Die
phyſiſche Erziehung
der
Kinder.
Ein Belehrungsbuch fuͤr Eltern
von
G. L. Hartwig,
Dr. Med. et Phil., praktiſchem Arzte und Badearzte in Oſtende.
Düſſeldorf,
Verlag von Julius Buddeus.
1847.
Herrn
Heinrich König
in Fulda
dem Denker und Dichter
hochachtungsvoll zugeeignet
vom Verfaſſer.
Jnhaltsverzeichniß.
Seite.
Einleitung 1
Erſtes Kapitel: — Wichtigkeit einer reinen Luft. — Kohlen-
ſäure, ein Gift. — Stadt- und Landluft. — Beſchaffenheit
der Schlaf- und Wohnſtuben. — Lage des Wohnhauſes. —
Gefahr des zu frühen Einziehens in ein neugebautes Haus 10
Zweites Kapitel: — Einfluß der körperlichen Bewegung auf
die Geſundheit. — Traurige Folgen des zu vielen Sitzens.
— Schwäche des neugebornen Kindes. — Rückſichten, die
beim Herumtragen und Anfaſſen deſſelben zu beobachten
ſind. — Wie lernt es am früheſten gehen? — Das Spielen
nicht nur in phyſiſcher, ſondern auch in moraliſcher Hin-
ſicht wichtig. — Lob des Tanzens, der Fechtkunſt, des
Schwimmens, der Gärtnerei, des Turnens 24
Drittes Kapitel: — Die Functionen und Structur der Haut.
— Folgen der Unreinlichkeit. — Wichtigkeit des kalten
Badens uud Waſchens. — Uachtheile der Verzärtelung
der Haut. — Allmälige Abhärtung des Kindes. —
Federbetten ſchädlich 45
Viertes Kapitel: — Schädlichkeit einer zu engen Kleidung. —
Monſtröſer Gebrauch der Schnürleiber. — Bemerkungen
über die barbariſche Sitte des Einwickelns. — Wie ſoll
man die Kinder kleiden? — Tragen von Flanell beſon-
ders nützlich 60
Fünftes Kapitel: — Eigenſchaften einer guten Amme. —
Auffüttern der Kinder. — Vorſichten bei demſelben und
beim Entwöhnen. — Pünktlichkeit. — Diät der Kinder 77
Seite.
Sechſtes Kapitel: — Schädlichkeit des zu lange Schlafens
und Wachens. — Zu ſpätes Aufbleiben der Kinder
höchſt nachtheilig 91
Siebentes Kapitel: — Wechſelwirkung der Seele und des
Körpers. — Einfluß der Leidenſchaften auf die körper-
liche Geſundheit. — Einfluß einer guten phyſiſchen Er-
ziehung auf die Leidenſchaften. — Mittel gegen die Furcht.
— Eigenſinn der Kinder oft dem Leben gefährlich 98
Achtes Kapitel: — Bemerkungen über die Schulerziehung und
die in den Schulen herrſchenden Methoden. — Ueber den
Unterricht in der Geſchichte, der Geographie, den alten
Sprachen. — Vortheile naturwiſſenſchaftlicher Kenntniſſe.
— Phyſiologie und Diätetik ſollten auf Schulen gelehrt
werden. — Ein Wort über ſchlechte Lectüre 111
Ueuntes Kapitel: — Wie ſchützt man Kinder gegen Kurz-
und Schwachſichtigkeit? — Einfluß eines zu ſtarken, zu
ſchwachen, zu ungleichen Lichtes. — Urſachen des Schielens.
— Bemerkungen über die Behandlung der übrigen Sinne 136
Zehntes Kapitel: — Wie verhütet man eine undeutliche Aus-
ſprache und Stottern? — Wichtigkeit einer frühen An-
kämpfung gegen die Schüchternheit 157
Eilftes Kapitel: — Diätetik der Zähne. — Einfluß der Sü-
ßigkeiten auf die Zähne. — Die Zähne ſind auch Ge-
fühlsorgane. — Die Geſundheit der Zähne von der
allgemeinen Geſundheit abhängig 161
Zwölftes Kapitel: — Beſondere Cautelen die bei Anlage
zu Seropheln und Lungenſchwindſucht zu beobachten
ſind. — Beſchreibung des ſerophulöſen Habitus. — Be-
handlung der Kinder mit phtiſiſchem Habitus. 168
Einleitung.
Orandum est ut sit mens sana in corpore sano.
Juvenal Sat. X.
Die Satyriker der alten Zeit haben uns in ihren
Werken einen Schatz von trefflichen Bemerkungen
hinterlaſſen, die als Grundlage zu einer kernhaften
und geſunden Erziehung dienen koͤnnten. Denn was
iſt Satyre anders, als Geißelung der Thorheiten und
Laſter, die, als Folge einer falſchen Leitung von Kind-
heit an, mit uns großgezogen und gepflegt werden?
Wenn der edle Juvenal uͤber die verkehrten Wuͤnſche
der Menſchen Gericht haͤlt, und uns durch ſchla-
gende Beiſpiele zeigt, wie deren Erfüllung ſogar nur
zu oft zum Verderben fuͤhrt, ſpricht er da nicht wie
ein weiſer Lehrer der Menſchen? Wenn er uns be-
weist, daß eine geſunde Seele in einem geſunden
Koͤrper das wuͤnſchenswertheſte Gut iſt, fuͤhrt er da
nicht alle Eltern auf den Weg, den ſie zu befolgen
Hartwig’s Erziehungsl. 1
haben, wenn ſie ihre Kinder gluͤcklich ſehen, wenn
ſie ſich ſelbſt ein glückliches Alter verſchaffen wollen?
Auch Horaz predigt keine andere Moral als dieſe,
und die Satyren des Perſius ſind voller Andeutun-
gen zu einer trefflichen Erziehungslehre.
Fuͤr unſere Zeit aber haben die Werke jener
Maͤnner ein ganz beſonderes Jntereſſe, obgleich ſie
rein menſchliche Wahrheiten enthalten, die unter allen
Umſtaͤnden gültig ſind und ſo lange wie das Ge-
ſchlecht ſelbſt dauern werden. Denn es laͤßt ſich nicht
laͤugnen, daß das neunzehnte Jahrhundert mit der
Epoche des roͤmiſchen Kaiſerthums in mancher Be-
ziehung eine entſchiedene Aehnlichkeit beſitzt.
Damals wie jetzt herrſchten Verfeinerung und
Verweichlichung vor, und man war nur zu geneigt
die wahren Guͤter des Lebens den bloß ſcheinbaren
zu opfern. Lebte Juvenal zu unſern Zeiten, er wuͤrde
gewiß eben ſo viel Anlaß zum Zorne finden, als da-
mals wo Entruͤſtung ihm ſeinen Vers dictirte.
Worin liegt nun die Urſache dieſes allgemeinen
Strebens nach aͤußeren Guͤtern mit Hintanſetzung der
viel wichtigeren innern? — Nirgends anders als in
der Jrreleitung des Triebes nach Gluͤckſeligkeit, der
uns allen inwohnt.
Von falſchen Vorſtellungen geblendet, ſuchen wir
unſer Glück da wo es nicht liegt und vernachlaͤſſi-
gen ſeine Quellen, die uͤberall und reichlich hervor-
ſprudeln. Vergebens daß ſo viele Beiſpiele uns da-
ran erinnern ſollten, daß Reichthuͤmer nur denjenigen
begluͤcken, deſſen koͤrperliche und geiſtige Faͤhigkeiten
der Laſt gewachſen ſind — wir vergeſſen, daß die
harmoniſche Ausbildung des Menſchen die einzige
feſte Grundlage ſeines Gluͤckes iſt, und daß, wer dieſe
beſitzt, die ſogenannten Gluͤcksguͤter entweder leichter
entbehren oder leichter erwerben kann.
Die Wirklichkeit dem Scheine opfernd, vernach-
laͤſſigen wir bei der Erziehung unſerer Kinder, was
die Baſis einer jeden Erziehung ſein ſollte, und beei-
len uns, ſtatt Menſchen aus ihnen zu bilden, ſie zu
reinen Erwerbsmaſchinen zu dreſſiren. Verlaßt alſo,
ihr braven Eltern, dieſe Wege des Jrrthums, und
haltet ſtets bei der Erziehung eurer Kinder den Kern-
ſpruch im Auge: daß eine geſunde Seele in einem
geſunden Leibe das hoͤchſte Gut iſt, das ihr ihnen
hinterlaſſen koͤnnt, ein Gut, fuͤr das ſie euch bis an
das Ende ihrer Tage dankbar ſein werden. — Das
Leben iſt eine ewig wechſelnde Wahlſtatt, und kein
Sterblicher iſt je alt geworden, oder er hat der Ver-
aͤnderungen viele geſehen. — Alle Guͤter, die außer
uns ſelbſt liegen, ſind unbeſtaͤndig wie die Winde,
oder wie die von den Winden getriebenen Wellen. —
Lehret dieſes fruͤh eure Kinder, mahnt ſie daran,
keinen zu großen Werth auf Guͤter zu legen, die
nur dem Menſchen ankleben und nicht ihn ſelbſt aus-
1 *
machen. Erhebt ſie uͤber die gewoͤhnlichen Vorur-
theile und macht ſie darauf aufmerkſam, daß die
Goͤtter unmoͤglich großen Werth auf Reichthuͤmer
legen koͤnnen, da ſie dieſelben ſo oft dem Abſchaum
der Menſchheit zuwerfen. Nicht den Croͤſus eurer
Nachbarſchaft ſollen ſie ſich zum Muſter waͤhlen,
ſondern den geſundeſten verſtaͤndigſten Menſchen, den
ihr kennt: nicht den Reichſten ſollen ſie als den Gluͤck-
lichſten ſchaͤtzen, ſondern den, deſſen lebensfroher
Sinn das Leben am Vielſeitigſten genießt.
Vor allen Dingen bedenkt, daß eine weichliche
Erziehung die allerſchlechteſte iſt, die ihr ihnen geben
koͤnnt. Jhr macht ſie dadurch unfaͤhig den Stuͤrmen
ihres ſpaͤtern Lebens zu widerſtehen, vermehrt die
Gefahren, die ihnen drohen, und vermindert doppelt
grauſam die Genuͤſſe, die ſie erwarten. »Die Mutter,«
ſagt Rouſſeau, »die aus übertriebener Liebe ihr Kind
zu ihrem Abgott macht, die ſeine Schwaͤche vermehrt,
damit es ſie nicht fühlen ſoll, und in der Hoffnung,
es den Geſetzen der Natur zu entziehen, alles Un-
angenehme ſorgfaͤltig von ihm entfernt: ſie denkt
nicht daran, wie ſie einer augenblicklichen Schonung
wegen, tauſend Gefahren über ſein liebes Haupt zu-
ſammenzieht, und wie grauſam es iſt, die Schwaͤche
der Kindheit bis in die Mittagsſchwuͤle des maͤnn-
lichen Alters hinuͤberzuleiten. Um ihren Sohn un-
verwundbar zu machen, tauchte ihn Thetis, ſo ſagt
die Fabel, in das Waſſer des Styx. Die Allegorie
iſt ſchoͤn und klar. Die grauſamen Muͤtter, von de-
nen ich rede, handeln anders: ſie tauchen ihre Kin-
der in den Strom der Weichlichkeit, erziehen ſie zu
Opfern kuͤnftiger Leiden, und oͤffnen ihre Poren den
unzaͤhligen Uebeln, die ſie dereinſt als Erwachſene
uͤberfallen werden.«
Moraliſche und geiſtige Kraft haͤngen mit einer
feſten Geſundheit viel inniger zuſammen, als man
gewoͤhnlich glaubt. Jn einem ſiechen Koͤrper wird
auch der trefflichſte Geiſt Spuren des Siechthums
verrathen, waͤhrend aus dem Haupte eines geſunden
Jünglings die ſchoͤnſten Gefühle, die kraͤftigſten Ge-
danken entſpringen.
Nur zu oft verfallen Eltern und Lehrer in den
Fehler, daß ſie bei der Erziehung der Kinder den
Gang der Natur außer Acht laſſen. Jn einem Alter,
wo man nur darauf bedacht ſein ſollte, durch haͤu-
fige Bewegung im Freien die Bruſt zu erweitern und
die Glieder zu ſtaͤrken, werden bereits ſtrenge An-
forderungen an das Gehirn gemacht, jenes Organ,
das von allen am ſpaͤteſten zur Reife gelangt, und
deſſen Vollkommenheit von der geſunden Entwicke-
lung aller übrigen Organe abhaͤngt. Unverhaͤltniß-
maͤßiger Werth wird auf ein unfruchtbares, zu theuer-
erkauftes Wiſſen gelegt, welches gewoͤhnlich, nach
aufgehobenem Drucke, ſpurlos verſchwindet. Kinder
ſollen lernen, was ſie unmoͤglich begreifen koͤnnen.
Jhr Gedaͤchtniß wird mit leeren Worten beſchwert,
waͤhrend ihr Urtheil brach liegt. Eitles Bemuͤhen —
denn mit dem Wachsthum waͤchst erſt der Jdeenkreis,
und nicht eher als bis der Knabe ſich fuͤr das zu er-
lernende wirklich intereſſirt, wird er es ſich dauer-
haft aneignen. Kaͤmen wir doch endlich zur Erkennt-
niß, daß es fuͤr die Jntelligenz keine beſſere Kul-
tur giebt, als fruͤhzeitig die koͤrperlichen Kraͤfte zu
pflegen, welche ſpaͤterhin der Jntelligenz als Jnſtru-
mente dienen ſollen.
Alſo wird Kraͤftigung des Körpers unſer Haupt-
ziel ſein, wenn wir die Grundlage eines Baues legen
wollen, der kraͤftig genug ſein ſoll, die kuͤnftigen
Leiden und Freuden des Lebens zu tragen. Und gewiß
iſt dieſes der heißeſte Wunſch eines jeden Vaters,
einer jeden Mutter; aber nur zu oft verfehlen Eltern
auch mit den beſten Abſichten den richtigen Weg, da
die Unkenntniß der Geſetze, nach welchen der Koͤrper
waͤchſt und gedeiht, eine faſt allgemeine zu nennen iſt.
Wenn ich daher in dieſer kleinen Schrift auf die
Hauptpunkte aufmerkſam mache, welche zu jenem
Ziele fuͤhren, ſo glaube ich ein nicht undankbares
Werk uͤbernommen zu haben. Zwar bringe ich nur
laͤngſt Bekanntes zu Markte (wie die Meiſten, die
Buͤcher ſchreiben — nil sub sole novum) aber nütz-
liche Wahrheiten koͤnnen nicht oft genug dem Pub-
likum wiederholt werden, und wenn man ſchaͤdliche
Vorurtheile auch nur bei einigen Leſern vertilgt,
ſo darf man ſich ſchon ſeines Erfolges freuen.
Ehe der verſtaͤndige Landmann ſeine Saat aus-
ſtreut, bereitet er das Feld zu ihrem Empfange vor.
Die Erde wird mit Pflug und Spaten aufgelockert,
damit die Luft in ihren Schooß dringen koͤnne, denn
fuͤr alles Lebende und Keimende iſt ſie erſtes Beduͤrf-
niß. Auch ſoll das Samenkorn weich gebettet ſein,
damit die zarten Wurzelfaſern keinen zu harten Wi-
derſtand finden, und ſich nach allen Seiten frei und
ungehindert ausbreiten. So wird aus dem vorſich-
tig geduͤngten Boden reichlichere Nahrung dem Pflaͤnz-
chen zugefuͤhrt, und es ſtrebt kraͤftig zum allbelebenden
Lichte der Sonne. Luft, Nahrung, Feuchtigkeit,
Waͤrme und Kaͤlte, alle Einflüſſe, welche die Pflanze
zu ihrem Wachsthume nothwendig bedarf, werden
aber auch, wenn ſie das richtige Maaß uͤberſchreiten,
zu Hinderniſſen ihres Gedeihens. Heftige Winde
legen die Saat um, ein zu ſtarker Duͤnger verbrennt
die Wurzeln, nach anhaltendem Regen verfaulen die
mehlreichen Knollen. Durch zu große Waͤrme und
Trockenheit wird die Aehre ausgedoͤrrt, unter entge-
gengeſetzten Verhaͤltniſſen gelangt ſie nicht zur voll-
kommenen Reife. Welche Kenntniß des Bodens, der
climatiſchen Verhaͤltniſſe und der Natur der Pflanze
bedarf es alſo nicht, um ihren Wachsthum, ſo weit
menſchliches Zuthun reicht, zur Vollkommenheit zu
bringen, und wie viele guͤnſtige äußere Einfluͤſſe
muͤſſen nicht noch hinzu kommen, um die wohldurch-
dachte Arbeit des verſtaͤndigen Landmannes, wenn
auch nur mit maͤßigem Erfolge zu lohnen. Auch der
Menſch iſt ein Saatkorn, das zum Sinken oder Schwim-
men auf die Wogen des Lebens geworfen wird, und
fuͤr ihn muͤſſen die Eltern thun, was dort fuͤr die
Pflanze der Landmann. Aber ungleich ſchwieriger
iſt die der elterlichen Sorgfalt zugewieſene Pflege,
da das Weſen, deſſen Cultur ihr übertragen, auf
einer hoͤhern Stufe der Entwickelung ſteht und von
viel mannigfaltigeren Einflüſſen abhaͤngt. Es iſt nicht
allein als Pflanze oder als Thier verwundbar, ſon-
dern auch als geiſtiges Weſen. Nicht genug, daß
man den Koͤrper verſtaͤndig erzieht, und ihm Licht, Be-
wegung, Nahrung und Kleidung ſo zumißt, daß er
kraͤftig aufwaͤchst, auch ſeine Leidenſchaften muͤſſen
zum Guten geleitet, und ſein Geiſt von Vorurtheilen
gereinigt werden; denn eine ungezuͤgelte Leidenſchaft,
eine falſche Jdee koͤnnen das Leben eben ſo gut ver-
kuͤrzen, als eine phyſiſche Schaͤdlichkeit es thut.
Wie ſchwierig iſt die gegenſeitige Beleuchtung
aller dieſer Verhaͤltniſſe! Welch ein Studium, auch
nur an einem einzelnen Leben die geheimnißvolle
Wechſelwirkung des Koͤrpers und der Seele zu er-
forſchen, in einem einzelnen Jndividuum den eigent-
lichen wunden Fleck aufzufinden, von dem das Con-
tagium ausging, welches das Ganze allmaͤhlig in
den Kreis des Erkrankten hineinzog! Wir duͤrfen uns
daher nicht wundern, daß gute Biographieen ſo ſelten
ſind, da dieſe Werke bei ihren Verfaſſern zugleich
eine pſychologiſche und eine phyſiologiſche Kenntniß
des Menſchen vorausſetzen, wie man ſie nur ſelten
vereinigt findet.
Erſtes Kapitel.
Wichtigkeit einer reinen Luft. — Kohlenſäure, ein Gift. — Stadt
und Landluft. — Beſchaffenheit der Schlaf- und Wohnſtuben. —
Lage des Wohnhauſes. — Gefahr des zu frühen Einziehens in
ein neugebautes Haus.
Selten fuͤhlt ſich der Menſch in einer gluͤcklicheren
Stimmung, als wenn er nach einer ſchweren Krank-
heit auf’s Neue zum Leben erwacht. Die taͤgliche
Zunahme ſeiner Kraͤfte, das Gefühl der wiederkeh-
renden Geſundheit erfuͤllt ihn mit einem unausſprech-
lichen Wohlbehagen, und im ruhigen Genuß des
Augenblickes iſt es ihm, als ob er in die Tage ſeiner
Kindheit zuruͤckverſetzt ſei, wo ihm auch der Augen-
blick alles war. Wie ſchaͤtzt er nun ſo manche Wohl-
that, an die er in den Tagen der Geſundheit nicht
dachte! Wie ſchmeckt ihm das Eſſen, wie erquickt
ihn der Schlaf, und wie wohlig iſt es ihm, wenn
er das Krankenzimmer verlaͤßt, um zum erſten Male
wieder in’s Freie zu treten! Dann erſt erkennt er,
welche belebende Kraft in einer reinen Luft liegt,
und wundert ſich vielleicht, wie es Menſchen geben
kann, die nicht taͤglich an dieſem Balſam ſich erqui-
cken, die ſich und ihre Kinder freiwillig auf Tage in
einen Kerker einſchließen koͤnnen, gleich dem, aus
welchem er entflohen. Die atmosphaͤriſche Luft iſt
in der That das erſte und naͤchſte Beduͤrfniß unſeres
Lebens; wir koͤnnen faſt keinen Augenblick ohne ſie
beſtehen, waͤhrend wir Speiſe und Trank viele Stun-
den lang entbehren koͤnnen. Fünfzehn bis zwanzig
Mal in einer Minute, ſind wir inſtinctmaͤßig genoͤ-
thigt einen neuen Vorrath von Luft einzuathmen und
den verbrauchten wieder auszuhauchen. Die gute
oder ſchlechte Beſchaffenheit eines Stoffes, der ſo
ſehr unausgeſetztes Beduͤrfniß iſt, muß nothwendig
auf unſere Geſundheit den maͤchtigſten Einfluß aus-
uͤben.
Die chemiſche Analyſe belehrt uns, daß die aus-
geathmete Luft verſchiedene Veraͤnderungen erlitten
hat, daß ſie viel dunſtfoͤrmiges Waſſer, welches bei
kaltem Wetter ſogleich ſichtbar wird, und eine groͤ-
ßere Menge kohlenſaures Gas enthaͤlt. Reine atmosphäriſche Luft beſteht aus Sauerſtoff und
Stickſtoff, deren relative Mengen ſich wie die Zahlen 21:79
verhalten. Außerdem enthält ſie im Durchſchnitt ein halbes
Tauſendſtel Kohlenſäure und eine ſehr variable Quantität
von Waſſerdampf. Humphry
Davy athmete faſt eine Minute lang (19 Respira-
tionen) 161 Kubikzoll Luft, welche 1,6 Kubikzoll Koh-
lenſaͤure enthielten. Hernach enthielt die Luft 17,4
Kubikzoll dieſes Gaſes. Jn einer Minute wurden
alſo 15,8 Kubikzoll kohlenſaures Gas ausgeſchieden.
Nach den meiſterhaften Verſuchen von Allen
und Pepys betrug die ganze Menge der in 24½ Mi-
nuten erzeugten Kohlenſaͤure 789,76 Kubikzoll, oder,
fuͤr die Minute 32 Kubikzoll engliſch, was fuͤr den
Tag, ungefaͤhr 26 Kubikfuß betraͤgt.
Das kohlenſaure Gas, welches in ſehr kleinen
Mengen, auch in der geſundeſten Luft ſich vorfindet,
iſt im reinen Zuſtande eines der toͤdtlichſten Gifte
und kann in groͤßerer Menge gar nicht einmal ein-
geathmet werden, da es augenblicklich eine krampf-
hafte Verſchließung der Stimmritze bewirkt.
Es iſt bekannt, daß in Kellern, worin viele
gaͤhrende Getränke ſich befinden, in manchen Gruben
(matte Wetter), in manchen unterirdiſchen Hoͤhlen
(Hundsgrotte bei Neapel, Schwefelhoͤhle bei Pyr-
mont); das kohlenſaure Gas entweder ganz rein, oder
in ſehr bedeutendem Verhaͤltniß mit atmosphaͤriſcher
Luft vermiſcht, Menſchen und Thiere toͤdtet, wenn
ſie nicht ſchleunigſt wieder in eine reinere Atmos-
phaͤre gebracht werden, und auch dann gelingt es
nicht immer ſie in’s Leben zuruͤckzurufen.
Ein Stoff, der in groͤßerer Menge ſolche Wir-
kungen hervorbringt, muß auch in kleinerer Quan-
titaͤt ſich als höchſt nachtheilig erweiſen, und dieſes
wird durch zahlreiche Erfahrungen beſtaͤtigt.
Man kann annehmen, daß im Allgemeinen in
Bezug auf Nahrung, Kleidung, Reinlichkeit und
Wohnung, die Kinder des Landmanns keinen Vor-
zug vor den Kindern des Staͤdters voraus haben;
und doch ſehen wir auf ihren vollen Wangen die
rothe Farbe des Wohlſeins, waͤhrend die Kinder in
den Staͤdten gewoͤhnlich von ungeſunder Blaͤſſe an-
gekraͤnkelt ſind. Worin ſonſt liegt der Grund dieſes
Contraſtes, als in der Verſchiedenheit der ſie umhuͤl-
lenden Atmosphaͤre?
Jeder Luftzug der den Landmann umweht,
ſtreift weither uͤber gruͤne Felder oder duftendes Ge-
hoͤlz, ſaugt den Balſam unzaͤhliger wohlriechender
Kraͤuter auf, und ſpricht ſchon durch ſeine Friſche
das Gefuͤhl wohlthaͤtig an.
Wie ſo ganz anders iſt die Luft in den Staͤdten!
Nicht nur daß tauſende von Menſchen ihr mit jedem
Athemzuge etwas Kohlenſaͤure beimengen; daß aus
ſo vielen Kaminen Kohlenſtaub und giftige Gasarten
mit dem Rauche emporwirbeln, daß zahlreiche Offi-
zinen und Fabriken ihr die heterogenſten Duͤnſte und
Effluvien mittheilen: auch die Zerſetzung ſo vieler
vegetabiliſcher und animaliſcher Stoffe, welche die
beſte Straßenpolizei nicht immer ſchnell genug
entfernen kann, traͤgt zu ihrer Verunreinigung bei.
Jn den breiten neuen Straßen unſerer Haupt-
ſtaͤdte, wo die Luft frei zirkulirt, verlieren ſich zwar
dieſe fremdartigen Beimengſel augenblicklich in dem
großen atmosphaͤriſchen Ocean, aber in den engen
ſchmutzigen Gaſſen der aͤrmeren Stadttheile, wo die
Haͤuſer noch dazu oft thurmhoch emporſtreben und das
Himmelslicht ausſchließen, iſt die ſtockende Luft be-
ſtaͤndig verdorben. Boͤsartige Fieber und kontagioͤſe
Krankheiten waͤhlen deßhalb auch ſolche Quartiere
zu ihren Lieblingsſitzen, und verlaſſen ſie nicht eher,
als bis man durch die Anlage neuer Straßen und
das Niederreißen ganzer Haͤuſerreihen den gefaͤhrli-
cher Krankheitsheerd zerſtoͤrt. Quetclet hat nachge-
wieſen, daß in Bruͤſſel die Sterblichkeit dort am
groͤßten iſt, wo die Bevoͤlkerung am dichteſten ſich
zuſammendraͤngt und wo fuͤr Ventilation am Schlech-
teſten geſorgt iſt.
Dr. Duncan, ein Liverpooler Hospitalarzt, fand
daß auf dem Lande, auf einer Flaͤche von 17,254
engliſchen Quadratmeilen, bei einer Bevoͤlkerung von
205 Seelen auf die Meile, die Sterblichkeit wie 1
in 54,91 ſich verhielt, waͤhrend ſie in den Staͤdten
auf einer Flaͤche von 747 Meilen, bei einer Bevoͤl-
kerung von 5045 Seelen auf die Meile, bis zu 1 in
38,16 ſtieg. Und obgleich manche andere Urſachen
zu dieſem bedeutenden Unterſchiede in der Mortali-
taͤt beitragen moͤgen, kann man gar nicht daran zwei-
feln, daß der groͤßte Theil der Schuld der ſchlech-
tern Beſchaffenheit der Luft, da wo groͤßere Men-
ſchenmaſſen ſich zuſammendraͤngen, beizumeſſen iſt.
Dieſe Thatſachen werden hoffentlich hinreichen,
wohlmeinende Eltern zu uͤberzeugen, wie ſehr viel ſie
fuͤr die Geſundheit ihrer Kinder thun koͤnnen, wenn
ſie nur dafuͤr ſorgen, daß die Kleinen in einer moͤg-
lichſt reinen Luft aufwachſen. Verdorbene Speiſen
geben ſich als ſolche dem Geſchmacke zu erkennen
und werden ſogleich verworfen, aber eine verdorbene
Luft wird oft uͤberſehen, obgleich ſie auf die Dauer
eben ſo nachtheilig einwirkt, wie die fehlerhafte Qua-
litaͤt irgend eines andern Beduͤrfniſſes. Dieſelbe ſorg-
ſame Mutter, welche ihren Kindern um keinen Preis
ſchlechte Nahrungsmittel vorſetzen moͤchte, ſcheint um
die Beſchaffenheit der Luft, welche ſie einathmen,
gaͤnzlich unbekuͤmmert. Es iſt unbegreiflich, wie weit
die Unachtſamkeit oder Unwiſſenheit in dieſem Punkte
geht. Wie wenige ſind darauf bedacht, die Luft in
ihren Zimmern gehoͤrig zu erneuern, wie viele fuͤrchten
ſich ſogar davor? Wer aber nur einigermaaßen uͤber die
Vortheile einer beſtaͤndigen Lufterneuerung belehrt
worden iſt, wird gewiß in dieſen beklagenswerthen
Jrrthum nicht verfallen, ſondern ſo viel als moͤg-
lich der Vermehrung und Anhaͤufung der Kohlenſaͤure
in ſeinen Zimmern entgegenarbeiten. Die Kohlen-
ſaͤure iſt uͤbrigens nicht der einzige ungeſunde Stoff,
der ſich in ſchlechter Zimmerluft vorfindet. Es wer-
den ihr durch Ausathmen und Ausdünſtung manche
animaliſche Stoffe beigemengt, welche ſpaͤter in Faͤul-
niß uͤbergehen und den unangenehmen Geruch in ſchlecht
geluͤfteten Stuben groͤßtentheils verurſachen.Der ſonſt ſo unausſtehliche Tabaksqualm mag viel-
leicht zur Reinigung der Luft in einem ſolchen mit anima-
liſchen Dünſten ausgefüllten Lokale beitragen, und ſich in
dieſer Beziehung als heilſam erweiſen. Das im Tabaksrauche
enthaltene Kreoſot (?) iſt eines der beſten fäulnißwidrigen Stoffe
(Antiputrida).
Die Schaͤdlichkeit dieſer animaliſchen Duͤnſte iſt
vielleicht eben ſo hoch als die des kohlenſauren Gaſes
anzuſchlagen. Wenn unſer Auge ploͤtzlich ſo geſchaͤrft
wuͤrde, daß wir die menſchenfeindlichen Atome, die
in einer ſolchen Stubenluft ſich bewegen, ſehen und
den Unterſchied zwiſchen ihr und einer reinen Land-
luft wahrnehmen koͤnnten, wir würden nicht genug
uͤber unſere bisherige Sorgloſigkeit ſtaunen koͤnnen.
Wenn eine verdorbene Luft die Kraͤfte des Er-
wachſenen untergraͤbt und ihn moraliſch und phyſiſch
niederdruͤckt, ſo wird ſie dieſe Wirkung bei Kindern
in einem noch hoͤhern Grade aͤußern. Der zartere
Organismus des Kindes bietet ſchaͤdlichen Einfluͤſſen
aller Art einen viel geringern Widerſtand, wie die
derbere Natur des Erwachſenen, und wo dieſer mit
einer Unpaͤßlichkeit davon kommt, wird oft jener
toͤdtlich getroffen. Ueber die Haͤlfte aller Geborenen
ſtirbt vor dem ſiebenten Jahre, und gewiß iſt Luft-
verderbniß eine der Haupturſachen dieſes ſo unge-
heuren Verluſtes. Die in ihrer Entwickelung dadurch
gehemmten Kinder, fallen um ſo leichter als Opfer
irgend einer andern hinzukommenden Schaͤdlichkeit.
Baudelsque iſt der Meinung, daß das wiederholte
Einathmen derſelben Luft die Haupturſache der
Scropheln iſt, und fuͤhrt unter andern folgendes
Beiſpiel an. Einige Stunden von Amiens liegt das
Dorf Oresmeaux in einer geſunden hohen Lage, 100 Fuß
uͤber dem nachbarlichen Thale. Vor 60 Jahren waren
faſt alle Huͤtten dieſes Dorfes aus Lehm gebaut und
hatten keine offenen Fenſter; ihr Licht erhielten ſie
durch einige eingemauerte Scheiben. Die meiſten
Einwohner waren Weber und daher genoͤthigt, den
groͤßten Theil ihrer Zeit in dieſen engen Wohnungen
zuzubringen. Faſt alle litten an Scropheln, und
manche beſonders hart zugeſetzte Familien ſtarben
gaͤnzlich aus. Eine Feuersbrunſt legte das halbe
Dorf in Aſche; die Huͤtten wurden nach einem beſ-
ſern Plane wieder aufgebaut; die Scropheln nahmen
allmaͤhlig ab und ſind nun gaͤnzlich verſchwunden.
Das Kind bringt einen ſehr großen Theil ſeiner
Zeit im Schlafzimmer zu. Die Wahl dieſes Raumes
Hartwig’s Erziehungsl. 2
iſt daher von einer Wichtigkeit, die alle Aufmerk-
ſamkeit verdient, und dennoch, ſogar in den reich-
ſten Haͤuſern, nicht ſelten uͤberſehen wird. Wie
oft werden Kinder zum Schlafen in kleine dumpfige
Hinterſtuͤbchen relegirt, wo nie ein Sonnenſtrahl
hineinfaͤllt, waͤhrend in demſelben Gebaͤude die hell-
ſten und geraͤumigſten Prunkgemaͤcher nur einige Mal
im Jahre einer glaͤnzenden Geſellſchaft geoͤffnet werden.
Das Schlafzimmer muß groß und hoch ſein. Je
mehr Kubikfuß Luft es enthaͤlt, deſto weniger wird dieſe
im Laufe der Nacht verunreinigt werden, weil die Aus-
duͤnſtungen ſich in einem groͤßern Raume vertheilen.
Die ausgeathmete und verunreinigte Luft ſteigt
wegen ihrer Waͤrme (29º bis 30º R.) und groͤßerer
Leichtigkeit nach oben, und fuͤllt die hoͤhern Luftſchich-
ten des Zimmers aus. Die Waͤrme unſerer Haut
theilt ſich der ſie unmittelbar beruͤhrenden Luftſchicht
mit, welche mit den Ausduͤnſtungen derſelben geſaͤt-
tigt wird. Dieſe erwaͤrmte und mit ausgeduͤnſteten
Subſtanzen geſchwaͤngerte Luftſchicht hat ebenfalls
eine Tendenz zum Steigen, ſo daß von den Fuͤßen
bis zum Scheitel, die den Menſchen beruͤhrende
Luft in einer fortdauernden Bewegung nach oben
begriffen iſt. Aus dieſem Grunde ſind hohe Zimmer
der Geſundheit zutraͤglicher.
Beſonders in Staͤdten und feuchten Gegenden
iſt es ſehr wichtig, daß die Schlafſtube in einem
hoͤhern Stockwerke gelegen ſei. Parterre-Stuben
ſind in der Regel feucht. Auch iſt in Staͤdten die
Luft in der Naͤhe des Bodens am Verdorbenſten,
weil ſie mit dem reineren Luftocean, der uͤber der
Stadt ſich ausbreitet, ſich am ſchwierigſten vermi-
ſchen kann. Je hoͤher man wohnt, deſto mehr naͤ-
hert man ſich einer reineren, mit fremden und ſchaͤd-
lichen Beſtandtheilen unvermiſchten Luft.
Jn Staͤdten, wo es an Abzugskanaͤlen fehlt und
die Unreinigkeiten in den Goſſen ſich zerſetzen, iſt
auf dieſe Thatſache beſonders zu achten. Jn einem
feuchten Klima ſind die Nebel über dem Boden am
dichteſten, und die Trockenheit der Luft nimmt mit
ihrer Entfernung von der Erdoberflaͤche zu. Die
Entſtehung der Wechſelfieber liefert uns hievon ein
merkwuͤrdiges Beiſpiel. Es gibt Zeiten, wo man in
Rom, im Erdgeſchoſſe ſchlafend von Jntermittens be-
fallen wird, waͤhrend man ſchon im zweiten Stocke
frei bleibt, und ſogar in einem und demſelben Raume
werden Jndividuen, die die Nacht ſitzend zubringen,
haͤufig verſchont, waͤhrend die auf dem Boden lie-
genden von der Krankheit ergriffen werden.
Das an die feuchten Ausduͤnſtungen gebundene
Miasma erhebt ſich alſo nur einige Fuße vom Bo-
den, und obgleich es bei bedeutenden Epidemieen viel
hoͤher ſteigt und die Einwohner aus den obern Etagen
2*
auf die Berge treibt, ſo iſt es ſtets in der Tiefe
am gefaͤhrlichſten.
Die beſten Schlafſtuben ſind ſo gelegen, daß das
Sonnenlicht frei hinein fallen kann. Sie werden da-
durch auf die wohlthaͤtigſte Weiſe trocken gehalten.
Wenn auch nicht ein Jeder im Stande iſt, ſei-
nen Kindern ein geraͤumiges und gut gelegenes
Schlafzimmer zu geben, ſo kann man doch unter
allen Verhaͤltniſſen dafuͤr ſorgen, daß es gehoͤrig ge-
luͤftet ſei. Ventilationsapparate laſſen ſich ohne große
Koſten anſchaffen. Jn Ermangelung derſelben muß
man darauf ſehen, daß die Fenſter waͤhrend des
Tages offen ſtehen. Man ſetze Bettlaken und Ma-
trazen mehrere Stunden dem Luftzuge aus, ſo daß
die Duͤnſte, die ſich waͤhrend der Nacht daran feſt-
geſetzt haben, gehoͤrig verfliegen koͤnnen. Man wech-
ſele das Bettzeug ſo oft als moͤglich und trockne es
vor dem Ueberziehen jedesmal ſorgfaͤltig ab.
