Gleiches Recht ,
Frauenstimmrecht .
Wacht auf ihr deutschen
Frauen
aller Stände , aller
Parteien !
Der Erweckerin der deutschen Frauenstimmrechtsbewegung
ANITA AUGSPURG
sind diese Zeilen gewidmet .
Frauenstimmrecht ,
eine Forderung der Gerechtigkeit !
Frauenstimmrecht ,
eine Forderung sozialer Notwendigkeit !
Frauenstimmrecht ,
eine Forderung der Kultur !
6.-10. Tausend .
Das Frauenstimmrecht ist eine Forderung
der Gerechtigkeit !
E in Staat , dessen Verfassung auf dem demokratischen
Prinzip des allgemeinen Wahlrechts ruht und die Frauen
von der Beteiligung an demselben ausschliesst , macht sich
einer groben Unwahrheit , einer grossen Ungerechtigkeit
schuldig .
Ein Wahlrecht ist nur dann ein allgemeines , entspricht
nur dann den Forderungen der Gerechtigkeit , wenn alle
erwachsenen Angehörigen eines Staates in gleicher Weise
zur Erwählung der Volksvertreter befugt sind .
Ein Staat , ein Volk besteht aus Männern und Frauen ,
folglich müssen die Gesetze , denen ein Volk unterstellt
wird , unter Mitwirkung von Männern und Frauen gemacht
werden , wenn nicht , wie die Erfahrung lehrt , die Rechte
der Frauen dauernd geschmälert bleiben sollen . Nur unter
der einseitigen Gesetzgebung eines Männerstaates ist es
möglich , dass Frauen , wie z. B. in Deutschland , mit Ver-
brechern , Idioten , Entmündigten , Bankerotteuren , Schülern
und Lehrlingen auf eine Stufe gestellt werden .
§ 7 des Börsengesetzes lautet : Vom Börsenbesuche sind aus-
geschlossen Personen weiblichen Geschlechts . Personen , welche sich
nicht im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befinden ( Verbrecher ) .
Personen , welche infolge gerichtlicher Anordnung in der Verfügung
über ihr Vermögen beschränkt sind ( Idioten und Entmündigte ) . Personen ,
welche wegen betrügerischen oder einfachen Bankerotts rechtskräftig
verurteilt sind ( Frauen stehen hier auf einer Stufe mit gemeinen
Frauen Deutschlands , wollt ihr diese Schmach länger
dulden ?
Diese Ausnahmegesetze rauben den Frauen das Ver-
trauen zu der Gerechtigkeit im Männerstaat , sie liefern den
deutlichen Beweis , dass das männliche Geschlecht allein
keineswegs fähig ist , die Interessen des weiblichen Ge-
schlechts genügend zu wahren .
Schliesst euch zusammen , organisiert euch , kämpft
für eure Rechte , sorgt , dass das Banner der Gerechtigkeit
endlich aufgerichtet wird in Eurem Vaterland !
Betrügern , nur weil sie Frauen sind ) . In der Reichsverfassung Art. 20
heisst es : Von der Berechtigung zum Wählen sind ausgeschlossen :
Personen , welche unter Vormundschaft und Kuratel stehen , über deren
Vermögen Konkurs oder Fallitzustand gerichtlich eröffnet ist , denen
infolge rechtskräftigen Erkenntnisses der Vollgenuss der staatsbürger-
lichen Rechte entzogen ist . Da die Frauen zum Reichswahlrecht
nicht zugelassen werden , ergibt sich ganz von selbst ihre Gleich-
stellung mit diesen Personen .
§ 8 des preussischen Vereinsgesetzes lautet : Vereine , welche
bezwecken , politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern ,
dürfen keine Frauenspersonen , Schüler und Lehrlinge als Mitglieder
aufnehmen .
Das Frauenstimmrecht ist eine Forderung
sozialer Notwendigkeit !
F rauen aller Stände , aller Berufe fördern durch ihre Mit-
arbeit – gleich den Männern – die Entwicklung des
deutschen Wirtschaftslebens und des Deutschen Reiches ;
die Zahl der wirtschaftlich selbständigen Frauen ist in
stetem Wachsen begriffen .
