Zuſtand der
Seele ſchon vorher bekannt geweſen; allein
ich hatte ihn nie in dieſer Stärke empfun¬
den. Ich hatte ihn niemals feſt halten, nie
zu eigen behalten können. Ich glaube über¬
haupt, daß jede Menſchenſeele ein und das
anderemal davon etwas empfunden hat.
Ohne Zweifel iſt Er das, was einem jeden
lehrt, daß ein Gott iſt.
Mit dieſer mich ehemals von Zeit zu
Zeit nur anwandelnden Kraft war ich bisher
ſehr zufrieden geweſen, und wäre mir nicht
durch ſonderbare Schickung ſeit Jahr und
Tag die unerwartete Plage wiederfahren,
wäre
wäre nicht dabey mein Können und Vermö¬
gen bey mir ſelbſt außer allen Credit ge¬
kommen, ſo wäre ich vielleicht mit jenem Zu¬
ſtande immer zufrieden geblieben.
Nun hatte ich aber ſeit jenem großen
Augenblicke Flügel bekommen. Ich konnte
mich über das was mich vorher bedrohete
aufſchwingen, wie ein Vogel ſingend über
den ſchnellſten Strom ohne Mühe fliegt,
vor welchem das Hündchen ängſtlich bellend
ſtehen bleibt.
Meine Freude war unbeſchreiblich, und
ob ich gleich niemand etwas davon entdeck¬
te, ſo merkten doch die meinigen eine unge¬
wöhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen
zu können, was die Urſache meines Vergnü¬
gens wäre. Hätte ich doch immer geſchwie¬
gen, und die reine Stimmung in meiner
Seele zu erhalten geſucht! Hätte ich mich
doch nicht durch Umſtände verleiten laſſen,
W. Meiſters Lehrj. 3. U
mit meinem Geheimniſſe hervor zu treten;
ſo hätte ich mir abermals einen großen Um¬
weg erſparen können.
Da in meinem vorhergehenden zehnjähri¬
gen Chriſtenlauf dieſe nothwendige Kraft
nicht in meiner Seele war, ſo hatte ich mich
in dem Fall anderer redlichen Leute auch be¬
funden ; ich hatte mir dadurch geholfen, daß
ich die Phantaſie immer mit Bildern erfüll¬
te, die einen Bezug auf Gott hatten, und
auch dieſes iſt ſchon wahrhaft nützlich; denn
ſchädliche Bilder und ihre böſen Folgen wer¬
den dadurch abgehalten. Sodann ergreift
unſre Seele oft ein und das andere von den
geiſtigen Bildern, und ſchwingt ſich ein we¬
nig damit in die Höhe, wie ein junger Vo¬
gel von einem Zweige auf den andern flat¬
tert. So lange man nichts beſſeres hat, iſt
doch dieſe Übung nicht ganz zu verwerfen.
Auf Gott zielende Bilder und Eindrücke
verſchaffen uns kirchliche Anſtalten, Glocken,
Orgeln und Geſänge, und beſonders die Vor¬
träge unſerer Lehrer. Auf ſie war ich ganz
unſäglich begierig; keine Witterung, keine
körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kir¬
chen zu beſuchen, und nur das ſonntägige
Geläute konnte mir auf meinem Kranken¬
bette einige Ungeduld verurſachen. Unſern
Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann
war, hörte ich mit großer Neigung, auch
ſeine Collegen waren mir werth, und ich
wußte die goldnen Äpfel des göttlichen Wor¬
tes auch aus irdenen Schalen unter gemei¬
nem Obſte heraus zu finden. Den öffentli¬
chen Übungen wurden alle mögliche Privat¬
erbauungen, wie man ſie nennt, hinzugefügt
und auch dadurch nur Phantaſie und feine¬
re Sinnlichkeit genährt. Ich war ſo an die¬
ſen Gang gewöhnt, ich reſpectirte ihn ſo
ſehr, daß mir auch jetzt nichts höheres ein¬
U 2
fiel. Denn meine Seele hat nur Fühlhör¬
ner und keine Augen; ſie taſtet nur und
ſieht nicht; ach! daß ſie Augen bekäme und
ſchauen dürfte!
Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die
Predigten; aber ach! wie geſchahe mir. Ich
fand das nicht mehr was ich ſonſt gefunden.
Dieſe Prediger ſtumpften ſich die Zähne an
den Schalen ab, indeſſen ich den Kern ge¬
noß. Ich mußte ihrer nun bald müde wer¬
den; aber mich an den allein zu halten, den
ich doch zu finden wußte, dazu war ich zu
verwöhnt. Bilder wollte ich haben, äußere
Eindrücke bedurfte ich, und glaubte ein rei¬
nes geiſtiges Bedürfniß zu fühlen.
Philos Eltern hatten mit der Herrnhu¬
thiſchen Gemeinde in Verbindung geſtanden;
in ſeiner Bibliothek fanden ſich noch viele
Schriften des Grafen. Er hatte mir einige¬
mal ſehr klar und billig darüber geſprochen,
und mich erſucht, einige dieſer Schriften
durchzublättern, und wäre es auch nur, um
ein pſychologiſches Phänomen kennen zu ler¬
nen. Ich hielt den Grafen für einen gar
zu argen Ketzer; ſo ließ ich auch das Ebers¬
dorfer Geſangbuch bey mir liegen, das mir
der Freund in ähnlicher Abſicht gleichſam
aufgedrungen hatte.
In dem völligen Mangel aller äußeren
Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohn¬
gefähr das gedachte Geſangbuch, und fand
zu meinem Erſtaunen wirklich Lieder darin,
die, freylich unter ſehr ſeltſamen Formen,
auf dasjenige zu deuten ſchienen, was ich
fühlte; die Originalität und Naivität der
Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindun¬
gen ſchienen auf eine eigene Weiſe ausge¬
druckt; keine Schulterminologie erinnerte an
etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward
überzeugt, die Leute fühlten was ich fühlte,
und ich fand mich nun ſehr glücklich, ein
ſolches Verschen ins Gedächtniß zu faſſen
und mich einige Tage damit zu tragen.
Seit jenem Augenblick, in welchem mir
das Wahre geſchenkt worden war, verfloſſen
auf dieſe Weiſe ohngefähr drey Monate.
Endlich faßte ich den Entſchluß, meinem
Freunde Philo alles zu entdecken, und ihn
um die Mittheilung jener Schriften zu bit¬
ten, auf die ich nun über die Maßen neu¬
gierig geworden war. Ich that es auch
wirklich, ohnerachtet mir ein Etwas im Her¬
zen ernſtlich davon abrieth.
Ich erzählte Philo die ganze Geſchichte
umſtändlich, und da er ſelbſt darin eine
Hauptperſon war, da meine Erzählung auch
für ihn die ſtrengſte Bußpredigt enthielt,
war er äußerſt betroffen und gerührt. Er
zerfloß in Thränen. Ich freute mich, und
glaubte, auch bey ihm ſey eine völlige Sin¬
nesänderung bewirkt worden.
Er verſorgte mich mit allen Schriften,
die ich nur verlangte, und nun hatte ich
überflüßige Nahrung für meine Einbildungs¬
kraft. Ich machte große Fortſchritte in der
Zinzendorfiſchen Art zu denken und zu ſpre¬
chen. Man glaube nicht, daß ich die Art
und Weiſe des Grafen nicht auch gegenwär¬
tig zu ſchätzen wiſſe, ich laſſe ihm gern Ge¬
rechtigkeit wiederfahren; er iſt kein leerer
Phantaſt; er ſpricht von großen Wahrhei¬
ten meiſt mit einem kühnen Fluge der Ein¬
bildungskraft, und die ihn geſchmäht haben,
wußten ſeine Eigenſchaften weder zu ſchät¬
zen, noch zu unterſcheiden.
Ich gewann ihn unbeſchreiblich lieb.
Wäre ich mein eigner Herr geweſen, ſo hätte
ich gewiß Vaterland und Freunde verlaſſen,
wäre zu ihm gezogen; unfehlbar hätten
wir uns verſtanden und ſchwerlich hätten
wir uns lange vertragen.
Dank ſey meinem Genius, der mich da¬
mals in meiner häuslichen Verfaſſung ſo ein¬
geſchränkt hielt! Es war ſchon eine große
Reiſe, wenn ich nur in den Hausgarten ge¬
hen konnte. Die Pflege meines alten und
ſchwächlichen Vaters machte mir Arbeit ge¬
nug, und in den Ergötzungsſtunden war die
edle Phantaſie mein Zeitvertreib. Der ein¬
zige Menſch, den ich ſah, war Philo, den
mein Vater ſehr liebte, deſſen offnes Verhält¬
niß zu mir aber durch die letzte Erklärung
einigermaßen gelitten hatte. Bey ihm war
die Rührung nicht tief gedrungen, und da
ihm einige Verſuche, in meiner Sprache zu
reden, nicht gelungen waren, ſo vermied er
dieſe Materie um ſo leichter, als er durch
ſeine ausgebreiteten Kenntniſſe immer neue
Gegenſtände des Geſprächs herbey zu führen
wußte.