Bettvorhaͤnge ſind durchaus verwerflich. Es
iſt offenbar, daß ſie die ausgeathmete Luft in einem
engen Raume uͤber dem Kopfe des Schlafenden con-
denſiren, und ihn zum wiederholten Einathmen der-
ſelben noͤthigen. Wie ſchaͤdlich es ſein muß, wenn
mehrere Kinder in einem kleinen, ſchlechtventilirten
Zimmer zuſammen ſchlafen, braucht keine weitere
Erwaͤhnung. Nie ſollten zwei Kinder in einem Bette
ſchlafen; noch verwerflicher iſt es, wenn man ſie mit
Erwachſenen oder aͤlteren Perſonen dasſelbe Lager
oder dasſelbe Zimmer theilen laͤßt. Wenn aber, an
irgend einem Orte, ſo muß in der Wochenſtube fuͤr
Reinheit der Luft geſorgt werden. Wir haben hier
ein neugebornes Weſen, das beſonders leicht von
allen Schaͤdlichkeiten getroffen wird; eine ſtark aus-
duͤnſtende und fiebernde Woͤchnerin; einen ununter-
brochenen Aufenthalt in demſelben Raume, oft noch
die Anweſenheit von Ammen und Waͤrterinnen. Bei
der Vereinigung ſo vieler Elemente zur Luftverderb-
niß, iſt daher ganz beſonders fuͤr die aͤußerſte Rein-
lichkeit zu ſorgen; hier muß mit ſorgfaͤltiger Ver-
meidung aller Gefahr, die aus zu großer Abkuͤhlung
entſtehen koͤnnte, die Luft ſo rein als moͤglich ge-
halten werden, damit der Hineintretende nicht den
geringſten unangenehmen Geruch wahrnehme, denn
thut er dieſes, ſo kann man verſichert ſein, daß die
Zimmerluft ſowohl der Mutter wie dem Kinde ſcha-
det. Verlangt die Witterung, daß geheizt werde, ſo
iſt ein offener Windofen nicht genug zu empfehlen.
Durchnaͤßte Waͤſche darf nie vor dem Feuer getrock-
net werden, auch iſt alles Kochen im Zimmer zu
vermeiden. Die Luft wird dadurch mit waͤſſerigen
oft unangenehm riechenden Duͤnſten angefuͤllt, und
in einem hohen Grade verdorben.
Das Speiſezimmer ſei, wo moͤglich, nur allein
fuͤr dieſen Zweck beſtimmt; iſt es zugleich Wohnzimmer
ſo ſollte jedesmal nach dem Eſſen geluͤftet wer-
den, um die mephitiſchen Duͤnſte der Speiſen zu
entfernen. Auch hier erprobt ſich waͤhrend der kaͤl-
teren Jahreszeit ein Windofen als ein vortrefflicher
Ventilator, denn ſo wie die Dünſte ſich bilden, wer-
den ſie durch den im Kamin aufſteigenden Luftzug
fortgeſchafft, wodurch die Atmosphaͤre ſtets rein erhal-
ten wird. Die Beſchaffenheit der Luft in den Zimmern
eines Hauſes wird natuͤrlich auch von der Lage des-
ſelben abhaͤngen. Liegt es im Herzen einer großen
Stadt, in einer engen, ſchmutzigen, niedrigliegenden
Straße, oder noch ſchlimmer an einer Sackgaſſe, wo
die Luft nicht durchſtreifen kann: iſt es von an-
dern hohen Gebaͤuden dicht umgeben, und hat es
weder Garten noch Hofraum, ſo ſind dieſes eben ſo
viele unguͤnſtige Umſtaͤnde, die der Familienvater bei
der Wahl ſeiner Wohnung beruͤckſichtigen ſollte. Be-
ſonders huͤte er ſich, zu fruͤh in ein neugebautes Haus
zu ziehen, ehe die Waͤnde gehoͤrig ausgetrocknet ſind.
Die Zimmer eines ſolchen Hauſes ſind mit waͤſſeri-
gen Duͤnſten ausgefuͤllt, welche die Transpiration
auf die unangenehmſte Weiſe unterdruͤcken und das
Gefuͤhl geben, als ob man in einem Keller ſich
befände.
Die gefaͤhrlichſten Krankheiten ſind nicht ſelten
die Folge des Verweilens in dieſen naßkalten, mit
Waſſer durch und durch geſchwaͤngerten Raͤumen.
Kalktheile und metalliſche Farben werden zu-
gleich mit der in den Waͤnden befindlichen Feuchtig-
keit verfluͤchtigt.
Blei-, Kupfer- und Arſenikverbindungen ſind in
den meiſten Malerfarben vorhanden, verfluͤchtigen
ſich und tragen zur Luftverderbniß bei. Dieſelben
ſchlimmen Einfluͤſſe herrſchen, obgleich in geringern
Graden, in allen feuchten Wohnungen, und gebie-
ten eine Vorſicht in der Wahl, welche nur zu oft
vernachlaͤſſigt wird.
Es waͤre nun fuͤr eine moͤglichſt reine Luft im
Hauſe geſorgt; wollen wir aber das Kind ihre ganze
Wohlthat genießen laſſen, ſo ſchicken wir es, ſo viel
wie nur moͤglich in’s Freie. Hier aber geſellt ſich
zur guͤnſtigen Einwirkung einer reinen Atmosphaͤre
und eines groͤßeren Temperaturwechſels, der ſtaͤrkende
und belebende Einfluß der Bewegung, der ſo uͤberaus
wichtig iſt, daß ich ihm einen beſondern und aus-
fuͤhrlichen Abſchnitt einraͤumen muß.
Zweites Kapitel.
Einfluß der koͤrperlichen Bewegung auf die Geſundheit. — Traurige
Folgen des zu vielen Sitzens. — Schwäche des neugeborenen
Kindes. — Rückſichten, die beim Herumtragen und Anfaſſen
desſelben zu beobachten ſind. — Wie lernt es am früheſten
gehen? — Das Spielen nicht nur in phyſiſcher, ſondern auch in
moraliſcher und geiſtiger Hinſicht wichtig. — Lob des Tanzens, der
Fechtkunſt, des Schwimmens, der Gärtnerei, des Turnens.
Die Schaͤdlichkeiten, die in den Lehrbuͤchern einzeln
abgehandelt werden, ſtehen in der Wirklichkeit faſt
niemals ſo vereinzelt da, denn gewoͤhnlich treten ihrer
mehrere zuſammen, um die Kraft einer Geſundheit
zu untergraben.
Schlechte Luft und Mangel an Bewegung; Un-
reinlichkeit und unzweckmaͤßige Nahrung, finden wir
oft vereinigt als Urſachen vieler verſchiedenen Krank-
heitsformen, und von einem jeden dieſer ſchaͤdlichen
Einfluͤſſe laͤßt ſich, wie vom Ungluͤck ſagen, daß er
ſelten allein koͤmmt. Und doch reicht ſchon ein Ein-
ziger hin, das Leben zu verkuͤrzen und zu ſchwaͤchen!
Es kann einer noch ſo maͤßig leben, noch ſo
ſehr fuͤr Reinlichkeit ſorgen, noch ſo ſehr ſeine Lei-
denſchaften, dieſe ſo haͤufigen Geſundheitsſtoͤrer in
ſeiner Gewalt haben, es iſt unmoͤglich, daß er ſtark
und geſund bleibe, wenn er die noͤthige Bewegung
vernachlaͤſſigt. Die Betrachtung ihres Einfluſſes auf
alle Hauptorgane unſeres Koͤrpers, wird uns von
ihrer uͤberaus großen Wichtigkeit überzeugen und den
Ausſpruch des beruͤhmten Sydenham, des engliſchen
Hippocrates, rechtfertigen, der ſie fuͤr das vorzüglichſte
Staͤrkungsmittel erklaͤrt. Aber wie wenig wird noch
ihre maͤchtige Wirkung vom Publikum gewuͤrdigt und
ihre Heilkraft benutzt! Wie leer ſieht es noch immer,
außer an heitern Sonn- und Feſttagen, auf den Pro-
menaden aus, die gewiß auch in der Woche nicht
ſo verlaſſen ſein wuͤrden, wenn die Nothwendigkeit
der Bewegung im Freien, wie ſie es wohl verdiente,
allgemein anerkannt wäre. Man darf aber durchaus
nicht glauben, daß man bei unterlaſſener Bewegung
geſund bleiben koͤnne. Waͤre es moͤglich, daß ein
ſtarker, geſunder Organismus (vom bloßen Vegetiren
iſt natuͤrlich nicht die Rede), bei lange fortgeſetztem
Mangel an Bewegung beſtehen koͤnnte, ſo iſt alles
was Wiſſenſchaft und Erfahrung uns uͤber die Natur
des Menſchen lehren, durchaus werthlos, und es duͤrfte
in unſerm Zeitalter von Diaͤtetik eben ſo wenig als
von der Aſtrologie und Hermeneutik die Rede ſein.
Es waͤre ſchwer ein Hauptorgan unſeres Koͤr-
pers zu nennen, welches nicht durch die Bewegung
geſtaͤrkt würde. Was bemerken wir bei einem jeden
Spaziergange? Der Kreislauf des Blutes wird be-
ſchleunigt, der Puls geht ſchneller, die Athemzüge
wiederholen ſich raſcher. Ein angenehmes Gefühl
von Waͤrme, welches immer ein Zeichen von erhoͤh-
ter Vitalitaͤt iſt, verbreitet ſich uͤber die ganze Haut,
und Theile, wo ſonſt die Circulation ſtockte (kalte
Haͤnde und Fuͤße) werden roth und lebendig.
Der raſchere Umtrieb des Blutes hat bedeuten-
dere Ausſcheidungen zur Folge. Durch die vermehrte
Anzahl und groͤßere Tiefe der Athemzüge, durch den
vermehrten Andrang des Blutes nach der Haut, wer-
den eine groͤßere Menge verbrauchter Stoffe aus dem
Koͤrper entfernt. Jndem durch die Bewegung das
Blut gleichmaͤßiger in allen Koͤrpertheilen circulirt,
werden Congestionen in innern edlen Organen (Ge-
hirn, Lungen, Eingeweide des Unterleibes) verhin-
dert, die den Ausgangspunkt ſo vieler gefaͤhrlicher
Krankheiten bilden.
Beſchraͤnkten ſich die Wohlthaten der Bewegung
nur allein auf dieſe Punkte, ſo waͤren ſie ſchon hoͤchſt
bedeutend, denn wie viel lebensverlaͤngernde und
verſchoͤnernde Kraft liegt nicht in Staͤrkung der Lun-
gen und des Herzens, in regulirter Hautthaͤtigkeit,
in reinen Saͤften, in gleichmaͤßiger Blutvertheilung!
Doch dieſes iſt bei weitem nicht alles! Ein jedes
Organ kann nur bei einer ſeinen Kraͤften angemeſſe-
nen Thaͤtigkeit gedeihen; bleibt es unthaͤtig, ſo ſchla-
fen allmaͤlig ſeine Kraͤfte ein. Das Muskelſyſtem,
welches einen ſo bedeutenden Theil unſeres Koͤrpers
ausmacht, welches nicht nur zu allen willkürlichen
Bewegungen dient, ſondern auch den unwillkuͤrlichen
Bewegungen des Magens, des Darmkanals, der
Respirationsorgane, der Circulation ꝛc. vorſteht,
muß durch den Mangel ſeines natuͤrlichen Reizes er-
ſchlaffen und die Atonie aller uͤbrigen Syſteme nach
ſich ziehen. So wie ein an die Dunkelheit eines
Kerkers gewoͤhntes Auge das helle Licht nicht ver-
traͤgt, ſo ermuͤdet den Stubenſitzer die geringſte Be-
wegung. Seine Muskelkraft nimmt ab; ſeine Res-
piration iſt ſchwach und ſeine Verdauung leidet,
theils durch die Stockungen des Blutes im Unter-
leibe, welche die freie Thaͤtigkeit der Organe hindern
und bei dem Stubenſitzer niemals ausbleiben, theils
auch durch die ſchwaͤcheren und langſameren Bewe-
gungen des Magens und der Gedaͤrme, die natuͤrlich
eine langſamere und ſchwierigere Digestion zur Folge
haben. Um dieſen Uebeln zu entgehen, ſucht man
nur zu oft, ſtatt zum allereinfachſten, nothwendigſten
und allein hülfreichen Mittel zu greifen, die Ver-
dauungsorgane durch reizende Koſt und Getraͤnke an-
zuſpornen und vermehrt dadurch die Krankheit, bis
zuletzt der ungluͤckliche Verkenner der Geſetze der Na-
tur in die tiefſten Tiefen der Hypochondrie und des
Lebensuͤberdruſſes verſinkt.
Der groͤßere Verbrauch von Saͤften, der waͤh-
rend der Bewegung ſtatt findet, hat einen verſtaͤrk-
ten Appetit zur Folge. Die Stoffe, die beim Ath-
men verfliegen, ſo wie diejenigen, welche die ver-
mehrte Hautthaͤtigkeit ausſcheidet, müſſen natürlich
durch eine neue Zufuhr von Nahrung erſetzt werden.
Der Stubenſitzer, der ſeltener und weniger tief
athmet, deſſen Haut verhaͤltnißmäßig unthaͤtig iſt,
der alſo weniger conſumirt, fuͤhlt das Beduͤrfniß
nach Speiſe und Trank in einem geringeren Grade,
und ein jedes Uebermaaß muß ihm deſto ſchaͤdlicher
werden, je geringer das reelle Beduͤrfniß bei ihm iſt.
Bewegung macht nicht nur beſſeren Appetit, ſondern
auch beſſere und ſchnellere Verdauung, denn die Mus-
keln, welche die Hoͤhle der Unterleibseingeweide ein-
ſchließen, werden dadurch angeregt, und beſchleuni-
gen durch ihren abwechſelnden Druck, die Thaͤtigkeit
des ganzen Darmkanals.
Alle Nervenfaſern, die der Empfindung, der
Bewegung und der Ernaͤhrung vorſtehen, haben ihre
letzten Endigungen oder Wurzeln im Gehirn, dem
allgemeinen Senſorium, welches den Zuſtand aller
uͤbrigen Organe abſpiegelt. Leidet ein beſonderer
Theil, ſo gibt er ſeinen Zuſtand durch ein Gefühl
von Schwere, Druck oder Schmerz zu erkennen; lei-
det der ganze Organismus, ſo haben wir das Ge-
fuͤhl eines allgemeinen Unbehagens, welches natuͤr-
lich auch auf die geiſtigen Funktionen einen bedeu-
tenden Einfluß ausübt, und dem Gemuͤth ſo wie dem
Verſtande eine krankhafte Faͤrbung giebt. So ab-
haͤngig iſt der Menſch als denkendes Weſen von
koͤrperlichen Eindruͤcken, ſo unrecht handelt er, wenn
er in geiſtigem Uebermuth ſeine koͤrperliche Huͤlle
verſchmaͤht; denn ihr Verfall muß nothwendig auch
den hochſtrebendſten Geiſt mit in den Staub ziehen.
Durch den wohlthaͤtigen Einfluß einer zweckmaͤ-
ßigen Bewegung auf die Verdauung, wird das mit
einem reicheren Blute genaͤhrte Gehirn zu einer ver-
ſtaͤrkten Thaͤtigkeit befaͤhigt; die Nervenkraft wird
erhoͤht, und das harmoniſche Jneinanderwirken aller
Organe erzeugt das Gefuͤhl der Geſundheit und der
vermehrten Kraft, eines der beſeligendſten, die wir
kennen. Das Gemuͤth wird erheitert, der Verſtand
ſieht die Gegenſtaͤnde unter den Farben der Wahr-
heit; die Seele wird geſund wie der Koͤrper und
wirkt wiederum auf deſſen Geſundheit zurück. O wie
viele Philoſophen wuͤrden ganz anders philoſophiren,
wenn ſie mehr durch die Felder und uͤber die Berge
ſtreiften; wenn ſie ihr in der engen Studierſtube
kurzſichtig gewordenes Auge in der freien Natur an
einen weiteren und ſchoͤneren Horizont gewoͤhnten!
Ein anderer Hauptvortheil, den der fleißige
Spaziergaͤnger gewinnt, iſt, daß er Erkaͤltungen
weit weniger zu fuͤrchten hat.
Durch den Mangel an Bewegung und eine
zu warme Bekleidung wird die Haut immer ver-
zaͤrtelter, immer weichlicher, und um ſo mehr
den Folgen der Temperaturwechſel, die auch bei
der groͤßten Sorgfalt nicht zu vermeiden ſind, bloß-
geſtellt.
Das ſicherſte Mittel, ſich zu erkälten, iſt in be-
ſtaͤndiger Furcht vor Erkaͤltung zu leben — und
auch hier heißt es, wie in ſo manchen andern Stuͤ-
cken, daß das Gluͤck dem Muthigen wohl will.
Jch bemerke nur, daß Tollkuͤhnheit und Muth
verſchieden ſind — dieſer eine Tugend — jene ein
Fehler — und daß alles ſeine Grenzen hat.
Die Vortheile der fleißigen Bewegung im Freien,
und die ſchlimmen Folgen ihrer Unterlaſſung, ſind
daher ſo groß, ſo einleuchtend, ſo ſehr durch die
taͤgliche Erfahrung außer allen Zweifel geſetzt, daß
es durchaus unbegreiflich iſt, wie ſonſt verſtaͤndige
Leute ihren Mangel an Bewegung mit mangelnder
Zeit entſchuldigen können. Jch glaube vielmehr, daß
ſogar der beſchaͤftigſte Mann der ganzen Monarchie,
wenn er ein paar Stunden taͤglich der koͤrperlichen
Bewegung widmete, ſchon am Ende des erſten Jah-
res ſeiner verbeſſerten Lebensweiſe einen bedeutenden
Poſten an erſparter Zeit in das Hauptbuch ſeines
Lebens einſchreiben koͤnnte.
Seine verbeſſerte Geſundheit wuͤrde ſeinen Kopf
in den Stand ſetzen, in kürzerer Zeit mehr zu ver-
richten, und die vielen Tage von Unwohlſein und
Unfaͤhigkeit zu geiſtigen Arbeiten, welche unterlaſſene
Bewegung verurſacht, wuͤrden gaͤnzlich wegfallen.
Dieſe nehmen aber weit mehr Zeit weg, als man
aus falſcher Oeconomie an einem jeden einzelnen
Tage durch Stillſitzen zu erſparen glaubt.
Zu jeder Zeit wichtig iſt Bewegung im Freien,
zu keiner wichtiger, als in dem Alter, worin der Grund
des kuͤnftigen Mannes gelegt wird. Die den Mann
ſtaͤrkende Bewegung muß relativ das Kind noch mehr
ſtaͤrken, und ihre Unterlaſſung in dieſem Alter noch
ſchaͤdlichere Folgen nach ſich ziehen.
Um allen phyſiſchen und moraliſchen Uebeln der
Verzaͤrtelung zu entgehen, werden wir daher von
der fruͤheſten Zeit an das Kind an ein thaͤtiges
Leben im Freien gewoͤhnen, wobei wir aber die Ruͤck-
ſichten, welche ſeine Schwaͤche fordert, niemals außer
Acht laſſen: ſtets des Grundſatzes eingedenk, daß
auch das Nuͤtzliche, wenn es das Maaß überſchreitet,
zu ſeinem Gegentheile wird. Jn allen Dingen fuͤhrt
gewiß eine langſam fortſchreitende Uebung am wei-
teſten denn, wenn man auch eine Zeit lang ſchein-
bar nicht ſo ſchnell vorwaͤrts koͤmmt, ſo hat man
wenigſtens den Vortheil, daß man nie gezwungen wird,
einen Schritt ruͤckwaͤrts zu thun, und daß ein jeder
Tag zur Entwickelung und Befeſtigung der Faͤhig-
keiten das Seinige beitraͤgt.
Die Schwaͤche des neugebornen Kindes iſt be-
kanntlich ſo groß, daß es weder das Koͤpfchen noch
den Rumpf bewegen und nur die Arme und Beine
etwas hin und her werfen kann. Die Wirbel und
viele andere Knochen beſtehen noch aus getrennten
Stuͤcken, die durch Knorpel verbunden ſind und erſt
ſpaͤter, durch die allmaͤlige Verwandlung dieſes letz-
teren in Knochenmaſſe, zu einem einzigen feſten Stücke
ſich vereinigen.
Die noch ſchlafende Kraft des Muskelſyſtems, ſo
wie die große Nachgiebigkeit der feſten Stuͤtzpunkte
desſelben erfordern daher die groͤßte Vorſicht bei der
Behandlung des Saͤuglings. Ein jeder voreiliger
Verſuch, denſelben zum Aufrechtſitzen zu gewoͤhnen,
muß die Gefahr einer Verbiegung des Ruͤckgrates
mit ſich fuͤhren, da dieſes in den erſten Monaten
durchaus nicht im Stande iſt, das Gewicht des
Kopfes und des Oberkoͤrpers zu tragen, und wegen
der Schwaͤche und Verſchiebbarkeit ſeiner Ligamente
ſehr leicht aus der Lage geruͤckt wird.
Jn der erſten Zeit ſchlaͤft der Saͤugling faſt un-
unterbrochen. Das An- und Ausziehen Morgens und
Abends, das Waſchen, das oͤftere Herumlegen ſind
fuͤr dieſe Periode eine hinreichende Bewegung. Aber
ſchon von der dritten oder vierten Woche an, benutze
man jeden ſchoͤnen Tag, zur Zeit wo die Sonne
am hoͤchſten ſteht, zum Hinaustragen in’s Freie.
Anfangs darf die Promenade nur eine ganz kurze
Zeit dauern; die Wärterin ſoll langſam gehen und
nicht ſtillſtehen, vorzuͤglich nicht im Zuge.
Allmaͤlig wird die Dauer dieſer Excurſionen ver-
laͤngert; ſie werden bei guͤnſtiger Witterung mehr-
mals taͤglich wiederholt, noch ſpaͤter wird auch an
unfreundlichen kaͤlteren Tagen das warmgekleidete
Kind hinausgetragen. So kann man, vorſichtig fort-
ſchreitend, ſchon ſehr fruͤh das heilſame Werk der Ab-
haͤrtung beginnen, und die kraͤftigere und ſchnellere
Entwickelung des Kindes bedeutend befoͤrdern.
Beim Herumtragen des Kindes iſt große Behut-
ſamkeit erforderlich. Wenn man es in eine ſitzende
Stellung bringt, und ſieht, daß es den Kopf nach
der einen oder der andern Seite neigt, oder den Koͤr-
per nach vorn haͤngen laͤßt, ſo iſt es noch zu fruͤh,
es in ſitzender Stellung herumzutragen. Jſt aber
der gehoͤrige Zeitpunkt eingetreten, der ſich durch das
Streben des Kindes ſich aufzurichten, und das Lie-
gen mit dem Sitzen zu vertauſchen, zu erkennen giebt,
ſo muß man beim Herumtragen die Vorſicht gebrau-
chen, das Kind bald auf den einen, bald auf den
andern Arm zu nehmen. Die Verſaͤumung dieſer
Hartwig’s Erziehungsl. 3
Regel führt nur zu leicht zu Verkruͤmmungen, denn
wenn die eine Seite des Koͤrpers immer auf demſel-
ben Arm ruht, ſo wird ſie beſtaͤndig gehoben, waͤh-
rend die andere bei fehlender Unterſtuͤtzung ſich ſenkt;
die ſchlaffen Baͤnder und Muskeln geben nach, und
ſo bilden ſich bei haͤufiger Wiederholung derſelben
Lage Verkruͤmmungen, die man mit einiger Aufmerk-
ſamkeit und Kenntniß der Gefahr vermieden haͤtte.
Traͤgt man aber das Kind abwechſelnd, bald auf
dieſem, bald auf jenem Arm, ſo werden die Ruͤcken-
muskeln beider Koͤrperhaͤlften gleichmaͤßiger angeſtrengt
und entwickelt.
Anfangs laſſe man das Kind nicht zu lange im
Arm aufrechtſitzen, denn es wird leicht muͤde, die
Muskeln geben nach, und der Koͤrper nimmt eine
ſchiefe Stellung an.
Gegen das langſame Wiegen laſſen ſich keine
gegruͤndete Einwendungen machen wohl aber muß
das ſchnelle Wiegen, vorzuͤglich wenn die Wiege auf
beiden Seiten anſtoͤßt, den Kindern auf mehrfache
Weiſe ſchaͤdlich werden. Es entſteht dadurch ein
ziemlich ſtarker Luftzug, der vorzuͤglich bei Krank-
heiten der Luftwege gefaͤhrlich werden kann. Durch
die ſchnelle Bewegung des Koͤrpers und alſo auch
der Augen von einer Seite zur andern, entſteht Ver-
wirrung der Gegenſtaͤnde, Schwindel und Uebelſein.
Das heftige Anſtoßen giebt dem ganzen Nerven-
ſyſtem eine Erſchuͤtterung, die bei Berückſichtigung der
hohen Reizbarkeit desſelben, ſehr beträchtlich ſein muß.
Bei haͤufiger Wiederholung wird alſo das ſchnelle
Wiegen alle ſchlimmen Folgen der Ermuͤdung und
Erſchoͤpfung der Senſibilitaͤt nach ſich ziehen.
Die beſte Art, das Kind fruͤh gehen zu lernen,
iſt wohl die folgende: Man legt das leicht bekleidete
Kind auf die Erde, ſo daß es auf einem Teppich auf
dem Ruͤcken liegt. »Es wird nun bald anfangen
die Arme und Beine zu bewegen, und ſomit die erſte
active Bewegung der Gliedmaßen taͤglich mit Ver-
gnügen üben. Ein weiches Bette taugt dazu nichts,
weil das Kind in die weichen Federn ſinkt, und ſo-
mit ſich nicht frei genug regen und bewegen kann.
Wie angenehm dieſe taͤgliche Leibesuͤbung fuͤr Saͤug-
linge iſt, kann man daraus abnehmen, daß ſie ſogleich
ruhig und vergnuͤgt werden, wenn man ſie vom wei-
chen Lager auf ein hartes und auf den Fußboden
legt, und die Erfahrung lehrt, daß durch dieſes Ver-
fahren die Kinder nicht allein an Kraft zunehmen
und fruͤher gehen lernen, ſondern daß ſie des Nachts
auch ruhiger ſchlafen, denn kein Schlaf iſt erquicken-
der als der, welcher auf maͤßige Koͤrperanſtrengung
folgt. Mit dem neunten, zehnten Monat fangen alle
Kinder, mit denen man taͤglich die genannten Lei-
besuͤbungen anſtellte, ſchon an zu kriechen und bald
3*
darauf zu gehen. Am naturgemaͤßeſten iſt es, daß
Kinder erſt das Kriechen und dann das Gehen ler-
nen. Um Erſteres zu befoͤrdern, fange man an, ſie
in dem Alter von 4 bis 5 Monaten taͤglich einmal
einige Minuten lang auf den Bauch zu legen. Man
wird finden, daß ſie dann nicht allein ihre Glieder
bewegen, ſondern daß ſie ſich auch auf dieſelben ſtuͤtzen,
ihren Leib und Kopf erheben und Verſuche zum Krie-
chen machen. Die Muskeln bekommen auf dieſe
Weiſe einen hoͤhern Grad von Kraft und Feſtigkeit;
das Kind wird bald Verſuche machen, ſich aufzurich-
ten, und, indem es ſich an Tiſchen und Stuͤhlen
feſthaͤlt, gehen zu lernen.«Most, der Menſch in den erſten 7 Lebensjahren.
Jch glaube, daß man auf dieſem Wege die Ge-
fahren vermeiden wird, die aus dem zu fruͤhzeitigen
Gehen entſpringeu koͤnnten. Wenn das Kind ſich
ohne fremde Huͤlfe aufrichtet und dem Naturdrange
folgt, werden gewiß das Knochengeruͤſte und die
Muskeln ſchon ſtark genug ſein, das Gewicht des
Koͤrpers zu tragen.
Bringt man aber Gehkoͤrbe, Laufwagen und der-
gleichen Maſchinen in Anwendung, ehe die ſchwachen
Extremitaͤten der Laſt gewachſen ſind, ſo iſt es kein
Wunder, daß eine ſo unnatuͤrliche Anſtrengung uͤble
Folgen nach ſich zieht. Man muß allerdings die
Kinder ſo früh als moͤglich gehen lehren, aber nicht
durch kuͤnſtliche Mittel und fremde Hülfe, ſondern
durch eine in allen Punkten zweckmaͤßige phyſiſche
Erziehung, welche die Entwickelung ihrer Kraͤfte der
Art befoͤrdert, daß ſie fruͤh zu gehen vermoͤgen.
Muskeln, Knochen und Ligamente bilden ein
zuſammenhaͤngendes Syſtem, und alles was jene ſtaͤrkt,
muß auch ihre feſteren Anhaltspunkte kraͤftigen.
Verkrümmungen kommen daher am haͤufigſten bei
Kindern vor, bei denen die Regeln der Diaͤtetik ver-
nachlaͤſſigt werden, und das Ausweichen der Ruͤcken-
wirbel iſt Folge der dadurch hervorgebrachten Schwaͤche.
Ein paar Schritte ſind fuͤr den Anfaͤnger in der
Kunſt des Gehens ſo viel wie eine Meile fuͤr den
ruͤſtigen Fußgaͤnger.
Muthet man den ſchwachen Beinen zu viel zu,
ſo entſtehen leicht Kruͤmmungen der Schien- und
Wadenbeine oder ein watſchelnder Gang. Fiel das
Kind bei ſeinen erſten Verſuchen, ſo huͤte man ſich,
durch Schreien den erſten Grund zur Furchtſamkeit
bei ihm zu legen. Man faſſe es nicht beim Arm,
um es raſch in die Hoͤhe zu heben, denn nur zu
leicht entſtehen durch dieſes rohe Verfahren Verren-
kungen oder jedenfalls eine Schwaͤchung des Armes,
ſondern man greife ihm unter die Achſeln und faſſe
es leicht und ohne Druck an den Seitentheilen des
Oberkoͤrpers.
Beim Gehen muß man das Kind ebenfalls an
dieſen Theilen halten, denn hier iſt gleichſam ſein
Mittelpunkt, und von hier aus wird ihm das ſo noͤ-
thige Gleichgewicht verliehen. Beim Fuͤhren an einem
oder an beiden Armen, verliert das Kind ſehr leicht
das Gleichgewicht und faͤllt.
Doch bald bedarf das ſchon ſtaͤrkere Kind nicht
mehr des unterſtuͤtzenden Armes und erfreut ſich einer
ſelbſtſtändigen Bewegung. Von nun an muß man es
taͤglich ſo viel wie moͤglich im Freien ſich bewegen
und ſpielen laſſen.
Das Spielen iſt mehr als Staͤrkungsmittel fuͤr
den Koͤrper, es iſt zugleich die beſte Schule fuͤr das
Gemuͤth und fuͤr die Morgendaͤmmerung des Ver-
ſtandes. Hier wird der Grund der reinſten Freund-
ſchaften gelegt, deren Erinnerung fuͤr das ganze
Leben werth und theuer bleibt, und wehe dem, deſſen
kaltes Herz die Geſpielen ſeiner heitern Kinderjahre
vergißt, und ſein Gedaͤchtniß nicht gerne zu den Mit-
genoſſen ſeines Fruͤhlings zuruͤckfuͤhrt.
Wie intereſſant iſt es nicht bei den kleinen Spie-
lenden, den kuͤnftigen Schauſpielern auf der großen
Buͤhne des Lebens, die keimenden Leidenſchaften zu
beobachten; das Beſtreben es den Andern an Kraft
und Gewandtheit bevorzuthun; den uͤbermuͤthigen
Mißbrauch der Macht und die edle Vertheidigung
des Unterdruͤckten; die Empoͤrung des Gemuͤthes
gegen Unrecht, und leider, nicht ſelten, den Neid
uͤber die Vorzüge eines andern; die Eiferſucht; das
Beſtreben durch Liſt und Betrug, die Waffen der
Schwaͤche, Vortheile zu erringen, die auf geradem
Wege nicht zu gewinnen ſind.
Hier laͤßt ſich ſo ſchoͤn der Grundcharakter beo-
bachten, hier kann man ihn ſo recht auf ſeinen ge-
heimſten Fehlern ertappen (denn kindliche Leidenſchaft
entdeckt alles) und Winke fuͤr ſeine moraliſche Beſſe-
rung ſammeln.
Das Spielen iſt das eigentliche Leben des Kin-
des, und die Stunden, die es in der Schule ſitzend
zubringt, erſcheinen ihm nur als eine traurige Un-
terbrechung dieſes Lebens, als eine verlorene Zeit.
Und mit welcher Freude kehrt es nach dieſen lang-
weiligen Pauſen zu ſeinen geliebten Spielen zuruͤck,
wie jubelt und jauchzt es, wenn Magiſter Tinte (aus
Callot-Hoffmanns Erzaͤhlungen wohlbekannt) das
Buch zuſchlaͤgt und das eigentliche Hauptgeſchaͤft des
Tages wieder angeht. Und auch der aͤltere Zuſchauer
jubelt mit, wenn er den heiteren Schwarm den Au-
genblick ſo ſchoͤn genießen ſieht, und denkt dann mit
ſanfter Ruͤhrung an die Zeit zuruͤck, wo auch ihm
der Augenblick alles war. O laßt eure Kinder nur
recht oft und recht lange ſpielen, verkuͤrzt ihnen nicht
ein Glück, das in dieſer Ungetruͤbtheit nie wie-
der kommen kann, und verſaͤumt nicht, von falſchen
Theorieen geblendet, ein Bildungsmittel fuͤr Koͤrper
und Gemuͤth, welches die Natur ſelbſt als das zweck-
maͤßigſte angiebt! »Liebt die Kinder,« ſagt der beredte
Rouſſeau, »beguͤnſtigt ihre Spiele, ihre Freuden,
ihren liebenswuͤrdigeuliebenswuͤrdigen Jnſtinct. Wer von euch wuͤnſcht
ſich nicht zuweilen dieſes Alter zurück, wo das Laͤ-
cheln beſtaͤndig um die Lippen ſpielt, und die Seele
einen ewigen Frieden feiert? Warum wollt ihr den
kleinen Unſchuldigen den Genuß entziehen einer ſo
ſchnell verſchwindenden Zeit, eines ſo werthvollen
Gutes, von dem ſie keinen Mißbrauch machen koͤnnen?
Warum wollt ihr mit Schmerz und Bitterkeit dieſe
ſo eiligen Jahre betruͤben, die fuͤr ſie, eben ſo wenig
als fuͤr euch, je wiederkehren koͤnnen?
Wißt ihr den Augenblick, ihr Vaͤter, wo der
Tod eure Kinder erwartet? Und werdet ihr euch
dereinſt nicht Vorwürfe machen, wenn ihr ihnen die
kurze Zeit raubt, welche die Natur ihnen goͤnnte?
Sobald ſie das ſuͤße Daſein empfinden, erlaubt ihnen
deſſen Genuß, und handelt ſo gegen ſie, daß zu wel-
cher Stunde auch der Himmel ſie zu ſich rufen mag,
ſie nicht ſterben ohne das Leben genoſſen zu haben.«
Das ſo wohlthaͤtige Spielen iſt aber nicht immer
ohne Gefahr. Jſt das Kind davon erhitzt, ſo kann
es ſich leicht durch ſein ungeduldiges Verlangen nach
Abkuͤhlung ſchaden.
Dieſe Gefahr iſt nicht die einzige, welche es
wuͤnſchenswerth macht, daß Kinder ſo viel als moͤg-
lich unter Aufſicht ſpielen. Ueberlaͤßt man ſie ganz
und gar ihrer ungeregelten Lebhaftigkeit, ſo werden
ſie ſich viel leichter beſchaͤdigen als wenn das ruhige
Auge eines erwachſenen Moderators ihnen einige
Schranken auflegt.
Alle Uebungen, welche die Kraft und Gewand-
heit des Koͤrpers vermehren, gehoͤren in den Plan
einer guten phyſiſchen Erziehung. Das Tanzen iſt
fuͤr Knaben eben ſo vortheilhaft als fuͤr Maͤdchen, denn
der Koͤrper gewinnt dadurch eine gute gerade Haltung,
die für die Geſundheit ſo aͤußerſt vortheilhaft iſt.
Wer mit vorgebogenen Schultern und gekruͤmmtem
Ruͤcken geht, hindert das freie Spiel der Respira-
tionsmuskeln und druͤckt die Eingeweide des Unter-
leibes, ſchadet alſo unmittelbar zweien der wichtig-
ſten Funktionen Stühle mit gerade aufſteigenden Rückenlehnen und
ſo ſchmalem Sitze, daß wenn das Kind nicht gerade ſitzt
es herunterfallen muß, ſind zur Verbeſſerung dieſes Fehlers
ſehr zweckdienlich. Eine Kunſt, die den Koͤrper lehrt,
ſich gerade zu halten und ſeinen Bewegungen mehr
Leichtigkeit und Anmuth verleiht, wird gewiß von kei-
nem geringgeſchaͤtzt werden, der den Nutzen eines
gewandten Auftretens zu wuͤrdigen weiß. Mancher,
der ſein Gluͤck in der Welt gemacht hat, verdankt
ſeinem Tanzlehrer vielleicht mehr als er gerne einge-
ſtehen möchte. Beim erſten Erſcheinen einen guten
Eindruck zu machen, iſt gewiß eines der unſchuldig-
ſten Mittel, die es giebt, die launiſche Fortuna guͤn-
ſtig zu ſtimmen. Fuͤr junge Maͤdchen insbeſondere
iſt der Tanzunterricht eine wahre Wohlthat. Die
armen Kinder muͤſſen ſo viel entweder am Arbeits-
tiſche oder am Claviere ſitzen, daß eine Uebung, wo-
bei geſunde koͤrperliche Bewegung durch Takt und
Muſik belebt, ſtattfindet, des Contraſtes wegen, dop-
pelt nuͤtzlich erſcheint. Das Gift des zu vielen
Sitzens wird dadurch etwas neutraliſirt. Leider
wird ſpaͤter zu oft auf Baͤllen verdorben, was hier
gut gemacht wird, denn es iſt nicht zu laͤugnen, daß
die Tanzwuth manchem jungen Leben ein fruͤhzeitiges
Ende bereitet.
Der Unterricht in der Fechtkunſt iſt in mehr als
einer Beziehung gut: ſie ſtaͤrkt vorzüglich den Ober-
koͤrper und den Arm, und auch das Auge wird da-
durch geuͤbt. Beſonders bei anfangender Kurzſichtig-
keit moͤchten Fechtübungen bei gleichzeitigem Unterlaſſen
alles Leſens und Schreibens von großem Nutzen ſein.
Das Schwimmen iſt eine ganz vorzuͤgliche koͤr-
perliche Uebung; nicht nur, daß die Muskeln der
Bruſt und der oberen Extremitaͤten, die ohnehin nicht
ſo viel Uebung als die der unteren haben, dadurch
geſtaͤrkt werden; auch die Haut wird durch die Be-
rührung des feuchten Elementes geſtaͤrkt, gereinigt
und gegen manche Erkaͤltungen geſchützt. Das Ru-
dern dient ebenfalls zur Staͤrkung des Oberkoͤrpers
und ſollte, wo es angeht, nicht vernachlaͤſſigt werden.