Frauen haben von jeher in der Landwirtschaft und
Hauswirtschaft mitgearbeitet , sie sind heute auf allen künst-
lerischen Gebieten , sie sind im Handel , in der Industrie tätig .
Ohne die Frauenarbeit hätte die deutsche Industrie
niemals den ungeheuren Aufschwung nehmen können , den
sie genommen hat . Deutschlands Industrie aber , die ihre
Entwicklung der Mitarbeit der Frauen verdankt , hat Deutsch-
land die Weltmachtstellung miterobern helfen .
Frauen schenken dem Staate unter Einsetzung ihres
eigenen Lebens die Bürger ; ihnen liegt die mühevolle
Pflege und Erziehung ihrer Kinder in den ersten Jahren ob .
Somit können die Frauen mit Recht erklären , uns
trifft das Verdienst an dem steten Wachsen der Bürger-
zahl des deutschen Reiches ; dieses Wachsen der Bevölke-
rung aber bedeutet eine ungeheure Macht für den deutschen
Staat . Wer grossen Anteil hat an der Entwicklung seines
Vaterlandes , der will auch mitwirken , wenn es sich um
die innere Gestaltung des Staates , um die Gesetzgebung
handelt . Wer so die Weltmachtstellung seines Vaterlandes
stärkt , der hat ein Recht , die politische Gleichberechtigung
zu verlangen . Die Forderung des Frauenstimmrechts wird
zur sozialen Notwendigkeit .
Das Frauenstimmrecht ist eine Forderung
der Kultur !
E s ist eines freien Kulturstaates unwürdig , seine Bürger
Gesetzen zu unterwerfen , an deren Zustandekommen
sie nicht beteiligt sind ; deshalb ist die erste Forderung
eines modernen Kulturstaates die politische Befreiung aller
seiner Staatsangehörigen , der weiblichen sowohl wie der
männlichen . Die politische Befreiung der Männer macht
die Gesamtheit des Volkes nicht frei , denn sie erhält die
Frauen in doppelter Unfreiheit , in der Abhängigkeit von den
Gesetzen und in der Abhängigkeit vom Manne .
Unfreiheit und Abhängigkeit einer Volksklasse be-
deutet für deren Angehörige schmachvolle Erniedrigung ,
für die Gesamtheit dauernde Unkultur . Die Stellung der
Frau im Staate ist der beste Gradmesser für die Höhe
oder den Tiefstand seiner Kultur .
Der Männerstaat schafft Gesetze und Einrichtungen ,
welche die Frauen an der freien Entwicklung zur Persön-
lichkeit hindern ; er entzieht dem Staate Kräfte , ohne die
derselbe niemals die Höhe wahrer Kultur erreichen wird .
Die Stellung der Frau wird erst dann eine menschen-
würdige , wenn sie selbst an der Gesetzgebung beteiligt ist
und für das weibliche Geschlecht wie für die Jugend
Gesetze und Einrichtungen schafft , die den Anforderungen
echter Kultur entsprechen .
Somit ist die Forderung der politischen Gleichberech-
tigung der Frauen eine Forderung der Kultur !
Gattinnen , Mütter
fordert das Stimmrecht !
Frauen aller Berufe , aller Stände
fordert das Stimmrecht !
Gattinnen , Mütter fordert das Stimmrecht !
W as hat die Frauenbewegung aller Richtungen in jahr-
zehntelangem , schwerem Ringen und Kämpfen für
die politische und rechtliche Gleichberechtigung der Frauen
erreicht ? Moralisch sehr viel , materiell wenig oder nichts .
Moralisch sehr viel ! – Sie hat die Männer und
Frauen aufgerüttelt aus ihrer Lethargie , sie hat eine erfolg-
reiche Propaganda entfaltet und erreicht , dass ein gewisses
Verständnis für das Schmachvolle der Hörigkeit der Frauen
in alle , selbst die rückständigsten Kreise gedrungen ist ,
aber dabei ist es in der Hauptsache geblieben .