Ich war alſo eine herrnhuthiſche Schwe¬
ſter auf meine eigene Hand, und hatte dieſe
neue Wendung meines Gemüths und meiner
Neigungen beſonders vor dem Oberhofpredi¬
ger zu verbergen, den ich als meinen Beicht¬
vater zu ſchätzen ſehr Urſache hatte, und deſ¬
ſen große Verdienſte auch gegenwärtig durch
ſeine äußerſte Abneigung gegen die herrnhu¬
thiſche Gemeinde in meinen Augen nicht ge¬
ſchmälert wurden. Leider ſollte dieſer wür¬
dige Mann an mir und andern viele Be¬
trübniß erleben!
Er hatte vor mehreren Jahren auswärts
einen Cavalier als einen redlichen frommen
Mann kennen lernen, und war mit ihm, als
einem der Gott ernſtlich ſuchte, in einem un¬
unterbrochenen Briefwechſel geblieben. Wie
ſchmerzhaft war es daher für ſeinen geiſtli¬
chen Führer, als dieſer Cavalier ſich in der
Folge mit der herrnhuthiſchen Gemeinde ein¬
ließ, und ſich lange unter den Brüdern auf¬
hielt; daher jener eifrige Mann, als ſein
Freund ſich mit den Brüdern wieder entzwey¬
te, in ſeiner Nähe zu wohnen ſich entſchloß,
und ſich ſeiner Leitung aufs neue völlig zu
überlaſſen ſchien.
Nun wurde der Neuangekommene gleich¬
ſam im Triumph allen beſonders geliebten
Schäfchen des Oberhirten vorgeſtellt. Nur
in unſer Haus ward er nicht eingeführt, weil
mein Vater niemand mehr zu ſehen pflegte.
Der Cavalier fand große Approbation; er
hatte das Geſittete des Hofs und das Ein¬
nehmende der Gemeinde, dabey viel ſchöne
natürliche Eigenſchaften, und ward bald der
große Heilige für alle, die ihn kennen lern¬
ten, worüber ſich ſein geiſtlicher Gönner äuſ¬
ſerſt freute. Leider war jener nur über äuſ¬
ſere Umſtände mit der Gemeine brouillirt,
und im Herzen noch ganz Herrnhuther. Er
hing wirklich an der Realität der Sache, al¬
lein auch ihm war das Tändelwerk, das der
Graf darum gehängt hatte, höchſt angemeſ¬
ſen. Er war an jene Vorſtellungs- und
Redensarten nun einmal gewöhnt, und wenn
er ſich nunmehr vor ſeinem alten Freunde
ſorgfältig verbergen mußte, ſo war es ihm
deſto nothwendiger, ſo bald er ein Häufchen
vertrauter Perſonen um ſich erblickte, mit
ſeinen Verschen, Litaneyen und Bilderchen
hervor zu rücken, und er fand, wie man
denken kann, großen Beyfall.
Ich wußte von der ganzen Sache nichts,
und tändelte auf meine eigene Art fort.
Lange Zeit blieben wir uns unbekannt.
Einſt beſuchte ich, in einer freyen Stun¬
de, eine kranke Freundin. Ich traf mehrere
Bekannte dort an, und merkte bald, daß ich
ſie in einer Unterredung geſtöhrt hatte. Ich
ließ mir nichts merken; erblickte aber, zu
meiner großen Verwunderung, an der Wand
einige herrnhuthiſche Bilder, in zierlichen
Rahmen. Ich faßte geſchwinde, was in der
Zeit, da ich nicht im Hauſe geweſen, vorge¬
gangen ſeyn mochte, und bewillkommte dieſe
neue Erſcheinung mit einigen angemeſſenen
Verſen.
Man denke ſich das Erſtaunen meiner
Freundinnen. Wir erklärten uns, und wa¬
ren auf der Stelle einig und vertraut.
Ich ſuchte nun öfter Gelegenheit auszu¬
gehn. Leider fand ich ſie nur alle drey bis
vier Wochen, ward mit dem adelichen Apo¬
ſtel und nach und nach mit der ganzen heim¬
lichen Gemeinde bekannt. Ich beſuchte, wenn
ich konnte, ihre Verſammlungen, und bey
meinem geſelligen Sinn war es mir unend¬
lich angenehm, das von andern zu verneh¬
men und andern mitzutheilen, was ich nur
bisher in und mit mir ſelbſt ausgearbeitet
hatte.
Ich war nicht ſo eingenommen, daß ich
nicht bemerkt hätte, wie nur wenige den
Sinn der zarten Worte und Ausdrücke fühl¬
ten, und wie ſie dadurch auch nicht mehr,
als ehemals durch die kirchlich ſymboliſche
Sprache, gefördert waren. Demohngeachtet
ging ich mit ihnen fort, und ließ mich nicht
irre machen. Ich dachte, daß ich nicht zur
Unterſuchung und Herzensprüfung berufen
ſey. War ich doch auch durch manche un¬
ſchuldige Übung zum Beſſeren vorbereitet
worden. Ich nahm meinen Theil hinweg,
drang, wo ich zur Rede kam, auf den Sinn,
der bey ſo zarten Gegenſtänden eher durch
Worte verſteckt als angedeutet wird, und
ließ übrigens mit ſtiller Verträglichkeit einen
jeden nach ſeiner Art gewähren.
Auf dieſe ruhigen Zeiten des heimlichen
geſellſchaftlichen Genuſſes, folgten bald die
Stürme öffentlicher Streitigkeiten und Wi¬
derwärtigkeiten, die am Hofe und in der
Stadt große Bewegungen erregten, und ich
möchte beynahe ſagen, manches Skandal
verurſachten. Der Zeitpunct war gekommen,
in welchem unſer Oberhofprediger, dieſer
große Widerſacher der herrnhuthiſchen Ge¬
meinde, zu ſeiner geſegneten Demüthigung
entdecken ſollte, daß ſeine beſten und ſonſt
anhänglichſten Zuhörer ſich ſämmtlich auf
die Seite der Gemeinde neigten. Er war
äußerſt gekränkt, vergaß im erſten Augen¬
blicke alle Mäßigung und konnte in der
Folge ſich nicht, ſelbſt wenn er gewollt hät¬
te, zurück ziehn. Es gab heftige Debatten,
bey denen ich glücklicher weiſe nicht genannt
wurde, da ich nur ein zufälliges Mitglied
der ſo ſehr verhaßten Zuſammenkünfte war,
und unſer eifriger Führer meinen Vater und
meinen Freund in bürgerlichen Angelegenhei¬
ten nicht entbehren konnte. Ich erhielt mei¬
ne Neutralität mit ſtiller Zufriedenheit; denn
von ſolchen Empfindungen und Gegenſtän¬
den mich ſelbſt mit wohlwollenden Menſchen
zu unterhalten, war mir ſchon verdrießlich,
wenn ſie den tiefſten Sinn nicht faſſen konn¬
ten, und nur auf der Oberfläche verweilten.
Nun aber gar über das mit Widerſachern
zu ſtreiten, worüber man ſich kaum mit
Freunden verſtund, ſchien mir unnütz, ja
verderblich. Denn bald konnte ich bemer¬
ken, daß liebevolle edle Menſchen, die in
dieſem Falle ihr Herz von Widerwillen und
Haß nicht rein halten konnten, gar bald zur
Ungerechtigkeit übergingen, und, um eine
äußere Form zu vertheidigen, ihr beſtes In¬
nerſtes beynah zerſtöhrten.
So ſehr auch der würdige Mann in die¬
ſem Falle Unrecht haben mochte, und ſo ſehr
man mich auch gegen ihn aufzubringen ſuch¬
te; konnte ich ihm doch niemals eine herzli¬
che Achtung verſagen. Ich kannte ihn ge¬
nau; ich konnte mich in ſeine Art, dieſe Sa¬
chen anzuſehen, mit Billigkeit verſetzen. Ich
hatte niemals einen Menſchen ohne Schwä¬
che geſehen, nur iſt ſie auffallender bey vor¬
züglichen Menſchen. Wir wünſchen und
wollen nun ein für alle mal, daß die, die ſo
ſehr privilegirt ſind, auch gar keinen Tribut,
keine Abgaben zahlen ſollen. Ich ehrte ihn
als einen vorzüglichen Mann, und hoffte
den Einfluß meiner ſtillen Neutralität, wo
nicht zu einem Frieden, doch zu einem Waf¬
fenſtillſtande zu nutzen. Ich weiß nicht, was
ich bewirkt hätte; Gott faßte die Sache
kürzer, und nahm ihn zu ſich. Bey ſeiner
Bahre weinten alle, die noch kurz vorher
um Worte mit ihm geſtritten hatten. Seine
Rechtſchaffenheit, ſeine Gottesfurcht hatte
niemals jemand bezweifelt.