Schoͤn iſt es, wenn man die Kinder viel im
Garten beſchaͤftigt — je nach ihren Kraͤften — mit
dem Ausziehen von Unkraut, oder mit fleißigem
Pflanzen und Graben. Beſſer noch, wenn man dem
Kinde einen kleinen Theil des Gartens — imperium
in imperio — zuweist, worin es nach Belieben ſchalten
und walten kann, denn die Luſt an Pflanzen und
Blumen ſollte ſo früh als moͤglich gepflegt werden.
Es iſt ein gutes Zeichen, daß die Turnplaͤtze wieder
Leben zeigen; nur muß man nicht glauben, durch
heftigere in einen kurzen Zeitraum zuſammengedraͤngte
Anſtrengungen, den Mangel einer haͤufigeren, zwang-
loſen und alſo auch natuͤrlicheren koͤrperlichen Be-
wegung erſetzen zu koͤnnen. Die Uebel des zu lan-
gen Sitzens werden keineswegs durch die Turnuͤbun-
gen neutraliſirt. Auch werden dieſe nicht ſelten die
Kraͤfte der Schuͤler überſteigen, da hier eine gefaͤhr-
liche Emulation ſtattfindet; — manche moͤgen auch
wohl zu complizirt und unnoͤthig ſein.
Nichts deſto weniger iſt es erfreulich, daß ein
groͤßerer Werth auf die Gymnaſtik gelegt wird. Man
faͤngt allmaͤlig an einzuſehen, daß um ſtarke Seelen
zu bilden, es noͤthig iſt, vorerſt für robuſte Koͤrper
zu ſorgen.
Nach dieſem Grundſatze wurden die Hellenen er-
zogen: ſo entſtanden jene herrlichen Koͤrperformen,
die dem Bildhauer als Modelle zu ſeinen Jdealen
dienten. Daß die Geiſteskraͤfte der Alten, neben die-
ſer ſorgfaͤltigen koͤrperlichen Erziehung nicht litten,
beweiſen hinlaͤnglich ihre Sophocles, ihre Platos, ihre
Epaminondas, ihre Dichter, ihre Philoſophen und
Staatsmaͤnner, die alle auf dieſe Weiſe erzogen
wurden, und in jeder Hinſicht den Vergleich mit den
geiſtigen Groͤßen der Gegenwart vertragen koͤnnen.
Drittes Kapitel.
Die Functionen und Structur der Haut. — Folgen der Unreinlich-
keit. — Wichtigkeit des kalten Badens und Waſchens. — Nach-
theile der Verzärtelung der Haut. — Allmälige Abhärtung des
Kindes gegen Temperaturveränderungen. — Federbetten ſchädlich.
Es waͤre ſehr zu wuͤnſchen, daß wir mit dem roͤmi-
ſchen Recht, auch die roͤmiſche Sorge fuͤr Hautcultur
übernommen haͤtten; die Pandecten und Jnſtitutionen
moͤgen ihren Nutzen haben: aber fleißiges Baden und
Waſchen hat gewiß einen viel allgemeineren Werth:
durch jene wird Mancher um ſein Vermoͤgen und
ſeine Ruhe gebracht, durch dieſes aber befeſtigen wir
unſere Geſundheit, ein Gut, das gewiß, mit der
einzigen Ausnahme eines guten Gewiſſens allen andern
Guͤtern vorangeht.
Wo die Haut ſchwach und verzaͤrtelt iſt, kann
es keine vollkommene Geſundheit geben: dies iſt eine
Wahrheit die ein fluͤchtiger Blick-auf ihre wichtigen
Functionen hinreichend beweiſen wird.
Die Haut iſt hauptſaͤchliches Organ des Taſt-
und Gefuͤhlſinnes, und wird als ſolches von einer
ſehr großen Anzahl empfindlicher Nervenfaſern durch-
webt; ſie iſt zugleich eines der wichtigſten Abſonde-
rungsorgane, und ſcheidet im geſunden Zuſtande eine
große Quantitaͤt zerſetzter Stoffe aus. Die Wenigſten
machen ſich einen richtigen Begriff von der Wich-
tigkeit dieſer Ausſcheidung, da ſie gewoͤhnlich unmerklich
vor ſich geht: moͤgen die intereſſanten Verſuche eines
Seguin ſie eines beſſeren belehren.
Um die Wirkung der Haut- und Lungenaus-
dünſtung abgeſondert kennen zu lernen, bediente ſich
dieſer beruͤhmte und eccentriſche Naturforſcher eines
mit elaſtiſchem Harz überzogenen Taffetkleides, das
keine Luft durchließ, oben offen war, und fuͤr den
Mund eine mit Kupfer umgebene Muͤndung hatte.
Dieſes Kleid wurde, nachdem es von Seguin ange-
zogen worden, oben durch ein ſtarkes Band verſchloſſen,
dann die Kupfermuͤndung an den Mund geklebt und befe-
ſtigt. So ſetzte ſich Seguin auf die Wage, wurde gewogen,
blieb mehrere Stunden ruhig und wurde wieder gewogen.
Der Unterſchied zwiſchen beiden Waͤgungen gab
den in dieſer Zeit durch die Lungenausdünſtung erlit-
tenen Verluſt. Hierauf verließ er die Huͤlle, ließ ſich
ſogleich wieder wiegen, und nach einer beſtimmten
Zeit, von Neuem wiegen. Der Unterſchied der letzten
Waͤgungen gab den durch Lungenausduͤnſtung und
Hautausduͤnſtung zugleich erlittenen Verluſt. Die
Subtraction der Lungenausduͤnſtung von der geſammten
Ausduͤnſtung gab das Quantum der Hautausdünſtung.
Dieſe lange Zeit mit großer Genauigkeit fortgeſetz-
ten Verſuche ergaben unter andern folgende Reſultate:
1. Unmittelbar nach dem Eſſen wird am wenigſten
ausgeduͤnſtet. Aus dieſer Thatſache koͤnnen wir manche
wichtige Folgerungen ziehen. Sie beweist, daß als-
dann die Saͤfte ſich in den Digeſtionsorganen concen-
triren, und daß eine um dieſe Zeit vorgenommene
koͤrperliche und geiſtige Anſtrengung ſchaͤdlich ſein
muß, indem ſie das Blut vom Magen ableitet, wo
ſeine Gegenwart zur Abſonderung eines reichlichen
Magenſaftes ſo noͤthig iſt. Der Menſch muß alſo
unmittelbar nach dem Eſſen ruhen.
2. Der durch die Ausduͤnſtung verurſachte Ge-
wichtsverluſt iſt waͤhrend der Verdauung am groͤß-
ten. Die Concentration des Blutes in den inneren
Organen laͤßt nach einiger Zeit nach, ſobald der
Magen ſich an den Reiz der Nahrungsmittel gewoͤhnt;
es tritt eine Reaction ein: das Herz treibt das Blut
mit groͤßerer Kraft zur Haut, welche warm und duf-
tend wird. Dieſe Erſcheinungen bilden das ſoge-
nannte Verdauungsfieber.
3. Das Mittel des Gewichtsverluſtes durch Aus-
duͤnſtung iſt 18 Gran der Minute, wovon 11 auf
die Haut, 7 auf die Lungenausduͤnſtung kommen,
folglich verliert ein Erwachſener durchſchnittlich mehr
als 2 Pfund taͤglich durch die Haut.
Bei groͤßerer Waͤrme der Temperatur und ſtaͤr-
kerer Bewegung erſcheint das Ausgeſchiedene als
Schweiß. Die Quellen des Schweißes und folglich
auch der unmerklichen Transpiration ſind die von
Purkinje entdeckten Schweißkanaͤlchen. Die kleinen
Poren auf den erhabenen Linien des Handtellers
und der Sohle ſind bekannt. Purkinje fand, daß
dieſe Oeffnungen in der Haut zu fadenfoͤrmigen Or-
ganen fuͤhren, welche ſpiralfoͤrmig verlaufen und
zuletzt in einen nicht mehr gewundenen, blindgeſchloſ-
ſenen laͤnglichen Balg ſich endigen. Dieſe Kanaͤl-
chen muß man ſich microſcopiſch klein denken. Sie
ſind in ſehr großer Anzahl uͤber die ganze Haut ver-
breitet, an einigen Stellen zahlreicher als an andern.
Außer dieſen Schweißkanaͤlchen ſind unzaͤhlige Saͤckchen
mit engerem Halſe uͤber die ganze Haut verbreitet,
welche eine die Haut einoͤlende Subſtanz, die Haut-
ſchmiere ausſondern. Aus dem Boden der meiſten
dieſer Saͤckchen entſpringen die Haare.
Die Haut iſt aber nicht bloß ein ausſcheidendes,
ſondern auch ein aufſaugendes Organ. Es iſt be-
kannt, daß manche mediciniſche Stoffe, wenn ſie in
die Haut eingerieben werden, ihre vollſtaͤndige Wir-
kung ausuͤben. Auch iſt die Reſorption von Gas-
arten durch die Haut, durch die Verſuche vieler Phy-
ſiologen ganz außer Zweifel geſetzt.
Nun wird es uns ein Leichtes ſein, die ſchlim-
men Folgen der vernachlaͤſſigten Hautcultur zu uͤber-
ſehen. Wird für die Reinlichkeit der Haut nicht
gehoͤrig geſorgt, ſo muß ſich die oͤlige Abſonderung
anhaͤufen, und mit den abgelagerten Producten der
Ausduͤnſtung eine große Anzahl Schweißporen ver-
ſtopfen, ſodaß zuletzt ein bedeutender Theil der Haut
unwegſam wird. Die zahlreichen Nerven dieſes Or-
gans empfinden gar bald den normwidrigen Zuſtand,
und theilen ihre Verſtimmung dem Gehirne mit. Es
entſteht eine allgemeine Unbehaglichkeit, eine Stoͤ-
rung des Gemeingefuͤhls. Die geſunde Miſchung
der Saͤfte leidet durch die Unthaͤtigkeit eines ſo wich-
tigen ausſcheidenden Organes, und es ſinkt zuletzt
der ganze Nutritionsproceß.
Nun denke man ſich noch, daß bei großer Un-
reinlichkeit, die Haut immerfort von einer mit thie-
riſchen Effluvien geſaͤttigten Atmosphaͤre umgeben iſt,
und dieſe zerſetzten Stoffe beſtaͤndig einſaugt. Die
Miſchung der Saͤfte leidet alſo nicht bloß durch un-
vollkommene Ausſcheidung, ſondern auch durch die
Aufſaugung hoͤchſt ungeſunder Materien.
Wir duͤrfen uns daher gar nicht wundern, daß
Unreinlichkeit der Haut ſo viele chroniſche Krank-
heiten veranlaßt, und muͤſſen das haͤufigere Baden
und Waſchen als einen erfreulichen Fortſchritt be-
gruͤßen. So weit wie die Alten haben wir es freilich
Hartwig’s Erziehungsl. 4
noch, nicht gebracht. Dieſe wußten die Wichtig-
keit der Hautcultur beſſer zu wuͤrdigen. Jn allen
ihren Staͤdten waren praͤchtige Palaͤſte dieſem wohl-
thaͤtigen Dienſte geweiht. Noch jetzt erblickt der
Fremde mit Staunen die gigantiſchen Ueberreſte der
Thermen eines Caracalla und eines Diocletian, die
zu den Wundern der ewigen Stadt gehoͤren; und
nichts, außer den Aquaͤducten und Abzugskanaͤlen
(die ebenfalls der Geſundheit dienten) giebt ihm einen
hoͤhern Begriff von der Civiliſation und Groͤße der
Roͤmer, als jene maͤchtigen Ruinen.
Haͤlt man die Haut zu warm, ſo wird ihre
Empfindlichkeit auf eine gefaͤhrliche Weiſe geſteigert.
Man fuͤhlt zuletzt den geringſten Temperatur-
wechſel und zittert vor jedem Hauche. Jmmer ſorg-
faͤltiger huͤllt man ſich in Flanell und Ueberroͤcke ein,
und meidet mehr als je die Bewegung in der offe-
nen freien Luft.
Durch ein ſo falſches Verfahren wird die Haut
immer empfindlicher und erkaͤltet ſich nunmehr bei
der geringſten Veranlaſſung, die ein geſundes Organ
unmoͤglich treffen koͤnnte.
So wird Schwaͤche der Haut zu einer reichen
Quelle von lebenverkürzenden Uebeln. Wollte man
die ſchwerſten Krankheiten von Stufe zu Stufe bis
in ihre erſten Anfaͤnge verfolgen, man wuͤrde oft
uͤber die anſcheinende Geringfuͤgigkeit dieſer letzteren
erſtaunen. Die Meiſten ſterben langſam an den Fol-
gen von Diaͤtfehlern, die ſie fuͤr unwichtig halten,
oder nicht einmal kennen.
Alle Theile unſeres zuſammengeſetzten Organis-
mus ſind ſo innig verbunden, daß ein Angriff auf
ein Organ, wie durch eine electriſche Kette ſich allen
andern mittheilt. Vernachlaͤſſigt man nur einen
einzigen Punkt in der Hygienik, ſo kann man nicht
wiſſen, wie weit die nachtheiligen Folgen ſich noch
erſtrecken werden. Welch eine Mahnung fuͤr Eltern,
mit der groͤßten Sorgfalt fuͤr die phyſiſche Erziehung
ihrer Kinder zu ſorgen, und dabei genau den Weg
zu verfolgen, den Erfahrung und der geſunde Men-
ſchenverſtand als den richtigen angeben!
Eben ſo ſchaͤdlich wie allzu große Waͤrme, wirkt
oft eine nicht gehörige Erwaͤrmung der Haut. Durch
anhaltende Abkuͤhlung in feuchtkalter Luft entſteht
zuletzt eine wahre Lebloſigkeit derſelben, wodurch die
unmerkliche Ausduͤnſtung ebenfalls unterdrückt wird,
und dieſelben ſchlimmen Folgen durch ſchlechte Mi-
ſchung der Säfte und Stoͤrung des Gleichgewichtes
im Nervenſyſtem entſtehen.
Wir kennen nun die Einflüſſe, die eine ſchaͤd-
liche Einwirkung auf die Haut ausuͤben, und wer-
den ſie um ſo leichter durch ein zweckmaͤßiges Ver-
fahren zu entfernen wiſſen.
4*
Durch Waſchungen und Baͤder, die allmaͤlig
immer kaͤlter gemacht werden, erzielen wir beim
Kinde den doppelten Nutzen der Reinlichkeit und der
Hautſtaͤrkung. Bei den Spartanern war es Grund-
ſatz die Neugeborenen in den Eurotas zu tauchen,
und auch einige neuere Aerzte halten die fruͤhe An-
wendung dieſes Abhaͤrtungsmittels für heilſam.
Die Meiſten, und ich glaube mit Recht, rathen
davon ab. Der Reiz des kalten Waſſers ſcheint mir
fuͤr den Neugeborenen, der Monate lang an eine
gleichfoͤrmige Temperatur von 30 bis 31º R. ge-
woͤhnt war, viel zu maͤchtig. Ein allmaͤliges und
vorſichtiges Fortſchreiten von lauwarmen Baͤdern zu
kalten Waſchungen entſpricht weit mehr dem Gange
der allen raſchen Uebergaͤngen abgeneigten Natur,
und fuͤhrt ohne die geringſte Gefahr zum ſelbigen Ziel.
Anfangs werde das Kind daher lauwarm geba-
det in einem Waſſer, deſſen Temperatur der Blut-
waͤrme ohngefaͤhr gleichkoͤmmt. Man betrachte dieſe
Baͤder nur als Reinigungsmittel und laſſe das Kind
nie laͤnger darin, als noͤthig iſt, um den Koͤrper ge-
hoͤrig abzuwaſchen, denn lauwarmes Baden ſchwaͤcht
den Organismus eben ſo ſehr wie kaltes ihm zur
Staͤrkung dient, und darf daher in dieſem Falle
durchaus nicht zu lange fortgeſetzt werden.
Schon nach den erſten Tagen gehe man vorſich-
tig zu immer kaͤlteren Waſchungen uͤber, ſo daß nach
4 oder 6 Wochen friſches aus der Quelle oder aus
dem Brunnen geſchoͤpftes Waſſer dazu verwendet
wird. Das Kind verdauet und athmet ſchneller wie
der Erwachſene, folglich werden auch ſeine Abſon-
derungen verhaͤltnißmaͤßig bedeutender ſein. Unrei-
nigkeiten ſammeln ſich leichter auf ſeiner ſtark aus-
duͤnſtenden Haut. Der eigenthuͤmliche Geruch kleiner
Kinder, ſelbſt bei denen, die ſehr reinlich gehalten
werden, beweist hinlaͤnglich die groͤßere Thaͤtigkeit
ihrer Transpiration. Das Kind muß daher im er-
ſten Lebensjahr zweimal taͤglich gewaſchen werden,
ſpaͤterhin reicht man aus mit einem einzigen Bade.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß man die kalten Wa-
ſchungen nicht zu fruͤh nach dem Eſſen vornehmen
darf, auch nicht wenn das Kind von koͤrperlicher Be-
wegung erhitzt iſt. Das Waſchen muß ſchnell ge-
ſchehen und hinterdrein der Koͤrper ohne Verzug
abgetrocknet und gerieben werden. Bei kaͤlterem
Wetter waſche man die Kinder in einem maͤßig
gewaͤrmten Zimmer (15º R.) wobei das Waſſer ſeine
voͤllige Kaͤlte behalten mag — es wird nur um ſo
mehr die Haut ſtaͤrken und erfriſchen. Sobald das
Alter der Kleinen es erlaubt, laſſe man ſie in der
guten Jahreszeit fleißig im Fluſſe baden und ſo fruͤh
als moͤglich das Schwimmen lernen — eine der ge-
ſundeſten Bewegungen, die außerdem noch den gro-
ßen Vortheil bietet, daß man dadurch in den Fall
kommen kann, ſein eigenes oder eines Andern Leben
zu retten. Noch beſſer, wenn man die Mittel beſitzt,
ſeinen Kindern von Zeit zu Zeit die Wohlthat des
Seebades zu goͤnnen. Es iſt dieſes die wahre Hoch-
ſchule fuͤr Staͤrkung der Lungen und der Haut; eine
Wunderquelle von Lebensfriſche und Kraft. Wer
ſich an gluͤcklichen Kindern erfreut, der mache einen
Sommerbeſuch in Oſtende; dort wird er die wahrhaft
magiſchen Reſultate der vereinten Wirkung der Baͤder,
des Spielens am Strande und der erquickenden See-
luft, an ſo vielen kleinen Engeln bewundern koͤnnen.
Die wohlthaͤtigen Einwirkungen des kalten Wa-
ſchens ausführlich zu beſchreiben, wuͤrde mich zu weit
fuͤhren. Es genuͤge zu bemerken, daß nachdem der
erſte Eindruck der Kaͤlte voruͤbergegangen iſt, das
Blut in groͤßerer Menge zur Haut ſtroͤmt und dieſe
dadurch beſſer genaͤhrt und ſtaͤrker wird, folglich auch
ihre Funktionen beſſer erfuͤllt. Keine Unreinlichkeit
verſtopft ihre Poren und beſchraͤnkt ihre Thaͤtigkeit,
gleichmaͤßig auf ihrer ganzen Oberflaͤche dunſtet ſie
Zerſetzungsſtoffe aus. Das Blut vertheilt ſich gleich-
maͤßig in den inneren und aͤußeren Theilen, keine
verderblichen Stockungen, keine Congestionen, welche
den Menſchen entweder zum Verdauen oder zum
Denken unfaͤhig machen. Welch ein Gewinn fuͤr die
Geſundheit, und wie wird dadurch ſo vielen Krank-
heiten der Eingang verwehrt!
Die Waͤſche muß bei Kindern ſo oft als moͤg-
lich gewechſelt werden; iſt ſie unrein, ſo dunſtet ſie
zerſetzte animaliſche Stoffe aus und bildet auf der
ganzen Hautoberflaͤche eine hoͤchſt ungeſunde Atmos-
phaͤre. Die thaͤtige Aufſaugung der Haut fuͤhrt aber,
wie ich oben ſchon bemerkt habe, dieſe ſchaͤdlichen
Materien wiederum ins Blut. Es iſt daher von ſehr
großer Wichtigkeit, daß die Haut ſtets von einer
reinen Luft umfloſſen werde; zu dichte und warme
Kleidung iſt aus dieſem Grunde ſchon verwerflich.
»Reinlichkeit iſt das halbe Leben fuͤr Kinder,«
ſagt Hufeland, »je reinlicher ſie gehalten werden,
deſto beſſer gedeihen und bluͤhen ſie. Durch bloße
Reinlichkeit bei ſehr maͤßiger Nahrung koͤnnen ſie in
kurzer Zeit ſtark, friſch und munter gemacht werden,
da ſie hingegen ohne Reinlichkeit bei der reichlichſten
Nahrung abmagern und verblaſſen. Dieß iſt die un-
erkannte Urſache warum manches Kind verdirbt und
verwelkt, man weiß nicht woher. Ungebildete Leute
glauben dann oft, es muͤſſe behext ſein oder die Mit-
eſſer haben. Aber die Unreinlichkeit iſt der feindliche
Daͤmon, der es behext und der es auch ſicher am
Ende verzehren wird.«
Die Haare muͤſſen taͤglich gekaͤmmt und gebuͤr-
ſtet werden: ſie werden dadurch belebt und geſtaͤrkt
und mancher boͤſe Ausſchlag verhütet. Wie mancher,
der an hartnaͤckigen Kopfſchmerzen leidet, waͤre die-
ſem Uebel entgangen, wenn ſeine Eltern ihm fruͤh-
zeitig das heilſame Kaͤmmen der Haare angewoͤhnt
haͤtten.
Waͤre nun aber auch die aͤußerſte Reinlichkeit
nicht eine Pflicht, die wir uns ſelbſt ſchuldig ſind,
ſo wuͤrde die Ruͤckſicht auf Andere ſie uns anbefehlen.
Durch Reinlichkeit erweckt man ein guͤnſtiges Vor-
urtheil für ſeine Moralitaͤt und Bildung, man be-
weist dadurch, daß man etwas auf die gute Mei-
nung der Welt haͤlt und ihr zu gefallen ſucht. Der
unreinliche Menſch iſt entweder ein durchaus unge-
bildetes Weſen oder ein verbildeter Cyniker, ein Jrus
oder ein Diogenes, und dazu wollen wir doch wahr-
lich unſere Kinder nicht erziehen!
Durch die groͤßte Reinlichkeit allein wuͤrden wir
indeſſen nur wenig fuͤr die Staͤrkung der Haut ge-
winnen, wenn wir ſie nicht zugleich an eine kuͤhlere
Temperatur gewoͤhnten. Aber auch hier muͤſſen wir
um ſo ſorgfaͤltiger jede Uebertreibung vermeiden, da
der kindliche Organismus mehr Waͤrme als der er-
wachſene bedarf; denn ſeine eigene Waͤrmenerzeugung
iſt geringer. Edwards fand, daß die Neugeborenen
der meiſten Raub- und Nagethiere ſchnell erkal-
ten, ſobald ſie bei niedrigen Temperaturen von der
Mutter entfernt werden; dagegen ſie, an der Mutter
liegend, nur um ein Weniges kaͤlter als dieſe
ſelbſt ſind.
Die ſtatiſtiſchen Unterſuchungen von Edwards
beweiſen ferner, daß der Mangel an Temperatur in
einem bisher nicht gewuͤrdigten Verhaͤltniſſe, Urſache
der Sterblichkeit bei den neugeborenen Menſchen iſt
(Edwards, de l’influence des agents physiques sur la
vie.) Jn den erſten Wochen oder Monaten moͤchte
daher der Gebrauch von Federbetten zu entſchuldigen
ſein, vorzuͤglich bei Schwachgeborenen, weil Federn
ein ſehr ſchlechter Waͤrmeleiter ſind; ſpaͤter muͤſſen ſie
durchaus mit minder erhitzenden Betten vertauſcht
werden, denn ein Kind, das eine lange Nacht in
Federn liegt, iſt fuͤr den ganzen folgenden Tag ent-
nervt. Wie kann ein junger empfindlicher Organis-
mus, der faſt die Haͤlfte ſeines Lebens in einem ſol-
chen Schwitzkaſten zubringt, ſtark und geſund werden?
Es iſt dieſes eine reine Unmoͤglichkeit; auch ſieht man
leicht ein, daß Federbetten bei Nacht und ein kuͤh-
leres Verhalten bei Tage ſich durchaus widerſprechen.
Dazu koͤmmt noch, daß die ſo ſtark vermehrte Aus-
duͤnſtung ſich in den Federbetten anhaͤuft und zur
Verderbniß der Atmosphaͤre beitraͤgt. Einfache wollene
Decken, die man ſo oft waſchen kann als man will,
ſind, ſchon der Reinlichkeit wegen, vorzuziehen.
Man entferne daher, ſo ſchnell als moͤglich jenes
weichliche Lager, und waͤhle ſtatt ſeiner eine Matraze
aus Roßhaar oder anderen haͤrteren Subſtanzen zur
Unterlage, die man mit oft zu wechſelnden Decken
und leinenen Betttuͤchern uͤberzieht. Anfangs bedeckt
man das Kind mit einem leichten Federuͤberzuge, welches
um ſo fruͤher mit gewoͤhnlichen wollenen Decken
vertauſcht werden kann je mehr man die Conſtitution
des Kleinen durch fleißiges Hinaustragen ins Freie
und kalte Waſchungen bereits geſtaͤrkt hat. Alsdann
kann das Kind ſchon in einem ungeheizten Zimmer
ſchlafen, wenn nicht allzu große Winterkaͤlte es ver-
bietet. Ein Hauptvortheil eines haͤrteren Lagers iſt,
daß es dem Drucke des Koͤrpers nicht ſo nachgiebt,
waͤhrend das weichere Federbett ſich in die ſchiefſten
Lagen fuͤgt. Nirgends ſieht man auch mehr Kruͤppel
und Verwachſene als in Laͤndern wo Federbetten all-
gemein gebraͤuchlich ſind.
Kinder erkaͤlten ſich leicht, wenn man ſie an
ein zu warmes Zimmer gewoͤhnt, da alsdann beim
Hinausgehen ins Freie, jeder Zugwind ihre warme
und ſtarkduftende Haut um ſo mehr angreift. Die
kuͤnſtliche Stubenwaͤrme darf nie 15º R. uͤberſteigen
und das Sitzen in der Naͤhe des Feuers ſollte Kin-
dern durchaus unterſagt werden.
Die gewoͤhnliche Urſache des Froſtes an Haͤnden
und Fuͤßen iſt, daß die Kleinen halbgefroren ins
Zimmer kommen und die erſtarrten Glieder ſogleich
am gluͤhenden Ofen erwaͤrmen. Durch den unge-
heuern Temperaturunterſchied zwiſchen eiſiger Kaͤlte
und Feuerwaͤrme entſteht Ueberreizung, Entzuͤndung,
Anſchwellung und Geſchwuͤrbildung; eine Plage, die
leicht zu vermeiden waͤre. Gewiß rühren ſehr viele
der rothen Naſen, die uns begegnen, von keiner
andern Urſache als dieſer her, und man thut Freund
Bachus Unrecht, wenn man ihn ohne Weiteres fuͤr
den Hauptſchuldigen erklaͤrt. Wichtiger noch in ihrer
Einwirkung auf die Haut als die Stubentemperatur
iſt die Kleidung, deren Beurtheilung im naͤchſten
Kapitel folgt.
Viertes Kapitel.
Schaͤdlichkeit einer zu engen Kleidung. — Monſtröſer Gebrauch der
Schnürleiber. — Bemerkungen über die barbariſche Sitte des
Einwickelns. — Wie ſoll man die Kinder kleiden? — Tragen
von Flanell beſonders nützlich.
Obgleich es Leute genug geben mag, welche glau-
ben, ihr Koͤrper ſei eigentlich nur da, um ſchoͤne
Kleider daran zu haͤngen, und den Schutz, den dieſe
gegen Kaͤlte und Hitze gewaͤhren, nur als Nebenſache
anſehen, ſo kann ich ihrer Meinung nicht ſo ganz
beiſtimmen und muß, bei Kindern wenigſtens, bitten,
dieſen letzteren als der Mode vorangehend zu betrachten.
Nie darf das Zweckmaͤßige dem Schoͤnen aufgeopfert
werden, dieſes geſchieht aber allemal, wo die Klei-
dung zu enge iſt und irgend einen Theil des Koͤr-
pers druͤckt. Alles was den freien Umlauf des Blut-
ſtroms hemmt, ſchadet der Geſundheit. Dieſe, als
harmoniſches Jneinandergreifen aller Organe und
aller Thaͤtigkeiten, ſetzt voraus eine gleichfoͤrmige
Ernaͤhrung, eine gleichfoͤrmige Vertheilung der Blut-
maſſe in allen Organen, je nach den Beduͤrfniſſen
ihres Baues. Durch einen jeden Druck wird nun dieſe
zweckmaͤßige Vertheilung der naͤhrenden Saͤfte ge-
hindert, das Blut ſtockt unterhalb der gedruͤckten Ve-
nen, es haͤuft ſich an, und belaͤſtigt die Function
des betroffenen Organs. So ſehen wir Kopfſchmer-
zen durch eine zu feſte Halsbinde verurſacht werden,
weil dieſe den Rückfluß des Blutes aus den Venen
des Gehirns und ſeiner Bedeckungen erſchwert.
Die Functionen jenes Organes koͤnnen aber nur
dann gehoͤrig vor ſich gehen, wenn es von einer be-
ſtimmten Blutmenge durchſtroͤmt wird; ſobald Con-
gestion entſteht, müſſen momentan Empfindung,
Willen und Denkkraft leiden.
Jn den meiſten Faͤllen können wir zwar, durch
Entfernung der Urſache den normalen Zuſtand in
kurzer Zeit wieder herſtellen; wenn aber die Schaͤd-
lichkeit oͤfter einwirkt, wenn ſie (wie im Militaͤr-
dienſt, auf Maͤrſchen, Paraden) nicht ſo bald ent-
fernt werden kann, oder wenn man ſie, aus Eitel-
keit durchaus nicht entfernen will, ſo wird endlich
das oͤfter angegriffene Organ dauerhaft geſchwaͤcht.
Die contagioͤſe Augenentzuͤndung, die ſo vielen Sol-
daten das Geſicht koſtet, zaͤhlt gewiß unter ihre Haupt-
urſachen die ſchweren Tſchzako’s und ſteifen Halsbinden
die den Ruͤckfluß des Blutes aus dem Kopfe er-
ſchweren, vorzüglich bei anſtrengenden Paraden,
wo die beſchleunigte Circulation ohnehin mehr Blut
nach den obern Theilen treibt. Aus derſelben Ur-
ſache entſtehen nicht ſelten hitzige Fieber und Schlag-
fluͤſſe. Bei Kindern kommen nun freilich ſolche ex-
treme Faͤlle nicht ſo leicht vor, doch ſchien es mir
zweckmaͤßig beilaͤufig an die übeln Folgen einer auf
einen hohen Punkt getriebenen Schaͤdlichkeit zu erin-
nern, da man daraus abnehmen kann, wie dieſelbe
auch bei geringerer Jntenſitaͤt einwirkt. So wie
der haͤrteſte Stein, durch einen beſtaͤndig auf denſel-
ben Fleck hinunterfallenden Tropfen endlich ausge-
hoͤhlt wird, eben ſo gewiß bringt die haͤufige Wie-
derholung anſcheinend geringer Schaͤdlichkeiten, zuletzt
bedeutende Krankheiten hervor. Wie viele Leute gibt
es nicht, die wohl nicht zu den Trinkern zu rechnen
ſind, die aber dennoch keinen Tag vergehen laſſen,
ohne mehr Wein zu genießen, als die ſtrenge Maͤßig-
keit gerade billigen moͤchte. Die ſchlimmen Folgen
werden ſich vielleicht nicht nach Monaten, aber ge-
wiß nach Jahren zeigen. Denn die Geiſtes- und
Nervenkraͤfte uͤberhaupt, muͤſſen unfehlbar bei ſol-
chen oft wiederholten kleinen Angriffen ihre Schaͤrfe
weit fruͤher verlieren als ſie ſonſt gethan haben
wuͤrden. Aber der Menſch achtet gewoͤhnlich nur
auf ganz auffallende grellhervortretende Schaͤdlich-
keiten; die feineren verderblichen Jnfluenzen, die
tagtaͤglich an ſeinem Weſen nagen, die ſo viele chro-
niſche Krankheiten langſam aufbauen, und weit mehr
Opfer hinraffen als die gefaͤhrlichſten Epidemieen es
thun, entgehen ſeiner Aufmerkſamkeit.
Ein eng anliegendes Kleidungsſtuͤck, an welcher
Stelle es auch angebracht ſein mag, wird daher zur
Schaͤdlichkeit, wenn es fortdauernd einwirkt, vor-
zuͤglich in einem jugendlichen, in ſchnellem Wachs-
thum nach allen Seiten hin begriffenen Organismus,
der ohnehin dem Drucke weniger widerſteht, und
alſo ſchon durch ſeine groͤßere Paſſivitaͤt um ſo eher
leidet. Wie kann man erwarten, daß ein Organ
mit dem uͤbrigen Organismus gleichmaͤßig wachſen
ſoll, wenn man durch Druck ſogar ſeine ſchon beſte-
hende Groͤße einſchraͤnkt, ſtatt ihm freien Raum zu
ungehinderter Entwickelung zu laſſen? Und welche
Gruͤnde kann man zur Entſchuldigung eines ſolchen
Verfahrens anfuͤhren? Fort alſo mit allem was die
freie Bewegung, den freien Wachsthum hindert!
Keine zu engen Schuhe! Sie legen den Grund zu
den marternden Kraͤhenaugen, verurſachen Schmer-
zen und hindern am Gehen! Keine Strumpfbaͤnder!
nach einiger Bewegung ſchwillt das Bein an, das
Blut ſtockt unterhalb der Ligatur, und es entſtehen
Venenerweiterungen, die ſpaͤter gefaͤhrlich werden
koͤnnen.
Enganliegende Beinkleider ſchaden durch Reibung
empfindlicher Theile, Zuſammendruͤcken der Einge-
weide der Bauchhoͤhle und bedeutende Stoͤrung des
Blutumtriebes. Wenn nun aber ſchon Schuhe, Strumpf-
baͤnder, Halsbinden und Beinkleider durch Druck
ſchaͤdlich werden, was ſoll man dann zu dem mon-
ſtroͤſen Gebrauch der Schnuͤrleiber ſagen, oder uͤber-
haupt aller Binden, Weſten oder Roͤcke, welche die
Mitte des Koͤrpers zuſammenſchnuͤren? Durch dieſen
unterhalb des Zwerchfells Das Zwerchfell, (von zwerchen) der hauptſächlichſte
Respirationsmuskel, liegt zwiſchen den Eingeweiden der Bruſt
(Lungen, Herz) und des Bauches (Magen, Leber, Milz)
ausgeſpannt und trennt die beiden Höhlen von einander. Wenn
wir einathmen ſteigt es in die Bauchhöhle hinunter, und
drängt deren Eingeweide zurück, wie ein jeder leicht an ſich
ſelbſt erproben kann, wenn er nur beim Einathmen die Hände
über dem Bauch zuſammenlegt. Man ſieht wie wichtig es
ſein muß, das ſreie Spiel des Zwerchfells nicht zu hindern. angebrachten Druck wird
zuerſt die Respiration gehemmt und ein kuͤnſtliches
Aoſtma hervorgerufen. Die Verdauung muß nothwen-
digerweiſe durch den Druck auf Leber, Magen und
Milz geſtoͤrt, und die Blutbewegung beſonders im
Pfortaderſyſtem gehemmt werden, wodurch fruͤhzeitig
auf abdominal Plethora, Hypochondrie und allge-
meine Nervenſchwaͤche hingearbeitet wird. Die fuͤr
das koͤrperliche Gedeihen ſo uͤberaus wichtige Bewe-
gung im Freien, wird natürlich durch einen zu eng-
anliegenden Guͤrtel ſehr erſchwert, wie uͤberhaupt das
frei herumlaufende ſpielende Kind keine enge Klei-
dung vertraͤgt. Dieſen ſo verderblichen Gebrauch,
trotz ſeiner auffallenden ſchlechten Folgen dennoch fort-
ſetzen wollen, heißt doch wahrlich der Eitelkeit ein
zu großes Opfer bringen.
Gibt es aber irgend eine Sitte, gegen die man
mit allen Waffen der Vernunft, des Spottes und der
Entruͤſtung ankaͤmpfen ſollte, ſo iſt es gewiß das
barbariſche Einwickeln der Saͤuglinge.
Legt man es darauf an, die Haut zu verzärteln,
die Glieder zu ſchwaͤchen, und in der Entwickelung
aufzuhalten; will man die freie Circulation des Blu-
tes hemmen, die Respiration erſchweren, und wich-
tige Organe durch Congestionen gefaͤhrden; will man
verderblich auf das Gemüth des Saͤuglings wirken,
der, in allen Bewegungen gehemmt, dem traurigen
Gefuͤhl ſeiner engen Gefangenſchaft durch Schreien
und Weinen Luft macht; will man von Anfang an
den Grund zu einer ſchwaͤchlichen, rachitiſchen und
ſcrophuloͤſen Conſtitution legen, ſo iſt in der That
nichts Beſſeres, als das Einwickeln zu empfehlen.
Welcher Kinderfreund mag wohl zuerſt auf dieſe
ſchoͤne Erfindung gekommen ſein? Haͤtten die armen
kleinen Maͤrtyrer nur Worte, ihre Gefuͤhle zu ver-
koͤrpern, wie würden ſie dem Ehrenmanne danken!
Hartwig’s Erziehungsl. 5
Einſtweilen thun ſie es mit ihren Thraͤnen! Jch weiß
zwar nicht, mit welchen Gruͤnden man dieſe, der Boͤo-
ten oder der Caraïben wuͤrdige Sitte entſchuldigt,
doch ſind ſie aller Wahrſcheinlichkeit nach die Folgenden.