Materiell wenig oder nichts ! – Wohl sind hin
und wieder dem beständigen Bitten , Drängen und Fordern
der Frauen kleine Abschlagszahlungen von seiten der
Männer geleistet worden .
Bildungsstätten , Universitäten sind dem weiblichen
Geschlecht geöffnet worden ; Berufe , die früher ausschliess-
lich dem männlichen Geschlecht offen standen , sind den
Frauen freigegeben . Das neue bürgerliche Gesetzbuch hat
die grassesten Ungeheuerlichkeiten barbarischer Sklaverei
ausgemerzt . Die Frauen sind dem Manne nicht mehr unter
allen Umständen zum Gehorsam zur ehelichen Pflicht ver-
pflichtet . Die Frau kann , soweit es sich um ihre Ange-
legenheiten handelt , über sich entscheiden , kommen diese
aber nach irgend einer Richtung hin mit den Ansprüchen
auf Bequemlichkeit , mit den Herrschergelüsten des Mannes
in Konflikt , so steht die Entscheidung beim Manne . Er
ist nach wie vor ihr Herr und Gebieter , sie verbleibt in
seiner Hörigkeit , denn er hat als Pfand die Verfügung
über ihre Kinder und ihr Vermögen in Händen . Auf
solcher Basis kann sich die Ehe niemals auf eine freie
und reine Höhe erheben ; es ist ein unwürdiger Zustand ,
Frauen gesetzlich unter den Willen des Mannes zu zwingen .
Hier schafft der Männerstaat , wie die Erfahrung lehrt ,
niemals Wandel ; Frauen selbst müssen mit dem Wahl-
zettel in der Hand um ihre Rechte kämpfen , damit die
Grundlage zu einer Ehe geschaffen wird , von der Nietzsche
so bezeichnend sagt : „ Ehe : so heisse ich den Willen , zu
Zweien , das Eine zu schaffen , das mehr ist , als die es
schufen . Ehrfurcht für einander nenne ich Ehe als vor
den Wollenden eines solchen Willens . “
Unser heutiges Familienrecht bedeutet für die Frau
aber nicht nur pekuniäre Abhängigkeit , nicht nur Verzicht
auf des Recht , über ihre eigene Persönlichkeit zu bestimmen ,
sondern auch Verzicht auf das Recht , über die Erziehung
ihrer Kinder mitzuentscheiden . Der Mutterberuf wird von
seiten des Mannes als höchster Beruf der Frau hingestellt ,
aber er scheut sich nicht , ihr gesetzlich die Autorität zu
rauben , die sie in stand setzt , ihn auszuüben .
Der Männerstaat lässt es sich angelegen sein , für die
Ausbildung der männlichen Jugend sowohl in geistiger wie
in körperlicher Beziehung Sorge zu tragen . Städtische und
staatliche Schulen , Spielplätze , Badeanstalten , überhaupt alle
Einrichtungen eines modernen Staates für die Jugend
kommen in erster Linie den Knaben zugute . Preussen
verausgabte alljährlich von den für höheres Schulwesen
ausgeworfenen Summen 96 ½ $%$ Für Knabenbildung und
3 ½ $%$ für Mädchenbildung . Die Volksschulen für Mäd-
chen bleiben in ihren Leistungen weit hinter den Knaben-
schulen zurück , ausserdem werden diese staatlicherseits
nach der Schulzeit häufig durch Fortbildungsschulen ergänzt ;
von wenigen Ausnahmen abgesehen , erscheint dem Männer-
staat eine weitere Ausbildung für Mädchen überflüssig .
So wird von vornherein der weiblichen Jugend jede Möglich-
keit genommen , unter gleichen Bedingungen sich gleichwertige
Kenntnisse und körperliche Ausbildung zu verschaffen .
Erst wenn Frauen sich durch ihre politische Gleich-
berechtigung Gehör auf allen Gebieten erzwungen haben ,
werden der männlichen und weiblichen Jugend gleiche
Möglichkeiten zu einer gleichwertigen Vor- und Ausbildung
geschaffen werden .
Gattinnen , Mütter , fordert das Frauenstimmrecht und
werdet ihr selbst die Früchte eures Kampfes nicht mehr
ernten , so denkt an eure Kinder !