Auch ich mußte um dieſe Zeit das Pup¬
pen¬
penwerk aus den Händen legen, das mir
durch dieſe Streitigkeiten gewiſſermaßen in
einem andern Lichte erſchienen war. Der
Oheim hatte ſeine Plane auf meine Schwe¬
ſter in der Stille durchgeführt. Er ſtellte
ihr einen jungen Mann von Stande und
Vermögen als ihren Bräutigam vor, und
zeigte ſich in einer reichlichen Ausſteuer, wie
man es von ihm erwarten konnte. Mein
Vater willigte mit Freuden ein, die Schwe¬
ſter war frey und vorbereitet, und veränder¬
te gerne ihren Stand. Die Hochzeit wurde
auf des Oheims Schloß ausgerichtet, Fami¬
lie und Freunde waren eingeladen, und wir
kamen alle mit heiterm Geiſte.
Zum erſtenmal in meinem Leben erregte
mir der Eintritt in ein Haus Bewunderung.
Ich hatte wohl oft von des Oheims Ge¬
ſchmack, von ſeinem italiäniſchen Baumeiſter,
von ſeinen Sammlungen und ſeiner Biblio¬
W. Meiſters Lehrj 3. X
thek reden hören; ich verglich aber das alles
mit dem, was ich ſchon geſehen hatte, und
machte mir ein ſehr buntes Bild davon in
Gedanken. Wie verwundert war ich daher
über den ernſten und harmoniſchen Eindruck,
den ich beym Eintritt in das Haus empfand,
und der ſich in jedem Saal und Zimmer
verſtärkte. Hatte Pracht und Zierrath mich
ſonſt nur zerſtreut; ſo fühlte ich mich hier
geſammlet und auf mich ſelbſt zurück geführt.
Auch in allen Anſtalten zu Feierlichkeiten
und Feſten erregten Pracht und Würde ein
ſtilles Gefallen, und es war mir eben ſo
unbegreiflich, daß Ein Menſch das alles hät¬
te erfinden und anordnen können, als daß
mehrere ſich vereinigen könnten, um in einem
ſo großen Sinne zuſammen zu wirken. Und
bey dem allen ſchienen der Wirth und die
Seinigen ſo natürlich; es war keine Spur
von Steifheit noch von leerem Ceremoniel
zu bemerken.
Die Trauung ſelbſt ward unvermuthet
auf eine herzliche Art eingeleitet, eine vor¬
trefliche Vocalmuſik überraſchte uns, und
der Geiſtliche wußte dieſer Ceremonie alle
Feierlichkeit der Wahrheit zu geben. Ich
ſtand neben Philo, und ſtatt mir Glück zu
wünſchen, ſagte er mit einem tiefen Seufzer:
als ich die Schweſter ſah die Hand hinge¬
ben, war mir’s, als ob man mich mit ſied¬
heißen Waſſer begoſſen hätte. Warum?
fragte ich. Es iſt mir allezeit ſo, wenn ich
eine Copulation anſehe, verſetzte er. Ich
lachte über ihn, und habe nachher oft genug
an ſeine Worte zu denken gehabt.
Die Heiterkeit der Geſellſchaft, worunter
viel junge Leute waren, ſchien noch einmal
ſo glänzend, indem alles, was uns umgab,
würdig und ernſthaft war. Aller Hausrath,
Tafelzeug, Service und Tiſchaufſätze ſtimm¬
ten zu dem Ganzen, und wenn mir ſonſt
X 2
die Baumeiſter mit den Conditorn aus einer
Schule entſprungen zu ſeyn ſchienen; ſo war
hier Conditor nndund Tafeldecker bey dem Ar¬
chitekten in die Schule gegangen.
Da man mehrere Tage zuſammen blieb,
hatte der geiſtreiche und verſtändige Wirth
für die Unterhaltung der Geſellſchaft auf das
mannigfaltigſte geſorgt. Ich wiederholte
hier nicht die traurige Erfahrung, die ich ſo
oft in meinem Leben gehabt hatte, wie übel
eine große gemiſchte Geſellſchaft ſich befinde,
die ſich ſelbſt überlaſſen zu den allgemeinſten
und ſchalſten Zeitvertreiben greifen muß, da¬
mit ja eher die guten als die ſchlechten Sub¬
jecte Mangel der Unterhaltung fühlen.
Ganz anders hatte es der Oheim veran¬
ſtaltet. Er hatte zwey bis drey Marſchälle,
wenn ich ſie ſo nennen darf, beſtellt; der ei¬
ne hatte für die Freuden der jungen Welt
zu ſorgen. Tänze, Spazierfahrten, kleine
Spiele waren von ſeiner Erfindung, und
ſtanden unter ſeiner Direction, und da junge
Leute gern im Freyen leben, und die Ein¬
flüſſe der Luft nicht ſcheuen; ſo war ihnen
der Garten und der große Gartenſaal über¬
geben, an den zu dieſem Endzwecke noch ei¬
nige Galerien und Pavillons angebauet wa¬
ren, zwar nur von Brettern und Leinwand
aber in ſo edlen Verhältniſſen, daß man nur
an Stein und Marmor dabey erinnert
ward.
Wie ſelten iſt eine Fete, wobey derjenige,
der die Gäſte zuſammen beruft, auch die
Schuldigkeit empfindet, für ihre Bedürfniſſe
und Bequemlichkeiten auf alle Weiſe zu
ſorgen.
Jagd und Spielparthien, kurze Promena¬
den, Gelegenheiten zu vertraulichen einſamen
Geſprächen waren für die ältern Perſonen
bereitet, und derjenige, der am frühſten zu
Bette ging, war auch gewiß am weiteſten
von allem Lärm einquartirt.
Durch dieſe gute Ordnung ſchien der
Raum, in dem wir uns befanden, eine kleine
Welt zu ſeyn, und doch, wenn man es bey
nahem betrachtete, war das Schloß nicht
groß, und man würde ohne genaue Kennt¬
niß deſſelben und ohne den Geiſt des Wir¬
thes wohl ſchwerlich ſo viele Leute darin be¬
herbergt, und jeden nach ſeiner Art bewir¬
thet haben.
So angenehm uns der Anblick eines wohl¬
geſtalteten Menſchen iſt, ſo angenehm iſt
uns eine ganze Einrichtung, aus der uns
die Gegenwart eines verſtändigen, vernünf¬
tigen Weſens fühlbar wird. Schon in ein
reinliches Haus zu kommen, iſt eine Freude,
wenn es auch ſonſt geſchmacklos gebauet und
verziert iſt; denn es zeigt uns die Gegen¬
wart wenigſtens von Einer Seite gebildeter
Menſchen. Wie doppelt angenehm iſt es
uns alſo, wenn aus einer menſchlichen Woh¬
nung uns der Geiſt einer höhern, obgleich
auch nur ſinnlichen, Kultur entgegen ſpricht!
Mit vieler Lebhaftigkeit ward mir dieſes
auf dem Schloſſe meines Oheims anſchau¬
lich. Ich hatte vieles von Kunſt gehört und
geleſen, Philo ſelbſt war ein großer Liebha¬
ber von Gemälden, und hatte eine ſchöne
Sammlung; auch ich ſelbſt hatte viel ge¬
zeichnet; aber theils war ich zu ſehr mit
meinen Empfindungen beſchäftigt, und trach¬
tete nur das eine, was Noth iſt, erſt recht
ins Reine zu bringen, theils ſchienen doch
alle die Sachen, die ich geſehen hatte, mich
wie die übrigen weltlichen Dinge zu zer¬
ſtreuen. Nun war ich zum erſtenmal durch
etwas Äußerliches auf mich ſelbſt zurück ge¬
führt, und ich lernte den Unterſchied zwiſchen
dem natürlichen vortreflichen Geſang der
Nachtigall und einem vierſtimmigen Halle¬
lujah aus gefühlvollen Menſchenkehlen zu
meiner größten Verwunderung erſt kennen.
Ich verbarg meine Freude über dieſe
neue Anſchauung meinem Oheim nicht, der,
wenn alles andere in ſein Theil gegangen
war, ſich mit mir beſonders zu unterhalten
pflegte. Er ſprach mit großer Beſcheidenheit
von dem, was er beſaß und hervorgebracht
hatte, mit großer Sicherheit von dem Sin¬
ne, in dem es geſammlet und aufgeſtellt wor¬
den war, und ich konnte wohl merken, daß
er mit Schonung für mich redete, indem er
nach ſeiner alten Art das Gute, wovon er
Herr und Meiſter zu ſeyn glaubte, demjeni¬
gen unterzuordnen ſchien, was nach meiner
Überzeugung das rechte und beſte war.
Wenn wir uns, ſagte er einmal, als
möglich denken können, daß der Schöpfer
der Welt ſelbſt die Geſtalt ſeiner Creatur
angenommen, und auf ihre Art und Weiſe
ſich eine Zeitlang auf der Welt befunden
habe; ſo muß uns dieſes Geſchöpf ſchon un¬
endlich vollkommen erſcheinen, weil ſich der
Schöpfer ſo innig damit vereinigen konnte.
Es muß alſo in dem Begriff des Menſchen
kein Widerſpruch mit dem Begriff der Gott¬
heit liegen, und wenn wir auch oft eine ge¬
wiſſe Unähnlichkeit und Entfernung von ihr
empfinden, ſo iſt es doch um deſto mehr un¬
ſere Schuldigkeit, nicht immer wie der Ad¬
vokat des böſen Geiſtes nur auf die Blößen
und Schwächen unſerer Natur zu ſehen,
ſondern eher alle Vollkommenheiten aufzuſu¬
chen, wodurch wir die Anſprüche unſrer Gott¬
ähnlichkeit beſtätigen können.