Man ſchuͤtzt das Kind dadurch vor dem Fallen,
vor Beſchaͤdigungen, Verwundungen. — Die Kraͤfte
des Kindes ſind aber anfangs zu gering, als daß es
ſie mißbrauchen koͤnnte. Es iſt zu ſchwach, ſich von
der Stelle zu bewegen, und kann nur ſeine Arme
und Beine ruͤhren. Wie barbariſch, dem Saͤugling
ſogar dieſe geringe Bewegung, die ihm ſo viel Ver-
gnuͤgen macht, und mehr als man glaubt zur Staͤr-
kung ſeiner Circulation beitraͤgt, zu entziehen, und
ihn wie eine egyptiſche Mumie einzuwickeln! Wird
er etwas groͤßer, ſo kann man ja durch die einfach-
ſten Vorkehrungen verhuͤten, daß er ins Feuer, oder
aus dem Bette faͤllt, oder ſich durch das Anſtoßen
an ſcharfen Ecken beſchaͤdigt.
»Wickelt man etwa junge Hunde, oder junge
Katzen ein,« fragt der Autor des Emile »und ſieht
man irgend eine uͤble Folge von dieſer Verſaͤumniß?
Saͤuglinge ſind aber ſchwerer! Jch gebe es zu; aber
im Verhaͤltniß ſind ſie auch ſchwaͤcher. Sie koͤnnen
ſich ja kaum ruͤhren, wie ſollten ſie ſich beſchaͤdigen?«
Die knorpelige Biegſamkeit der kindlichen Kno-
chen iſt das beſte Schutzmittel gegen Beſchaͤdigung.
Wie oft koͤmmt es nicht vor, daß Kinder fallen ohne
andere Folgen, als blaue Flecken, die binnen Kur-
zem verſchwinden. Auch iſt es gar nicht ſo uͤbel,
wenn Kinder oͤfter fallen und ſich fruͤhzeitig an ge-
ringe koͤrperliche Schmerzen gewoͤhnen. Sie werden
deren in ſpaͤterem Leben noch ganz andere zu erdul-
den haben. Fruͤhzeitige Abhaͤrtung gegen den Schmerz
gehoͤrt auch mit zu einer guten phyſiſchen Erziehung.
Wer wollte alſo eines durchaus problematiſchen
Vortheils wegen ein Verfahren einſchlagen, gegen
welches Vernunft, Erfahrung und Humanitaͤt mit
vereinten Kraͤften auftreten? Jn England denkt keine
Seele an das Einwickeln, und gewiß verſteht das
practiſche engliſche Volk ſich auch am Beſten auf die
phyſiſche Erziehung ſeiner Kinder.
Ein zweiter Entſchuldigungsgrund koͤnnte ſein,
daß man durch das Einwickeln und Ausſtrecken der
Glieder ihre Verkruͤmmungen verhütet. Dieſer Grund
iſt aber wo moͤglich noch ſchlechter als der erſte;
denn ein Verfahren, welches die Glieder zu einer
unnatuͤrlichen Unthaͤtigkeit verurtheilt, ſchwaͤcht ihre
Entwickelung, ſchwaͤcht die Verdauung, ſchwaͤcht die
Nutrition, ſchwaͤcht mit einem Worte den ganzen
Organismus, und iſt daher das allergeeigneteſte
Mittel, das gefuͤrchtete Uebel herbeizufuͤhren. Faͤngt
das Kind an zu gehen, (und dazu wird es doch end-
lich trotz eures Einwickelns kommen) ſo koͤnnen die
erweichten Knochen den Koͤrper nicht tragen, und
5 *
die ſchwachen Beine biegen unter der ungewohnten
Laſt. Bei einem Kinde hingegen, das nach vernuͤnf-
tigeren Grundſaͤtzen erzogen wurde, und von Anfang
an nach Herzensluſt Arme und Beine in der fri-
ſchen Luft bewegte, ſind die normal entwickelten Glie-
der dem Gewichte der übrigen Theile vollkommen
gewachſen, und werden ohne allen Zweifel gerade
bleiben. Sollte man nicht nach allen jenen Vorkeh-
rungen meinen, daß die Natur die Abſicht habe, uns
alle krummbeinig werden zu laſſen, und daß die kunſt-
reiche Hand und hohe Weisheit der Ammen und
Waͤrterinnen durchaus erforderlich ſei, dieſes Grund-
uͤbel zu verhindern?
Ferner könnte man zur Beſchoͤnigung jenes
Gebrauches anfuͤhren, daß das eingewickelte Kind
nicht ſo viel Aufwartung bedarf. — Dieſer Grund
kann gelten, wenn Muͤtter damit einverſtanden ſind,
daß die Geſundheit ihrer Kleinen der eigenen Bequem-
lichkeit oder der einer Amme geopfert werden muß;
ſonſt aber moͤchte ich folgendes dagegen einwenden:
Alle Lebensverrichtungen gehen beim Kinde ſchneller
vor ſich, ſein Athmen, ſeine Circulation, ſeine Ver-
dauung, folglich auch ſeine Ausleerungen.
Die Geſundheit des Kindes eben ſo ſehr wie das
Gefuͤhl der Mutter (denn wie wird ein gebildetes
Frauenzimmer den Gedanken ertragen, daß ihr Kind
auch nur ein paar Minuten verunreinigt bleibe?)
erfordert durchaus einen haͤufigen Wechſel der Waͤſche.
Jn einem offenen Kleide wird jede Verunreinigung
leichter bemerkt, ſo daß man ſogleich den Pflichten,
welche die Reinlichkeit verlangt, nachkommen kann.
Dieſer Vortheil iſt ſo groß, daß er allein ſchon hin-
reicht, das Einwickelu zu verurtheilen. Weg alſo
mit allen enganliegenden Feſſeln! Das Leben hat deren
genug, fangen wir nicht an, ſie unnoͤthiger Weiſe
unſeren Lieben gleich beim Eintritt in dasſelbe an-
zulegen.
Um den Neugeborenen gegen Kaͤlte zu ſchuͤtzen,
werden wir ihm daher ſtatt eines Marterzwanges lange,
warme, wollene Kleider anziehen, ſo daß die Struͤmpfe
wegfallen koͤnnen, denn ihre Durchnaͤſſung wird oft
uͤberſehen und veranlaßt Erkaͤltung. Keine feſten
Binden, welche die Circulation hemmen! Kein Druck
auf irgend einen Theil! Keine zu enganſchließende
und zu warme Muͤtzen, denn in den Krankheitslehren
der erfahrenſten Kinderaͤrzte finden wir ſie als eine
haͤufige Urſache der toͤdtlichen Hirnwaſſerſucht ange-
fuͤhrt. Eine zu warme Kopfbedeckung iſt überhaupt
ſchaͤdlich; ſie zieht zu viel Blut nach dem Gehirn
und zur aͤußeren Kopfhaut, und iſt ganz der gol-
denen Regel des Boerhaave zuwider: daß der Kopf
kuͤhl und die Fuͤße warm gehalten werden muͤſſen.
Beſonders verwerflich ſind Pelzmuͤtzen, da ſie keine
Ausduͤnſtung durchlaſſen, den behaarten Kopftheil
hermetiſch verſchließen und auch durch ihre Schwere
ſchaden. Den Gebrauch der Nachtmuͤtzen ſuche man
ſo fruͤh als moͤglich abzuſchaffen, das heißt ſobald
die Natur dem Kinde eine genügende natuͤrliche Kopf-
bedeckung verſchafft. Wozu einen Theil ſo warm
zudecken, den die Natur durch einen kraͤftigen Haar-
wuchs gegen die Einwirkung der Kaͤlte ſchuͤtzt? Jch bin
uͤberzeugt, daß man durch eine zu warme Kopfbedeckung
den Grund zu manchem kuͤnftigen Schlagfluſſe, zu man-
cher kuͤnftigen Hirnerweichung legt. So wie man
im politiſchen Leben die Urſachen großer Bewegun-
gen in weiter Zeitferne zu ſuchen hat, eben ſo wur-
zeln auch im Leben des Jndividuums die Perturba-
tionen des reiferen Alters gar oft in den Fehlern,
die wir bei der erſten Erziehung begehen.
Ueberhaupt muß man bei der Kleidung der
Kinder genau die Mittelſtraße halten, und weder
durch uͤbermaͤßige Bedeckung ihre Haut verweich-
lichen, noch auch durch eine zu leichte Beklei-
dung ihren zarten Organismus zu ſehr Erkaͤl-
tungen ausſetzen. Dieſen Prinzipien getreu, wird
man bei jedem kühleren Winde nicht gleich das Kind
in Maͤntel und dickere Halstuͤcher einwickeln, und
eben ſo wenig es in den erſten Jahren mit bloßem
Halſe in der Kaͤlte herumlaufen laſſen. Ein großer
Theil von Deutſchland iſt mit einem rauhen, feuchten
und veraͤnderlichen Clima, ich weiß nicht, ob ich
ſagen ſoll, geſegnet, und es dauert lange, ehe der
Winter dem Fruͤhlinge weicht. Aus dieſem Grunde
iſt das Tragen von leichten, duͤnnen Flanellwaͤms-
chen, unmittelbar auf der Haut, beſonders bei ſchwaͤch-
lichen Kindern, wo Anlage zur Schwindſucht zu be-
fuͤrchten ſteht, ſehr empfehlenswerth. Flanell hat
vor der Leinwand den großen Vorzug, daß er ſich
als ſchlechterer Waͤrmeleiter nicht ſo ſchnell abkuͤhlt;
die Bruſt alſo beſſer gegen ploͤtzlichen Temperatur-
wechſel ſchuͤtzt, — ein Umſtand, der bei ſchwachen Con-
ſtitutionen und in unſerm veraͤnderlichen Clima ſehr
wichtig iſt.
Ferner unterhaͤlt der poroͤſe Flanell, auch bei
heißem Wetter und ſtarker Bewegung eine freie Aus-
duͤnſtung; dieſe aber kuͤhlt die Haut ab, in demſelben
Maaße wie ſie verfliegt: man empfindet daher nie
das druͤckende Gefuͤhl der inneren Hitze, welches die
in der dichteren leinenen Bekleidung ſo leicht ſtattfin-
dende Schweißbildung begleitet. Dieſes erklaͤrt ſich
leicht durch ein einfaches phyſikaliſches Geſetz. Ein
jeder Koͤrper, der aus der fluͤſſigen Form in die
Dunſtgeſtalt übergeht, abſorbirt ſehr viel Wärme,
die er natuͤrlich ſeiner Umgebung entzieht. Bei freier
Ausduͤnſtung wird daher die durch den Lebensproceß
erzeugte Waͤrme beſtaͤndig in demſelben Maaße wie
ſie ſich bildet, fortgeſchafft, weil ſie auf die Dunſt-
bildung verwendet wird: ſo daß unter ſolchen
Umſtaͤnden auch ein hoher aͤußerer Waͤrmegrad nicht
unangenehm iſt. Umgekehrt, wenn ein dunſt- oder
gasfoͤrmiger Koͤrper ſich zur Flüſſigkeit verdichtet, ſo
entbindet er alle Waͤrme, deren er bedurfte, um als
Dunſt zu verfliegen.
Ein Jeder wird wiſſen, wie es unmoͤglich iſt, die
Hand uͤber heiße Waſſerdaͤmpfe zu halten, weil dieſe
ſich unmittelbar an der verhaͤltnißmaͤßig kalten Haut
verdichten, und dabei eine betraͤchtliche, ſogar ſengende
Waͤrme entbinden.
Auf dieſelbe Weiſe theilt die Hautausduͤnſtung,
wenn ſie nicht ſo ſchnell als ſie ſich bildet, verfliegen
kann und nun als Schweiß zuruͤckbleibt, der Haut
ſehr viel entbundenen Waͤrmeſtoff mit, wobei zugleich
die im Koͤrper beſtaͤndig gebildete Waͤrme ſich an-
haͤuft und ein ſehr unbehagliches Gefuͤhl erzeugt.
Baumwollene Hemde und Beinkleider theilen die
Vorzuͤge des Flanells, und ſind auch in der ganzen
engliſchen Armee den leinenen ſubſtituirt worden, weil
alle Militaͤraͤrzte fanden, daß Erkaͤltungen und Lun-
genuͤbel durch ihren Gebrauch vermindert werden.
Mit dem Worte Flanell verbinden viele den
Begriff einer erſtickenden Waͤrme und einer großen
Verweichlichung — beides mit Unrecht. Der ganze
Koͤrper ſoll ja nicht uͤber und uͤber in dichte Wolle
eingehuͤllt werden; nur Bruſt und Unterleib des Kin-
des ſollen mit einem duͤnnen Gewebe aus dieſem Stoffe
bekleidet ſein, der erfahrungsmaͤßig am allerbeſten
gegen Erkaͤltungen ſchuͤtzt, und daher fuͤr dieſe wich-
tigen Theile die paſſendſte Bedeckung liefert. Von
Verweichlichung zu reden iſt geradezu laͤcherlich. Eher
moͤchte das ewige Sitzen auf dem Sopha, im ſtark-
geheizten Zimmer und im warmen Schlafrock, ſo wie
das Schlafen unter berghohen Federdecken dieſen Na-
men verdienen.
Ein nicht unerheblicher Vortheil des Tragens
von Flanell auf bloßer Haut iſt, daß die uͤbrige
Kleidung nicht ſo ſchwer und dicht zu ſein braucht.
Man hat nicht noͤthig ſo fruͤh nach dem Ueberrocke
zu greifen, bewegt ſich leichter in der Kaͤlte und er-
zeugt auf dieſe Weiſe Waͤrme genug, um ſie bald
nicht mehr zu fuͤhlen.
Das Tragen eines duͤnnen Tuches, loſe um den
Hals gebunden, iſt beſonders aus dem Grunde zu
empfehlen, weil bei juͤngeren Kindern Erkaͤltungen
des Halſes ſo leicht die gefaͤhrliche Form des Croups
annehmen.
Jm Sommer kann das Kind am Tage mit blo-
ßem Halſe gehen, gegen Abend oder in der kuͤhlen
Morgenluft muß aber das Tuch wieder umgebun-
den werden.
Jm Sommer ſind dünne, kurze, baumwollene Socken
vorzuziehen, die taͤglich gewechſelt werden muͤſſen;
im Winter waͤhle man laͤngere, wollene Struͤmpfe,
welche das Kind nicht laͤnger als zwei oder drei
Tage tragen darf.
So vortrefflich lederne Schuhe auch die Naͤſſe
abhalten, ſo hat Leder doch den großen Nachtheil, daß
es ein ſehr guter Waͤrmeleiter iſt, ſehr ſchnell abkuͤhlt,
eben ſo ſchnell heiß wird und dadurch manche Ver-
kaͤltungen verurſacht. Bei jungen Kindern waͤhle
man daher Stoffſchuhe, welche dieſe ſchlimme Eigen-
ſchaft nicht beſitzen, die Füße gleichmaͤßiger warm
halten, und die Hautausduͤnſtung leicht durchgehen
laſſen. Raspail moͤchte gern Holzſchuhe uͤberall ein-
gefuͤhrt wiſſen, die gewiß in diaͤtetiſcher Beziehung,
den ledernen Schuhen und Stiefeln bei Weitem vor-
zuziehen waͤren, da Holz ein ſchlechter Waͤrmeleiter
iſt, und die Feuchtigkeit noch viel beſſer abhaͤlt. Lei-
der iſt ihr Gebrauch zu unbequem.
Die Roͤcke und Hoͤschen muͤſſen im Sommer bei
Kindern, die ſchon gehen koͤnnen, ſo kurz ſein, daß
die Arme und Waden unbedeckt bleiben. Jſt das
Kind an leichte Sommerkleidung gewoͤhnt, ſo daß
die friſche Luft frei um die Glieder ſpielt und ihre
Haut abhaͤrtet, ſo wird man im Winter ſie nicht ſo
ſehr mit Kleidung zu uͤberladen brauchen.
Bequeme Strohhüte mit einem breiten Rande
zum Schutze der Augen gegen Staub und uͤbermaͤ-
ßiges Sonnenlicht, empfehlen ſich durch ihre Leich-
tigkeit und weil ſie die Ausduͤnſtungen des Kopfes
frei durchziehen laſſen. Es gibt für den Sommer
keinen zweckmaͤßigeren und angenehmeren Kopfputz.
Jm Winter laſſe man die Knaben einfache Tuchmützen
tragen; Pelz iſt zu warm und haͤlt die Ausduͤnſtungen
zurück. Sogar bei warmer Witterung darf das Fla-
nellwaͤmschen nicht abgelegt werden, denn Erkaͤltun-
gen des Unterleibes ſind gerade um dieſe Zeit gar
nicht ſelten, weil kuͤhle Abende gewoͤhnlich auf die
ſchwuͤlen Stunden des Tages folgen.
Die Farbe der aͤußeren Kleidungsſtuͤcke iſt nicht
ganz gleichguͤltig. Legt man Stuͤcke Tuch von ver-
ſchiedener Farbe auf Schnee, ſo wird dieſer viel
ſchneller und leichter unter dem Schwarzen wie unter
dem Weißen ſchmelzen.
Ein ſchwarzes Kleid ſaugt ſehr viel Waͤrme ein,
und ſtrahlt auch viel Waͤrme aus; es iſt waͤrmer in
der Sonne und kaͤlter im Schatten, alſo weder dem
Sommer noch dem Winter angemeſſen. Eine weiße
Flaͤche wirft die Waͤrmeſtrahlen zuruͤck, laͤßt ſie nicht
durchdringen, und da ſie auch bei Weitem weniger
Waͤrme ausſtrahlt als eine ſchwarze, ſo iſt ſie kuͤhler
im Sommer und waͤrmer im Winter. Alſo ſind zu
jeder Jahreszeit hellere Farben vorzuziehen. Jhr
Einfluß auf unſere Gemuͤthsſtimmung moͤchte auch mit
in Anſchlag zu bringen ſein, denn dieſe wird ſehr oft
durch die Gegenſtaͤnde modificirt, die unſerm Auge
begegnen.
Fuͤr Knaben gibt es keine zweckmaͤßigere Som-
mertracht als einen bequemen Kittel aus ungebleichter
Leinwand, der mit einem breiten ledernen Guͤrtel loſe
um die Huͤften befeſtigt wird. Die Bewegungen des
Armes ſind darin viel freier als in einem Rocke. Jn
dieſem ſammeln ſich auch viel leichter Unreinlichkeiten
an; leinene Kittel ſind wohlfeiler und laſſen eine groͤ-
ßere Reinlichkeit zu. Auch im Winter ſind wollene
gefuͤtterte Kittel, die an Waͤrme einem gewoͤhnlichen
Tuchrocke gleich kommen, eine bequeme und zutraͤg-
liche Tracht.
Richtet man ſich nach der Jahreszeit, ſo daß man
es in keiner uͤbertreibt, und nach Umſtaͤnden ab und
zu thut, ſo wird man ſeine Kinder weder zu Weich-
lingen erziehen noch auch durch übertriebene Abhaͤr-
tung ihre Geſundheit gefaͤhrden.
Fünftes Kapitel.
Eigenſchaften einer guten Amme. — Auffüttern der Kinder. — Vor-
ſichten bei demſelben und beim Entwöhnen. — Pünktlichkeit
wichtig. — Diät der Kinder.
Il ſaut manger pour vivre et non
pas vivre pour manger.
Molière.
Die Natur hat gewollt, daß die Mutter auch nach
der Geburt ihres Kindes fortfahren ſoll, ſeine
Ernaͤhrerin zu ſein. Jedesmal, daß ſie ihr Kind
nicht ſaͤugt, wird alſo die Abſicht der Natur
vereitelt, niemals ohne Schmerz fuͤr das Mutterherz
und ſehr oft zum Nachtheil des Saͤuglings. Denn
wie kann man von einer Fremden die Sorgfalt und
willige Selbſtaufopferung einer Mutter erwarten?
Und wenn auch dieſe Fremde das ihr anvertraute
Kind mit ſorgfaͤltiger Liebe pflegt, wie muß eine zaͤrt-
liche Mutter nicht trauern, daß das erſte Laͤcheln
ihres Lieblings nicht ihr, ſondern einer andern gehoͤrt?
Und doch gebietet nicht ſelten das Wohl des Kindes,
ſo wie der Mutter, ein Abweichen von dem Gange,
welchen die Natur vorgeſchrieben.
Manche Mutter iſt auch mit dem beſten Willen
nicht im Stande ihr Kind zu ernaͤhren.
Jſt ſie von ſehr ſchwaͤchlicher Conſtitution, ſind
ihre Nerven hoͤchſt reizbar und laͤßt ſich Anlage zur
Schwindſucht bei ihr vermuthen; ſieht man deutlich,
daß der Saͤfteverluſt ihre Geſundheit gefaͤhrden
wuͤrde, ſo waͤre es unbillig von ihr die Erfuͤllung
einer Pflicht zu verlangen, die offenbar ihre Kraͤfte
uͤberſteigt. Und was waͤre der Lohn dieſer Aufopfe-
rung? — daß ihr Kind mit einer an Nahrungsſtoffen
armen, duͤnnen Milch genaͤhrt, doch nur kraͤnkeln
und in der Entwickelung zuruͤckbleiben würde, bis
man ſich endlich entſchloͤſſe, einen andern Weg ein-
zuſchlagen und ihm die Milch einer geſuͤnderen Amme
zu bieten. Beſſer alſo der Verſuch unterbleibe von
Anfang an, wenn vorauszuſehen iſt, daß er doch zu
keinem guten Reſultate fuͤhren kann.
Fuͤr den Neugeborenen gibt es keine paſſendere
Nahrung als die Milch, denn die Natur trifft immer
die zweckmaͤßigſte Wahl. Die Milch allein genügt
ohne allen Zuſatz vollkommen zur Erhaltung des
Lebens, da ſie alle Beſtandtheile enthaͤlt, die zur
Ernaͤhrung aller Organe noͤthig ſind. Dabei iſt ſie
leicht verdaulich, ſie reizt und erhitzt nicht, und ver-
einigt alſo alle Eigenſchaften, die der paſſendſte Nah-
rungsſtoff fuͤr einen ſchwachen und reizbaren Orga-
nismus beſitzen muß.
Kann daher eine Mutter ihr Kind nicht ſelbſt
ſtillen, ſo iſt das Naͤchſtbeſte eine gute Amme, und
kann auch dieſe nicht gefunden werden, ſo muß das
Kind groͤßtentheils mit Milch aufgefuͤttert werden.
Nach den Autoren ſoll eine tüchtige Amme das
Bild der kraͤftigſten Geſundheit ſein, und dabei von
ſanftem, gutmuͤthigem, leidenſchaftloſem Charakter.
Nicht einmal Sehnſucht nach ihrem Kinde oder ihren
Angehoͤrigen ſoll ihren Gleichmuth truͤben, und ſtets
ſoll ſie ein fleißiges, heiteres, genügſames und from-
mes Leben gefuͤhrt haben.
Außerdem muß dieſes Jdeal von einer Amme
eine junge Erſtgebaͤrende zwiſchen dem 18ten und 26ſten
Jahre ſein; auch muß es ſich gerade ſo fuͤgen, daß
ſie entweder zu gleicher Zeit mit der Mutter, oder
wenigſtens nicht uͤber 6 oder 8 Wochen vorher, ent-
bunden ward. Daß ein ſo ausgezeichnetes Weſen
noch dazu bereitwillig ſein ſoll, die Mutterpflichten
einer Andern zu uͤbernehmen, und dabei der eignen
gaͤnzlich zu vergeſſen, moͤchte wohl die Schwierigkeit
des Auffindens vermehren. Allein auch mit maͤßi-
geren Anſprüchen wird es immer ſchwer genug ſein
(vorzuͤglich jetzt, wo Verweichlichung und Frivolitaͤt
ſich immer mehr uͤber Stadt und Land verbreiten)
eine glückliche Wahl zu treffen, und das Auffüt-
tern iſt immer noch beſſer als eine Amme, deren
moraliſche und phyſiſche Geſundheit zu wuͤnſchen
uͤbrig laͤßt.
So lange das Kind an der Bruſt liegt, wird ſein
Wohlbefinden mit der Geſundheit der Amme im ge-
naueſten Einklange ſtehen. Heftige Gemuͤthsaffekte
ſeiner Ernaͤhrerin koͤnnen eine ſolche Alteration der
Milch hervorrufen, daß ſie in ein Gift verwandelt
wird und toͤdtliche Kraͤmpfe verurſacht. Ein jeder
Diaͤtfehler hat auf ihre Qualitaͤt Einfluß.
Das Kind iſt in dieſer Periode noch ſo unſelbſt-
ſtaͤndig, daß ſein Wohlbefinden ganz und gar von
dem Wohlbefinden eines Andern abhaͤngt, und daß
es jeden nicht ſelbſt verſchuldeten Exceß dennoch wegen
ſeiner hohen Reizbarkeit ſchwerer buͤßen muß, als
diejenige, die ihn begangen. Es fehlt daher nicht an
Gruͤnden, weßhalb eine Mutter, die in den traurigen
Fall koͤmmt, ihr Kind einer Fremden anvertrauen zu
müſſen, dieſe unter ſtrenger Aufſicht halten ſoll. Die
Amme ſoll niemals außer der Zeit eſſen, ſich nie den
Magen mit Speiſen uͤberladen, und weder Bier noch
andere gegohrne Getraͤnke im Uebermaaß genießen.
Sie darf ſich weder einem indolenten Stillſitzen und
Nichtsthun uͤberlaſſen, (vorzuͤglich wenn ſie fruͤher an
ein thaͤtiges Leben gewoͤhnt war) noch auch durch zu
vieles Herumgehen ſich ermüden. Ein Tag muß wie
der andere ruhig und ungeſtoͤrt verlaufen (wie waͤh-
rend Windſtille die Wellen am Strande) denn ein
jedes Abweichen von dieſem regelmaͤßigen Gange wirkt
nachtheilig ein auf die Zuſammenſetzung der Milch
und ſtoͤrt das Wohlbefinden des Kindes. Kann man
dieſe Regelmaͤßigkeit von der Amme nicht erlangen,
oder bemerkt man bei ihr eine gefahrdrohende Leiden-
ſchaft, die ſie anfangs zu verheimlichen wußte, ſo
ſchreite man lieber zum Auffuͤttern und verabſchiede
die unzuverlaͤſſige Ernaͤhrerin, ſobald es ohne Gefahr
eines zu raſchen Wechſels geſchehen kann.
Man wuͤrde Unrecht haben nach den Erfahrungen,
die bei Findelkindern gemacht worden ſind, einen
Schluß gegen das Auffuͤttern zu ziehen. Hier hat
man allerdings gefunden, daß die Sterblichkeit der
armen Verlaſſenen in einem hohen Grade zunahm,
wenn dieſer Weg eingeſchlagen ward, und daß ſich
ein viel guͤnſtigeres Reſultat herausſtellte, wenn die
Kleinen entweder in den Findelhaͤuſern ſelbſt an der
Ammenbruſt ernaͤhrt (mit deren Wahl man es natuͤrlich
nicht einmal ſehr genau nimmt), oder zu dieſem Zweck
auf’s Land geſchickt wurden.
Denn das Auffüttern erfordert nicht nur, daß die
Qualitaͤt und Wahl der Nahrung eine vortreffliche
ſei, ſondern auch in der Darreichung derſelben eine
Regelmaͤßigkeit und eine Reinlichkeit, wie ſie von der
Hartwig’s Erziehungsl. 6
liebloſen Aufwartung in ſolchen Haͤuſern wohl kaum
zu erwarten ſteht.
Fehlen dieſe Erforderniſſe, ſo iſt das Auffuͤttern
allerdings moͤrderiſcher als die ſchrecklichſte Seuche.
Aber bei wohlhabenden Privatleuten, (und bei dieſen
allein kann ja die Rede von einer Wahl ſein) wo
das Auge der Mutter beſtaͤndig uͤber den Kleinen
wacht, wo man mit Recht Puͤnktlichkeit, Reinlich-
keit und jede moͤgliche Sorgfalt vorausſetzen darf,
fallen jene Einwendungen gegen das Auffuͤttern weg.
Auch beſtaͤtigt die Erfahrung, daß in einem großen
Theil des ſuͤdlichen Deutſchlands, wo die Neugebo-
renen (wenn die Mutter nicht ſelbſt ſtillen kann, oder
nicht ſelbſt ſtillen will) auf dieſe Weiſe genaͤhrt wer-
den, ſie dabei recht gut gedeihen. Um aber ſo wenig
als moͤglich vom Wege der Natur abzugehen, muß
jedenfalls Milch die Hauptbaſis der Nahrung des
Kleinen ausmachen. Man waͤhle diejenige Miſchung,
welche der erſten Muttermilch am Naͤchſten koͤmmt:
am beſten eine duͤnne mit Waſſer vermiſchte, aber
ja nicht durch Zucker verſüßte Kuh- oder Ziegenmilch.
Die Miſchung muß jedesmal friſch bereitet werden,
ſie darf nie laͤngere Zeit ſtehen, erkalten, und wieder
erwaͤrmt werden, weil ſie hierdurch gar zu leicht
zerſetzt wird. Uebrigens wird die Mutter durch den
Geruch oder durch das Schmecken ſich leicht uͤber-
zeugen koͤnnen, ob die Milch noch tauglich iſt. Anfangs
ſetzt man zwei Drittel Waſſer zu und allmaͤlig immer
weniger, bis man nach den erſten drei oder vier Mo-
naten ungemiſchte Milch reicht. Die Temperatur
der Miſchung muß wo moͤglich ſtets dieſelbe ſein,
und der Waͤrme der aus der Bruſt fließenden Milch
gleichkommen (28º bis 30º R.) Man gieße das Waſſer
zu der abgekochten und kalt gewordenen Milch, nicht
aber umgekehrt.
Man darf nicht vergeſſen, daß die Verdauungs-
organe des Neugeborenen ſehr klein ſind, daß 6 bis
8 Eßloͤffel in den erſten Tagen und Wochen die
ganze Capacitaͤt des Magens ausfüllen, und daß das
Reichen einer groͤßeren Menge auf einmal, nothwendig
krankhafte Zufaͤlle zur Folge haben muß.
Magenüberfuͤllung gehoͤrt mit zu den veranlaſſen-
den Urſachen aller aſtheniſchen Kinderkrankheiten,
denn ſie ſchwaͤcht die Verdauung ganz auſſerordentlich,
und ſetzt dadurch das Kind in der Ernaͤhrung und
im Wachsthume zurück.
Soll das Kind uͤberhaupt gedeihen, ſo iſt Pünkt-
lichkeit in der Darreichung der Bruſt oder der Nah-
rung eine Hauptſache. Anfangs verlangt das Kind
alle 2 bis 3 Stunden etwas Nahrung; ſpaͤter iſt es
hinreichend wenn es ſeltener geſchieht.
Die Mutter muß ihr Kind ſo gewoͤhnen, daß
es vor dem Niederlegen die Bruſt nimmt und erſt
wieder gegen Morgen ſein Bedürfniß befriedigt. Wird
6*
die Nachtruhe der Mutter geſtoͤrt, ſo leidet ihre Ge-
ſundheit in einem hohen Grade und ſie wird nicht
im Stande ſein, eine geſunde Milch zu bereiten. Ein
Kind, welches jeden Augenblick aufwacht und ſchreiend
nach der Bruſt verlangt, wird zu ſeinem eigenen Moͤrder
und iſt zugleich ſeiner Ernaͤhrerin eine ewige Pein.
Wie wichtig iſt es fuͤr Mutter und Kind, nicht
nur in dieſer, ſondern in ſo mancher andern Hinſicht,
daß dem Kleinen frühzeitig heilſame und feſte Schran-
ken geſetzt werden, uͤber die ſein Eigenſinn nicht
Herr werden kann! Dann lernt es bald, ſich in die
unumſtoͤßlichen Geſetze der Nothwendigkeit geduldig
fuͤgen, zum großen Vortheil fuͤr ſeine eigene Geſund-
heit und ſeinen Eltern zur Freude.
Sei es nun, daß das Kind an der Bruſt genaͤhrt
oder daß es aufgefuͤttert wird, jedenfalls muß man
es bei Zeiten an eine feſtere Nahrung gewoͤhnen,
damit der zu raſche Uebergang von einer Ernaͤhrungs-
weiſe zur andern ihm ſpaͤter nicht gefaͤhrlich werde.
Um dieſen allmaͤlig einzuleiten, werden wir
ſchon 3 oder 4 Monate nach der Geburt damit an-
fangen, dem Kinde etwas fein geraspeltes, gut ge-
backenes Biscuit aus dem feinſten Weizenmehl in Milch
oder Waſſer zur Conſiſtenz eines fluͤſſigen Breies
gekocht, zu reichen. Anfangs nur einmal, ſpaͤter
zweimal, und einige Zeit vor der Entwoͤhnung wenig-
ſtens drei mal taͤglich.
Arrow-root (gewoͤhnliches Kartoffelſtaͤrkemehl
iſt in jeder Hinſicht vollkommen ſo gut und nicht ſo
theuer) mit Milch oder Waſſer zubereitet, iſt eine
gute Kinderſpeiſe, die fruͤhzeitig gereicht werden kann.
Doch darf man ſich nicht zu viel darauf verlaſſen,
denn Arrow-root allein iſt nicht faͤhig den Koͤrper
zu ernaͤhren.
Noch ſpaͤter kann man von Zeit zu Zeit etwas duͤnne
Bouillon oder Huͤhnerſuppe mit Vortheil reichen.
Entwoͤhnt man das Kind allmaͤlig, ſo wird es einer
jeden Gefahr am ſicherſten entgehen. Auſſer dieſen
halbfluͤſſigen Nahrungsmitteln darf man im erſten
Jahre dem Kinde durchaus nichts reichen.
Hart gekochte Eier, Kartoffeln, Kaffee, Thee,
Gewuͤrze, beſonders aber Mehlbrei, Kloͤße, Eier-
kuchen und Huͤlſenfruͤchte ſind fuͤr den Saͤugling Gift,
da ſie theils zu reizend ſind, theils eine Stärke der
Verdauung vorausſetzen, wie man ſie von keinem
zarten Kindermagen erwarten darf. Kindern an
der Bruſt Bier oder ſogar Wein zu geben, iſt durchaus
widerſinnig. Schwaches Bier wird zwar von belgiſchen
Aerzten nicht nur erlaubt, ſondern ſogar anempfohlen,
auch ſieht man, daß Kinder dabei anſcheinend gedeihen,
wenn wir aber die große Reizbarkeit der kleinen
ſchwachen Geſchoͤpfe bedenken, ſo muß Duͤnnbier
ihren Organismus eben ſo ſehr reizen, als ein ſtarker
Wein einen Erwachſenen.
Eine jede feinere Anlage muß dadurch zu Grunde
gehen, und Niemand wird mich uͤberzeugen, daß ein
Leſſing, ein Voltaire oder ein Rabelais ohne Gefahr
fuͤr ihren ſcharfſinnigen Witz ſchon in der Wiege
Bier haͤtten trinken koͤnnen.
Sobald das Kind ſeine Zaͤhne erhalten, iſt es
ein |Zeichen, daß man zu feſteren Nahrungsmitteln
uͤbergehen muß, da die Jnſtrumente zu ihrer Ver-
kleinerung bereit ſtehen.
Entſprach die erſte Erziehung den Anforderungen
der Vernunft, iſt das Kleine dadurch ſo ſtark gewor-
den, wie man es nur von ſeinem Alter erwarten
kann, ſo braucht man, vorzuͤglich nach dem vierten
oder fuͤnften Jahre, mit der Wahl der Speiſen durchaus
nicht ſo aͤngſtlich zu ſein.
Vier mal taͤglich zu eſſen iſt vollkommen hin-
reichend. Das geſunde, nach den angegebenen Prin-
zipien erzogene Kind, wird ohnehin weder zu haͤufig
noch zu viel eſſen, denn Gefraͤßigkeit iſt meiſtens
Krankheitsſymptom, da der ſchwache Koͤrper von
einem dunkeln und irrigen Jnſtinct geleitet, durch die
Menge der Nahrung ſeinen Zuſtand zu verbeſſern
ſucht. Ein Kind, das viel im Freien ſich bewegt,
taͤglich kalt gewaſchen wird, und bei dem Respira-
tionsorgane und Haut kraͤftig functioniren, wird die
gehoͤrige Energie beſitzen, vegetabiliſche Stoffe zu
verdauen, woran der Magen eines verzaͤrtelten
Mutterſoͤhnchens ſcheitern wuͤrde. Bewegung und
Reinlichkeit haben alſo, außer der Staͤrkung der un-
mittelbar angeregten Organe, auch Staͤrkung des
Magens zur Folge, da wegen des innigen Zuſam-
menhanges aller Theile die Staͤrkung eines Organes
ſich den andern mittheilt. Welch ein Vortheil fuͤr
ein zweckmaͤßig erzogenes Kind den vielen Coliken,
Diarrhoͤen und Blaͤhungen, an welchen weichlicher
Erzogene ſo oft leiden, zu entgehen! Dieſe buͤßen
eben ſo viele Tage fuͤr den Wachsthum und die
Ausbildung ihres Koͤrpers ein; jene verlieren keinen
einzigen, dafuͤr ſind ſie aber auch im zehnten oder
eilften Jahre ſtaͤrker, wie die andern im vierzehnten.
Und wenn ſie erſt groß werden, wie ganz anders
ſpiegelt ſich in ihren geſunden Augen die Welt! Für
ſie iſt das Leben mit dem Glanze einer italieniſchen
Sonne erhellt, waͤhrend nordiſcher Nebel jene ungluͤck-
lichen Opfer einer unverſtaͤndigen Zaͤrtlichkeit um-
duͤſtert.
Vorausgeſetzt alſo, daß man in jeder Hinſicht
mit dem Kinde nach einem vernuͤnftigen Plane ver-
faͤhrt, wird man in der Wahl der Speiſen nicht zu
aͤngſtlich zu ſein brauchen. Eine gehoͤrige Miſchung
von Vegetabilien und Fleiſch iſt gewiß die zutraͤg-
lichſte Diaͤt. Leichte Mehlſpeiſen, Reis mit Milch
gekocht, Knollen- und Wurzelgemuͤſe, nicht zu viel
Blaͤttergemuͤſe, da dieſe leicht Blaͤhungen verurſachen,
Sago, Tapioca, einfach gekochtes und gebratenes Rind-,
Kalb- oder Hammelfleiſch, Hühner, weichgekochte
Eier, alle dieſe Speiſen ſind fuͤr einen Kindermagen
paſſend.
Enten, Gaͤnſe, Schweinefleiſch, Kaͤſe, Gewuͤrze,
Hautgout, Kloͤße, zu viel Kartoffeln, feſte Mehl-
ſpeiſen und ſchlechtgebackenes Brod ſind ſchwer zu
verdauen und auch ſonſt nicht zutraͤglich.