Ich lächelte und verſetzte: beſchämen Sie
mich nicht zu ſehr, lieber Oheim, durch die
Gefälligkeit in meiner Sprache zu reden!
Das was Sie mir zu ſagen haben, iſt für
mich von ſo großer Wichtigkeit, daß ich es
in Ihrer eigenſten Sprache zu hören wünſch¬
te, und ich will alsdann, was ich mir davon
nicht ganz zueignen kann, ſchon zu überſe¬
tzen ſuchen.
Ich werde, ſagte er darauf, auch auf
meine eigenſte Weiſe, ohne Veränderung des
Tons fortfahren können. Des Menſchen
größtes Verdienſt bleibt wohl, wenn er die
Umſtände ſo viel als möglich beſtimmt und
ſich ſo wenig als möglich von ihnen beſtim¬
men läßt. Das ganze Weltweſen liegt vor
uns, wie ein großer Steinbruch vor dem
Baumeiſter, der nur dann den Nahmen ver¬
dient, wenn er aus dieſen zufälligen Natur¬
maſſen, ein in ſeinem Geiſte entſprungenes
Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmä¬
ßigkeit und Feſtigkeit zuſammen ſtellt. Alles
außer uns iſt nur Element, ja ich darf wohl
ſagen, auch alles an uns; aber tief in uns
liegt dieſe ſchöpferiſche Kraft, die das zu er¬
ſchaffen vermag, was ſeyn ſoll, und uns
nicht ruhen und raſten läßt, bis wir es au¬
ßer uns oder an uns auf eine oder die an¬
dere Weiſe dargeſtellt haben. Sie, liebe
Nichte, haben vielleicht das beſte Theil er¬
wählt; Sie haben Ihr ſittliches Weſen, Ihre
tiefe liebevolle Natur mit ſich ſelbſt und mit
dem höchſten Weſen übereinſtimmend zu
machen geſucht, indeß wir andere wohl auch
nicht zu tadeln ſind, wenn wir den ſinnlichen
Menſchen in ſeinem Umfange zu kennen und
thätig in Einheit zu bringen ſuchen.
Durch ſolche Geſpräche wurden wir nach
und nach vertrauter, und ich erlangte von
ihm, daß er mit mir, ohne Condescendenz,
wie mit ſich ſelbſt ſprach. Glauben Sie
nicht, ſagte der Oheim zu mir, daß ich Ih¬
nen ſchmeichle, wenn ich Ihre Art zu denken
und zu handeln lobe. Ich verehre den Men¬
ſchen, der deutlich weiß, was er will, unab¬
läſſig vorſchreitet, die Mittel zu ſeinem Zwecke
kennt und ſie zu ergreifen und zu brauchen
weiß; in wie fern ſein Zweck groß oder klein
ſey, Lob oder Tadel verdiene, das kommt bey
mir erſt nachher in Betrachtung. Glauben
Sie mir, meine Liebe, der größte Theil des
Unheils und deſſen was man bös in der
Welt nennt, entſteht bloß, weil die Men¬
ſchen zu nachläſſig ſind ihre Zwecke recht
kennen zu lernen, und wenn ſie ſolche ken¬
nen, ernſthaft darauf los zu arbeiten. Sie
kommen mir vor wie Leute, die den Begriff
haben, es könne und müſſe ein Thurm ge¬
bauet werden, und die doch an den Grund
nicht mehr Steine und Arbeit verwenden,
als man allenfalls einer Hütte unterſchlüge.
Hätten Sie meine Freundin, deren höchſtes
Bedürfniß war, mit Ihrer innern ſittlichen
Natur ins reine zu kommen, anſtatt der
großen und kühnen Aufopferungen, ſich zwi¬
ſchen Ihrer Familie, einem Bräutigam, viel¬
leicht einem Gemahl nur ſo hin beholfen,
Sie würden, in einem ewigen Widerſpruch
mit ſich ſelbſt, niemals einen zufriedenen Au¬
genblick genoſſen haben.
Sie brauchen, verſetzt ich hier, das Wort
Aufopferung, und ich habe manchmal gedacht,
wie wir einer höhern Abſicht, gleichſam wie
einer Gottheit, das geringere zum Opfer
darbringen, ob es uns ſchon am Herzen liegt,
wie man ein geliebtes Schaf für die Geſund¬
heit eines verehrten Vaters gern und willig
zum Altar führte.
Was es auch ſey, verſetzte er, der Ver¬
ſtand oder die Empfindung, das uns eins
für das andere hingeben, eins vor dem an¬
dern wählen heißt, ſo iſt Entſchiedenheit und
Folge, nach meiner Meynung, das vereh¬
rungswürdigſte am Menſchen. Man kann
die Waare und das Geld nicht zugleich ha¬
ben! und der iſt eben ſo übel daran, dem
es immer nach der Waare gelüſtet, ohne daß
er das Herz hat das Geld hinzugeben, als
der, den der Kauf reut, wenn er die Waare
in Händen hat. Aber ich bin weit entfernt,
die Menſchen deshalb zu tadeln, denn ſie
ſind eigentlich nicht Schuld, ſondern die ver¬
wickelte Lage, in der ſie ſich befinden, und
in der ſie ſich nicht zu regieren wiſſen. So
werden Sie, zum Beyſpiel, im Durchſchnitt,
weniger üble Wirthe auf dem Lande als in
den Städten finden, und wieder in kleinen
Städten weniger als in großen, und warum?
Der Menſch iſt zu einer beſchränkten Lage
gebohren, einfache, nahe, beſtimmte Zwecke,
vermag er einzuſehen, und er gewöhnt ſich
die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur
Hand ſind; ſobald er aber ins weite kommt,
weiß er weder was er will, noch was er ſoll,
und es iſt ganz einerley, ob er durch die
Menge der Gegenſtände zerſtreut, oder ob
er durch die Höhe und Würde derſelben au¬
ßer ſich geſetzt werde. Es iſt immer ſein Un¬
glück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas
zu ſtreben, mit dem er ſich durch eine regel¬
mäßige Selbſtthätigkeit nicht verbinden kann.
Fürwahr, fuhr er fort, ohne Ernſt iſt in
der Welt nichts möglich, und unter denen,
die wir gebildete Menſchen nennen, iſt eigent¬
lich wenig Ernſt zu finden, ſie gehen, ich
möchte ſagen, gegen Arbeiten und Geſchäfte,
gegen Künſte, ja gegen Vergnügungen nur
mit einer Art von Selbſtvertheidigung zu
Werke, man lebt wie man ein Pack Zeitun¬
gen lieſt, nur damit man ſie los werde, und
es fällt mir dabey jener junge Engländer in
Rom ein, der Abends, in einer Geſellſchaft,
ſehr zufrieden erzählte: daß er doch heute
ſechs Kirchen und zwey Gallerien bey Seite
gebracht habe. Man will mancherley wiſſen
und kennen, und gerade das was einen am
wenigſten angeht, und man bemerkt nicht,
daß kein Hunger dadurch geſtillt wird, wenn
man nach der Luft ſchnappt. Wenn ich ei¬
nen Menſchen kennen lerne, frage ich ſogleich,
womit beſchäfftigt er ſich? und wie und in
welcher Folge? und mit der Beantwortung
der Frage iſt auch mein Intereſſe an ihm
auf Zeitlebens entſchieden.
Sie ſind, lieber Oheim, verſetzte ich dar¬
auf, vielleicht zu ſtrenge und entziehen man¬
chem guten Menſchen, dem Sie nützlich ſeyn
könnten, Ihre hülfreiche Hand.
Iſt es dem zu verdenken, antwortete er,
der ſo lange vergebens an ihnen und um
ſie gearbeitet hat. Wie ſehr leidet man
nicht in der Jugend von Menſchen die uns
zu einer angenehmen Luſtparthie einzuladen
glauben, wenn ſie uns in der Geſellſchaft
der
der Danaiden, oder des Syſiphus zu bringen
verſprechen. Gott ſey Dank, ich habe mich
von ihnen los gemacht, und wenn einer un¬
glücklicher Weiſe in meinen Kreis kommt,
ſuche ich ihn auf die höflichſte Art hinaus
zu komplimentiren; denn grade von dieſen
Leuten hört man die bitterſten Klagen über
den verworrenen Lauf der Welthändel, über
die Seichtigkeit der Wiſſenſchaften, über den
Leichtſinn der Künſtler, über die Leerheit der
Dichter und was alles noch mehr iſt. Sie
bedenken am wenigſten, daß eben ſie ſelbſt
und die Menge, die ihnen gleich iſt, grade
das Buch nicht leſen würden, das geſchrieben
wäre wie ſie es fordern, daß ihnen die ächte
Dichtung fremd ſey, und daß ſelbſt ein gutes
Kunſtwerk nur durch Vorurtheil ihren Bey¬
fall erlangen könne. Doch laſſen Sie uns
abbrechen, es iſt hier keine Zeit zu ſchelten
noch zu klagen.