Backwerk und Zucker, womit aͤngſtliche Muͤtter
ſo ſehr freigiebig ſind, dürfen dem Kinde gar nicht
gegeben werden; erſteres iſt auch für den beſten Magen
ſchwer zu verdauen und Zucker iſt für die Zaͤhne
reines Gift; auch Feigen und Roſinen greifen durch
ihren Zuckergehalt dieſe Vorpoſten des Verdauungs-
ſyſtemes an.
Der Magen wird ſich bei der groͤßten Regelmaͤ-
ßigkeit im Genuſſe der Speiſen, ſtets am Beſten
befinden. Laͤßt man ihm zwiſchen den Mahlzeiten
eine gehoͤrige Pauſe, ſo ſammelt ſich in der Ruhe
ſeine Erregbarkeit wieder an. Der Appetit wird ſich
zur richtigen Zeit einſtellen, und man kann verſichert
ſein, daß alle Functionen der Verdauung weit beſſer
vor ſich gehen werden. Giebt man aber den Kin-
dern zwiſchendurch Butterbrod und Kuchen zu eſſen,
ſo fehlt der Appetit zur Zeit, wo er ſich einſtellen
und an einer nahrhaftern Koſt ſich ſaͤttigen ſollte;
der Magen wird viel zu oft gereizt und Unregelmaͤ-
ßigkeiten in der Verdauung koͤnnen gax nicht aus-
bleiben.
Regelmaͤßigkeit in der Aufnahme der Speiſen
bedingt Regelmaͤßigkeit der Oeffnung, die fuͤr die
Geſundheit ſo wichtig iſt und die man daher den
Kindern fruͤhzeitig angewoͤhnen muß.
Dieſes kann aber gar nicht geſchehen wenn ſie
mit Butterbrod und Kuchen den Tag uͤber gefuͤttert
werden. Aus dieſem Fehler entſtehen dann jene
Coliken, Verſtopfungen, Diarrhoͤen, Magenſaͤuren ꝛc.,
die den Eltern ſo viel zu ſchaffen machen und bei
einem kluͤgeren Verfahren leicht haͤtten vermieden wer-
den koͤnnen. Eine andere wichtige Regel iſt, daß die
Kinder langſam eſſen lernen. Die gehoͤrige Ver-
kleinerung des Speiſebiſſens, ſo wie ſeine Vermi-
ſchung mit dem Speichel erleichtert ſehr das Ver-
dauungsgeſchaͤft im Magen.
Wird der Biſſen unverkleinert verſchlungen, ſo
braucht der Magenſaft natuͤrlich mehr Zeit ihn auf-
zuloͤſen und die Verdauung muß langſamer von
Statten gehen.
Waſſer iſt das geſuͤndeſte Getraͤnk auch fuͤr den
Erwachſenen, noch mehr aber fuͤr das Kind. Es
ſtaͤrkt den Magen, verduͤnnt das Blut, reizt weder
Nerven noch Blutgefaͤße wie der Wein, und boͤoti-
ſirt nicht wie das Bier. Aber wozu in das uͤberfluͤſſige
Lob eines Getraͤnkes eingehen, welches uͤberall ſo
viele Lobredner findet, und im vollſten Maaße dieſes
Lob verdient.
Von Thee, Kaffee und Chocolade duͤrfen Kinder
gar nichts wiſſen.
Milch und Brod geben ein ganz vorzuͤgliches
Fruͤhſtuͤck. Man muß Kinder nicht zu fruͤh nach dem
Abendeſſen zu Bett ſchicken, ſonſt haben ſie einen
unruhigen Schlaf, und man merkt es ihnen am folgenden
Morgen an.
Sechstes Kapitel.
Schädlichkeit des zu langen Schlafens und Wachens. — Zu ſpätes
Aufbleiben der Kinder höchſt nachtheilig,
Bien haya el que inventò el sueno,
capa que cubre todos los humanos pen-
samientos: balanza y peso que ignala
al pastor con el rey y al simple con
el discreto.
Don Quijote.
Wohl haſt du Recht, guter Sancho, den Erfinder
des Schlafes zu preiſen; des Mantels, der alle
Gedanken des Menſchen zudeckt; der Wage, die den
Bauer dem Koͤnige gleichſtellt und den Einfaͤltigen
dem Klugen.
Aber nur dann iſt der Schlaf, wie alles andere
Gute zu preiſen, wenn er im richtigen Maaße genoſſen
wird, denn nur ſo iſt er erquickend, und nur ſo
erfuͤllt er die Abſicht ſeines Erfinders!
Setzt man ihn zu lange fort, ſo entſteht Traͤg-
heit des Blutumlaufes und Stockung in den Venen,
vorzuͤglich des Gehirns, welches ohnehin in der hori-
zontalen Lage weit eher zu Congestionen geneigt iſt.
Deßhalb hat man auch nach einem langen Schlaf
einen verwirrten Kopf und iſt nicht im Stande einen
Gedanken ſcharf aufzufaſſen. Recht wohl erinnere
ich mich noch der Bemerkung meines unvergeßlichen
Lehrers Blumenbach: daß keiner zehn Jahre ein Lang-
ſchlaͤfer ſein koͤnne ohne zu verdummen.
Ferner, da waͤhrend des Schlafes weniger orga-
niſche Stoffe verbraucht werden und das Vegeta-
tionsgeſchaͤft ungeſtoͤrt vor ſich geht, ſo bewirkt Ueber-
maaß desſelben leicht uͤbermaͤßige Ernaͤhrung, kranke
Fettheit, Ueberfuͤllung mit ſchwachbearbeiteten Saͤften.
Durch die uͤbermaͤßige Ruhe des Nervenſyſtems wird
ſeine Reizbarkeit erhoͤht, waͤhrend zugleich, wegen zu
langer Unthaͤtigkeit, die Muskeln an Energie und
Kraft einbuͤßen. Die Haut wird durch das laͤngere
Verweilen unter den warmen Bettdecken verweichlicht.
Füge ich noch hinzu, daß eine jede uͤberfluͤſſige Stunde,
die man dem Schlafe entzieht, eine fuͤr das Leben
gewonnene iſt, ſo ſind Gruͤnde genug vorhanden, um
Eltern zu bewegen, ihre Kinder an das fruͤhe Auf-
ſtehen zu gewoͤhnen.
Die Natur des Kindes verlangt freilich einen
laͤngeren Schlaf. Es iſt ein ſehr receptives und
ſenſibles Weſen, wird daher ſchon von einer geringeren
Reizſumme erſchoͤpft und erfordert mehr Zeit zur
Wiederherſtellung ſeines Gleichgewichtes. Anfangs
ſchlaͤft es faſt den ganzen Tag, und wacht nur auf,
um die Beduͤrfniſſe ſeines Magens zu befriedigen;
bald aber gewinnt es mehr Kraft, ſein Wachen dehnt
ſich aus, und ſo wird allmaͤlig bis zum vollen Mannes-
alter, eine Stunde nach der andern dem eigentlichen
Leben zugefuͤgt. Eine feſte, allgemein guͤltige Zeit-
periode fuͤr den Schlaf genau zu beſtimmen, iſt unmoͤglich,
da das Beduͤrfniß desſelben nach den verſchiedenen
Jndividualitaͤten ſo verſchieden iſt. Je lebhafter das
Kind, je mehr es im Freien ſich herumtummelt, je
mehr das Nervenſyſtem bei ihm zu praͤdominiren
ſcheint, deſto tiefer und laͤnger und feſter wird es
ſchlafen.
Ein zu kurzer Schlaf iſt eben ſo ſchaͤdlich als
das Gegentheil. Auf dieſe Weiſe koͤmmt man gar nicht aus
der Muͤdigkeit heraus, und erfreut ſich nie des ſchoͤnen
Gefühls von Munterkeit und Kraft, das für den Geſun-
den die eigentliche Wuͤrze ſeines Daſeins ausmacht.
»Zu anhaltendes Wachen ſtoͤrt die Reproduction
und verurſacht bedeutende Erſchoͤpfung der Reizbar-
keit, daher Mattigkeit, Stumpfheit der Sinne, des
Geiſtes, Blaͤſſe, Abmagerung, im hoͤheren Grade
ſogar Verſtandesverwirrung.« (Himly’s allgemeine
Pathologie.)
Wie thoͤricht alſo handeln diejenigen, die ſich
dieſes herrliche Staͤrkungsmittel des Schlafes ent-
ziehen: ſie glauben ihr Leben zu verlaͤngern und kuͤrzen es
bedeutend ab; ſie erinnern an die Leute, die auf der einen
Hand mit elenden Kupfermuͤnzen Oeconomie treiben,
waͤhrend ſie auf der andern ihr reines Gold verſchwenden.
»Das anhaltende Wachen wird deſto nachthei-
liger, wenn es durch heftige Reizmittel erzwungen wird,
da durch dieſe die Receptivitaͤt um ſo mehr erſchoͤpft
und zum Theil auch zugleich die Summe der bleibenderen
Reize, der Saͤfte, vermindert wird.« (Himly.)
Jch uͤberlaſſe es nun dem Urtheil meiner Leſer,
ob es wohl gethan iſt, Kinder in Geſellſchaften auf-
ſitzen zu laſſen.
Wenn Kiuder bei ſolchen Gelegenheiten aufbleiben
wollen, ſo iſt es nur, weil der ungewohnte Glanz,
die ungewohnte Bewegung ſie reizen; ſie kaͤmpfen
mit ihrer Muͤdigkeit um ihrer Neugierde oder ihrer
Eitelkeit zu gefallen, ſie werden blaß, matt und
ſchlaͤfrig, und doch hat man alle Muͤhe ſie zu Bett
zu bringen. Auch iſt nicht zu vergeſſen, daß noch
nebenbei, und zu einer Zeit, wo der Kinderfreund
ſie lieber in ihrem Bette ſehen moͤchte, die armen
Kleinen ſich mit Kuchen und reizenden Getraͤnken
den Magen und die Nerven verderben.
Es bedarf wohl kaum der Erwaͤhnung, daß
wenn dieſe Scenen ſich oͤfters wiederholen, ihre
Folgen fuͤr die Geſundheit des Kindes hoͤchſt nach-
theilig ausfallen muͤſſen.
Jſt das Kind überreizt ehe es zur Ruhe gebracht
wird, ſo geht längere Zeit verloren, bevor der Sturm
des Gefaͤßſyſtems und die Aufregung der Nerven
ſich legen, alſo bis die ruhige Circulation und das
ruhige Athmen wieder eintreten, ohne welche die
Reproduction des Koͤrpers nicht vor ſich gehen kann.
Einem Kinde, das zu gehoͤriger Zeit ſich zu Bette
legt, dient eine jede Stunde der Nacht zur Ernaͤh-
rung und Kraͤftigung des Koͤrpers; für das uͤber-
reizte Kind aber geht dieſe koſtbare Zeit halb verloren,
ehe Gefaͤß- und Nervenſyſtem ihr Gleichgewicht ge-
winnen und Ernaͤhrung moͤglich wird.
Am folgenden Tage zeigen ſich die ſchlimmen
Folgen dieſes überlangen Wachens; das muͤde Kind
bleibt den halben Morgen im Bette liegen und kann
nicht mit der gewoͤhnlichen Munterkeit ſpielen; es
hat ſich den Magen verdorben und der Appetit mangelt
— zuweilen iſt der ſchaͤdliche Effekt mehrere Tage
ſichtbar. Kein Wunder, daß Kinder, die oͤfter lange
aufbleiben, bleich und kraͤnklich ausſehen, und daß
auch die beſte Nahrung bei ihnen nicht anſchlagen
will. Eltern, die viel Geſellſchaft ſehen, duͤrfen
daher ja nicht ihre Kinder Antheil daran nehmen
laſſen, und wäre es auch nur, um ſie nicht zu fruͤh
an kuͤnſtliche Vergnügungen zu gewoͤhnen. Der Glanz
von Baͤllen und Abendgeſellſchaften traͤgt auch nicht
im Geringſten zum Gluͤcke der Kinder bei; das Spielen
im Freien mit ihren Kameraden, in weiten bequemen
Kleidern, denen das Herumtummeln nichts ſchadet,
iſt das Hauptvergnuͤgen ihres Alters.
Daß Kinder gerne zu lange aufbleiben, ruͤhrt
uͤbrigens von einem andern Fehler in der phyſiſchen
Erziehung her, naͤmlich vom Mangel an gehoͤriger
Bewegung bei Tage, denn eine Schaͤdlichkeit geht
gewoͤhnlich mit der andern Hand in Hand.
Angenommen, ein ſchwaͤchliches Maͤdchen geht
den Tag uͤber nicht aus, weil man Erkaͤltung fuͤrchtet.
Die natuͤrliche Folge dieſer Einkerkerung wird ſein,
daß gegen Abend das Beduͤrfniß des Schlafes ſich
nicht gehoͤrig einſtellt, daß die Kleine, wie die mei-
ſten nervenſchwachen Perſonen, um dieſe Zeit, beſon-
ders munter ſein wird. Kommt nun ſogar der Reiz
einer Geſellſchaft hinzu, ſo aͤußert ſich die Lebhaftig-
keit in liebenswuͤrdiger oder hoͤchſt unangenehmer
Munterkeit (letzteres haͤufiger) und die Gaͤſte koͤnnen
das kleine regſame Ding nicht genug bewundern.
Am Tage würden ſie ein ganz anderes Weſen zu
ſehen bekommen und zugeſtehen muͤſſen, daß Lampen-
ſchein entſetzlich truͤgt.
Ein geſundes Kind, das am Tage mehrere
Stunden im Freien herumſpielt, wird gewiß am
Abend ſich freuen, wenn die Schlafſtunde ſchlaͤgt.
Es wird augenblicklich einſchlafen und keine unruhigen
Traͤume werden es reizen. Dafür wird es aber auch
am folgenden Morgen fruͤh wieder munter ſein und
ganz der Geſundheit leben koͤnnen, waͤhrend das andere
noch ſchlaͤft, oder die erſten Stunden des Tages halb
traͤumend zubringt. Da das Kind am Morgen noch
muͤde iſt, ſteht es hoͤchſt ungern auf und gewoͤhnt
ſich daran, laͤngere Zeit im Halbſchlafe die ange-
nehme Waͤrme des Bettes zu genießen; dieſe Ge-
wohnheit waͤchst dann natuͤrlich mit dem Kinde auf,
und koſtet dem kuͤnftigen Manne manche ſchoͤne Stunde.
Das Sprichwort: Morgenſtund hat Gold im Mund,
iſt voller Weisheit. Wer früh munter iſt, wird
wahrſcheinlich auch mit groͤßerer Leichtigkeit ſeine
Tagesarbeit vollenden, und dabei auf dem Wege des
Wohlſtandes raſchere Fortſchritte machen. Jſt ſein
Loos ſo geſtellt, daß er fuͤr ſein taͤgliches Brod nicht
zu arbeiten braucht, ſo wird er manche genußreiche
Stunde ſeinem Leben zufuͤgen, und dabei das beruhi-
gende Gefühl genießen, dieſes koͤſtliche Geſchenk nicht
muthwillig verkuͤrzt zu haben.
Hartwig’s Erziehungsl. 7
Siebentes Kapitel.
Wechſelwirkung der Seele und des Körpers. — Einfluß der Leiden-
ſchaften auf die körperliche Geſundheit. — Einfluß einer guten
phyſiſchen Erziehung auf die Leidenſchaften. — Mittel gegen die
Furcht. — Eigenſinn der Kinder oft dem Leben gefährlich.
Wir wiſſen zwar nicht auf welche Weiſe Seele und
Koͤrper des Menſchen verbunden ſind und muͤſſen
dieſe Unterſuchung den Philoſophen uͤberlaſſen; das
aber lehrt uns die taͤgliche Erfahrung, daß Affecte
und Leidenſchaften einen bedeutenden Einfluß auf
unſere Geſundheit ausuͤben. Wie irrig, die Krank-
heiten des Menſchen allein von der materiellen
Seite aufzufaſſen, da er doch als fuͤhlendes und
denkendes Weſen ſo verwundbar iſt! Wie viele acute
und chroniſche Leiden entſpringen aus den verzehren-
den Leidenſchaften und den getaͤuſchten Hoffnungen
des Lebens? Und wie kann man hoffen, durch ma-
terielle Mittel allein dieſe Leiden zu heilen? Gewiß
wird dieſer Einfluß der Seele auf den Koͤrper nicht
oft genug beruͤckſichtigt oder nicht weit genug verfolgt;
man hat noch zu wenig daran gedacht (außer in der
Behandlung der Geiſteskrankheiten) die Leidenſchaften
als Heilmittel zu benutzen. Allerdings iſt es leichter,
ein gewoͤhnliches Recept zu verſchreiben, als den
Gemuͤthszuſtand ſeines Patienten zu ſtudiren, ſein
Vertrauen zu erwerben, und ſich der ſchwachen oder
ſtarken Seiten ſeines Charakters als Hebel zu ſeiner
koͤrperlichen Beſſerung zu bedienen. Aber, von der
andern Seite, welch ein Triumph fuͤr den denkenden
Arzt durch die unmittelbare Einwirkung ſeiner eigenen
Seele, die Seele eines Mitmenſchen aufzurichten, und
ſie aus erſtarrender Lethargie zu neuem Leben zu
erwecken!
Die Einwirkung der Affecte auf den ganzen Orga-
nismus iſt in der That erſtaunlich. Schmerz, Freude,
Zorn und Schrecken koͤnnen toͤdten wie der Blitz oder
den Verſtand unheilbar zerruͤtten. Eine freudige
Botſchaft ruft oft den Kranken von den Pforten
des Todes zuruͤck. Nach einer Schlacht iſt die
Sterblichkeit unter den Verwundeten der geſchlagenen
Armee (auch bei gleicher Pflege) am groͤßten. Furcht
bleicht in wenigen Stunden die Haare des Jüng-
lings. So durchlaufen die Affecte die Scala von
der hoͤchſten Erregung bis zur tiefſten Depreſſion und
ſind die immateriellen Repraͤſentanten der materiellen
Arzneimittel (ſtaͤrkend, erregend, narcotiſch, ſchwaͤchend.)
7 *
Auch bei ihrer maͤßigeren Einwirkung ſehen wir,
daß ſie den Barometer des körperlichen Zuſtandes
beſtimmen.
Wie wirkt nicht die Hoffnung auf den ganzen
Menſchen? er athmet ſchneller, ſein Puls ſchlaͤgt
raſcher, eine angenehme Waͤrme belebt ihn, er fuͤhlt
das Beduͤrfniß vermehrter Thaͤtigkeit, ſein Appetit
ſteigt, ſein Gehirn iſt freudiger erregt als durch den
Genuß der feinſten Weine. Wandelt ſich dieſe Hoff-
nung in Furcht um, alsdann welche Veraͤnderung!
Das Athmen wird ſo traͤge, daß dem Bedürfniß nach
Luft durch dieſes Seufzen nachgeholfen werden muß,
der Puls geht langſam, die Haut wird kalt, ein
ſchwarzer Schleier ſcheint ſich uͤber die ganze Natur
auszubreiten, das Gehirn nimmt Theil an der allge-
meinen Depreſſion und ſinkt unter einer Laſt von
truͤben Gedanken. So ſind die meiſten Menſchen
waͤhrend ihres ganzen Lebens, Sclaven der Furcht
und der Hoffnung, und laſſen ſich von der einen zur
andern hin und her bewegen.
Eine richtige Anſicht des Lebens und diejenige
Seelenverfaſſung, welche Horaz, der anmuthig phi-
loſophiſche Dichter ſo ſehr anempfiehlt, nicht zu ſtolz
die Segel zu ſpannen, wenn der Wind des Glückes
blaͤst, aber auch nicht im Sturm des Ungluͤcks zu
zaghaft am Ufer zu ſchleichen, koͤnnen uns allein in
den Stand ſetzen, das ſchwere Gleichgewicht zu
behaupten und unſere Unabhaͤngigkeit gegen aͤußere
Umſtaͤnde einigermaßen zu ſichern.
Auf dieſen Punkt muͤſſen daher die Eltern fruͤh-
zeitig hinarbeiten, wenn ſie das Gluͤck ihrer Kinder
auf eine feſtere Baſis ſtuͤtzen wollen.
Die Regulirung der Leidenſchaften iſt gewiß einer
der wichtigſten Gegenſtaͤnde, die wir in Bezug auf
die phyſiſche Erziehung zu betrachten haben. Dieſe
hat zur Aufgabe dem Kinde den hoͤchſtmoͤglichen Grad
von Geſundheit zu ſichern und den Grund eines kraͤf-
tigen, langen und glücklichen Lebens zu legen. Alles
was dieſen Zweck befoͤrdern oder hindern kann iſt
Gegenſtand ihrer Sorgfalt. Begnügte ſie ſich allein
mit Unterſuchungen uͤber den Einfluß der Temperatur,
der Speiſen, der Bewegung, der Reinlichkeit, und
ließe ſie die feineren Einflüſſe des Gemüths unbe-
ruͤckſichtigt, welche doch den Organismus, eben ſo
ſehr als jene materiellen Reize modificiren, ſo haͤtte
ſie ihre Aufgabe gewiß nur halb geloͤst. Statt alſo
dieſen wichtigen Punkt gaͤnzlich einer andern Disci-
plin zu überlaſſen, muß ſie im Gegentheil dringend
auf den innigen Verband zwiſchen koͤrperlicher und
geiſtiger Geſundheit aufmerkſam machen, und daran
erinnern, daß die eine ohne die andere nicht beſtehen kann.
Was wuͤrde es helfen, den kindlichen Organis-
mus gegen Wind und Wetter abzuhaͤrten und dabei
ungeſtoͤrt den Keim von Leidenſchaften ſich entwickeln
laſſen, die vorausſichtlich ein trauriges und ſieches
Leben herbeifuͤhren muͤſſen.
Aber indem wir durch eine richtige Leitung
das Kind mit dem koͤſtlichen Gute der koͤrperlichen
Geſundheit bereichern, geben wir ihm zugleich jene
heitere froͤhliche Stimmung, die der Tugend ſo zu-
traͤglich iſt und das Aufwachſen in allem Guten ſo
ſehr unterſtuͤtzt. Der gewoͤhnliche Gemuͤthszuſtand
eines geſunden Kindes iſt wohlwollend, liebenswuͤrdig
und vergnuͤgt; im Vollgefuͤhl ſeines Gluͤcks iſt es
freundlich gegen Jedermann; eine gleichmaͤßige, heitere
Stimmung wird ihm zur Gewohnheit. Gegen das
Ueberhandnehmen wie vieler verderblichen Affecte
wird es nicht durch dieſe gluͤckliche Grundſtimmung
geſchuͤtzt!
Wenn ein heftiger Zornanfall die Verdauung
ploͤtzlich ſtoͤrt und den Menſchen aller Vernunft beraubt,
ſo macht anderſeits eine beſondere Reizbarkeit des
Nervenſyſtems zu dieſem Affecte vorzuͤglich geneigt.
Reizbare Nerven koͤnnen aber bei einer vernünftig
geleiteten phyſiſchen Erziehung durchaus nicht vor-
kommen, und ſomit wird der verderblichen Lei-
denſchaft des Zornes die ſtaͤrkſte Wurzel abge-
ſchnitten.
Neid und Mißgunſt koͤnnen ſich nur bei einem
kraͤnklichen Kinde zeigen. Wie! dieſer muntere, roth-
wangige Knabe, dieſes froͤhliche, geſunde Maͤdchen
ſollten neidiſch ſein, und wen ſollten ſie denn beneiden?
Sind ſie nicht vielmehr ſelbſt Gegenſtaͤnde des Neides
fuͤr alle, die die wahren Guͤter des Lebens verſcherzt
haben, indem ſie Schatten nachgelaufen ſind? Wohl
aber begreifen wir den Neid bei einem ſchwaͤchlichen
Kinde, das, von den Vergnuͤgungen ſeines Alters
ausgeſchloſſen, beim warmen Sonnenſchein das Zimmer,
vielleicht das Krankenlager huͤtet, und deſſen Ohr
von den muntern Stimmen der in der Ferne Spielen-
den getruͤbt wird. Wohl begreifen wir, wie ſchon
im Kindesalter durch Vernachlaͤſſigung des koͤrper-
lichen Gedeihens, der Grund zu dieſer ſich ſelbſt
verzehrenden Leidenſchaft gelegt werden kann.
Die uͤble Laune, jener abſcheuliche Daͤmon, der
ſeine Opfer zum Unglückswerkzeuge ihrer Angehoͤrigen
macht, kann unmoͤglich das Gemuͤth eines geſunden
Kindes vergiften. Ein uͤbelgelauntes Kind, das ſich
muͤrriſch und unfreundlich gegen die, welche ihm
Liebe erweiſen, betraͤgt, iſt ſchon moraliſch und phyſiſch
krank, und die Huͤlfe des Arztes, ſo wie eine beſſere
phyſiſche Erziehung muͤſſen hier die moraliſche Beſſe-
rung einleiten.
Ermahnungen und Zureden allein können ein
Uebel nicht heben, deſſen Quellen in koͤrperlicher
Verſtimmung liegen.
Eine ſo herrliche Grundlage wie die phyſiſche
Geſundheit zur moraliſchen Ausbildung auch liefert
ſo iſt ſie doch nur der fruchtbare Boden, auf dem
eine ſorgfaͤltige moraliſche Erziehung fortbauen ſoll.
Einer der erſten Grundſaͤtze muß ſein, die Furcht
im Kinde nicht aufkommen zu laſſen, Furcht vor
der Dunkelheit, Furcht vor Geſpenſtern, Furcht vor
dem Gewitter. Man denke ſich ein Kind, das beim
Schlafengehen ſchnell unter die Bettdecke kriecht, weil
es in der Dunkelheit irgend ein ſchreckliches Fantom
zu ſehen fuͤrchtet. Die Zeit der Nacht, fuͤr einen
jeden andern die ſchoͤnſte Ruhezeit, iſt fuͤr den armen
Kleinen das Signal der peinlichſten Unruhe. Waͤh-
rend andere einen erquickenden Schlaf genießen, treibt
ihm der geringſte Laut den Angſtſchweiß aus, und
nur dann ſchlaͤft es ein, wenn uͤbergroße Muͤdig-
keit der Furcht die Wage haͤlt. Der nachtheilige Ein-
fluß dieſes Zuſtandes bedarf keines Beweiſes.
Die Furcht iſt ein beſtaͤndiger Krampf; ſie ſchnuͤrt
alle kleinen Gefaͤße zuſammen, die ganze Haut wird
kalt, blaß, und die Ausduͤnſtung voͤllig gehemmt.
Alles Blut ſammelt ſich in den inneren Theilen,
der Pulsſchlag ſtockt, die Circulation wird geſtoͤrt.
Die Furcht iſt alſo ein ſehr deprimirender Affect,
der die allgemeine Senſibilitaͤt, und folglich die Ab-
haͤngigkeit von allen aͤußern Einfluͤſſen bedeutend
erhoͤht. Wie ſchuͤtzen wir das Kind gegen dieſe
entnervende Leidenſchaft? Am Beſten dadurch, daß
wir ſelbſt mit einem guten Beiſpiele vorangehen.
Wenn, beim Ausbruch eines Gewitters ein Kind
bemerkt, daß ſeine Mutter ſich aͤngſtigt und bei jedem
Donnerſchlage zuſammenfaͤhrt, ſo wird es natuͤrlich
dieſelbe Furcht empfinden. Laͤßt man ſich aber nichts
merken, ſcherzt und lacht man nur ruhig fort, freut
man ſich laut uͤber die wohlthaͤtigen Folgen des
Gewitters, ſo wird das Kind wahrſcheinlich von
keiner Angſt etwas wiſſen.
Wenn man Kinder mit Geſpenſtergeſchichten unter-
haͤlt, oder ihnen mit Schreckbildern droht, ſo ſchadet
man auf doppelte Weiſe. Man giebt ihnen falſche
Begriffe und macht ſie zu Sclaven einer blinden Furcht.
Vom erſten Anfang an muß man gegen Kinder
wahr ſein und ihnen nichts ſagen, was nicht mit der
Wahrheit übereinſtimmt. Wenn ſie nur einmal merken,
daß man ſie wiſſentlich betrogen hat, ſo iſt alles
Vertrauen verloren und ihr ganzer Charakter bekoͤmmt
eine falſche Richtung.
Ueberhaupt iſt das Kind, in moraliſcher Bezie-
hung das Bild ſeiner Umgebung. Ein Kind gebildeter
Eltern, das im vaͤterlichen Hauſe nur Beiſpiele des
Guten und Schoͤnen geſehen hat, wird ſeltener vom
Wege des Guten und Schoͤnen abirren.
Wie ſehr ſchadet es dem Kinde, wenn es in der
Geſellſchaft von Ammen und Waͤrterinnen aufwaͤchst!
Geſpenſterfurcht, laͤcherliche Vorurtheile, unedle
Sprache, ſchlechte Gewohnheiten, ſind Folgen des
vielen Zuſammenlebens mit einer ungebildeten Die-
nerſchaft. Wer mit Sclaven umgeht, wird auch die
Geſinnungen eines Sclaven annehmen.
Jm Emile finden wir einige vortreffliche Rath-
ſchlaͤge zur Bekaͤmpfung der Furcht bei Kindern.
»Der Menſch fuͤhlt ſich ſo ſchwach, daß er alles
fuͤrchtet, was er nicht kennt. Gewohnheit verbannt
dieſe Furcht. Kinder, in reinlichen Haͤuſern erzogen,
wo man keine Spinnen ſieht, fuͤrchten Spinnen und
dieſe Furcht klebt ihnen ſpaͤter noch an. Jch habe
nie Bauern geſehen, welche Spinnen fuͤrchteten.
Weßhalb ſollte die Erziehung des Kindes nicht an-
fangen, noch ehe es ſpricht, da die bloße Wahl der
Gegenſtaͤnde, die man ihm vorhaͤlt, es furchtſam oder
muthig machen kann? Jch verlange, daß man es an
neue Gegenſtaͤnde gewoͤhnen ſoll, an haͤßliche, ekel-
hafte Thiere, aber allmaͤlig, von weitem, bis es
durch das haͤufige Zuſehen, wie andere dieſe Thiere
anfaſſen, ſie zuletzt ſelbſt anfaſſen lernt. Wenn es
in der Kindheit ohne Schaudern, Kroͤten, Schlangen,
Krebſe geſehen hat, wird es ſpaͤter vor dem Anſchauen
irgend eines Thieres keine Furcht haben.
Es giebt keine furchtbaren Objecte, fuͤr ſolche
welche ſie taͤglich ſehen. Alle Kinder fuͤrchten Masken.
Jch fange damit an, meinem Emile freundliche Masken
zu zeigen. Alsdann haͤlt einer ſich dieſe Maske vor;
ich lache, alle lachen, und das Kind lacht wie die
uͤbrigen. Allmaͤlig gewoͤhne ich es an weniger ange-
nehme Masken, und zuletzt an abſcheuliche. Habe
ich meine Uebergaͤnge verſtaͤndig geleitet, ſo wird
Emile ſtatt ſich uͤber die letzte Maske zu fuͤrchten,
eben ſo daruͤber lachen, wie uͤber die erſte, und nun
beſorge ich nicht mehr, daß man ihn mit irgend einer
Maske aͤngſtige.
Will ich Emile an das Knallen eines Schieß-
gewehrs gewoͤhnen, ſo fange ich damit an, etwas
Pulver auf der Pfanne einer Piſtole abzubrennen.
Dieſe ſchnell aufſchlagende Flamme macht ihm
Vergnuͤgen. Jch wiederhole den Verſuch mit etwas
mehr Pulver; ich lade die Piſtole ſchwach, dann
ſchaͤrfer; zuletzt greife ich zum Gewehr, zu Boͤllern,
zu Kanonen, zu den ſchrecklichſten Detonationen. Hier geht der gute Rouſſeau etwas weit.
Die Menſchen und zuweilen die Thiere (ſehr deutlich
waͤhrend bedeutender Sonnenfinſterniſſe) haben eine
natuͤrliche Furcht vor dem Dunkeln. Verſtand, Kennt-
niſſe und Muth befreien nur wenige von dieſem Tribut.
Jch kenne Freigeiſter, Philoſophen, Soldaten, die,
am hellen Tage muthig, in der Nacht wie Weiber
zittern, wenn die Blaͤtter eines Baumes rauſchen.
Man ſchreibt dieſe Angſt den Ammengeſchichten
zu, man irrt ſich, ſie hat eine natürliche Urſache.
Und die waͤre? Dieſelbe, welche den Tauben arg-
woͤhniſch und das Volk aberglaͤubig macht: die
Unkenntniß von dem, was um uns vorgeht.
Gewoͤhnt wie ich bin, alle Gegenſtaͤnde aus der
Ferne zu ſehen und ihren Eindruck von vorneherein
zu berechnen, wie ſollte ich, wenn ich meine Umge-
bung nicht mehr wahrnehmen kann, mir nicht tauſend
Geſtalten und tauſend Bewegungen denken, die mir
ſchaden koͤnnen, und denen ich nicht entfliehen kann?
Aus der gefundenen Urſache ergibt ſich das Heilmittel.
Jn allen Dingen ſtumpft die Gewohnheit die Einbil-
dung ab, und nur neue Objecte koͤnnen ſie erwecken.
Sucht alſo den, welchen ihr von der Furcht der
Dunkelheit befreien wollt, nicht durch Ueberredung
zu heilen, ſondern fuͤhrt ihn oft in die Dunkelheit
und ſeid verſichert, daß alle Gruͤnde der Philoſophen
dieſe Gewohnheit nicht aufwiegen werden. Die Dach-
decker wiſſen nichts von Schwindel, und wer ſich an
die Dunkelheit gewoͤhnt, wird ſie nicht mehr fuͤrchten.
Deßhalb viele Spiele im Dunkeln, aber um Er-
folg zu haben, muͤſſen dieſe Spiele froͤhlich ſein.
Nichts macht trauriger als die Finſterniß. Das Kind
muß lachend in das finſtere Zimmer treten; das
Lachen muß es uͤberkommen, ehe es wieder heraus-
geht: waͤhrend es darin bleibt, muß der Gedanke an
die Vergnuͤgungen, die es verlaſſen und bald wie-
derfinden wird, es vor allen phantaſtiſchen Einbil-
dungen bewahren, die es im Dunkeln heimſuchen
koͤnnten.«
Nichts ſchadet einem Kinde mehr, als wenn man
nicht conſequent mit ihm verfaͤhrt; wenn man ihm
einen Augenblick etwas verbietet, um es im Naͤchſten
zu erlauben. Merkt das Kleine, daß es durch Bitten
und Thraͤnen ſeinen Willen durchſetzen kann, ſo wird
es dieſes Mittel zur Herrſchaft durchaus nicht unbe-
nutzt laſſen. Eltern muͤſſen in allen Dingen gerecht
gegen ihre Kinder ſein, ſich wohl bedenken, ehe ſie
ihnen etwas verbieten, dann aber auch feſt bei ihrem
Willen verharren. Ein Kind, das nie Urſache gehabt
hat, an der Conſequenz oder an der Gerechtigkeit
ſeiner Eltern zu zweifeln, wird ſich ohne Murren in
ihren Willen fuͤgen, wenn auch dieſer Wille mit
ſeiner Neigung nicht uͤbereinſtimmt. Warum führe
ich dieſen Punkt hier an? Weil er von großer Bedeu-
tung fuͤr die Geſundheit und ſogar fuͤr das Leben des Kin-
des ſein kann, denn es fehlt durchaus nicht an Beiſpielen,
daß Krankheiten eigenwilliger Kinder, die zum Einneh-
men oder zur noͤthigen Ruhe durchaus nicht zu bewegen
waren, ein toͤdtliches Ende nahmen, und wie mußten in
ſolchen Faͤllen die unglücklichen Eltern ihre verlorene
Herrſchaft nicht bereuen? Ein Kind, das einmal den
Scepter an ſich geriſſen und daran gewoͤhnt iſt, daß
alles ſich in ſeine Launen fuͤgt, laͤuft jeden Augenblick
Gefahr krank zu werden. Denn iſt es ſchon einem
Erwachſenen, deſſen Wille von einer reiferen Vernunft
geleitet wird, ſchwer, das moraliſche nnd phyſiſche
Gleichgewicht zu behaupten, wie wird es dort aus-
ſehen, wo ein unvernuͤnftiger Wille regiert? Jeden
Augenblick wird ſo ein ungluͤckliches verzogenes Kind
durch Naſchen unreifen Obſtes, oder durch das Eſſen
ungeſunder Speiſen und zur unrechten Zeit (denn
man ſieht wohl, daß die Dienſtboten dem regierenden
Herren nichts abſchlagen koͤnnen) ſich den Magen
verderben, ſo daß wenn die Eltern auch noch ſo
gute Prinzipien in Bezug auf die phyſiſche Erziehung
haben, ſie dieſelben unmoͤglich werden durchſetzen
koͤnnen, wenn ſie einmal das Regiment aus der Hand
gegeben haben, — ein wichtiger Beitrag zu den vielen
Beweiſen, daß moraliſche und phyſiſche Erziehung
gegenſeitig auf einander wirken.
Zum Schluß erlaube ich mir einen guten Rath
zu geben, der mir die Haupterziehungsregeln in ſich
zu begreifen ſcheint: man erziehe ſeine Kinder ſo, daß
ſie von der Zukunft weit mehr zu hoffen als zu fuͤrchten
haben. Wer mit guter Geſundheit, maͤßigen Anſprüchen
und geringen Beduͤrfniſſen ins Leben tritt, wird wahr-
ſcheinlich ſeine Hoffnungen uͤbertroffen finden; wer
aber mit einem verzaͤrtelten Koͤrper und mit großen
Anſpruͤchen und Beduͤrfniſſen aufwaͤchst, dem werden
ſonder Zweifel Wiederwaͤrtigkeiten und Taͤuſchungen
auf jedem Schritte begegnen.
Achtes Kapitel.
Von der geiſtigen Erziehung in Bezug auf das körperliche Wohl-
befinden. — Bemerkungen über die Schulerziehung und die in den
Schulen herrſchenden Methoden. — Ueber den Unterricht in der
Geſchichte, der Geographie, den alten Sprachen. — Vortheil natur-
wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe. — Phyſiologie und Diätetik ſollten
auf Schulen gelehrt werden. — Ein Wort über ſchlechte Lectüre.
Man achtet nicht genug darauf, daß unſere geſunde
geiſtige Thaͤtigkeit von dem geſunden Zuſtande unſers
Gehirnes abhaͤngt, und daß dieſes wieder im genaue-
ſten Zuſammenhange mit der Geſundheit aller uͤbrigen
Organe ſteht. Wuͤrde die ſo wichtige Wahrheit, daß
ein ſchwacher Koͤrper auch den Geiſt ſchwaͤcht, beim
gewoͤhnlichen Schulunterrichte ihrem vollen Werthe
nach anerkannt, ſo muͤßte die geiſtige Erziehung unend-
lich dadurch gewinnen. Alsdann würde man dem
zarten Gehirne der Kinder nur ſolche Aufgaben ſtellen,
welchen ſeine Kraͤfte gewachſen ſind, und zugleich
durch eine rationelle phyſiſche Erziehung für eine
tuͤchtige Entwickelung desſelben Sorge tragen. Ein
flüchtiger Blick auf die Einrichtung unſerer Schulen,
und auf die darin vorherrſchenden Methoden, wird
genügen auch den groͤßten Optimiſten zu uͤberzeugen,
daß hier noch ſehr viele Reformen noͤthig ſind.
Vorerſt wird im Allgemeinen auf die Beſchaffen-
heit der Schulſtuben noch viel zu wenig geſehen; ſie
ſind meiſtentheils zu klein, zu niedrig, zu dunkel.
Wenn ſchon ſehr viele oͤffentliche Schulſtuben den
Tadel eines Mangels an gehoͤriger Groͤße, Trocken-
heit, Ventilation und Helligkeit verdienen, ſo kann
man ſich denken, wie es in dieſer Beziehung in den
Privatinſtituten und Penſionen ausſieht. Hier muß
nicht ſelten eine unverhaͤltnißmaͤßige Anzahl Kinder
taͤglich 6, 7, 8, Stunden und noch laͤnger in dumpfigen
Stuben zubringen, wo aus Mangel an Ventilation
die Luft gar bald verdirbt. Die Folgen zeigen ſich
bald in dem kraͤnklichen, blaſſen Ausſehen der Kinder,
in dem Abnehmen ihrer natuͤrlichen Munterkeit. Eben
ſo ſchaͤdlich iſt der in vielen Penſionen beſtehende
Gebrauch, die Kinder in ſchlecht ventilirten, verhaͤlt-
nißmaͤßig kleinen Schlafſtuben anzuhaͤufen. Jn einem
Raume, wo vielleicht 4 Kinder ihrer Geſundheit un-
beſchadet, ſchlafen koͤnnten, muͤſſen deren 6 oder 8
die Nacht zubringen.
Oft iſt in der Schulſtube ſo wenig fuͤr gehoͤriges
Licht geſorgt, daß die von den Fenſtern entfernteren
Baͤnke faſt immer im Dunkeln ſind, ſo daß Kurz- und
Schwachſichtigkeit gar nicht ausbleiben koͤnnen. Oft
wird, weil die meiſten Lehrer keinen Begriff von Augen-
diaͤtetik haben, bis tief in die Daͤmmerung hinein
geleſen, eine Gewohnheit, deren ſchlimme Folgen
ich im naͤchſten Kapitel ausfuͤhrlicher betrachten werde.
Glaubt man alſo, daß nuͤtzliche Kenntniſſe ſich nur
auf den Schulbaͤnken einſammeln laſſen, und daß
Kinder nothwendig den groͤßten Theil des Tages
ſitzen muͤſſen, ſo ſorge man wenigſtens dafuͤr, daß
der Schauplatz ihrer Thaͤtigkeit ſo eingerichtet ſei,
daß ihre Geſundheit nicht unnoͤthiger Weiſe leide.
Bei der Gleichguͤltigkeit der meiſten Eltern uͤber
dieſen ſo wichtigen Punkt, ſollte der Staat einer com-
petenten und durchaus unabhaͤngigen Commiſſion die
ſtrenge Aufſicht aller Erziehungsanſtalten uͤbertragen.
Dieſe koͤnnte nicht ſcharf genug auf die Beſchaffen-
heit der Schulſtuben ſehen, ſo wie auf die Menge
der in einem Jnſtitute aufzunehmenden Schuͤler.
Oeffentlich muͤßte ſie bekannt machen, in welchem
Zuſtande der Reinlichkeit, der Ordnung, der Zweck-
maͤßigkeit ſie die Anſtalten einer Provinz gefunden;
oͤffentlich muͤßte ſie loben und tadeln. Die Geſund-
heit der aufkeimenden Generation iſt fuͤr das allge-
meine Wohl zu wichtig, als daß ſie ohne Controle
der Habſucht oder der Unwiſſenheit uͤberlaſſen bleibe.
Wer die Leitung einer Schule uͤbernimmt, tritt
Hartwig’s Erziehungsl. 8
dadurch in die Reihe der oͤffentlichen Charactere und
gehoͤrt vor das Forum der oͤffentlichen Meinung.
Auch in den beſteingerichteten Schulſtuben werden
die Uebel des zu lange Sitzens noch immer groß
genug ſein. Wie ihr es auch anfangt, ſo wird doch durch
die gebuͤckte Lage, welche das Kind beim Leſen oder
Schreiben annimmt, die Circulation ſeines Blutes
gehemmt, die Thaͤtigkeit ſeiner Lungen geſchwaͤcht
und ſeine Verdauung geſtoͤrt werden. Sorgt noch ſo
ſehr fuͤr Ventilation, ſorgt noch ſo ſehr fuͤr ein gehoͤ-
riges Licht, eine feſte Geſundheit und langes
Stubenſitzen ſind unvertraͤglich, und wenn ihr, wie
nicht anders zu erwarten ſteht, wirklich uͤberzeugt
ſeid, daß die Geſundheit eurer Kinder alle andern
Ruͤckſichten verdunkelt, ſo werdet ihr gewiß die
Stunden des Stillſitzens nicht auf Koſten des koͤr-
perlichen Gedeihens verlaͤngern wollen. Jhr werdet
es um ſo weniger, wenn ihr bedenkt, daß ihr ohne-
hin auf dieſem Wege nur Scheinfruͤchte fuͤr den
Geiſt gewinnen koͤnnt und Gefahr lauft, ihn zugleich
mit dem Koͤrper zu verkruͤppeln. Kaͤmet ihr doch
endlich zur Erkenntniß, daß alle geiſtigen und koͤr-
perlichen Faͤhigkeiten des Menſchen Zweige ſind, die
aus einem gemeinſchaftlichen Stamme entſpringen,
und daß einer mit dem andern bluͤht, ſo wie einer
mit dem andern verwelkt. Es gibt Kinder von fruͤh-
reifem Verſtande, die alles mit erſtaunlicher Leichtigkeit
erfaſſen. Sie ſind dabei meiſtens von ſchwacher Con-
ſtitution und mit einer gefaͤhrlichen Entwickelung des
Nervenſyſtems begabt. Jn der Regel ſucht die ge-
ſchmeichelte Eitelkeit der Eltern die Wißbegierde
dieſer kleinen Wunder aufzumuntern, und ſieht ohne
Beſorgniß, wie ſie ſich von den Spielen ihres Alters
zuruͤckziehen, um hinter todten Buͤchern zu erblaſſen.
Nichts kann irriger und verderblicher ſein als
dieſes Verfahren. Das frühzeitige Ueberwiegen des
Geiſtes iſt entweder ſchon ein Krankheitsſymptom
oder haͤngt doch mit einer ſchwaͤchlichen Conſtitution
zuſammen, welche vor allen Dingen geſtaͤrkt werden
ſollte. Die Wißbegierde dieſer frühreifen Kinder
muß daher, ich will nicht ſagen unterdrückt werden,
(denn ein Kind kann auch ohne Buͤcher ſehr viel,
erſtaunlich viel lernen), ſondern man muß dieſelbe ſo
zu regeln wiſſen, daß ihre Befriedigung der koͤrper-
lichen Entwickelung nicht ſchadet.
Woher koͤmmt es, daß ſo viele lebhafte und
begabte Kinder, die auf der Schule die erſte Stelle
einnahmen, ſich ſo oft im Leben mit einer ſehr unter-
geordneten begnuͤgen müſſen? Entweder weil ihr
Gehirn fruͤhzeitig durch übermaͤßige Reizung geſchwaͤcht
wurde, oder, was noch viel haͤufiger der Fall, weil
ihr ſiecher Koͤrper dem Geiſte die Energie des Willens
benimmt. Waͤre die phyſiſche Erziehung dieſer Kinder
beſſer geleitet worden, ſo haͤtte ihr ſpaͤteres Alter
8 *
ohne allen Zweifel die glaͤnzenden Hoffnungen ihrer
Morgenroͤthe erfüllt, waͤhrend ſie nun als Opfer
einer verkehrten Treibhauserziehung untergehen.
Betrachten wir nun die Hauptzweige des Wiſ-
ſens, die man auf Schulen lehrt; unterſuchen wir
ob die Zeit der Schuͤler nicht vielleicht auf eine
zweckmaͤßigere Weiſe angewendet werden koͤnnte —
ob es nicht moͤglich wäre, dem Geiſte eine ſehr hohe
Bildung zu geben, ohne daß die Geſundheit des
Koͤrpers dabei zu kurz käme?
Niemand wird laͤugnen, daß das eigentliche
Studium der Geſchichte weit uͤber den kindlichen
Horizont hinausliegt. Die Entwickelung der Gruͤnde,
welche die Groͤße und den Verfall der Voͤlker ver-
anlaſſen; die Unterſuchung des Ganges weltveraͤn-
dernder Jdeen; die Betrachtung des Einfluſſes,
welchen wichtige Entdeckungen und hervorragende
Charactere auf die wechſelnde politiſche Macht der
Nationen ausuͤben, dieſes alles ſind Gegenſtaͤnde, welche
die Theilnahme des Kindes nicht in Anſpruch nehmen
koͤnnen, weil ihm der Maaßſtab zu ihrer Wuͤrdigung fehlt.
Nur an einzelnen intereſſanten Situationen, an
Beiſpielen des Edelmuthes, der Tugend, der Selbſtauf-
opferung, der Vaterlandsliebe, wird es Gefallen finden.
Es wird, um nur ein Beiſpiel anzuführen, die
Thaten eines Columbus mit Vergnuͤgen erzaͤhlen hoͤren;
wenn wir aber uͤber den Einfluß der Entdeckung
Amerika’s auf die bisherigen und kuͤnftigen Schick-
ſale der alten Welt mit ihm ſprechen wollten,
wuͤrde es uns ſeine Aufmerkſamkeit entziehen. Und
doch machen gerade ſolche Betrachtungen über die
Entſtehung und die Folgen großer Begebenheiten, in
den Augen der Erwachſenen den Hauptwerth der
Geſchichte als Bildungsmittel für den reiferen Menſchen
aus; denn handelte es ſich bloß um Namen und
Zahlen, ſo waͤre die Chronologie der Buͤrgermeiſter
eines Staͤdtchens eben ſo lehrreich, wie die Chrono-
logie der Weltgeſchichte.
Rechnen wir daher jene Epiſoden, jene einzeln
ſtehenden leuchtenden Punkte in der Geſchichte der
Menſchheit ab, ſo ſcheint uns wenig Stoff uͤbrig zu
bleiben, der das hiſtoriſche Studium fuͤr Kinder
intereſſant und nuͤtzlich machen koͤnnte. Mit dem
Auswendiglernen von Herrſchernamen und Jahres-
zahlen, womit doch gewoͤhnlich der groͤßte Theil der
dieſem Studium gewidmeten Zeit ausgefuͤllt wird,
iſt gewiß weder für Verſtand noch Herz etwas ge-
wonnen, und auch das Gedaͤchtniß entledigt ſich bald
der unnuͤtzen Buͤrde. Dagegen bleiben ſchoͤne Charak-
terzuͤge großer Maͤnner, ſo wie Plutarch ſie erzaͤhlt,
weil ſie das Herz ruͤhren und zu edlen Entwuͤrfen
entflammen, noch lange uͤber die Schulzeit hinaus
im Geiſte lebendig, ein ſicherer Beweis, daß nur
dieſer Theil des Geſchichtsunterrichtes von dauerndem
Nutzen war. Zu deſſen Erlernung bedarf es aber
nicht eines vielſtündigen Sitzens, eines ermuͤdenden
Auswendiglernens, eines ungeheuern pedantiſchen
Apparates von Tafeln und Büchern: ein verſtaͤndiger
Geſchichtslehrer, der ſeinen Vortrag dem kindlichen
Horizonte anzupaſſen weiß, wird in verhaͤltnißmaͤßig
kurzer Zeit weit mehr ausrichten koͤnnen und die
Aufmerkſamkeit ſeiner kleinen Zuhoͤrer ſo zu feſſeln
wiſſen, daß ſie ihm nicht ſo leicht das gierig Aufge-
faßte vergeſſen ſollen.
Wie viel laͤßt ſich nicht beim Spazierengehen
auf dieſe Weiſe erlernen und durch paſſende Wieder-
holung, Fragen und Antworten dem Gedaͤchtniß
dauerhaft einpraͤgen?
Jch verlange nicht, daß die ganze Erziehung
eine peripatetiſche ſein ſoll (dazu iſt unſer Clima nicht
gemacht) ich wollte nur an dieſem einzigen Beiſpiele
zeigen, daß man das uͤbertriebene Sitzen fuͤglich ent-
behren kann.
Die Biographieen ſolcher Maͤnner, die durch
Ausdauer, ſelbſtſtaͤndige Kraft und tugendhaften Lebens-
wandel, ſich ſelbſt und ihren Mitbruͤdern in einem
hohen Grade nuͤtzlich geworden ſind, und als ruhm-
wuͤrdige Beiſpiele der Menſchheit voranleuchten, ſollten
einen großen Theil des Geſchichtsunterrichtes aus-
fuͤllen (der Nutzen iſt evident); leider kommen ſie faſt
gar nicht darin vor.
Der Knabe kennt die Thaten eines Attila oder
eines bluttriefenden Nero; von den ſtillen Tugenden
eines Franclin weiß er nichts.
Die meiſten Verſtaͤndigen ſind daruͤber einig, daß
mit dem Studium der alten Sprachen, ſo wie es
gewoͤhnlich betrieben wird, entſetzlich viel Zeit ver-
loren geht.
Die Meiſten, die jahrelang lateiniſch und griechiſch
auf Schulen getrieben haben, bringen es nie ſo weit,
daß ſie die claſſiſchen Autoren mit Leichtigkeit und
Genuß leſen lernen. Gewiß iſt es nicht uͤbertrieben,
zu behaupten, daß außer den Philologen und Fach-
gelehrten, von hundert Schuͤlern, die alle Klaſſen
der Gymnaſien durchgemacht haben, und von dort
zur Univerſitaͤt uͤbergehen, nicht einmal fuͤnf, in
ihrem ganzen ſpaͤtern Leben, die Autoren je wieder
anſehen, mit deren Verſtaͤndniß ſie ſich 7 oder 8
Jahre abgemuͤht hatten. Wie koͤmmt es nun, daß die
Meiſten, gerade zu einer Zeit, wo ſie hoffen koͤnnten
in den Geiſt der großen Schriftſteller des Alterthums
einzudringen, ſie ſo gaͤnzlich bei Seite legen? Die
Art und Weiſe wie jene Sprachen gelehrt werden,
traͤgt an dieſer Vernachlaͤſſigung die groͤßte Schuld.
Waͤhrend der Jahre, die er auf dem Gymnaſium
zugebracht, iſt der Schuͤler mit lateiniſcher und grie-
chiſcher Grammatik ſo uͤberſaͤttigt worden, daß er
nach aufgehobenem Zwange an nichts weniger als an
das Leſen der Klaſſiker denkt, und iſt er einmal von
den Wogen des Lebens ergriffen, ſo fehlt es ihm
ſpaͤter auch bei dem beſten Willen oft an Zeit. Er
hat nur todte Sprachformen gelernt; die großen Denker
aber, die in jenen Sprachen geſchrieben, und woran
er ſich eigentlich bilden koͤnnte, bleiben ihm zeitlebens
unbekannt.
Es iſt nur zu wahr, daß die Alten uns durch
die Schule verleidet werden. So klagt Byron, daß
er nie den Horaz habe genießen koͤnnen, weil die Erin-
nerung ſeiner Schuljahre an den Oden dieſes Lieblings
aller Grazien klebe.
Wer zweifelt daran, daß das vernuͤnftige Stu-
dium der Alten eine vortreffliche Uebung für Ge-
daͤchtniß und Urtheil ſei? Giebt es aber nicht zweck-
maͤßigere und fuͤr die große Mehrzahl nuͤtzlichere
Gegenſtaͤnde, die denſelben Vortheil bieten?
Kann der Deutſche z. B. an den claſſiſchen
Schriftſtellern ſeines Vaterlandes, ſo wie an engliſchen
und franzoͤſiſchen Autoren, nicht eben ſo gut ſein
Gedaͤchtniß und ſeinen Verſtand als an todten Sprach-
formen uͤben? Haben nicht Maͤnner in dieſen lebenden
Sprachen geſchrieben, deren Schriften eben ſo gut
das Leſen und Wiederleſen verdienen, wie die Werke
der Alten? Gibt es nicht vortreffliche Ueberſetzungen
der vorzüglichſten claſſiſchen Autoren? Haben nicht
Maͤnner wie Goͤthe und Schiller, deren Kenntniß
des Alterthums, wenn auch nicht eine grundgelehrte,
doch gewiß eine mehr als mittelmaͤßige war, nur
allein aus dieſen geborgten Quellen geſchoͤpft? Und
iſt nicht das gruͤndliche Erlernen einer modernen Sprache,
die fuͤr das Leben in ſo mancher Beziehung nuͤtzlich
ſein kann, ein Nebenvortheil, der durchaus nicht zu
verachten iſt?
Entweder liegt in jenen alten Sprachen eine
ſeltſame Magie, welche ſie zu den einzig würdigen
Bildungsmitteln fuͤr die Jugend macht, oder man
muß zugeſtehen, daß ein Erziehungsſyſtem, welches
ihrem faſt ausſchließlichen Studium die ſchoͤnſten Jahre
der geiſtigen und koͤrperlichen Entwickelung beſtimmt,
große Verbeſſerungen, wenn nicht eine gaͤnzliche Um-
geſtaltung bedarf.
Als ein Beweis, daß langjaͤhrige Beſchaͤftigung
mit den Claſſikern durchaus nicht zur Schaͤrfung des
Verſtandes ſo viel beitraͤgt, als ihre Verfechter ſich
einbilden, moͤge der welthiſtoriſche Kampf uͤber die
Kornfrage dienen, welcher im vorigen Jahre die Augen
von Europa auf ſich zog.
Wie haben Cobden und Bright, die ſich ge-
wiß nie viel mit Virgil und Homer abgegeben,
(dafuͤr aber deſto mehr mit Adam Smith und Say)
ihre Gegner, groͤßtentheils Maͤnner aus Oxford und
Cambridge geſchlagen, und mit welcher ſiegreichen
Dialektik deren klaͤglichen Argumente zertruͤmmert!
Die erfindungsreichſten und thatkraͤftigſten Maͤnner
der neuen Zeit, welche dem Menſchengeſchlechte die
Bahnen des Fortſchrittes eröffnen, und ohne allen
Zweifel die aͤchteſten Ariſtocraten der Natur ſind,
dieſe Maͤnner haben groͤßtentheils entweder keine regel-
maͤßige Schulbildung genoſſen, oder ſo wenig Nutzen
daraus gezogen, daß man ſie bei ihnen eher als eine
Geiſteshemmung betrachten konnte.
Jn den bloͤden Augen ſeines Orbilius galt Liebig
fuͤr einen unnuͤtzen Knaben, der ſeinen Eltern nur
Kummer machen würde. Swift, ein Mann von
durchdringendem Scharfſinn, war auf der Schule nur
als Blockhead bekannt, und Shaksper, jener alles
uͤberſtrahlende Genius, wußte von latein und griechiſch
ſehr wenig.
Waͤre das Studium der alten Sprachen aber
auch das Unentbehrlichſte, ſo iſt doch gewiß keine
Nothwendigkeit vorhanden, es ſo früh anzufangen,
es ſo lange fortzuſetzen, ihm ſo viele Stunden des
Tages zu opfern. Man kann unſtreitig mit einem
viel geringern Zeitaufwande zum Ziel kommen. Faͤhige
Kinder, (und nur bei ſolchen kann ja uͤberhaupt vom
Studiren die Rede ſein) die vor dem zwoͤlften Jahr
auch nie ein lateiniſches oder griechiſches Buch geſehen
haben, werden, wenn ſie von nun an, drei oder vier
Stunden taͤglich und ununterbrochen ſich damit be-
ſchaͤftigen, es ſo weit bringen, daß ſie auf Univerſitaͤten
ihre philologiſchen Studien mit Erfolg werden fort-
ſetzen koͤnnen. Sie werden unſtreitig nicht weniger
tief in den Geiſt des Alterthums eindringen, weil ſie
ſich nebenbei manche andere nuͤtzliche Kenntniſſe, und
durch fleißiges Bewegen im Freien, einen tuͤchtigen
Fond von Geſundheit und Lebenskraft erworben haben.
Jch glaube wenigſtens, daß um die geſunden Griechen
zu verſtehen, es durchaus nicht uͤbel iſt, ſelbſt geſund
zu ſein, und kann mir unmoͤglich denken, daß ein
hypochondriſcher Profeſſor den Geiſt der Hellenen
richtig auffaſſen wird.
Wozu nuͤtzt das Studium der Geographie, ſo
wie es gewoͤhnlich auf Schulen betrieben wird? Dieſe
oͤde Nomenclatur von Ländern, Fluͤſſen, Bergen und
Staͤdten, wobei ſich das arme Kind nichts denkt, weil
es keinen Zuſammenhang hineinbringen kann? Wer
von uns verdankt nicht ſein Bischen Erdkunde einer
ſpaͤteren Zeit, wo politiſche Begebenheiten oder die
Lectuͤre intereſſanter Reiſebeſchreibungen ihn auffor-
derten, auf der Karte nachzuſuchen?
Die Geographie ſollte ſtets mit dem Geſchichts-
unterrichte Hand in Hand gehen. Hat man z. B.
dem Kinde den Freiheitskampf der Griecheu oder den
Zug des Hannibal uͤber die Alpen erzaͤhlt, ſo muß
gleich auf der Karte der Schauplatz dieſer Begeben-
heiten aufgeſucht werden. Man benutze die Gele-
genheit, dem Kleinen lehrreiche Bemerkungen uͤber
Clima, Hoͤhenverhaͤltniſſe, Vegetation, Einfluß des
Bodens auf den Menſchen (alles ſeinen Faͤhigkeiten
gemaͤß) mitzutheilen. Auf laͤngern Spaziergaͤngen
lehre man ihn die Geographie ſeiner Umgebung
kennen, um einen Standpunkt zur Vergleichung mit
groͤßeren Verhaͤltniſſen zu gewinnen; er lerne am
Baͤchlein wie Fluͤſſe ſich bilden und am Huͤgel wie
Alpen ſich erheben. Beim Spazierengehen ſuche man
ihm richtige Begriffe uͤber die Relationen des Erdballs
zur Sonne, zum Monde, zu den Sternbildern zu
geben. Man mache ihn auf die Arbeiten des Land-
manns in den verſchiedenen Jahreszeiten aufmerkſam,
und belehre ihn uͤber deren Wechſel in den verſchie-
denen Zonen. Von der Agricultur gehe man zur
Jnduſtrie und zum Handel über, und mache ihn mit
den Wechſelwirkungen dieſer drei Hauptbeſchaͤftigungen
des Menſchen bekannt.
So wuͤrde man immer weiter vordringend und
immer etwas Neues an das bereits Bekannte anknuͤ-
pfend, ohne allen Zweifel es zu einem weit ſchoͤnern
Reſultate bringen, als jene gedankenloſen Lehrer, die
nur von Buͤcherweisheit etwas wiſſen wollen, und
ein an ſich ſo intereſſantes Studium den Kindern
verleiden. Sollen ſpaͤter dem ernſteren Studium der
Geographie einige Stunden gewidmet werden, ſo
greife man vor allen Dingen nach Reiſebeſchreibungen
(eine lehrreichere Lectuͤre fuͤr Kinder gibt es nicht);
man folge einem Cook oder einem Chamiſſo um die
Welt, einem Mungo Park nach Afrika, einem Roß
und Mackenzie in die froſtigen Regionen von Amerika.
Wie wuͤrde eine Geographie auf dieſe Weiſe gelehrt
im Gedaͤchtniß Wurzel faſſen, und wie oft und
freudig wuͤrde die Erinnerung zu ſo angenehm und
nuͤtzlich zugebrachten Stunden zuruͤckkehren!
Giebt es eine Wiſſenſchaft, welche das Gemuͤth
veredeln und den Geiſt mit großen Jdeen bereichern
kann, ſo iſt es unſtreitig das Studium der Natur,
ein Studium, das unbegreiflicher Weiſe als Bildungs-
mittel fuͤr die Jugend noch ſo ſehr vernachlaͤſſigt wird.
Zwar wird hier und dort etwas Naturwiſſen-
ſchaft getrieben und pedantiſch aus geiſtloſen Buͤchern
gelehrt, doch fuͤhrt dieſes zu Nichts. Man muß die
Natur unmittelbar ſtudieren. Sie iſt das Buch aller
Buͤcher; in ihr lernen wir uns ſelbſt erkennen; ſie
ſtreift ſo viele Vorurtheile von uns ab; ſie giebt uns
einen ſo richtigen Blick zur Wuͤrdigung der Menſchen
und der Verhaͤltniſſe.
Und gewiß geſchieht dieſes nicht auf Koſten der
Poeſie, denn die großartigſten Schoͤpfungen der Dichter
werden kleinlich, wenn wir ſie mit den unendlichen
Wirklichkeiten vergleichen, welche die Naturforſchung
uns offenbart.
Das Telescop eines Herſchel laͤßt uns ganz
andere Himmel ahnen, als Dante, Milton oder Homer
ſie jemals erfanden; und da, wo das unbewaffnete
Auge nur einen klaren Waſſertropfen ſieht, entdeckt
das Microscop eine Welt von lebenden Geſchoͤpfen
und zeigt uns im Unſichtbaren neue Unendlichkeiten.
Laßt eure Kinder nur fleißig im Buche der Natur
leſen, und ſeht ob ihr Gemuͤth und ihre Verſtandes-
kraͤfte nicht den herrlichſten Nutzen daraus ziehen
werden!
Zeigt ihnen das Zweckmaͤßige in allen Einrich-
tungen der Natur; das harmoniſche Jneinanderwirken
aller Kraͤfte und Weſen; die Vorausſicht mit der fuͤr
das winzigſte Thier, fuͤr das kleinſte Pflaͤnzchen ge-
ſorgt iſt, damit es ſeinen Platz an der Sonne aus-
fuͤlle und genieße.
Sollte die Betrachtung des unendlichen Sternen-
heeres, der Glanz der auf- und niedergehenden Sonne,
die unzaͤhligen Pflanzen und Thierformen, die auf
der Erde zerſtreut ſind, und jede nach ihrer Weiſe
den Schoͤpfer loben und preiſen, den Geiſt nicht weit
mehr bereichern, als Kenntniſſe, ſchwarz auf weiß,
in der ſtaubigen Schulſtube geſammelt? O, wenn
das Herz eurer Kinder bei dieſem Anblick nicht groͤßer
wird, und ſich bewundernd und liebend erweitert, ſo
wird kein geſchriebenes Wort es ruͤhren können!
Durch das Studium der Natur lernt der Menſch
erſt ſeine wahre Stellung erkennen, ſeine Kleinheit
und ſeine Groͤße. Wenn unſer Sonnenſyſtem nur
ein Atom im Weltall iſt, ſo muß auch der maͤchtigſte
Erdenſohn die engen Grenzen ſeines Wirkungskreiſes
erkennen, und zugeben, daß in Bezug auf perſoͤnliche
Wichtigkeit, die Diſtanz zwiſchen ihm und dem Nie-
drigſten nur gering iſt. Schon Sokrates benutzte eine
aͤhnliche Lehre, um den Kinderſtolz des ſchoͤnen Alci-
biades, der mit den Beſitzungen ſeines Hauſes prahlte,
zurechtzuweiſen, indem er ihm auf der Erdkarte zeigte,
daß Griechenland nur einen kleinen Theil des Ganzen
ausmache, daß Attica kaum zu finden ſei, und daß
der Kreis, worin ſeine Guͤter lagen, als zu unbe-
deutend, auf der Karte keinen Namen habe! Jch
wuͤßte in der That kein beſſeres Gegengift gegen Stolz
und Hochmuth, als die frühzeitige Erweiterung des
kindlichen Horizonts durch das Studium der Natur.
Man koͤnnte vielleicht einwenden, daß das Be-
ſchauen ihrer unendlichen Groͤße entmuthige und das
Selbſtgefühl unterdrücke, dieſes iſt aber ein Jrrthum.
Der Menſch erblickt beim Beſchauen der Natur
uͤberall ſo viele Beweiſe einer unendlichen Vorausſehung
und Guͤte, daß er ſich unter dem Schutz allweiſer
Geſetze vollkommen beruhigt fuͤhlt.
Wenn er auch klein und unmaͤchtig iſt, und ſein
irdiſches Daſein, (wer er auch ſei) wie der Schatten
eines Traumes vergeht, ſo iſt auf der andern Seite
ſein Geiſt, der ihn befaͤhigt, die Himmelsraͤume zu
durchmeſſen und das Walten der Natur zu durchforſchen,
etwas ſo goͤttliches und erhabenes, daß dieſer Ge-
danke ihn wieder aufrichtet und mit freudiger Zuverſicht
erfüllt. Ein Kind, dem man fruͤh eine ſolche Gei-
ſtesrichtung giebt, muß daher auch an moraliſcher
Bildung ſehr gewinnen, und richtigere Anſichten uͤber
den wahren Werth der Dinge und der Menſchen mit
ins Leben tragen.
Auch dieſen Hauptvortheil des Naturſtudiums
will ich noch erwaͤhnen, daß hier ſchon eine geringe
Kenntniß von practiſchem Nutzen iſt. Der erſte Schritt
traͤgt ſeine Fruͤchte. So bietet uns die Phyſik eine
Menge intereſſanter Erfahrungen, die man Kindern
durch einfache Experimente begreiflich machen kann,
z. B. viele Geſetze der Waͤrme, der Schwere, der
Optik, manche phyſicaliſche Eigenſchaften der Luft,
der Metalle, der Koͤrper uͤberhaupt. Fuͤr welchen
Stand das Kind auch beſtimmt ſei, wie auch ſeine
kuͤnftigen Verhaͤltniſſe ſich geſtalten moͤgen, ſo ſind
dieſes Kenntniſſe, die im Zeitalter der Dampfma-
ſchinen und der Gasbeleuchtung von jedem Gebildeten
gefordert werden.
Die Chemie, welche alle uns bekannten Stoffe
in ihre einfachſten Beſtandtheile zerlegt, und uns die
Geſetze zeigt, nach welchen dieſe 52 Elemente zu un-
zaͤhligen Combinationen ſich vereinigen, iſt auch fuͤr
den Nichtchemiker unentbehrlich. Ohne Chemie giebt
es keinen Fortſchritt im Ackerbau, keine Verbeſſerung
in der neueren Jnduſtrie. Kaum ſind 60 Jahre ſeit
der eigentlichen Geburt dieſer Wiſſenſchaft verfloſſen,
und wie hat ſie ſchon die Welt umgeſtaltet und be-
reichert! Jhr und ihrer Schweſter, der Phyſik, ver-
danken wir das Dampfboot und den Dampfwagen,
mit denen die Berechnung einer neuen Zeit anfaͤngt.
Sie macht keinen Schritt ohne den Menſchen mit
neuen Bequemlichkeiten mit neuen Erwerbsquellen zu
bereichern, und wie viel laͤßt ſich nicht von der Zu-
kunft einer Wiſſenſchaft erwarten, deren Kindheit
ſchon ſolche Rieſenwerke vollbracht!
Die meiſten Menſchen koͤnnen Latein und Griechiſch
entbehren, einige Kenntniſſe der Phyſik und der Chemie
waͤre einem jeden nuͤtzlich. Wäre es nicht endlich
hohe Zeit, daß das Kind die Schule nicht mehr ver-
ließe, ohne etwas zu wiſſen von der Luft, die es |ein-
athmet, von dem Waſſer, womit es ſeinen Durſt
ſtillt, und von der Erde, auf der es froͤhlich einhergeht?
Wie mitleidig wird das naͤchſte Jahrhundert die
Bildung unſerer Tage belaͤcheln, wo man zu den
Hochgebildeten gerechnet wurde, ohne auch nur den
geringſten Anflug von Naturkenntniß zu beſitzen!
Wenn es fuͤr den Menſchen kein wichtigeres Stu-
dium giebt, als das des Menſchen ſelbſt,
The proper study of mankind is man:
ſo muß man ſich wundern, daß ſechszehnjaͤhrige Juͤng-
linge noch immer aus der Schule entlaſſen werden, ohne
Hartwig’s Erziehungsl. 9
auch nur den oberflaͤchlichſten Begriff von ihrer eigenen
Organiſation und von der Geſundheitslehre erhalten
zu haben. Wie! ihr habt Jahre lang eure Schuͤler
unzaͤhlige Stunden ſitzen laſſen, unter dem Vorwande
ihren Geiſt zu cultiviren; ſie haben von euch lernen
müſſen, wie es vor 2000 Jahren in Rom und Athen
ausſah; ſie kennen dem Namen nach alle Provinzen
und alle Staͤdte der Welt, ſind in den feinſten Nuancen
der lateiniſchen und griechiſchen Grammatik bewan-
dert, und wiſſen von ihrem eigenen Koͤrper nichts,
nichts von den Nerven, von der Blutcirculation,
von dem Knochenbau, von den Muskeln, nichts von
ihrem eigenen Wunderbau! Die Geſetze des Solon
und des Lykurg, welche geſunde Staaten gruͤndeten,
ſind ihnen bekannt, nicht aber die Geſetze, nach welchen
ſie ihre eigene Geſundheit erhalten und befeſtigen
koͤnnen! Duͤnken euch jene ſo viel wichtiger als dieſe?
»Es iſt in der That,« ſagt Lichtenberg, »ein
ſehr blindes und unſern aufgeklaͤrten Zeiten ſehr un-
angemeſſenes Vorurtheil, daß wir die Geographie und
die roͤmiſche Geſchichte eher lernen als die Phyſio-
logie und Anatomie, ja die heidniſche Fabellehre eher,
als dieſe für Menſchen beinahe ſo unentbehrliche
Wiſſenſchaft, daß ſie naͤchſt der Religion ſollte ge-
lehrt werden.
Jch glaube, daß einem hoͤhern Geſchoͤpf, als
wir Menſchen ſind, dieſes das reizendſte Schauſpiel
ſein muß, wenn er einen großen Theil des menſch-
lichen Geſchlechtes ein paar tauſend Jahre ſtarr hinter
einander herziehen ſieht, die auf’s Ungewiſſe und unter
dem Freibriefe, Regeln fuͤr die Welt aufzuſuchen, hin-
gehen, und ſich und der Welt unnütz ſterben, ohne
ihren Koͤrper, der doch ihr vornehmſter Theil war,
gekannt zu haben, da ein Blick auf ihn, ſie, ihre
Kinder, ihren Naͤchſten, ihre Nachkommen haͤtte
gluͤcklich machen koͤnnen.«
Die politiſche Oeconomie iſt eine der nuͤtzlichſten
Wiſſenſchaften, welche durchaus in allen Schulen
den aͤltern Knaben vorgetragen werden muͤßte, und
ſo viel ich weiß, in keiner vorgetragen wird. Jhre
Hauptwahrheiten ſind leicht faßlich und intereſſiren
gleichmaͤßig alle Claſſen der Geſellſchaft. Sie lehrt
uns das Zweckmaͤßige lieben, macht auf den hohen
Werth der Arbeit aufmerkſam, lehrt uns den Segen
des Friedens ſchaͤtzen, giebt uns beſſere Einſichten in
den Mechanismus der Geſellſchaft, ein richtiges Ur-
theil uͤber manche wichtige Punkte, und ſtreift viele
in ihren Folgen hoͤchſt verderbliche Vorurtheile von
uns ab. Ein ſo reiches Studium, welches dabei die
Begriffe 15 oder 16jaͤhriger Knaben nicht uͤberſteigt,
und bei allgemeinerer Verbreitung ſo viel zur Hebung
des Menſchengeſchlechtes beitragen wuͤrde, verdient
gewiß manchen andern Disciplinen vorgezogen zu
werden, und duͤrfte in keinem guten Schulplan fehlen.
9 *
Die jetzige Erziehung der Maͤdchen iſt wo moͤglich
noch fehlerhafter als die der Knaben, da man ſie
zu nichts weniger als zu kuͤnftigen Hausfrauen und
Müttern bildet, und die geſunde Entwickelung ihres
Koͤrpers noch mehr vernachlaͤſſigt. Wenn die Frau
vom Hauſe beſtaͤndig kraͤnkelt, kehrt der Unfriede bald
ein. Sorgt daher vor allen Dingen, ihr Muͤtter,
daß eure Toͤchter bluͤhend und ſtark werden, und be-
laͤſtigt ſie nicht mit dem Erlernen ſo vieler Quisqui-
lien, vorzuͤglich wenn die Natur ſie weder zu Virtuoſen
noch zu Bel‒esprits beſtimmte.
Wie viele Maͤdchen verlieren nicht unendlich viel
Zeit mit Muſikuͤbungen, welche ſie ſpaͤter faſt immer
liegen laſſen? Die ganze Erziehung ſcheint nur darauf
gerichtet, eine ganz kurze Epoche des Lebens moͤglichſt
glaͤnzend zu machen.
Auf dieſem Wege werden aber weder Herz noch
Verſtand ausgebildet, ſondern hoͤchſtens Eitelkeit und
Flachheit. Sucht lieber fuͤr eure Toͤchter einen wahr-
haft gebildeten Lehrer, der ihr Auge fuͤr die Natur
oͤffne und das fuͤr alles Gute und Schoͤne empfaͤng-
liche Frauenherz mit den Thaten großer Maͤnner
ruͤhre, oder an den Gedanken großer Schriftſteller er-
waͤrme. Noch beſſer, wenn ihr ſelbſt dieſe ſchoͤne
Rolle uͤbernehmen koͤnnt, wenn euer Kind euch nicht
allein das Leben verdanken wird, ſondern mehr noch
als das Leben, eine Erziehung, welche dem Koͤrper
eine bluͤhende Kraft und dem Geiſte eine herrliche
Entwickelung verleiht.