W. Meiſters Lehrj. 3. Y
Er leitete meine Aufmerkſamkeit auf die
verſchiedenen Gemählde, die an der Wand
aufgehängt waren, mein Auge hielt ſich an
die, deren Anblick reizend, oder deren Gegen¬
ſtand bedeutend war; er ließ es eine Weile
geſchehen, dann ſagte er: gönnen Sie nun
auch dem Genius, der dieſe Werke hervorge¬
bracht hat, einige Aufmerkſamkeit. Gute Ge¬
müther ſehen ſo gerne den Finger Gottes in
der Natur, warum ſollte man nicht auch der
Hand ſeines Nachahmers einige Betrachtung
ſchenken? Er machte mich ſodann auf un¬
ſcheinbare Bilder aufmerkſam, und ſuchte mir
begreiflich zu machen, daß eigentlich die Ge¬
ſchichte der Kunſt uns bloß den Begriff von
dem Werth und der Würde eines Kunſtwerks
geben könne, daß man erſt die beſchwerlichen
Stufen des Mechanismus und des Hand¬
werks, an denen der fähige Menſch ſich Jahr¬
hunderte lang hinauf arbeitet, kennen müſſe
um zu begreifen wie es möglich ſey, daß
das Genie auf dem Gipfel, bey deſſen blo¬
ßen Anblick uns ſchwindelt, ſich frey und
fröhlich bewege.
Er hatte in dieſem Sinne eine ſchöne
Reihe zuſammen gebracht, und ich konnte
mich nicht enthalten als er mir ſie auslegte,
die moraliſche Bildung hier wie im Gleich¬
niſſe vor mir zu ſehen. Als ich ihm meine
Gedanken äußerte, verſetzte er: Sie haben
vollkommen Recht, und wir ſehen daraus:
daß man nicht wohl thut, der ſittlichen Bil¬
dung, einſam, in ſich ſelbſt verſchloſſen, nach¬
zuhängen; vielmehr wird man finden daß
derjenige, deſſen Geiſt nach einer moraliſchen
Cultur ſtrebt, alle Urſache hat, ſeine feinere
Sinnlichkeit zugleich mit auszubilden, damit
er nicht in Gefahr komme, von ſeiner mora¬
liſchen Höhe herab zu gleiten, indem er ſich
den Lockungen einer regelloſen Phantaſie
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übergiebt, und ſich in Gefahr ſetzt, ſeine edlere
Natur durch Vergnügen an geſchmackloſen
Tändeleyen, wo nicht an was ſchlimmerem
herab zu würdigen.
Ich hatte ihn nicht in Verdacht, daß er
auf mich ziele, aber ich fühlte mich getroffen,
wenn ich zurück dachte, daß unter den Lie¬
dern, die mich erbauet hatten, manches abge¬
ſchmackte mochte geweſen ſeyn, und daß die
Bildchen, die ſich an meine geiſtlichen Ideen
anſchloſſen, wohl ſchwerlich vor den Augen
des Oheims würden Gnade gefunden haben.
Philo hatte ſich indeſſen öfters in der Bi¬
bliothek aufgehalten, und führte mich nun¬
mehr auch in ſelbiger ein. Wir bewunderten
die Auswahl und dabey die Menge der Bü¬
cher. Sie waren in jedem Sinne geſammlet;
denn es waren beynahe auch nur ſolche darin
zu finden, die uns zur deutlichen Erkenntniß
führen, oder uns zur rechten Ordnung an¬
weiſen; die uns entweder rechte Materialien
geben, oder uns von der Einheit unſres Gei¬
ſtes überzeugen.
Ich hatte in meinen Leben unſäglich ge¬
leſen und in gewiſſen Fächern war mir faſt
kein Buch unbekannt, um deſto angenehmer
war mirs hier von der Überſicht des Gan¬
zen zu ſprechen, und Lücken zu bemerken, wo
ich ſonſt nur eine beſchränkte Verwirrung
oder eine unendliche Ausdehnung geſehen
hatte.
Zugleich machten wir die Bekanntſchaft
eines ſehr intereſſanten ſtillen Mannes. Er
war Arzt und Naturforſcher, und ſchien mehr
zu den Penaten als zu den Bewohnern des
Hauſes zu gehören. Er zeigte uns das
Naturalienkabinet, das, wie die Bibliothek,
in verſchloſſenen Glasſchränken, zugleich die
Wände der Zimmer verzierte und den Raum
veredelte ohne ihn zu verengern. Hier erin¬
nerte ich mich mit Freuden meiner Jugend,
und zeigte meinem Vater mehrere Gegen¬
ſtände, die er ehemals auf das Krankenbette
ſeines, kaum in die Welt blickenden Kindes
gebracht hatte. Dabey verhehlte der Arzt
ſo wenig als bey folgenden Unterredungen,
daß er ſich mir, in Abſicht auf religiöſe Ge¬
ſinnungen nähere, lobte dabey den Oheim
außerordentlich wegen ſeiner Toleranz und
Schätzung von allem, was den Werth und
die Einheit der menſchlichen Natur anzeige
und befördere, nur verlange er freylich von
allen andern Menſchen ein gleiches und pflege
nichts ſo ſehr, als individuellen Dünkel und
ausſchließende Beſchränktheit, zu verdammen
oder zu fliehen.
Seit der Trauung meiner Schweſter ſah’
dem Oheim die Freude aus den Augen, und
er ſprach verſchiedene mal mit mir über das,
was er für ſie und ihre Kinder zu thun
denke. Er hatte ſchöne Güter, die er ſelbſt
bewirthſchaftete, und die er, in dem beſten
Zuſtande, ſeinen Neffen zu übergeben hoffte.
Wegen des kleinen Guthes, auf dem wir
uns befanden, ſchien er beſondere Gedanken
zu hegen: ich werde es, ſagte er, nur einer
Perſon überlaſſen, die zu kennen, zu ſchätzen
und zu genießen weiß was es enthält, und
die einſieht, wie ſehr ein Reicher und Vor¬
nehmer, beſonders in Deutſchland, Urſache
habe etwas muſtermäßiges aufzuſtellen.
Schon war der größte Theil der Gäſte
nach und nach verflogen, wir bereiteten uns
zum Abſchied und glaubten die letzte Scene
der Feyerlichkeit erlebt zu haben, als wir
aufs neue durch ſeine Aufmerkſamkeit, uns
ein würdiges Vergnügen zu machen, über¬
raſcht wurden. Wir hatten ihm das Ent¬
zücken nicht verbergen können, das wir fühl¬
ten, als bey meiner Schweſter Trauung ein
Chor Menſchenſtimmen ſich, ohne alle Be¬
gleitung irgend eines Inſtruments, hören
ließ. Wir legten es ihm nahe genug, uns
das Vergnügen noch einmal zu verſchaffen;
er ſchien nicht darauf zu merken. Wie über¬
raſcht waren wir daher, als er eines Abends
zu uns ſagte: die Tanzmuſik hat ſich ent¬
fernt; die jungen, flüchtigen Freunde haben
uns verlaſſen; das Ehepaar ſelbſt ſieht ſchon
ernſthafter aus als vor einigen Tagen, und
in einer ſolchen Epoche von einander zu ſchei¬
den, da wir uns vielleicht nie, wenigſtens
anders wiederſehen, regt uns zu einer feyer¬
lichen Stimmung, die ich nicht edler nähren
kann, als durch eine Muſik, deren Wieder¬
hohlung Sie ſchon früher zu wünſchen
ſchienen.
Er ließ durch das indeß verſtärkte und
im Stillen noch mehr geübte Chor, uns vier
und achtſtimmige Geſänge vortragen, die
uns, ich darf wohl ſagen, wirklich einen Vor¬
ſchmack der Seeligkeit gaben. Ich hatte
bisher nur den frommen Geſang gekannt, in
welchem gute Seelen oft mit heiſerer Kehle,
wie die Waldvögelein, Gott zu loben glau¬
ben, weil ſie ſich ſelbſt eine angenehme Em¬
pfindung machen; dann die eitle Muſik der
Concerte, in denen man allenfalls zur Be¬
wunderung eines Talents, ſelten aber, auch
nur zu einem vorübergehenden Vergnügen
hingeriſſen wird. Nun vernahm ich eine
Muſik aus dem tiefſten Sinne der trefflich
ſten menſchlichen Naturen entſprungen, die,
durch beſtimmte und geübte Organe in har¬
moniſcher Einheit wieder zum tiefſten beſten
Sinne des Menſchen ſprach und ihn wirk¬
lich in dieſem Augenblicke ſeine Gottähnlich¬
keit lebhaft empfinden ließ. Alles waren
lateiniſche, geiſtliche Geſänge, die ſich, wie
Juwelen, in dem goldnen Ringe einer geſit¬
teten weltlichen Geſellſchaft ausnahmen, und
mich, ohne Anforderung einer ſo genannten
Erbauung, auf das geiſtigſte erhoben und
glücklich machten.