Dieſe unſchaͤtzbaren Guͤter laſſen ſich aber weder
durch einen homoͤopathiſchen Anflug von fremden
Sprachen, noch durch das zeittoͤdtende Erlernen einer
ſeelenloſen muſicaliſchen Fingerfertigkeit erlangen.
Jch faſſe nun das Vorhergehende noch einmal
kurz zuſammen.
Eine zweckmaͤßige geiſtige Erziehung verlangt
vor allen Dingen, daß man durch zu langes Stuben-
ſitzen die Geſundheit nicht zerſtoͤre, und daß das
Gehen oder Sitzen im Freien weit haͤufiger zum
Unterricht benutzt werde, als bis jetzt noch geſchieht.
Sie verlangt, daß in den erſten 6, 7 oder 8 Jahren
(je nach den Kraͤften) von gar keinem geregelten
Schulunterricht die Rede ſei.
Sie fordert, daß man die Gegenſtaͤnde des Un-
terrichts ſo waͤhle, daß das Kind auch im ſpaͤteren
Leben Nutzen daraus ziehe und daß die Methode
einige Spuren von Geiſt verrathe.
Sie fordert, daß man das Gedaͤchtniß nicht mit
Wortkram uͤberlade und mehr fuͤr die Cultur des
Gemuͤthes und des Urtheils ſorge, daß man dem
Kinde keine Sachen vortrage, die es nicht verſtehen
kann. Sie verlangt, daß die Schulſtube allen Er-
forderniſſen der Geſundheit entſpreche, daß ſie hell,
groß und wohl geluͤftet ſei. Sie verlangt endlich
gebieteriſch, daß der Juͤngling die Schule nicht verlaſſe,
ohne die Regeln zu kennen, welche die Geſundheit
erhalten und befeſtigen. Es iſt dieſes der nothwen-
dige Schlußſtein der phyſiſchen Erziehung; bis jetzt
haben die Eltern fuͤr die Geſundheit ihres Knaben
geſorgt, doch nun verlaͤßt er die Schule und tritt
ſelbſtſtaͤndiger in die Welt. Neue Leidenſchaften werden
in ihm wach, es iſt noͤthig, daß man nicht unvorbe-
reitet ihn ſich ſelbſt uͤberlaſſe, daß im Augenblick, wo
er ſeine Selbſtſorge uͤbernimmt, er auch wiſſe, welche
Gefahren er zu vermeiden, welchen Weg er einzu-
ſchlagen habe.
Die Lectuͤre der Kinder verdient eine ganz beſon-
ders ſtrenge Aufſicht, denn es iſt unberechenbar, welchen
Schaden ein einziges ſchlechtes Buch verurſachen
kann. Zum Gluͤck werden geſunde Kinder, die man
nie unbeſchaͤftigt laͤßt, ihre natuͤrliche Erholung bei
ihren Spielkamaraden ſuchen und gar wenig Ver-
langen nach ſolcher verderblichen Lectuͤre tragen.
Freilich, wenn man ſie zum Stillſitzen zwingt, und
ihnen dabei langweilige Lehrſtunden giebt, (langweilig,
weil die Gegenſtaͤnde ſchlecht gewaͤhlt und geiſtlos
vorgetragen werden) ſo iſt es nicht zu verwundern,
daß ſie nach kurzweiligeren Erzaͤhlungen greifen, und
waͤhrend des Unterrichtes Sachen leſen, von denen
der gutmuͤthige in aller Unſchuld fortdocirende Lehrer
keine Ahnung hat! Das allergefaͤhrlichſte für Kinder
und Erwachſene iſt und bleibt die Langeweile, und
deßhalb ſind auch ſo viele oͤffentliche und Privat-
ſchulen wahre Schulen der moraliſchen und phyſiſchen
Verderbniß.
Neuntes Kapitel.
Wie ſchützt man Kinder gegen Kurz- und Schwachſichtigkeit? —
Einfluß eines zu ſtarken, zu ſchwachen, zu ungleichen Lichtes. —
Urſachen des Schielens. — Bemerkungen über die Behandlung
der übrigen Sinne.
Wie gluͤcklich, wer ein Auge beſitzt, das ihm noch
im hohen Alter treu bleibt und in weiter Ferne die
Gegenſtaͤnde ſcharf unterſcheidet! Welche Sorgen
plagen nicht den Schwachſichtigen, der in ſteter Furcht
leben muß, ſein Uebel moͤge zunehmen und ihn vielleicht
mit den ewigen Schatten der Blindheit umſchleiern,
noch lange ehe ſein Leben ſich zum Abend neigt.
Unthaͤtigkeit, Entbehrung, Armuth, Abhaͤngigkeit,
das Licht der Sonne nicht mehr ſehen, noch das
Licht des menſchlichen Auges, welch’ eine Ausſicht
für die Zukunft, genug alles Gute der Gegenwart
zu truͤben!
Aber auch der Kurzſichtige muß manchen Genuß
entbehren. Die Reize der Natur im Großen gehen
fuͤr ihn verloren, und da, wo das fernſehende Auge
die ſchoͤnſte Mannigfaltigkeit von Feldern, Baum-
gruppen, Flußwindungen, Doͤrfern und Bergumriſſen,
mit einem Worte, die tauſend Einzelnheiten einer
belebten Landſchaft erblickt, ſieht er nur ein verwor-
renes chaotiſches Nebelbild.
Ein Kurzſichtiger, der im achtzehnten Jahre zum
erſten mal eine herrliche Gegend durch eine Brille
ſah, weinte Thraͤnen der Ruͤhrung; nie hatte er ſich
die Natur ſo reizend vorgeſtellt; es war ihm wie
die ploͤtzliche Offenbarung einer ſchoͤneren Welt, als
durch das einfache Vorhalten der concav geſchliffenen
Glaͤſer, der Schleier von ſeinen Augen gehoben wurde.
Gewiß machen die vielen Unannehmlichkeiten,
welche die Kurzſichtigkeit im taͤglichen Verkehr mit
ſich führt, ſie zu einem weit groͤßern Uebel, als
wofuͤr man ſie gewoͤhnlich haͤlt. Sie verurſacht ein
unſicheres Auftreten; das Spiel der Phyſiognomieen
und der Geberden geht uns dadurch verloren; ſie
erſchwert das Studium der Kunſt oder macht es ganz
unmoͤglich; ſie iſt Schuld, daß wir oft ganz un-
ſchuldig gegen die Hoͤflichkeit verſtoßen.
Der Gebrauch der Glaͤſer hilft auf die Dauer
in dieſer Ausdehnung nicht, denn es iſt durchaus
nicht rathſam, ſie ſo ſtark zu waͤhlen, daß ſie voll-
kommen alle Unannehmlichkeiten der Kurzſichtigkeit
beſeitigen, da man ſonſt ihre Schaͤrfe immer ſteigern
muß, und ſo zuletzt auf einen Punkt koͤmmt, wo
keine Steigerung mehr moͤglich iſt.
Die Pflege der Augen bei Kindern iſt uͤberaus
wichtig, denn es haͤngt groͤßtentheils von der Auf-
merkſamkeit der Eltern und Lehrer ab, ob dieſe Organe
von Fehlern befreit bleiben ſollen, die, um nur wenig zu
ſagen, manchen bittern Tropfen in den Kelch des
Lebens gießen.
Jch habe ſchon mehrmals wiederholt, daß alle
Theile unſeres Koͤrpers in gegenſeitiger Abhaͤngigkeit
von einander ſtehen, und daß das Weſen der Geſund-
heit in einem harmoniſchen, bewußtloſen Jneinander-
ſpielen aller Organe beſteht. Wenn alſo die allge-
meinen Regeln, welche die Geſundheit des Koͤrpers
bedingen, befolgt werden, geſchieht ſchon ſehr viel
für Staͤrkung und Erhaltung der Augen; aber bei
dieſen ſo hoͤchſt feinen ſenſiblen Organen, die be-
ſtaͤndig einem eigenthuͤmlichen und ſtarken Reiz aus-
geſetzt und waͤhrend des groͤßten Theiles unſeres
Lebens ununterbrochen thaͤtig ſind, iſt man faſt be-
rechtigt ein eigenes unabhaͤngiges Leben anzunehmen,
das bei fortdauernder vollkommener Geſundheit unſeres
Koͤrpers, durch oͤrtlich wirkende Schaͤdlichkeiten nicht
ſelten vernichtet werden kann. Das Auge bedarf
alſo zu ſeiner Erhaltung ganz beſonderer Re-
geln, welche Eltern und Lehrer ja recht beherzigen
ſollten.
Das Licht iſt der eigenthuͤmliche Reiz fuͤr das
Sehorgan; die Quantitaͤt und Qualitaͤt dieſes Reizes
muß daher vor Allem beruͤckſichtiget werden. Das
Licht kann ſchaden durch zu große Staͤrke, aber auch
durch zu große Schwaͤche; es ſchadet, indem es das
Auge ungleichmaͤßig reizt.
Wenn ein zu intenſives Licht auf das Auge faͤllt,
ſo entſteht leicht Ueberreizung und Abnahme, ſogar
voͤllige Vernichtung der Sehkraft.
Ein Blitzſtrahl kann ploͤtzlich blind machen. Sieht
man auf einen ſehr hellen Gegenſtand, in die Sonne
z. B., ſo iſt auf einige Zeit die Stelle der Netzhaut,
worauf der Lichtreiz fiel, wie gelaͤhmt; ein ſchwarzer
Fleck ſchwebt vor den Augen, der erſt allmaͤlig ver-
ſchwindet. Ein Theil des Auges kann voͤllig geblendet
ſein, waͤhrend das uͤbrige ſeine volle Empfaͤnglichkeit
behaͤlt. So bemerkten Brewſter, Herſchel und an-
dere Aſtronomen, daß wenn ſie lange Zeit auf einen
ſehr kleinen Stern ſahen, dieſer zuletzt verſchwand,
augenblicklich aber wieder erſchien, wenn ſie das
Auge ein wenig wendeten, weil jetzt das Bild des
Sternes auf einen Theil der Retina (Netzhaut,
Ausbreitung des Sehnerven) fiel, der bis dahin
ohne Anregung, alſo in voller Energie geblie-
ben war.
Vorzüglich ſchaͤdlich wirkt ein zu helles Licht,
wenn es unmittelbar auf eine ſehr ſchwache Beleuchtung
folgt, denn dieſer ſchnelle Uebergang greift das
Auge eben ſo ſehr an, als ein ploͤtzlicher Tempera-
turwechſel den ganzen Koͤrper.
Nichts aber ſchwaͤcht die Sehkraft ſo ſehr, als
wenn laͤngere Zeit das Licht (wie im obigen Beiſpiel)
ungleichmaͤßig auf den Sehnerv wirkt, wobei einzelne
Theile der Retina ſtark gereizt werden, waͤhrend an-
dere in verhaͤltnißmaͤßiger Unthaͤtigkeit verbleiben.
Es wird dadurch eine innere Disharmonie in das Organ
geſetzt, zu deren Ausgleichung viel Zeit gehoͤrt, und
man kann nicht zweifeln, daß wenn man das Auge
wiederholt ſolchen Schaͤdlichkeiten ausſetzt, es zuletzt
bedeutend geſchwaͤcht werden muß. Ein Jeder weiß
aus eigener Erfahrung wie das Auge ſchmerzt und
thraͤnt, wenn man einen helleren Gegenſtand auf
dunklem Grunde lange und anhaltend betrachtet.
Jn einem hoͤchſt intereſſanten Aufſatze, den der
beruͤhmte Lichtenberg mit allen Grazien des feinſten
Witzes ausgeſtattet, finden wir unter andern folgen-
des Beiſpiel des ſchaͤdlichen Effects eines ungleichmaͤ-
ßigen Lichtes angefuͤhrt.
»Ein Rechtsgelehrter in London wohnte ſo, daß
ſeine Zimmer nach der Straße zu die volle Mittags-
ſonne hatten; ſeine hinteren Zimmer lagen daher nicht
allein gegen Mitternacht, ſondern gingen auch noch
dazu in einen kleinen Hof, der mit einer hohen Mauer
umgeben war und waren alſo etwas finſter. Jn dieſen
Zimmern arbeitete er; fruͤhſtuͤckte und ſpeiſete hingegen
in den andern, in welche ihn uͤberdies ſonſtige Ver-
richtungen oͤfters zu gehen noͤthigten. Dieſes Mannes
Geſicht nahm ab und er hatte dabei einen immerwaͤh-
renden Schmerz in den Augen. Er verſuchte allerlei
Glaͤſer, conſulirte Oculiſten, aber alles vergeblich,
bis er endlich fand, daß der oͤftere Uebergang aus
dem Dunkeln zum Hellen die Urſache ſeiner Krank-
heit ſei. Er veraͤnderte alſo ſeine Wohnung, und
vermied alles Schreiben bei Licht, und wurde ſehr
bald wieder hergeſtellt.«
Da wir nun die Schädlichkeit einer ungleichmaͤ-
ßigen Beleuchtung hinlaͤnglich kennen, wird es uns
nicht ſchwer fallen, ſchon in der Wochenſtube für die
Augen des Saͤuglings zu ſorgen, denn ſchwaches
Licht kann hier nicht leicht gefaͤhrlich werden, (es
muͤßte ſonſt das Kind im Finſtern bleiben) wohl aber
ein zu grelles und ungleichmaͤßiges, wodurch Schielen
und Schwachſichtigkeit ſo oft entſtehen.
Das helle Fenſterlicht, und noch viel weniger
das volle oder reflectirte Sonnen- oder Mondlicht
darf nie auf die Wiege des Kleinen fallen. Dieſe
muß vielmehr ſo geſtellt werden, daß es beim Auf-
wachen eine gleichmaͤßige ſchwache Beleuchtung findet.
Der Schein des Nachtlichtes darf nie das Auge be-
ruͤhren, denn auch waͤhrend des Schlafes durchſchim-
mert ein helles Licht den ſchwachen Vorhang der
Augenlider und ſchwaͤcht die Sehkraft fuͤr den ganzen
folgenden Tag.
Jſt das Kind aber wach, ſo wird ſein Auge von
der glaͤnzenden Flamme angezogen und verdorben,
ſo wie auch die Motte ihre Fluͤgel am verraͤtheriſchen
Lichte verſengt.
Das wahre Schielen iſt gewoͤhnlich die Folge
einer ungleichen Anſtrengung beider Augen; die un-
gleiche Kraft, welche bald hinzutritt, unterhaͤlt als-
dann die fehlerhafte Stellung des Augapfels. Das
Geſicht wird ungleichmaͤßig angeſtrengt, jedesmal daß
die beſondere Aufmerkſamkeit des Kindes auf einen
Gegenſtand gelenkt wird, der nur mit einem Auge
wahrgenommen werden kann, waͤhrend das andere
unthaͤtig bleibt. Dieſer Gegenſtand kann ſehr ver-
ſchiedener Art ſein: das Licht einer Lampe oder eines
hellen Fenſters, oder eine pickende Uhr, oder ein dem
Kinde werthes Weſen, nach welchem es mit Liebe
hinblickt.
Oft entſteht Schielen von der uͤbeln Gewohn-
heit der Kinderwaͤrterinnen, den Kleinen das Spiel-
zeug zu nahe vor die Augen zu halten.
Zuweilen wird Schielen durch die Gewohnheit
der Kinder verurſacht, zwei ihnen werthe aber von
einander entfernte Gegenſtaͤnde zugleich anzuſehen,
was den leicht beweglichen Augen eines Kindes nicht
ſchwer faͤllt.
Ueberſichtigkeit entſteht insgemein dadurch, daß
die liegenden Kleinen ihnen intereſſante Gegenſtaͤnde,
welche uͤber und hinter ihrem Kopfe ſich befinden,
oft und lange betrachten. Man darf daher nicht,
hinter dem Kopfende des Bettes oder der Wiege
ſtehend, die Aufmerkſamkeit des Kindes auf ſich ziehen
oder mit ihm ſpielen.
Wenn durch irgend eine dieſer Urſachen ein oder
beide Augen oͤfters aus der Sehachſe verruͤckt werden,
ſo entſteht natuͤrlich eine ungleichmaͤßige Energie der
Augenmuskeln; die mehr angeſtrengten gewinnen an
Kraft und werden dauerhaft verkuͤrzt, waͤhrend ihre
Antagoniſten erſchlaffen und ſich verlaͤngern. So
wird eine boͤſe Gewohnheit, welcher anfangs mit
einiger Aufmerkſamkeit leicht zu begegnen war, zuletzt
zu einem entſtellenden Uebel, das nur durch eine
Operation gehoben werden kann. Man dulde kein
ſeitwaͤrts einfallendes Licht, man merke ob das Kind
mit einem Auge nach einem beſondern Objecte hin-
ſchielt, und veraͤndere alsbald ſeine Lage, ſo daß es
den Gegenſtand mit beiden Augen gut ſieht.
Durch ſolche Kleinigkeiten kann man oft großen
Uebeln vorbeugen. Welche Mutter wird ihnen nicht
ihre ganze Aufmerkſamkeit ſchenken! Jſt aber das
Schielen einmal eingetreten, ſo iſt das Beſte einen
erfahrenen Arzt um Rath zu fragen, da die geringeren
Grade dieſes Uebels durch ein zweckmaͤßiges Verfahren
noch zu heben ſind. Man verliere ja nicht die koſt-
bare Zeit, im Wahne das Schielen werde mit dem
Wachsthum verſchwinden, da gerade mit der laͤngern
Dauer die Moͤglichkeit der Heilung ohne chirur-
giſche Operation abnimmt. Ueberhaupt ſobald dem
Kinde nur etwas an den Augen fehlt, ſobald die
geringſte Lichtſcheu, die ſchwaͤchſte Roͤthung ſich zeigt,
ſollte man ſich ohne Saͤumen an ein competentes
Urtheil wenden. Es iſt unglaublich wie viel man in
dieſem Alter durch Nachlaͤſſigkeit ſchaden kann. Augen-
uͤbel, die bei ſchnellem Eingreifen ohne boͤſe Folgen
verſchwunden waͤren, geſtalten ſich oft gefaͤhrlich
und unheilbar, weil man zu lange auf die Selbſt-
huͤlfe der Natur gerechnet. Waͤhrend der ganzen
Kindheit, oder vielmehr waͤhrend des ganzen Lebens
müſſen natuͤrlich dieſelben Ruͤckſichten gegen den zar-
teſten und edelſten Sinn immerfort beobachtet werden.
Vermeidung eines zu grellen Lichtes und moͤglichſte
Gleichfoͤrmigkeit der Beleuchtung ſind Regeln, deren
Vernachlaͤſſigung die ſchleichende Urſache unzaͤhliger
Augenkrankheiten, ja nicht ſelten der voͤlligen Blind-
heit iſt.
Jch bin nicht ſehr fuͤr Bettvorhaͤnge eingenommen,
da ſie die der Geſundheit ſo nothwendige freie Luft-
circulation hindern, aber um das Auge des ſchlafenden
und erwachenden Kindes zu ſchonen, muß das grelle
Licht durch ein zweckmaͤßige Stellung des Bettes
abgehalten werden. Zu tief darf die Dunkelheit auch
nicht ſein, denn wenn ein Kind in einer ganz ver-
dunkelten Stube ſchlaͤft, ſo blendet das hernach
hineingelaſſene Tageslicht um ſo mehr.
Man dulde nicht, daß die Kinder bei Lampen-
oder Kerzenſchein zu viel leſen oder ſchreiben, vor-
zuͤglich nicht auf zu weißem Papier. Das Licht,
welches von dieſer hellen Flaͤche auf das Auge zu-
rückgeworfen wird, iſt blendend und ermuͤdet die
Sehkraft ungemein. Soll das Kind ſchreiben, ſo ſei
es auf weniger feinem, etwas blaͤulichem oder grau-
lichem Papier, deſſen Reflex weniger reizt.
Die Lampenſchirme, welche das Licht auf dem
Schreibpult concentriren und den übrigen Raum in
verhaͤltnißmaͤßiger Dunkelheit laſſen, verdienen eine
beſondere Ruͤge, weil das Auge dabei einem zu großen
Contraſt zwiſchen Licht und Schatten ausgeſetzt iſt
und ungleichmaͤßig gereizt wird.
Sind dieſe Lampenſchirme ſchon ſchaͤdlich, ſo
muͤſſen natuͤrlich die Augenſchirme es noch mehr ſein.
Hier trifft beim Leſen oder Schreiben eine ſtark er-
hellte weiße Flaͤche die eine Haͤlfte des Auges, waͤh-
rend die andere ohne Anregung bleibt. Statt alſo
dem Auge Schutz und Linderung zu gewaͤhren, ermuͤ-
den ſie es durch eine hoͤchſt ungleichförmige Beleuch-
tung nur um ſo mehr.
Hartwig’s Erziehungsl. 10
Das Zimmer, worin die Kinder ſich aufhalten,
darf nicht weiß angeſtrichen oder mit glaͤnzenden
Gegenſtaͤnden (vergoldete Rahmen, blanke Metall-
flaͤchen) angefuͤllt ſein, da das Auge in einem ſolchen
Raume die noͤthige Ruhe nicht findet — grau, chamois,
mit gruͤn oder blau vermiſcht, muͤſſen die herrſchen-
den Farben darin ſein. Nirgends ſchreiende Con-
traſte, uͤberall finde das unbeſchaͤftigte Auge nur
milde, angenehme, erquickende Farben. Hoͤchſt ſchaͤd-
lich iſt es, wenn von einer gegenuͤberſtehenden, weiß
oder gelb angeſtrichenen Mauer, ein greller Licht-
reflex in das Zimmer geworfen wird; kein Lichtein-
druck kann dem Auge verderblicher ſein als dieſer,
und man glaube nicht, daß das ſtaͤrkſte Auge einer
ſolchen Schaͤdlichkeit lange widerſteht.
»So manche Augenſchwaͤche,« ſagt Buͤſch,
(Erfahrungen von J. G. Buͤſch, Profeſſor in Ham-
burg. Hamburg 1790) »und voͤllige Blindheit entſteht
bloß aus Verfehlung dieſer wichtigen Regel. Als
ich vor 15 Jahren den ſeligen Hagedorn in Dresden
zum erſten Mal beſuchte, den ich faſt ganz blind
fand, nahm er meinen Beſuch in einem Zimmer an,
wo mir das Licht ganz unausſtehlich war. Er wohnte
in einer ziemlich ſchmalen Gaſſe. Das Sonnenlicht
fiel von den Quaderſteinen der gegenuͤber gelegenen
Haͤuſer ſcharf zuruͤck in das Zimmer.« »Haben Sie,«
fragte ich, »in dieſem Hauſe ſchon lange gelebt?« —
»Schon über zwanzig Jahre.« — »Und war dieß
immer ihr gewoͤhnliches Arbeitszimmer?« — »Das
war es beſtaͤndig.« — »So,« ſagte ich ihm, »ſehe
ich mit Bedauern die Urſache ihres Ungluͤcks ein,
denn in dieſem Lichte konnten ihre Augen nicht geſund
bleiben.«
Das Tragen eines Schleiers iſt ſehr zu tadeln.
Der Schutz, den er dem Teint gewaͤhrt, wird auf
Koſten des Geſichts erkauft. Das beſtaͤndige Hin-
und Herflattern des halbdurchſichtigen Gewebes
ermuͤdet die Sehkraft ungemein, da das Auge be-
ſtaͤndig nach den Vibrationen des Schleiers ſich zu
richten ſtrebt. Junge Maͤdchen ſollten daher dieſen
Putzartikel gar nicht in ihrem Beſitze führen, und,
wenn es ſein muß, ſich gegen Staub und blendendes
Licht, durch die viel zweckmaͤßigeren Sonnenſchirme
verwahren. Daß Kinder nicht ins Feuer, noch in
die Sonne ſehen, noch beim Gewitter muthwillig ihr
Auge dem Blitz zuwenden ſollen, braucht keine wei-
tere Erwaͤhnung.
Schadet ein zu ſtarkes Licht durch Ueberreizung
dem Auge, ſo bringt umgekehrt eine zu ſchwache Be-
leuchtung, da, wo eine ſtaͤrkere noͤthig waͤre, nicht
geringere Uebelſtaͤnde mit ſich.
Das beſchaͤftigte Auge bedarf einer adaͤquaten
Lichtmenge um ſein Penſum gehoͤrig zu vollziehen,
fehlt ihm dieſe, ſo wird es ungebuͤhrlich angeſtrengt
10 *
und geſchwaͤcht. Aus dieſem Grunde iſt das Leſen
oder Schreiben in der Daͤmmerung ſo ſchaͤdlich, und
muß bei haͤufiger Wiederholung auch die Kraft des
ſtaͤrkſten Auges zerruͤtten.
»Schreiben oder Leſen in der Daͤmmerung,«
ſagt Lichtenberg, »muß man nie. Es iſt ein Ver-
fahren, das, den gelindeſten Ausdruck zu gebrauchen,
thoͤricht iſt. Der ſchnoͤde Gewinn an Oel und Zeit
geht tauſendfach durch das Leiden und den Unmuth
hin, den man ſich durch ſchwache Augen zuzieht.
Es iſt uͤberhaupt ein ſehr großer, wiewohl ſehr
gemeiner Jrrthum zu glauben, ein ſchwaches Licht
ſei den Augen guͤnſtig. Dem unbeſchaͤftigten
Auge wohl, das nicht ſehen will, allein dem ſehen
wollenden iſt es ſchlechtweg ſchaͤdlich und ein
ſtarkes zutraͤglicher. Muß bei Licht geleſen oder
geſchrieben werden, ſo iſt es immer beſſer zwei oder
drei Lichter zu gebrauchen als ein Einziges, nur muß
die Flamme ſelbſt mit ſo wenigem Aufwand von
Schatten verdeckt werden, als es die Umſtaͤnde
verſtatten.«
Wird irgendwo gegen dieſe wichtige Regel gefehlt,
ſo iſt es auf Schulen. Gewoͤhnlich wird ſo lange
mit dem Anſtecken der Lampen gezoͤgert, bis es auch
mit großer Anſtrengung nicht mehr moͤglich iſt zu
leſen; davon abgeſehen, daß es in manchen Schulftu-
ben Plaͤtze gibt, wo auch am Tage eine kuͤnſtliche
Daͤmmerung durch das Genie des Architecten ange-
bracht worden iſt. Ein Jeder, der verſucht hat,
laͤngere Zeit in der Daͤmmerung zu leſen, muß
empfunden haben, wie ſchwach und ſchmerzhaft ſeine
Augen danach waren.
Man verbiete daher dem Kinde das Leſen bei
mangelndem Licht und gehe ſelbſt mit gutem Bei-
ſpiele voran. Tritt die Daͤmmerung ein, ſo laſſe
man, wenn man etwas gar Jntereſſantes zur Hand
hat, die Lampe anzuͤnden, und ſchließe das Tages-
licht aus, oder noch beſſer, man uͤbe auf einige Zeit
Entſagung und lege das Buch weg.
Die Daͤmmerung fordert ganz vorzuͤglich zum
Nachdenken auf; ſie iſt die Zeit der Sammlung, der
Ruhe, eine natürliche Pauſe zwiſchen den Beſchaͤfti-
gungen des Tages und des Abends. Das Licht wirft
zu dieſer Stunde einen ſanften maleriſchen Schein
auf alle Gegenſtaͤnde; und wenn die helle Mittags-
ſonne die derbe Proſa des Lebens vorſtellt, ſo ver-
ſinnlicht die Daͤmmerung eines heitern Sommertages
die traͤumeriſche Poeſie mit ihrem alles verſchoͤnernden
Schimmer.
Dem Leſen in der Daͤmmerung oder bei mangeln-
dem Lichte müſſen wir die unter Schuͤlern ſo haͤufige
Kurzſichtigkeit zuſchreiben. Um alsdann beſſer ſehen
zu koͤnnen, ſind ſie genoͤthigt, das Buch dicht vor
die Augen zu halten, damit die Buchſtaben groͤßer
erſcheinen und ſo verlieren ſie endlich die Faͤhigkeit,
ferne Gegenſtaͤnde zu erkennen. Aber auch bei gutem
Lichte iſt es nicht moͤglich, daß ein Kind ſo viele
Stunden des Tages immerfort auf Buchſtaben ſehe,
ohne kurzſichtig zu werden. Schuͤler, die ihr gutes
Geſicht behalten, ſind faſt immer ſolche, die waͤhrend
der Schulzeit weit eher an’s Spielen als an das
Auswendiglernen denken, und ſtatt ihre Exercitien
ſelbſt zu machen, den einfachern Weg waͤhlen, ſie
von einem Kameraden abzuſchreiben.
Die Kurzſichtigkeit erreicht nicht auf einmal
einen hohen Grad, ſondern verkleinert allmaͤlig den
ſichtbaren Horizont.
Es waͤre daher ſehr zu wünſchen, daß Eltern
von Zeit zu Zeit Proben mit den Augen ihrer Kinder
anſtellten, um die erſten Spuren eines Fehlers auf-
zufinden, der gewoͤhnlich durch Unachtſamkeit erſt
dann entdeckt wird, wenn er ſchon eine bedeutende
Hoͤhe erreicht hat. Gewoͤhnlich, da dieſelben Urſachen
beide Uebel mit ſich fuͤhren, meldet ſich die Kurz-
ſichtigkeit zugleich mit Augenſchwaͤche; das Kind be-
kommt thraͤnende roͤthliche Augen, beſonders Abends,
und klagt über Schmerzen, vorzuͤglich wenn es bei
Licht leſen oder ſchreiben ſoll. Zeigen ſich dieſe
Symptome, dann iſt es hohe Zeit einzuſchreiten und
den Augen die noͤthige Ruhe zu goͤnnen. Von nun
an, bis das Geſicht voͤllig wieder hergeſtellt iſt,
erlaube man durchaus nicht, daß das Kind am Abend
arbeite; man laſſe es auch am Tage ſo wenig als
moͤglich, und nie anhaltend leſen oder ſchreiben;
man entferne jeden kleinen und ſchlechten Druck;
man gewoͤhne es daran, das Papier moͤglichſt weit
vom Auge zu halten, und uͤbe es fleißig beim Spa-
zierengehen im Unterſcheiden entfernter Objecte. Bei
einem ſolchen Verfahren wird man das Uebel im
Keime erſticken.
Waͤre nur ein beſſeres Erziehungsſyſtem einge-
fuͤhrt, wobei Kinder dem Gebote der Natur zum
Trotz, nicht den groͤßten Theil des Tages zwiſchen
4 kahlen Waͤnden ſitzen müßten, ſo wuͤrde man von
Kurz- und Schwachſichtigkeit viel weniger hoͤren.
Ohne dieſe uͤbermaͤßige Anſtrengung der Augen wuͤr-
den die Kinder eben ſo viel oder noch mehr lernen.
Das muͤßte ein geiſtloſer Lehrer ſein, der nicht auch
ohne Buͤcher ſeine Schuͤler zu bilden verſtaͤnde und
zwar beſſer als mit Huͤlfe des geſchriebenen Wortes.
Was bildet den Mann? Der Umgang mit Verſtaͤn-
digeren und Gebildeteren als er ſelbſt. Alſo brauchen
wir auch nicht ſo weit zu ſuchen, was die Jugend
bilden ſoll.
Darauf iſt ebenfalls zu ſehen, daß das Kind
nicht zu fruͤh nach dem Eſſen ſich an die Arbeit
ſetze. Zur Zeit der erſten Verdauung zieht der Magen
alle Saͤfte und Kraͤfte an ſich, und es iſt daher,
damit er ungehindert ſein wichtiges Geſchaͤft voll-
ziehen koͤnne, den andern Organen Ruhe zu goͤnnen.
Die Thatſache, daß die meiſten Thiere und viele
Menſchen nach dem Eſſen ſchlafen, und daß man
uͤberhaupt um dieſe Zeit zu keiner angeſtrengten gei-
ſtigen Arbeit aufgelegt iſt, wie ſehr man ſonſt ſeine
Hauptfreude darin ſucht, zeigt uns, was wir hier
zu thun haben. Waͤhrend des Eſſens (wie der un-
gluͤckliche Shelley, der leider nicht alt genug wurde,
um ſeinen Fehler zu bereuen) oder gleich nach dem-
ſelben zu leſen, heißt die Verdauung muthwillig
ſtoͤren und das Auge ganz zur unrechten Zeit
beſchaͤftigen.
Das Beſte nach einem frugalen Mittagstiſch iſt
ein heiteres Geſpraͤch mit gutmuͤthiger Laune gewuͤrzt.
Der Geiſt wird durch den Genuß dieſes feinen gei-
ſtigen Tonicums geſtaͤrkt und erquickt, und iſt noch
einmal ſo gut zu ernſthaftern Beſchaͤftigungen aufgelegt.
Auch in Bezug auf das Auge ſind alle in den vo-
rigen Kapiteln angegebenen Regeln uͤber Bewegung,
Luftgenuß, Diaͤt, Hautcultur, Reinlichkeit, von der
groͤßten Wichtigkeit, denn, wie bereits bemerkt worden,
haͤngt die Geſundheit des Auges genau mit dem all-
gemeinen Wohlbefinden zuſammen. Jedesmal daß
der Koͤrper geſchwaͤcht wird, leidet auch die Schaͤrfe
des Geſichtes. Einem uͤberhaupt ſchwaͤchlichen Kinde
alſo noch obendrein ſtundenlanges Leſen zuzumuthen,
laͤßt ſich durchaus nicht entſchuldigen, da das zugleich
mit den übrigen Organen geſchwaͤchte Auge eine
ſolche Behandlung, (wobei auch ein geſundes zu
Grunde geht) noch weniger vertraͤgt. Zu den ſchaͤd-
lichen Folgen einer zu engen Kleidung muß ich auch
noch ihren Einfluß auf die Augen rechnen. Es bedarf
wohl keines Beweiſes, daß die Geſundheit dieſer
Organe eben ſo wie die Geſundheit aller uͤbrigen
Koͤrpertheile, nur bei ungehemmter Blutcirculation
beſtehen kann, denn wo das Blut in einem Gebilde
ſtockt, entſteht zuerſt Hemmung ſeiner Function und
zuletzt förmliche Desorganiſation ſeines Gewebes
oder Paralyſe ſeiner Kraͤfte. Manche Geſichtsſchwaͤche,
mancher ſchwarze Staar wurzelt einzig und allein in
dem verderblichen Gebrauch der Schnuͤrleiber.
Fehler des Gehoͤres ſind faſt eben ſo haͤufig als
Geſichtsmaͤngel und beruhen ebenfalls zum groͤßten
Theile auf einer ſchlechten phyſiſchen Erziehung,
Scropheln ſind dieſem Sinne ſehr oft verderblich
(eine kleine Erkaͤltung auf einen ſcrophuloͤſen Boden
gepflanzt, hat ſchon manch armes Kind fuͤrs Leben
taub gemacht). Gegen unmittelbare Schaͤdlichkeiten
iſt das Ohr wohl beſſer als das Auge geſchuͤtzt, weil
es nicht ſo ununterbrochen thaͤtig iſt, und in der
Regel nicht ſo ſehr angeſtrengt wird. Dennoch iſt
es nicht ſelten, daß ſtarke Erſchütterungen und Ex-
ploſionen die Reizbarkeit des Gehoͤrs auf dieſelbe Weiſe
erſchoͤpfen, wie ein Blitzſtrahl das Auge unrettbar
blenden kann. Deßhalb darf man nie ein Kind durch
einen Schuß in der Naͤhe des Ohres erſchrecken, oder
es heftig auf dieſes Organ ſchlagen, oder an der
Seite des Kopfes es raſch in die Hoͤhe heben. Hat
man daher einen guten Freund, der viel von derar-
tigen practiſchen Spaͤßen haͤlt, ſo entferne man moͤg-
lichſt die Kinder, wenn er einen mit ſeinem Beſuche
beehrt.
Toͤne ſind fuͤr das Ohr, was das Licht fuͤr das
Auge, alſo muß auch ihre unangemeſſene Einwirkung
dem Gehoͤrſinn ſchaden.
Es iſt bekannt genug, daß Kanoniere durch den
Donner des Geſchuͤtzes taub werden, und daß mancher
Gloͤckner das Loos des Quaſimodo theilt; aber zu
wenig denkt man daran die Wirkung der Toͤne unter
gewoͤhnlichen Verhaͤltniſſen zu beobachten. Es iſt
gewiß, daß haͤufiger Wechſel von großer Stille zu
großem Geraͤuſch, vorzüglich bei ſchwachen Nerven
die Schaͤrfe des Gehoͤrs ſehr vermindern muß. Zu
lange fortgeſetzte muſicaliſche Uebungen werden eben-
falls durch Ueberreizung Gehoͤrſchwaͤche hervorbringen
(vielleicht lag hier der Grund der Taubheit unſeres
Beethoven). Reizt man hingegen das Ohr zu wenig,
ſo muͤſſen nothwendig deſſen Kraͤfte durch Mangel
an Uebung einſchlafen. Vorzuͤglich wichtig iſt die
ſtrenge Beobachtung der Ohrendiaͤtetik für angehende
Muſiker. Dieſe fein organiſirten Kuͤnſtlernaturen
ſind ſchon an und fuͤr ſich ſehr empfindlich und reizbar;
ihr Gehoͤr insbeſondere hat eine bedeutende Senſibi-
litaͤt; ſie kommen oft in den Fall, es zu ſehr anzu-
ſtrengen. Sie muͤſſen daher ihren Eifer maͤßigen,
und niemals im Dienſte der Harmonie, die Pflichten,
die ſie ihrem Koͤrper ſchuldig ſind, vergeſſen. Je
mehr ſie fuͤr ihre Geſundheit ſorgen, deſto beſſer wird
es nicht nur um ihr Gehoͤr, ſondern auch um ihre
Fortſchritte in der Kunſt ſtehen, in welcher ſie allein
leben und weben.
Unmittelbar nach dem Eſſen muſicaliſche Uebungen
vorzunehmen, iſt eben ſo ſchaͤdlich wie das Leſen
nach demſelben und zwar aus denſelben Gruͤnden.
Die Wahl einer Wohnung iſt auch in Bezug auf
das Ohr nicht gleichguͤltig. Jch moͤchte keinem, der
viel auf ein feines Gehoͤr haͤlt, rathen, ſich in der
Naͤhe eines Glockenſpieles einzumiethen, oder auf
einem geraͤuſchvollen Markte, oder in einer Straße
wo viel gefahren wird. Aehnliche Bemerkungen
laſſen ſich auch über die uͤbrigen Sinne, den Taſt-,
Geruchs- und Geſchmacksſinn machen.
Der in vielen Profeſſionen ſo noͤthige Taſtſinn
bildet ſich durch Uebung erſtaunlich aus und wird
ebenfalls durch Ueberreizung leiden müſſen, z. B.
wenn man grobe Handarbeiten verrichtet.
Da in Staͤdten die ſchlechten Geruͤche vorwiegen,
waͤre es vielleicht kein ſo großes Unglück fuͤr den
Staͤdter ſchlecht zu riechen, waͤre nicht das Uebel,
daß der Geſchmacksſinn gewoͤhnlich zugleich mit
ſeinem Nachbar leidet.
Zehntes Kapitel.
Wie verhütet man eine undeutliche Ausſprache und Stottern? —
Wichtigkeit einer frühen Ankämpfung gegen die Schüchternheit.
Die meiſten Fehler des Sprachorganes, die undeut-
liche Ausſprache, das ſchnelle verworrene Hervor-
ſtoßen der Woͤrter, das Stottern laſſen ſich in der
Regel im Anfang ihrer Entſtehung durch einige Auf-
merkſamkeit verbeſſern.
Oft haͤngen ſie von einer allgemeinen Reizbar-
keit der Nerven ab, von einer Dispoſition, die man
Convulſibilitaͤt nennen koͤnnte. Alle Bewegungen des
Kindes ſind haſtig; die Muskeln entziehen ſich ſeinem
Willen und gerathen leicht ins Zittern; bei der ge-
ringſten Veranlaſſung entſteht bedeutende Beſchleu-
nigung des Pulſes und Wechſel der Geſichtsfarbe;
es iſt ſo ungeduldig ſeine Gedanken auszudruͤcken,
daß die Sprache ihrem Fluge nicht nachkommen kann.
Lebhafte Kinder verfallen ſehr leicht in dieſen
Fehler; mit der Schnelligkeit, womit die Jdeeen ihnen
zuſtroͤmen, ſteht die Fertigkeit ihres Sprachorganes
ſie auszudruͤcken nicht in Harmonie, und die natuͤrliche
Folge iſt ein undeutliches ſchnelles Hervorſtottern
der Woͤrter, welches man kaum oder gar nicht
verſtehen kann.
Sobald man merkt, daß das Kind undeutlich
ſpricht, muß man es ſofort den Satz wiederholen,
und dabei jede Sylbe deutlich ausſprechen laſſen;
oder man thue als ob man es gar nicht verſtanden
haͤtte; es wird alsdann von ſelbſt ſeinen Gedanken
eine verſtaͤndlichere Form zu geben ſuchen. Da eine
ſchlechte Ausſprache ſo oft mit krampfhafter Reiz-
barkeit zuſammenhaͤngt, ſo wird eine nervenſtaͤrkende
Erziehung auch von dieſem Fehler befreien.
Oft haͤngt eine undeutliche Sprache von einer
moraliſchen Jnfirmitaͤt ab. Sehr ſchuͤchterne Kinder
wagen es kaum ihre Stimme hoͤren zu laſſen, oder
uͤbereilen ſich, wenn ſie etwas zu ſagen haben, um
nur ja recht ſchnell einer ihnen peinlichen Aufmerk-
ſamkeit zu entgehen.
Die Schüchternheit iſt uͤberhaupt ein Fehler, den
man nicht mit dem Kinde wachſen laſſen darf, da er
im Leben ſehr hinderlich werden wird. Man bringe
ſolche Patienten (denn es iſt eine Krankheit) ſo viel
wie moͤglich unter Menſchen. Harte Worte, Dro-
hungen und Schlaͤge ſind hier wie uͤberall, ein ſchlechtes
Mittel zur Beſſerung. Es iſt offenbar, daß wenn
man ein reizbares Kind, das beim Anblick eines Frem-
den ſich verkriecht und durchaus nicht zu bewegen
iſt, ihm die Hand zu reichen, durch ein ſolches Ver-
fahren dazu zwingen will, man den Fehler nur verſtaͤrkt.
Sobald ein neuer Fremder koͤmmt, wird das
Kind deſſen Erſcheinen mit unangenehmen Erinne-
rungen verknuͤpfen und dadurch nur in ſeiner Men-
ſchenſcheu verſtaͤrkt werden.
Das Beſte iſt, man laſſe das Kind nur ganz
ruhig im Zimmer bleiben und nehme keine weitere
Notiz von ihm. Bald wird es die Augen aufſchlagen
und aus Neugierde nach dem Fremden ſchauen.
Laͤchelt dieſer es freundlich an, wird es ſchon mehr
Zutrauen gewinnen, und ſich zuletzt von ſelbſt dem
Gegenſtande ſeiner anfaͤnglichen Furcht naͤhern. Will
man gleich anfangs Gewalt brauchen, ſo muß hoͤchſt
wahrſcheinlich das ſchreiende Kind hinausgetragen
werden, nach einer Scene, die weder fuͤr die Han-
delnden noch fuͤr die Zuſchauer angenehm ſein kann.
Die Zeit und die Nothwendigkeit, dieſe großen Lehr-
meiſter, verbeſſern gewoͤhnlich den Fehler der Schuͤch-
ternheit, doch bei hohen Graden dieſes Uebels laͤßt
es ſich weder durch Vernunft noch Uebung bemeiſtern
und iſt Schuld, daß mancher verdienſtvolle Mann
durchaus in der Welt nicht die Rolle ſpielt, wozu
ſeine Talente ihn berechtigt haͤtten.
Man kann daher nicht fruͤh genug damit anfan-
gen dieſe moraliſche Schwaͤche zu bekaͤmpfen, und
ich glaube, daß eine gute, phyſiſche Erziehung ſehr
huͤlfreich dagegen ſein wird. Man entzieht dadurch
das Kind der verderblichen Stubenatmosphaͤre und
dem ewigen Einerlei eines beſchraͤnkten Raumes; es
ſieht im Laufe des Tages eine Mannigfaltigkeit von
Gegenſtaͤnden und Menſchen und waͤchſt ſo allmaͤh-
lich im Schooße der Geſellſchaft auf.
Von dieſer Seite betrachtet, bietet gewiß die Er-
ziehung in einer oͤffentlichen Schule manchen Vor-
theil, vorzuͤglich fuͤr ſolche, die von Hauſe aus nicht
weich gebettet ſind, und ſich daher fruͤh an unſanfte
Rippenſtoͤße gewoͤhnen muͤſſen.
Solche kleine Ermahnungen ſind aber Niemanden
ſchaͤdlich, und wem die Goͤtter wohl wollen, den fuͤh-
ren ſie gewiß auf nicht allzuglatten Wegen ins Leben.
Eilftes Kapitel.
Diätetik der Zähne. — Einfluß von Süßigkeiten auf die Zähne. —
Die Zähne ſind auch Gefühlsorgane. — Die Geſundheit der
Zähne von der allgemeinen Geſundheit abhängig.
Die Zaͤhne ſpielen in der Oeconomie unſeres Koͤr-
pers eine viel wichtigere Rolle, als man gewoͤhnlich
glaubt. Wenn ſie fehlen, ſo wird der erſte Act der
Verdauung, der ſchon im Munde vor ſich geht, un-
vollkommen verrichtet, und dieſer Mangel muß auf
die Dauer die ganze Digeſtion angreifen.
Außerdem iſt es keine geringe Entbehrung ſo
manche Lieblingsſpeiſe aufgeben und ſeinen Kuͤchen-
zettel einſchraͤnken zu muͤſſen, in einem Alter, wo man
gewoͤhnlich mehr noch als in juͤngern Jahren auf
eine gute Kuͤche haͤlt. Man wird zwar einwenden,
daß die Kunſt der Zahnaͤrzte die Natur vollkommen
zu erſetzen weiß, aber wie leicht kann man nicht in
die Lage kommen, entweder das noch immer theure
Hartwig’s Erziehungsl. 11
Surrogat nicht bezahlen zu koͤnnen oder einen guten
Dentiſten nicht bei der Hand zu haben, wenn man
fern von einer groͤßern Stadt wohnt.
Es iſt daher immer ſchoͤn, wenn die Eltern fruͤh-
zeitig dafuͤr ſorgen, daß man ſpaͤter die Huͤlfe jener
Herren gar nicht noͤthig haben wird und ſeine eige-
nen Zaͤhne bis ins hoͤchſte Alter behaͤlt.
Der Beſitz guter Zaͤhne hat fuͤr das ſchoͤnere
Geſchlecht einen noch ganz beſonderen Werth. Das
anmuthigſte Geſicht wird durch eine Reihe gelber
carioͤſer Zaͤhne entſtellt und das freundlichſte Laͤcheln
büßt einen Theil ſeines Reizes dadurch ein.
Schlechte Zaͤhne verderben nicht ſelten den Athem.
Auch pflegt die Vernachlaͤſſigung der Zaͤhne ſich oft
durch die unleidlichſten und anhaltendſten Schmerzen
zu raͤchen, die Tage und Wochen vergiften —
Gruͤnde genug, ſie ſo fruͤh als moͤglich zu ſchonen
und zu pflegen.
Unter allen Nahrungsſtoffen, die wir kennen,
giebt es keinen aͤrgeren Feind fuͤr die Zaͤhne als der
Zucker. Es iſt bekannt, daß dieſer Stoff die groͤßte
Neigung hat mit der Knochenſubſtanz eine chemiſche
Verbindung einzugehen und ihren Zuſammenhang zu
zerſtören; auch werden wohl die Meiſten aus Erfah-
rung wiſſen, welche wüthende Schmerzen ſich nicht
ſelten nach dem Eſſen von Feigen, Roſinen und Zucker
einſtellen, wenn dieſe Subſtanzen mit einer nur etwas
ſchadhaften Stelle in Beruͤhrung kommen.
Der haͤufige Genuß von Naſchwerk und Suͤßig-
keiten iſt daher das ſicherſte Mittel, Caries der Zaͤhne
herbeizufuͤhren und den Grund zu quaͤlenden Schmer-
zen zu legen. Suͤßigkeiten koͤnnen aber von Kindern
gar wohl entbehrt werden, da ſie auch nicht im Ge-
ringſten zu ihrem Gluͤck beitragen, ihnen vielmehr
haͤufig durch Magenverderbniß boͤſe Stunden machen.
Ein Kind, das ewig nach Naſchwerk verlangt, iſt
ſchon ſehr ſchlecht erzogen und beweiſt dadurch, daß
die Eltern ſchwach genug ſind, ſeinen Launen, ſogar
zu ſeinem eigenen Schaden nachzugeben, wenn es ſie
nur recht zu plagen verſteht, eine Meiſterſchaft, die
ſolche verzogene Quaͤlgeiſter gewoͤhnlich ſehr bald
erlangen.
Die Zaͤhne ſind nicht bloß zur mechaniſchen
Funktion des Kauens beſtimmt: ſie ſind im ſtrengſten
Sinne des Wortes Gefuͤhlsorgane. „Kein Theil des
menſchlichen Organismus,‟ ſagt der berühmte Dub-
liner Arzt Dr. Graves, „iſt merkwürdiger und zweck-
maͤßiger eingerichtet, als die Zaͤhne, welche aus der
Verbindung einer pulpoͤſen, reich mit Nerven begab-
ten Maſſe und einer harten knochenaͤhnlichen Subſtanz
zuſammengeſetzt und ſo befaͤhigt ſind, die ihnen oblie-
gende doppelte Function zu uͤben. Die Zaͤhne ſind
im Stande, trotz des ſie umkleidenden Schmelzes,
11*
jeden zwiſchen ihre Raͤnder gebrachten Gegenſtaud
mit großer Genauigkeit zu unterſcheiden. Dieſe hoͤchſt
ausgebildete Zartheit des Gefuͤhls in den Zaͤhnen hat
bis jetzt die Aufmerkſamkeit der Phyſiologen nicht in
dem gebuͤhrenden Grade rege gemacht. Wie wichtig
fuͤr den Organismus dieſe Gefuͤhlsfaͤhigkeit ſei, iſt
leicht erſichtlich, da die Zaͤhne nur durch ſie im
Stande ſind, die Nahrung zu zerſchneiden und zu
zermahlen. Wir ſind dadurch befaͤhigt, die Lage und
die meiſten phyſicaliſchen Eigenſchaften des Speiſe-
biſſens zu erkennen, wonach es ſich dann beſtimmt, ob er
den Schneide- oder Backenzaͤhnen überwieſen werden
ſoll. Ohne dieſe Gefuͤhlsfaͤhigkeit wuͤrden die Schneide-
und Mahlflaͤchen beider Zahnreihen nicht in eine
paſſende Lage gebracht, und die Kaubewegungen des
Unterkiefers nicht in der entſprechenden Weiſe regu-
lirt werden. Wenn auch allerdings Lippen, Zunge
und Wangen bei allen dieſen Verrichtungen den Zaͤh-
nen zu Huͤlfe kommen, ſo ſpielen dieſe doch ſelbſt
die Hauptrolle dabei und ſind darin mehr als ſchnei-
dende Jnſtrumente, ſie ſind dem Munde, was die
Finger der Hand ſind. Dies ſtellt ſich namentlich
dann hervor, wenn wir beobachten, wie die Zaͤhne
gewiſſermaßen pruͤfend zu Werke gehen und den
Speiſebiſſen unterſuchen, ob keine ihnen ſchaͤdliche
harte Beſtandtheile, wie z. B. kleine Sandkoͤrner, in
demſelben enthalten ſeien.‟
Organe mit einer ſo feinen Senſibilitaͤt begabt,
verlangen nun aber auch eine rückſichtsvollere Be-
handlung, als ihnen gewoͤhnlich aus Unkenntniß ihres
zarten bewunderungswuͤrdigen Baues zu Theil wird.
Vorzuglich ſchaͤdlich iſt es, wenn man ſie dem ploͤtz-
lichen Uebergang von einer kalten zu einer heißen
Temperatur ausſetzt, oder umgekehrt. Nicht nur
daß ihr Schmelz bei ſolchen ſchnellen Wechſeln leicht
einen Sprung bekommt, der alsdann den knoͤchernen
Theil ohne Schutz laͤßt, auch die Vitalitaͤt der Zaͤhne
muß darunter leiden und ihr fruͤhes Ausfallen bedin-
gen. So wie die Lebenskraft einer Haut, die ruͤck-
ſichtslos den Witterungsveraͤnderungen ausgeſetzt
wird, abnimmt: ſo wie der mit Reizen uͤberſtuͤrmte
Magen in Atonie verfaͤllt, ſo muß auch die Energie
der Zahnnerven und folglich die Nutrition der Zaͤhne
bei wiederholten ſchaͤdlichen Einwirkungen dieſer Art,
betraͤchtlich leiden. Man laſſe daher die Kinder nie
zu warm eſſen und trinken. Sie duͤrfen ihre Suppen,
ihre Speiſen, ihre Getraͤnke nur dann genießen, wenn
alles huͤbſch kuͤhl geworden iſt. Zu kalte Sachen ſind
natuͤrlich eben ſo ſchädlich, vorzuͤglich wenn man ſie
gleich nach etwas heißem genießt. Auch hier bewaͤhrt
ſich die Vortrefflichkeit der goldenen Mittelſtraße.
Ein herrliches Praͤſervativ fuͤr die Zaͤhne iſt, ſie be-
ſtaͤndig rein zu halten, wozu das taͤgliche Buͤrſten mit
einem guten Zahnpulver gehoͤrt. Das Buͤrſten der
Zaͤhne iſt nicht allein dadurch heilſam, daß es den
ſogenannten Weinſtein Der Weinſtein der Zähne beſteht größtentheils aus
den Ueberbleibſeln von unzähligen Jnfuſorien. Leuwenhök
entdeckte ſchon vor langer Zeit, daß lebende microſcopiſche
Thierchen in ſehr großer Anzahl in dem Schleime der Mund-
höhle vorkommen, aber es blieb Herrn Mandl vorbehalten,
uns zu zeigen, daß der Weinſtein aus den Leichnamen oder
Kalkpanzern dieſer kleinen Welt beſteht. Campher ſchadet den
Zähnen durchaus nicht und tödtet augenblicklich die den Wein-
ſtein bildenden Jnfuſorien. Er muß alſo in allen guten
Zanhnpulver eine Stelle finden. entfernt, ſowie die Ueber-
reſte der Speiſen, die zwiſchen den Zaͤhnen haͤngen
bleiben und, wenn man ſie nicht fortſchafft, den Athem
verderben, ſondern auch durch Befeſtigung des Zahn-
fleiſches. Es wird dieſes feſter, haͤrter, waͤchſt und
verſchließt die Zaͤhne beſſer, welches ungemein zur
Erhaltung derſelben dient.
Doch werden alle dieſe Cautelen nichts helfen,
wenn wir nicht fuͤr die Geſundheit uͤberhaupt ſorgen,
denn zu guten feſten Zaͤhnen gehört ein guter feſter
Koͤrper. Wer fruͤh fuͤr eine ſtarke Haut, fuͤr einen
ſtarken Magen und fuͤr ſtarke Lungen ſorgt, legt den
Grund zu einer ſtarken Zahnreihe, die ſo leicht keine
Luͤcken bekommen wird. Dieſe Einheit des menſch-
lichen Organismus, dieſe Abhaͤngigkeit aller Organe
von einander, wird uͤberhaupt noch lange nicht genug
vom Publikum gewuͤrdigt.
Exiſtirte in dieſem Punkte weniger Unwiſſenheit,
ſo würden die Regeln der Diaͤtetik (zum großen Nach-
theil der Aerzte) ſich mehr Geltung verſchaffen.
Einer, der nicht einſieht, wie ein taͤglicher Spa-
ziergang ſeinen Magen ſtärken ſoll, wird gewiß dieſe
heilſame Bewegung weit eher vernachlaͤſſigen, als ein
beſſer Unterrichteter, welcher weiß, wie die Staͤrkung
eines Koͤrpertheils ſich mehr oder weniger allen An-
dern mittheilt.
Zwölftes Kapitel.
Beſondere Cautelen, die bei Anlage zu Scropheln und Lungenſchwind-
ſucht zu beobachten ſind. — Beſchreibung des ſcrophulöſen Ha-
bitus. — Behandlung der Kinder mit phtiſiſchem Habitus.
Nichts iſt wahrer und zugleich betrübender, als daß
die Suͤnden der Vaͤter bis ins dritte und vierte Glied
beſtraft werden, denn nur zu oft kommen unſchuldige
Kinder mit Krankheitsanlagen zur Welt, deren Quelle
in den Verirrungen ihrer Eltern und Voraͤltern liegt.
So ſind Wahnſinn, Epilepſie, Lungenſucht und
ſo manche andere Krankheiten „wer nennte ſie alle‟
das Erbtheil mancher Geſchlechter und gehen mit den
Familienguͤtern und Titeln auf die Nachkommen uͤber.
Wer mit ſich ſelbſt nicht Mitleid fuͤhlt und durch
Ausſchweifungen ſeine Lebenskraͤfte zerſtoͤrt oder ſeine
Geſundheit wiſſentlich vernachlaͤſſigt, der habe wenig-
ſtens Mitleid mit ſeinen Kindern und bedenke, welche
fuͤrchterliche Strafe ihn dereinſt in deren Siechthum
ereilen wird.
Wie kann das Gluͤck dem noch laͤcheln, der ſeine
Lieben, ſeine Hoffnungen um ſich her verwelken ſieht
und ſich geſtehen muß, daß an ihm ſelbſt die Schuld
liegt. Wie ſchoͤn belohnt ſich hingegen die treue
Erfuͤllung der Pflichten, die man ſeinem phyſiſchen
Wohlſein ſchuldig iſt! Welch ein erhebendes Gefuͤhl,
in geſunden Kindern ſeine Hoffnungen bis uͤber das
Grab hinauszudehnen und der Vater eines bluͤhenden
Geſchlechts zu ſein.
Giebt es auf der Erde viel groͤßere Freuden,
als ein geliebtes Kind an das Herz zu druͤcken, in
deſſen lachenden Augen die reinſte Geſundheit ſich
abſpiegelt und ſich zu ſagen: dieſes gluͤckliche, ſich
des Lebens freuende Geſchoͤpf verdankt dir ſeine Ge-
ſundheit, ſein Leben und ſein Gluͤck.
Jſt nun eine gute phyſiſche Erziehung fuͤr alle
Kinder nothwendig, ſo iſt ſie es ganz beſonders fuͤr
ſolche, die mit einer angeerbten ſchwaͤchlichen Conſti-
tution zur Welt kommen, oder in ihrem Blute den
Keim der Scropheln und der Lungenſucht tragen.
Hier hat ſie zur Aufgabe, die urſpruͤnglich
ſchwache Lebenskraft zu ſtaͤrken, die beſtehende Krank-
heitstendenz zu vernichten, die fehlerhaft gebildeten
Theile durch Uebung zu verbeſſern und den Koͤrper
uͤber die vielen gefaͤhrlichen Klippen der Kindheit und
der Jugend hinaus zu geleiten.
Dieſe ſchwierige Aufgabe iſt ausfuͤhrbar nicht
durch Mittel, die in der Apotheke zu holen ſind,
denn dieſe koͤnnen unmoͤglich Kraftloſigkeit in Staͤrke
umwandeln; ſondern durch die ſorgfaͤltige Anwen-
dung der diaͤtetiſchen Regeln, die ich in dieſer Schrift
angegeben habe und die eben ſo maͤchtig als ein-
fach ſind.
Die Grundlage aller ſcrophuloͤſen Krankheiten iſt
meiſtentheils eine angeborene Schwäche, die zu einer
fehlerhaften Säftemiſchung und zu hartnäckigen, lang-
ſam verlaufenden Entzuͤndungen Veranlaſſung gibt.
Dieſe Entzündungen ſind oft ſehr gefährlicher Art.
Sie greifen das Auge an, verdunkeln und durchlöchern
die Hornhaut, machen unheilbar blind; oder ſie befallen
die Drüſen des Unterleibes, verhindern dadurch die
Ernährung, verurſachen Abzehrung und Tod; oder
ſie entſtehen in den Gelenken des Fußes, des Kniees,
der Hüfte und der Wirbelſäule, und haben alsdann
Lahmheit, Beinfraß, tödliche Eiterung zur Folge. Böſe,
um ſich freſſende Geſchwüre, die einen großen Theil
des Geſichts zerſtören, beruhen oft auf einer ſcrophu-
löſen Baſis. Gut, wenn das ausbrechende Uebel ſich
den verhältnißmäßig guͤnſtigen Heerd der Halsdruͤſen
wählt, und der Patient mit häßlichen Narben in dieſer
Gegend davonkömmt, denn ſo behält er doch den Ge-
brauch ſeiner Glieder, um den ſo manche andere
Leidensgefährten gebracht werden.
Die eigenthuͤmliche Knochenerweichung, (engliſche
Krankheit, Rachitis) die ſo viele Verkrümmungen der
Beine, der Bruſtknochen, der Wirbelſäule veranlaßt,
iſt ſcrophulöſer Natur. Auch nach der Heilung der
eigentlichen Rachitis, bleiben ihre Entſtellungen oft für
das Leben als traurige Merkmale zurück und bedingen
durch Functionsſtörung wichtiger Eingeweide fortwäh-
rendes Siechthum und frühzeitigen Tod. Fügen wir
nun noch hinzu, daß die Lungenſucht, eine Krankheit
an welcher in vielen Gegenden Deutſchlands der
fünfte Theil der Bevölkerung ſtirbt, gewöhnlich auf
ſcrophulöſem Habitus beruht, ſo verdient gewiß die
phyſiſche Erziehung derjenigen Kinder, die mit einer ſo
unglücklichen Anlage geboren ſind, die allergrößte Sorg-
falt, vorzüglich da von ihrer Zweckmäßigkeit, einzig
und allein Rettung zu hoffen iſt.
Leider ſind die Scropheln gar oft in Klaſſen der
Geſellſchaft einheimiſch, wo alle Schädlichkeiten zu-
ſammentreffen um den glimmenden Funken zur ver-
derblichen Gluth anzufachen, und wo Mangel und
Armuth keine Beſſerung der Umſtände erlauben; aber
wie viele Fälle gibt es nicht, wo ſie in den reichſten
und angeſehenſten Familien vorkommen, und wo man
hoffen darf, durch eine vernünftige Leitung die drohende
Gefahr zu entfernen.
Die Anlage zu den Scropheln giebt ſich ſchon
durch gewiſſe aͤußere Merkmale zu erkennen, deren
Complex man den ſcrophuloͤſen oder lymphatiſchen
Habitus nennt. Dieſer zeigt ſich unter zwei verſchie-
denen Formen, der irritablen und der torpiden, je nach
dem Vorherrſchen des ſanguiniſchen oder phlegmati-
ſchen Temperaments, wobei aber zu bemerken, daß
dieſe beiden Extreme meiſtens durch unmerkliche
Schattirungen in einander uͤbergehen. Kinder mit
irritablem Scrophelhabitus zeichnen ſich aus durch eine
aͤußerſt feine ſammetaͤhnliche Haut. Beim Anfaſſen
findet man dieſelbe duͤnn und nachgiebig, waͤhrend
die Haut geſunder Kinder dick, feſt und ſtark iſt.
Unter dieſer feingebildeten Haut ſieht man die Ge-
faͤße durchſcheinen, und daher haben auch ſolche Kin-
der gewoͤhnlich jene rothen Wangen, die ihnen den
täuſchenden Anſchein einer bluͤhenden Geſundheit ge-
ben. Nicht ſelten bemerkt man fruͤhzeitig große Gei-
ſtesanlagen und oft ſchon im dritten Jahre auffallende
Spuren von Scharfſinn und Witz. Die Knochen
ſind fein, die Muskeln ſchwach, die Finger lang und
dünn, an den Extremitaͤten keulenfoͤrmig angeſchwol-
len. Je mehr das Kind ſich zum phlegmatiſchen hin-
neigt, deſto mehr treten folgende Charactere hervor.
Oberlippe dick und aufgeworfen, welches immer ein
Zeichen der Schwaͤche iſt; dicke angeſchwollene, ver-
ſchleimte Naſe; dicke, ſogenannte Kroͤtenbaͤuche;
mehr duͤnne Extremitaͤten; die Kinder ſind langſam
in ihren Bewegungen; ihre Geiſteskraͤfte bleiben in
der Entwicklung zuruͤck; ſie ſind bloͤdſinnig, bis zum
Cretinismus.
Sie ſchlafen viel, wollen beſtaͤndig eſſen, und
haben beſonderes Geluͤſte nach vegetabiliſchen Dingen:
Brod, Milch und Mehlſpeiſen.
Dabei ſind die meiſten Secretionen veraͤndert,
der Schweiß iſt ſauer, der Harn getrübt. Scrophu-
loͤſe Kinder leiden ſehr an Magenſaͤure. Die Schlaff-
heit der Muskeln, der Abſcheu vor Fleiſchſpeiſen, die
veraͤnderten Secretionen, die Abnahme der Tempera-
tur, (ein auffallendes Zeichen von Lungenunthaͤtigkeit
und Energieloſigkeit des Gefaͤßſyſtems), das blaſſe
Ausſehen der meiſten ſcrophuloͤſen Kinder: alle dieſe
Umſtaͤnde deuten auf ein auffallendes Sinken des
animaliſchen Lebens und zugleich auf den Weg, den
wir zur Bekaͤmpfung dieſer gefaͤhrlichen Krankheits-
anlage einzuſchlagen haben.
Vor allen Dingen muß fuͤr eine beſſere Blut-
miſchung geſorgt werden, durch paſſende Nahrungs-
mittel und durch Anſpornen der Lungenthaͤtigkeit.
Vegetabiliſche Koſt iſt viel ſchwerer verdaulich
als animaliſche. Viele Thiere, die ſich ausſchließlich
mit Pflanzenſtoffen ernaͤhren, haben mehr als einen
Magen um die verſchiedenen Proceſſe der Digeſtion
durchzufuͤhren.
Wir werden daher mit Beruͤckſichtigung der
ſchwachen Verdauungskraft dieſer Kinder zu ihrer
Ernaͤhrung geſundes, gekochtes oder gebratenes Fleiſch,
weichgekochte Eier ꝛc. und hoͤchſtens friſche Wurzel-
gemüſe erlauben.
Das Brod muß gut ausgebacken und ſein Ge-
nuß beſchraͤnkt ſein. Der Magen darf nicht über-
laden werden; ſie muͤſſen oͤfters kleinere Portionen
genießen. Auch hier iſt friſches, geſundes Waſſer
das heilſamſte Getraͤnk: weder in Bier noch in Wein
iſt die noͤthige Staͤrkung zu ſuchen, ſondern in
der Befriedigung eines durch Bewegung verſtaͤrkten
Appetits.
Es waͤre nun fuͤr das Material einer guten
Blutbildung geſorgt, aber dieſes allein würde wenig
helfen, wenn wir nicht zugleich fuͤr vermehrte Lun-
genthaͤtigkeit ſorgten. Das Hauptmittel hierzu iſt
Bewegung in freier Luft, aber mit beſonderen Cau-
telen, welche die Schwaͤche der Subjecte und ihre
Dispoſition zu Entzuͤndungen und Erkaͤltungen er-
fordert.
Die Bewegung darf nie bis zur Erhitzung oder
Ermuͤdung fortgeſetzt werden: ſie muß genau dem
Zuſtande der Kraͤfte angemeſſen ſein. Man vergeſſe
nie, daß übermaͤßige Bewegung bei ſolchen Kindern
ſehr leicht Gelenkentzuͤndungen veranlaßt, die nur
Anfangs mit Erfolg behandelt werden koͤnnen, und
nur zu oft Anfangs uͤberſehen werden. Klagt daher
ein Kind uͤber Schmerzen im Knie oder Schmerzen
beim Auftreten, ſo nehme man die Sache niemals
leicht, ſondern wende ſich gleich an die Huͤlfe eines
erfahrenen Arztes.
Die Qualitaͤt der eingeathmeten Luft iſt hier von
ganz beſonderer Wichtigkeit.
Wenn daher die ſcrophuloͤſe Anlage bei einem
Kinde hervortritt, ſo koͤnnen die Eltern nichts beſſeres
thun, als es einen ganzen Sommer oder mehrere
Sommer hinter einander an die Meereskuͤſte zu ſchicken.
Von einigen Wochen wird man natuͤrlich keinen
großen Erfolg ſehen, denn wie kann man hoffen,
durch das 4 oder 5 woͤchentliche Einathmen der See-
luft und einige zwanzig Baͤder eine Krankheitsanlage,
oder ſogar eine ſchon ausgebrochene Krankheit zu
tilgen, die ihren Sitz in jedem Partikelchen unſers
Koͤrpers hat. Nicht Monate, nein Jahre gehoͤren in
dieſem Fall dazu, um die ſchlechtausgebildeten feſten
Theile durch conſiſtentere zu erſetzen.
Kann man ſeine Kinder nicht ans Meer oder
auf Berghoͤhen ſchicken, ſo wohne man wo moͤglich
auf dem Lande, in einer hochliegenden geſunden Ge-
gend; iſt auch dieſes nicht thunlich, ſo ſuche man ſich
in der Stadt eine nach der Suͤdſeite liegende Woh-
nung, die hell und trocken ſei.
Man laſſe keinen freundlichen Tag vorbeigehen,
ohne den kleinen Krankheitscandidaten aufs Land zu
ſchicken, um ihm wenigſtens ſo viel als moͤglich das
Einathmen einer unverdorbenen Luft zu verſchaffen.
Beſondere Rückſicht erfordert die große Dispo-
ſition zu hartnaͤckigen Erkaͤltungen, die bei allen ſcro-
phuloͤſen Kindern vorkoͤmmt. Weht daher ein ſchar-
fer Oſt- oder Nordwind, ſo halte man lieber das
Kind zu Hauſe, als daß man ſeine nicht allzuſtarken
Lungen einem Angriffe ausſetze, denen ſie nicht ge-
wachſen ſind.
Aus mehreren bereits angegebenen Gruͤnden iſt
ein flanellenes Bruſttuch auf der bloßen Haut getra-
gen, fuͤr ſcrophuloͤſe Kinder ganz beſonders empfeh-
lenswerth. Es iſt das beſte Mittel, manchen Huſten
zu ſparen, und hat gewiß ſchon Viele vor einer dro-
henden Schwindſucht gerettet.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß, wo die ſcrophu-
loͤſe Anlage vorhanden iſt, das lange Sitzen in der
Schule bedeutend eingeſchraͤnkt werden muß, wenn
man nicht den Ausbruch der Krankheit in einer mehr
oder weniger gefaͤhrlichen Form erleben will.
Hier ſollte die Erziehung einem Hauslehrer an-
vertraut werden, der mit beſtaͤndiger Ruͤckſicht auf
die Geſundheit ſeines Zoͤglings, deſſen Geiſt und Ge-
muͤth zu bilden verſtaͤnde. Das Spazierengehen werde
zugleich zum Unterrichte benutzt. Weiß der Lehrer
ſeine Bemerkungen der Faſſungskraft ſeines Schülers
anzumeſſen, ſo daß dieſer durch vernuͤnftige Fragen
ſein ganzes Jntereſſe an den Tag legt und mit vol-
lem Ohre zuhoͤrt, ſo wird die Promenade noch ein-
mal ſo nuͤtzlich ſein, da die feinſten Nervenkraͤfte
dabei wohlthaͤtig angeregt werden. Gewiß muß die
ſcrophuloͤſe Anlage ſehr tiefe Wurzeln geſchlagen ha-
ben, wenn ſie nicht durch die ſorgfaͤltige Vermeidung
aller unguͤnſtigen Umſtaͤnde allmaͤhlich ausgerottet
wird.
Derſelbe Erziehungsplan paßt uͤberall, wo Ver-
dacht auf erbliche Dispoſition zur Phtiſis vorhanden
iſt. Jn dieſem Fall entſteht die groͤßte Gefahr um
die Zeit der Pubertaͤt, wo die Sanguification einen
neuen Jmpuls erhaͤlt und der Andrang des Blutes
nach den Lungen zunimmt. Jſt nun der Bruſtkaſten
in Folge einer zu weichlichen Erziehung eng und unaus-
gebildet geblieben, ſo veranlaßt die gehemmte Blut-
circulation Congestionen nach dieſen Organen, die
alsdann ſehr leicht zu Blutſpeien, Huſten, Lungen-
entzuͤndungen, und ſpaͤter zur vollkommenen Ausbil-
dung der Phtiſis Veranlaſſung geben.
Hier hat daher die phyſiſche Erziehung vorzüg-
lich dafuͤr zu ſorgen, daß der Bruſtkaſten ſich fruͤhzei-
tig erweitere, damit er den ſpaͤteren Sturm der Puber-
taͤtsrevolution aushalte. Das beſte und einzige Mittel
iſt natürlich, die Lungen allmählich ſo zu ſtaͤrken und
ihre Thaͤtigkeit ſo anzutreiben, daß ſie ſich einen
Hartwig’s Erziehungsl. 12
bequemen Thorax bilden, worin ſie ſich ungehemmt und
ohne Kurzathmigkeit ausbilden koͤnnen. Harte Theile
geben oft dem Drucke von Jnnen nach, wenn man
ihnen Zeit laͤßt; zur Pubertaͤtszeit aber iſt die ver-
mehrte Lungenthaͤtigkeit ſo bedeutend, daß die Erwei-
terung des Thorax nicht ſchnell genug erfolgen kann,
um die Differenz auszugleichen.
Gymnaſtiſche Uebungen, welche beſonders die
Respirationsmuskeln ſtaͤrken und eine aufrechte Hal-
tung bewirken, muͤſſen beharrlich, aber nie ſo weit,
bis auch nur die geringſte Erhitzung eintritt, fortge-
ſetzt werden. Schon nach einem Jahre wird man
eine merkliche Erweiterung des Thorax bemerken, die
einen nur aufmuntern kann, den wohlgewaͤhlten Weg
zu verfolgen.
Man laſſe das Kind oͤfter laut leſen, Anfangs
taͤglich ein paar Minuten und allmaͤhlig ſteigern,
bis zu einer halben Stunde und daruͤber. Es iſt
dieſes eine vortreffliche Uebung, nicht nur für die
Lungen, ſondern auch fuͤr die Stimme und Ausſprache.
Hat man auf dieſe Weiſe durch Bewegung, durch
gymnaſtiſche Uebungen und durch lautes Leſen den
Lungen eine kraͤftige Ausbildung gegeben, ſo wird
man der Zukunft ruhiger entgegenſehen koͤnnen. Wir
leben aber leider in einem veraͤnderlichen, feuchten,
windigen, rauhen Clima — Germania, informis terris,
aspera coelo, tristis cultu adspectuqueTacitus. De Moribus Germanorum. — welches
oft ſtärkeren Lungen beſchwerlich wird.
Beſſer alſo, daß man zur kritiſchen Periode, um
auch einer jeden Gefahr zu entgehen, den bedrohten
Juͤngling in ein Land ſchickt, wo mildere Luͤfte we-
hen und die Baͤume ewig gruͤnen.
Die italiaͤniſche Kuͤſte hat in letzterer Zeit viel
von ihrem alten Ruf verloren, denn nach ſchwülen
Tagen ſollen die Abende empfindlich kalt ſein, und,
wenn die Tramontana weht, die ſchlechtgebauten Woh-
nungen keinen gehoͤrigen Schutz gewähren. Auch
Hyéres genießt eine unverdiente Beruͤhmtheit, und
ſoll, wie ſo manches andere, nur in den Beſchrei-
bungen der Dichter und der Enthuſiaſten ſchoͤn ſein.
Glücklicherweiſe hat die Dampfſchifffahrt den
Reiſehorizont ſo erweitert, daß es jetzt viel leichter
iſt im Lande der Pyramiden oder in einer Weſtindi-
ſchen Jnſel die Wohlthat eines waͤrmeren Himmels-
ſtriches aufzuſuchen, als es vor 50 Jahren in Nizza
oder in dem vom ſchneidenden Miſtral ſo oft durch-
wehten Montpellier moͤglich war.
Schon iſt das durch ſeinen ewigen Fruͤhling ſo
reizende Madeira von einer ganzen Colonie bevoͤlkert,
die ſich vor der Gefahr eines rauhen Climas dorthin
gefluͤchtet hat, und die Zeit naht heran, wo man Ge-
ſundheitsreiſen nach Florida oder nach Süd-Carolina
mit eben der Leichtigkeit und Haͤufigkeit machen wird,
wie man zur Zeit den neapolitaniſchen Goͤttergolf
aufſucht oder die romantiſche Umgebung des Monte
pellegrino.
Buchdruckerei von H. Voß in Düſſeldorf.