Bey unſerer Abreiſe wurden wir alle auf
das edelſte beſchenkt. Mir überreichte er das
Ordenskreuz meines Stiftes, kunſtmäßiger
und ſchöner gearbeitet und emaillirt, als man
es ſonſt zu ſehen gewohnt war. Es hing
an einem großen Brillanten, wodurch es zu¬
gleich an das Band befeſtigt wurde, und den
er als den edelſten Stein einer Naturalien¬
ſammlung anzuſehen bat.
Meine Schweſter zog nun mit ihrem Ge¬
mahl auf ſeine Güter; wir andern kehrten
alle nach unſern Wohnungen zurück und
ſchienen uns, was unſere äußre Umſtände
anbetraf, in ein ganz gemeines Leben zurück
gekehrt zu ſeyn. Wir waren, wie aus einem
Feenſchloß, auf die platte Erde geſetzt, und
mußten uns nach unſrer Weiſe wieder beneh¬
men und behelfen.
Die ſonderbaren Erfahrungen die ich in
jenem neuen Kreiſe gemacht hatte, ließen ei¬
nen ſchönen Eindruck bey mir zurück, doch
blieb er nicht lange in ſeiner ganzen Lebhaf¬
tigkeit, obgleich der Oheim ihn zu unterhal¬
ten und zu erneuern ſuchte, indem er mir,
von Zeit zu Zeit, von ſeinen beſten und ge¬
fälligſten Kunſtwerken zuſandte, und wenn
ich ſie lange genug genoſſen hatte, wieder
mit andern vertauſchte.
Ich war zu ſehr gewohnt, mich mit mir
ſelbſt zu beſchäftigen, die Angelegenheiten
meines Herzens und meines Gemüthes in
Ordnung zu bringen, und mich davon mit
ähnlich geſinnten Perſonen zu unterhalten,
als daß ich mit Aufmerkſamkeit ein Kunſt¬
werk hätte betrachten ſollen, ohne bald auf
mich ſelbſt zurück zu kehren. Ich war ge¬
wohnt, ein Gemählde und einen Kupferſtich
nur anzuſehen, wie die Buchſtaben eines
Buchs. Ein ſchöner Druck gefällt wohl, aber
wer wird ein Buch des Druckes wegen in
die Hand nehmen? So ſollte mir auch eine
bildliche Darſtellung etwas ſagen, ſie ſollte
mich belehren, rühren, beſſern, und der Oheim
mochte in ſeinen Briefen, mit denen er ſeine
Kunſtwerke erläuterte, reden was er wollte,
ſo blieb es mit mir doch immer beym Alten.
Doch mehr als meine eigene Natur zo¬
gen mich äußere Begebenheiten, die Verän¬
derungen in meiner Familie von ſolchen Be¬
trachtungen, ja eine Weile von mir ſelbſt ab;
ich mußte dulden und würken, mehr, als
meine ſchwachen Kräfte zu ertragen ſchienen.
Meine ledige Schweſter war bisher mein
rechter Arm geweſen; geſund, ſtark und un¬
beſchreiblich gütig hatte ſie die Beſorgung
der Haushaltung über ſich genommen, wie
mich die perſönliche Pflege des alten Vaters
beſchäftigte. Es überfällt ſie ein Kathar,
woraus eine Bruſtkrankheit wird, und in
drey Wochen liegt ſie auf der Bahre; ihr
Tod ſchlug mir Wunden, deren Narben ich
jetzt noch nicht gerne anſehe.
Ich lag krank zu Bette, ehe ſie noch be¬
erdiget war; der alte Schaden auf meiner
Bruſt ſchien aufzuwachen, ich huſtete heftig,
und war ſo heiſer daß ich keinen lauten
Ton hervorbringen konnte.
Die verheirathete Schweſter kam vor
Schrecken und Betrübniß zu früh in die
Wochen. Mein alter Vater fürchtete, ſeine
Kinder und die Hoffnung ſeiner Nachkom¬
menſchaft auf einmal zu verliehren, ſeine
gerechte Thränen vermehrten meinen Jam¬
mer; ich flehte zu Gott um Herſtellung einer
leidlichen Geſundheit, und bat ihn nur mein
Leben bis nach dem Tode des Vaters zu
friſten. Ich genaß, und war nach meiner
Art wohl, konnte wieder meine Pflichten,
obgleich nur auf eine kümmerliche Weiſe, er¬
füllen.
Meine Schweſter ward wieder guter
Hoffnung. Mancherley Sorgen, die in ſol¬
chen Fällen der Mutter anvertraut werden,
wurden mir mitgetheilt; ſie lebte nicht ganz
glücklich mit ihrem Manne, das ſollte dem
Vater verborgen bleiben, ich mußte Schieds¬
richter ſeyn, und konnte es um ſo eher, da
mein Schwager Zutrauen zu mir hatte, und
beyde wirklich gute Menſchen waren, nur
daß beyde, anſtatt einander nachzuſehen, mit
einander rechteten, und aus Begierde, völlig
mit einander überein zu leben, niemals einig
werden konnten. Nun lernte ich auch die
weltlichen Dinge mit Ernſt angreifen, und
das ausüben, was ich ſonſt nur geſungen
hatte.
Meine Schweſter gebahr einen Sohn,
die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte
ihn nicht, zu ihr zu reiſen. Beym Anblick
des Kindes war er unglaublich heiter und
froh, und bey der Taufe erſchien er mir ge¬
gen ſeine Art wie begeiſtert, ja ich möchte
ſagen, als ein Genius mit zwey Geſichtern.
Mit dem einen blickte er freudig vorwärts
in jene Regionen, in die er bald einzugehen
hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬
nungsvolle irdiſche Leben, das in dem Kna¬
ben entſprungen war, der von ihm abſtamm¬
te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege
mich von dem Kinde zu unterhalten, von
ſeiner Geſtalt, ſeiner Geſundheit, und dem
Wunſche, daß die Anlagen dieſes neuen Welt¬
bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬
ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬
ten fort, als wir zu Hauſe anlangten, und
erſt nach einigen Tagen bemerkte man eine
Art Fieber, das ſich nach Tiſch ohne Froſt
und durch eine etwas ermattende Hitze äuſ¬
ſerte. Er legte ſich jedoch nicht nieder, fuhr
des morgens aus und verſah treulich ſeine
Amtsgeſchäfte, bis ihn endlich anhaltende,
ernſthafte Symptome davon abhielten.
Nie werde ich die Ruhe des Geiſtes, die
Klarheit und Deutlichkeit vergeſſen, womit
er die Angelegenheiten ſeines Hauſes, die
Beſorgung ſeines Begräbniſſes, als wie das
Geſchäft eines andern, mit der größten Ord¬
nung vornahm.
Mit einer Heiterkeit, die ihm ſonſt nicht
eigen war, und die bis zu einer lebhaften
Freude ſtieg, ſagte er zu mir: wo iſt die
Todesfurcht hingekommen, die ich ſonſt noch
wohl empfand? ſollt ich zu ſterben ſcheuen?
ich habe einen gnädigen Gott, das Grab er¬
weckt mir kein Grauen, ich habe ein ewiges
Leben.
Mir
Mir die Umſtände ſeines Todes zurück zu
rufen, der bald darauf erfolgte, iſt in mei¬
ner Einſamkeit eine meiner angenehmſten
Unterhaltungen, und die ſichtbaren Wirkun¬
gen einer höhern Kraft dabey wird mir nie¬
mand wegräſonniren.
Der Tod meines lieben Vaters veränder¬
te meine bisherige Lebensart. Aus dem
ſtrengſten Gehorſam, aus der größten Ein¬
ſchränkung kam ich in die größte Freiheit,
und ich genoß ihrer wie einer Speiſe die
man lange entbehrt hat. Sonſt war ich ſel¬
ten zwey Stunden außer dem Hauſe, nun
verlebte ich kaum Einen Tag in meinem
Zimmer. Meine Freunde, bey denen ich
ſonſt nur abgeriſſene Beſuche machen konnte,
wollten ſich meines anhaltenden Umgangs,
ſo wie ich mich des ihrigen, erfreuen, öfters
wurde ich zu Tiſche geladen, Spazierfahrten
und kleine Luſtreiſen kamen hinzu, und ich
W. Meiſters Lehrj. 3. Z
blieb nirgends zurück. Als aber der Zirkel
durchlaufen war, ſo ſahe ich, daß das un¬
ſchätzbare Glück der Freiheit nicht darin
beſteht, daß man alles thut, was man thun
mag, und wozu uns die Umſtände einladen
ſondern, daß man das ohne Hinderniß und
Rückhalt, auf dem graden Wege, thun kann,
was man für recht und ſchicklich hält, und
ich war alt genug, in dieſem Falle, ohne
Lehrgeld zu der ſchönen Überzeugung zu ge¬
langen.
Was ich mir nicht verſagen konnte, war,
ſobald als nur möglich, den Umgang mit
den Gliedern der Herrnhuthiſchen Gemeine
fortzuſetzen, und feſter zu knüpfen, und ich
eilte eine ihrer nächſten Einrichtungen zu be¬
ſuchen: aber auch da fand ich keinesweges,
was ich mir vorgeſtellt hatte. Ich war ehr¬
lich genug meine Meinung merken zu laſſen,
und man ſuchte mir hinwieder beyzubringen:
dieſe Verfaſſung ſey gar nichts gegen eine
ordentlich eingerichtete Gemeine. Ich konn¬
te mir das gefallen laſſen, doch hätte nach
meiner Überzeugung der wahre Geiſt, aus
einer kleinen ſo gut, als aus einer großen
Anſtalt, hervorblicken ſollen.
Einer ihrer Biſchöfe, der gegenwärtig
war, ein unmittelbarer Schüler des Grafen,
beſchäftigte ſich viel mit mir; er ſprach voll¬
kommen Engliſch; und weil ich es ein we¬
nig verſtand, meinte er, es ſey ein Wink,
daß wir zuſammen gehörten; ich meinte es
aber ganz und gar nicht, ſein Umgang konn¬
te mir nicht im geringſten gefallen. Er war
ein Meſſerſchmidt, ein gebohrner Mähre,
ſeine Art zu denken konnte das handwerks¬
mäßige nicht verleugnen. Beſſer verſtand
ich mich mit dem Herrn von L*, der Ma¬
jor in franzöſiſchen Dienſten geweſen war;
aber zu der Unterthänigkeit, die er gegen
Z 2
ſeinen Vorgeſetzten bezeigte, fühlte ich mich
niemals fähig; ja es war mir als wenn man
mir eine Ohrfeige gäbe, wenn ich die Ma¬
jorin und andere, mehr oder weniger ange¬
ſehene, Frauen dem Biſchof die Hand küſſen
ſah. Indeſſen wurde doch eine Reiſe nach
Holland verabredet, die aber, und gewiß zu
meinem Beſten, niemals zu Stande kam.
Meine Schweſter war mit einer Tochter
niedergekommen, und nun war die Reihe an
uns Frauen zufrieden zu ſeyn, und zu den¬
ken, wie ſie dereinſt, uns ähnlich, erzogen
werden ſollte. Mein Schwager war dage¬
gen ſehr unzufrieden, als in dem Jahre dar¬
auf abermals eine Tochter erfolgte; er
wünſchte bey ſeinen großen Gütern Kna¬
ben um ſich zu ſehen, die ihm einſt in der
Verwaltung beyſtehen könnten.
Ich hielt mich bey meiner ſchwachen Ge¬
ſundheit ſtill, und bey einer ruhigen Lebens¬
art ziemlich im Gleichgewicht, ich fürchtete
den Tod nicht, ja ich wünſchte zu ſterben, aber
ich fühlte in der Stille, daß mir Gott Zeit
gebe, meine Seele zu unterſuchen und ihm
immer näher zu kommen. In den vielen
ſchlafloſen Nächten habe ich beſonders etwas
empfunden, das ich eben nicht deutlich be¬
ſchreiben kann.
Es war als wenn meine Seele ohne Ge¬
ſellſchaft des Körpers dächte, ſie ſah den
Körper ſelbſt als ein, ihr fremdes, Weſen
an, wie man etwa ein Kleid anſieht. Sie
ſtellte ſich mit einer außerordentlichen Leb¬
haftigkeit die vergangenen Zeiten und Bege¬
benheiten vor, und fühlte daraus, was fol¬
gen werde. Alle dieſe Zeiten ſind dahin,
was folgt wird auch dahin gehen; der Kör¬
per wird wie ein Kleid zerreißen, aber Ich,
das wohlbekannte Ich, Ich bin.
Dieſem großen, erhabenen und tröſtlichen
Gefühle ſo wenig als nur möglich nachzu¬
hängen, lehrte mich ein edler Freund, der
ſich mir immer näher verband; es war der
Arzt, den ich in dem Hauſe meines Oheims
hatte kennen lernen, und der ſich von der
Verfaſſung meines Körpers und meines Gei¬
ſtes ſehr gut unterrichtet hatte; er zeigte
mir wie ſehr dieſe Empfindungen, wenn wir
ſie, unabhängig von äußern Gegenſtänden,
in uns nähren, uns gewiſſermaßen aushöh¬
len und den Grund unſeres Daſeyns unter¬
graben. Thätig zu ſeyn, ſagte er, iſt des
Menſchen erſte Beſtimmung, und alle Zwi¬
ſchenzeiten, in denen er auszuruhen genöthi¬
get iſt, ſollte er anwenden eine deutliche Er¬
kenntniß der äuſſerlichen Dinge zu erlangen,
die ihm in der Folge abermals ſeine Thä¬
tigkeit erleichtert.
Da der Freund meine Gewohnheit kann¬
te, meinen eigenen Körper als einen äußern
Gegenſtand anzuſehn, und da er wußte, daß
ich meine Conſtitution, mein Übel, und die
mediciniſchen Hülfsmittel ziemlich kannte,
und ich wirklich durch anhaltende eigene und
fremde Leiden ein halber Arzt geworden war,
ſo leitete er meine Aufmerkſamkeit von der
Kenntniß des menſchlichen Körpers und der
Specereyen, auf die übrigen nachbarlichen
Gegenſtände der Schöpfung, und führte mich
wie im Paradieſe umher, und nur zuletzt,
wenn ich mein Gleichniß fortſetzen darf, ließ
er mich den in der Abendkühle im Garten
wandelnden Schöpfer aus der Entfernung
ahnden.
Wie gerne ſah ich nunmehr Gott in der
Natur, da ich ihn mit ſolcher Gewißheit im
Herzen trug, wie intereſſant war mir das
Werk ſeiner Hände, und wie dankbar war
ich, daß er mich mit dem Athem ſeines Mun¬
des hatte beleben wollen.
Wir hofften aufs neue, mit meiner Schwe¬
ſter, auf einen Knaben, dem mein Schwager
ſo ſehnlich entgegen ſah, und deſſen Geburt
er leider nicht erlebte. Der wackere Mann
ſtarb an den Folgen eines unglücklichen
Sturzes vom Pferde, und meine Schweſter
folgte ihm, nachdem ſie der Welt einen ſchö¬
nen Knaben gegeben hatte. Ihre vier hin¬
terlaſſenen Kinder konnte ich nur mit Weh¬
muth anſehn. So manche geſunde Perſon
war vor mir, der Kranken, hingegangen, ſoll¬
te ich nicht vielleicht von dieſen hoffnungs¬
vollen Blüthen manche abfallen ſehen? Ich
kannte die Welt genug, um zu wiſſen, un¬
ter wie vielen Gefahren ein Kind, beſonders
in dem höheren Stande, herauf wächſt, und
es ſchien mir, als wenn ſie ſeit der Zeit mei¬
ner Jugend ſich für die gegenwärtige Welt
noch vermehrt hätten. Ich fühlte daß ich,
bey meiner Schwäche, wenig oder nichts für
die Kinder zu thun im Stande ſey, um
deſto erwünſchter war mir des Oheims Ent¬
ſchluß, der natürlich aus ſeiner Denkungsart
entſprang, ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf
die Erziehung dieſer liebenswürdigen Ge¬
ſchöpfe zu verwenden. Und gewiß, ſie ver¬
dienten es in jedem Sinne, ſie waren wohl¬
gebildet, und verſprachen, bey ihrer großen
Verſchiedenheit, ſämmtlich gutartige und ver¬
ſtändige Menſchen zu werden.
Seitdem mein guter Arzt mich aufmerk¬
ſam gemacht hatte, betrachtete ich gern die
Familienähnlichkeit in Kindern und Ver¬
wandten. Mein Vater hatte ſorgfältig die
Bilder ſeiner Vorfahren aufbewahrt, ſich
ſelbſt und ſeine Kinder von leidlichen Mei¬
ſtern mahlen laſſen, auch war meine Mut¬
ter und ihre Verwandten nicht vergeſſen
worden. Wir kannten die Charactere der
ganzen Familie genau, und da wir ſie oft
unter einander verglichen hatten, ſo ſuchten
wir nun bey den Kindern die Ähnlichkeiten
des äuſſern und innern wieder auf. Der
älteſte Sohn meiner Schweſter ſchien ſeinem
Großvater, väterlicher Seite, zu gleichen,
von dem ein jugendliches Bild ſehr gut ge¬
mahlt in der Sammlung unſeres Oheims
aufgeſtellt war, auch liebte er wie jener, der
ſich immer als ein braver Officier gezeigt
hatte, nichts ſo ſehr als das Gewehr, wo¬
mit er ſich immer, ſo oft er mich beſuchte,
beſchäftigte. Denn mein Vater hatte einen
ſehr ſchönen Gewehrſchrank hinterlaſſen, und
der Kleine hatte nicht eher Ruhe, bis ich
ihm ein Paar Piſtolen und eine Jagdflinte
ſchenkte, und bis er heraus gebracht hatte,
wie ein deutſches Schloß aufzuziehen ſey.
Übrigens war er in ſeinen Handlungen und
ſeinem ganzen Weſen nichts weniger als
rauh, ſondern vielmehr ſanft und verſtändig.
Die älteſte Tochter hatte meine ganze
Neigung gefeſſelt, und es mochte wohl da¬
her kommen, weil ſie mir ähnlich ſah, und
weil ſie ſich von allen vieren am meiſten zu
mir hielt. Aber ich kann wohl ſagen, je
genauer ich ſie beobachtete, da ſie heran
wuchs, deſto mehr beſchämte ſie mich, und
ich konnte das Kind nicht ohne Bewunde¬
rung, ja ich darf beynahe ſagen, nicht ohne
Verehrung anſehn. Man ſah nicht leicht
eine edlere Geſtalt, ein ruhiger Gemüth und
eine immer gleiche, auf keinen Gegenſtand
eingeſchränkte, Thätigkeit. Sie war keinen
Augenblick ihres Lebens unbeſchäftigt, und
jedes Geſchäft ward unter ihren Händen zur
würdigen Handlung. Alles ſchien ihr gleich,
wenn ſie nur das verrichten konnte, was in
der Zeit und am Platz war, und eben ſo
konnte ſie ruhig, ohne Ungeduld, bleiben,
wenn ſich nichts zu thun fand. Dieſe Thä¬
tigkeit ohne Bedürfniß einer Beſchäftigung
habe ich in meinem Leben nicht wieder geſe¬
hen. Unnachahmlich war von Jugend auf
ihr Betragen gegen Nothleidende und Hülfs¬
bedürftige. Ich geſtehe gern, daß ich nie¬
mals das Talent hatte, mir aus der Wohl¬
thätigkeit ein Geſchäft zu machen; ich war
nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in
meinem Verhältniſſe zu viel dahin, aber ge¬
wiſſermaßen kaufte ich mich nur los, und es
mußte mir jemand angebohren ſeyn, wenn
er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte.
Grade das Gegentheil lobe ich an meiner
Nichte. Ich habe ſie niemals einem Armen
Geld geben ſehen, und was ſie von mir zu
dieſem Endzweck erhielt, verwandelte ſie im¬
mer erſt in das nächſte Bedürfniß. Nie¬
mals erſchien ſie mir liebenswürdiger, als
wenn ſie meine Kleider- und Wäſchſchränke
plünderte; immer fand ſie etwas, das ich
nicht trug und nicht brauchte, und dieſe al¬
ten Sachen zuſammen zu ſchneiden und ſie
irgend einem zerlumpten Kinde anzupaſſen,
war ihre größte Glückſeligkeit.
Die Geſinnungen ihrer Schweſter zeigten
ſich ſchon anders, ſie hatte vieles von der
Mutter, verſprach ſchon frühe ſehr zierlich
und reizend zu werden und ſcheint ihr Ver¬
ſprechen halten zu wollen, ſie iſt ſehr mit ih¬
rem Äußern beſchäfftigt und wußte ſich, von
früher Zeit an, auf eine in die Augen fallende
Weiſe zu putzen und zu tragen. Ich erin¬
nere mich noch immer, mit welchem Entzük¬
ken ſie ſich als ein kleines Kind im Spiegel
beſah, als ich ihr die ſchönen Perlen, die
mir meine Mutter hinterlaſſen hatte, und
die ſie von ungefähr bey mir fand, umbin¬
den mußte.
Wenn ich dieſe verſchiedenen Neigungen
betrachtete, war es mir angenehm zu den¬
ken, wie meine Beſitzungen, nach meinem
Tode, unter ſie zerfallen und durch ſie wieder
lebendig werden würden. Ich ſah die Jagd¬
flinten meines Vaters ſchon wieder auf dem
Rücken des Neffen im Felde herumwandeln,
und aus ſeiner Jagdtaſche ſchon wieder Hüh¬
ner heraus fallen; ich ſah meine ſämmtliche
Garderobe bey der Oſterconfirmation, lauter
kleinen Mädchen angepaßt, aus der Kirche
herauskommen und mit meinen beſten Stof¬
fen ein ſittſames Bürgermädchen an ihrem
Brauttage geſchmückt; denn zu Ausſtattung
ſolcher Kinder und ehrbarer armer Mädchen
hatte Natalie eine beſondere Neigung, ob
ſie gleich, wie ich hier bemerken muß, ſelbſt
keine Art von Liebe, und wenn ich ſo ſagen
darf, kein Bedürfniß einer Anhänglichkeit an
ein ſichtbares oder unſichtbares Weſen, wie
es ſich bey mir in meiner Jugend ſo lebhaft
gezeigt hatte, auf irgend eine Weiſe mer¬
ken ließ.
Wenn ich nun dachte, daß die Jüngſte
an eben demſelben Tage meine Perlen und
Juwelen nach Hofe tragen werde, ſo ſah ich
mit Ruhe meine Beſitzungen, wie meinem
Körper, den Elementen wiedergegeben.
Die Kinder wuchſen heran, und ſind zu
meiner Zufriedenheit geſunde, ſchöne und
wackre Geſchöpfe. Ich ertrage es mit Geduld,
daß der Oheim ſie von mir entfernt hält, und
ſehe ſie, wenn ſie in der Nähe oder auch
wohl gar in der Stadt ſind, ſelten.
Ein wunderbarer Mann, den man für
einen franzöſiſchen Geiſtlichen hält, ohne daß
man recht von ſeiner Herkunft unterrichtet
iſt, hat die Aufſicht über die ſämmtlichen
Kinder, welche an verſchiedenen Orten erzo¬
gen werden und bald hier bald da in der
Koſt ſind.
Ich konnte anfangs keinen Plan in dieſer
Erziehung ſehn, bis mir mein Arzt zuletzt
eröffnete: der Oheim habe ſich durch den Ab¬
bé überzeugen laſſen, daß, wenn man an der
Erziehung des Menſchen etwas thun wolle,
müſſe man ſehen, wohin ſeine Neigungen
und ſeine Wünſche gehen? ſodann müſſe
man ihn in die Lage verſetzen, jene, ſobald
als möglich zu befriedigen, dieſe, ſobald als
möglich zu erreichen, damit der Menſch,
wenn er ſich geirrt habe, früh genug ſeinen
Irrthum gewahr werde, und wenn er das
getroffen hat, was für ihn paßt, deſto eifri¬
ger daran halte und ſich deſto emſiger fort¬
bilde. Ich wünſche daß dieſer ſonderbare
Verſuch gelingen möge, bey ſo guten Natu¬
ren iſt es vielleicht möglich.
Aber das, was ich nicht an dieſen Erzie¬
hern billigen kann, iſt, daß ſie alles von den
Kindern zu entfernen ſuchen, was ſie zu dem
Umgange mit ſich ſelbſt und mit dem unſicht¬
baren, einzigen treuen Freund führen könne.
Ja
Ja es verdrießt mich oft von dem Oheim,
daß er mich deßhalb für die Kinder für ge¬
fährlich hält. Im praktiſchen iſt doch kein
Menſch tolerant! denn wer auch verſichert,
daß er jedem ſeine Art und Weſen gerne
laſſen wolle, ſucht doch immer diejenigen von
der Thätigkeit auszuſchließen, die nicht ſo
denken wie er.
Dieſe Art, die Kinder von mir zu entfer¬
nen, betrübt mich deſto mehr, je mehr ich
von der Realität meines Glaubens überzeugt
ſeyn kann. Warum ſollte er nicht einen
göttlichen Urſprung, nicht einen wirklichen
Gegenſtand haben, da er ſich im praktiſchen
ſo wirkſam erweiſet. Werden wir durchs
praktiſche doch unſeres eigenen Daſeyns ſelbſt
erſt recht gewiß, warum ſollten wir uns nicht
auch auf eben dem Wege von jenem Weſen
überzeugen können, das uns zu allem Guten
die Hand reicht?
W. Meiſters Lehrj. 3. A a
Daß ich immer vorwärts, nie rückwärts
gehe, daß meine Handlungen immer mehr
der Idee ähnlich werden, die ich mir von der
Vollkommenheit gemacht habe, daß ich täg¬
lich mehr Leichtigkeit fühle das zu thun, was
ich für Recht halte, ſelbſt bey der Schwäche
meines Körpers, der mir ſo manchen Dienſt
verſagt; läßt ſich das alles aus der menſch¬
lichen Natur, deren Verderben ich ſo tief
eingeſehen habe, erklären? Für mich nun
einmal nicht.
Ich erinnere mich kaum eines Gebotes,
nichts erſcheint mir in Geſtalt eines Geſetzes,
es iſt ein Trieb der mich leitet und mich im¬
mer recht führet; ich folge mit Freiheit mei¬
nen Geſinnungen, und weiß ſo wenig von
Einſchränkung, als von Reue. Gott ſey
Dank, daß ich erkenne wem ich dieſes Glück
ſchuldig bin und daß ich an dieſe Vorzüge
nur mit Demuth denken darf. Denn niemals
werde ich in Gefahr kommen, auf mein eig¬
nes Können und Vermögen ſtolz zu werden,
da ich ſo deutlich erkannt habe, welch Unge¬
heuer in jedem menſchlichen Buſen, wenn
eine höhere Kraft uns nicht bewahrt, ſich er¬
erzeugener¬
zeugen und nähren könne.