Frauen aller Berufe , aller Stände ,
fordert das Stimmrecht !
D ie letzte Volkszählung stellt fest , dass in Deutschland
7,657,350 Frauen im erwerbstätigen Leben stehen ;
diese Zahlen liefern den deutlichen Beweis , dass die
Zeiten dahin sind , wo die Frauen ausschliesslich ihre Be-
schäftigung innerhalb des Hauses in der Familie fanden .
Die im Berufsleben stehenden Frauen nehmen den Kampf
um das Dasein unter viel schwierigeren Umständen auf ,
als der Mann , weil in unserem heutigen Männerstaat für
die Interessen der Frauen nicht gesorgt ist . Sie können
sich unter viel ungünstigeren Bedingungen als der Mann
eine gleichwertige Vorbildung verschaffen , bei Erlangung
einer Stellung ist nicht die Frage nach der Tüchtigkeit des
Individuums ausschlaggebend , sondern diejenige nach dem
Geschlecht , und die Bezahlung erfolgt nicht nach dem Wert
der Leistungen , sondern danach , ob die Arbeit von männ-
lichem oder weiblichem Intellekt , von männlicher oder weib-
licher Hand ausgeführt worden ist . Engherzige Selbstsucht
des Mannes hat es dahin gebracht , dass der Kampf ums
Dasein dem sogenannten starken Geschlecht nach Kräften
erleichtert , dem sogenannten schwachen Geschlecht nach
Kräften erschwert wird . Noch gibt es viele Berufe , die
ausschliesslich von Männern ausgeübt werden können , so
die Rechtsprechung , die Advokatur . Da es den Männern
aber , von wenigen rühmlichen Ausnahmen abgesehen , durch-
aus an dem nötigen Verständnis der weiblichen und kind-
lichen Psyche fehlt , werden Frauen aller Stände und Kinder
bei Vergehen gegen die Rechtsordnung jahraus jahrein in
ihrem Empfinden , Fühlen und Denken auf das Empfind-
lichste verletzt und in ihren Interessen geschädigt .
Ist es nicht ein Hohn auf alles , was Gerechtigkeit
heisst , Männer allein Recht sprechen zu lassen und nur
männliche Verteidiger zuzulassen , wenn es sich um Ehe-
konflikte oder geschlechtliche Verbrechen handelt , deren
Aburteilung nur dann eine gerechte sein kann , wenn beide
Geschlechter sich an dem Urteilsspruch beteiligen .
Die grösste Schmach , die tiefste Erniedrigung der
deutschen Frau im herrschenden Männerstaat ist die Auf-
fassung der doppelten Moral , welche bei dem Manne ent-
schuldigt , ja selbst gut heisst , was sie bei der Frau ver-
dammt und diese zur Dirne erniedrigt . Diese entsittlichende
Auffassung findet ihren Ausdruck in den Gesetzen , welche
die Prostitution reglementieren und dadurch zugleich die
Frauen aller Stände schutz- und wehrlos der Willkür der
niederen Polizeiorgane ausliefert , sie vogelfrei erklärt .
Alle Bestrebungen der Frauen , diesen unwürdigen
Zustand zu beseitigen , sind erfolglos geblieben , mussten
erfolglos bleiben , aus dem einfachen Grunde , weil die
Frauen keine Möglichkeit haben , durch das passive und
aktive Wahlrecht auf die gesetzgebenden Körperschaften
einzuwirken . Deshalb Frauen aller Berufe , aller Stände
fordert für euch das Stimmrecht !
Fordert es nicht nur im Interesse der Frauen , sondern
auch im Interesse der Männer selbst , denn die gemeinsame
Beteiligung von Männern und Frauen an der Gesetzgebung
wird allen Staatsangehörigen Gerechtigkeit zu schaffen
suchen .
Gerechtigkeit aber erhöhet ein Volk .
Schlusswort
K ämpft für die politische Befreiung der Frauen , denn
nur diese ist imstande , die Frauen frei zu machen ,
sie aus der Hörigkeit des Mannes zu erlösen , ihnen Gleich-
heit und Gerechtigkeit zu verschaffen .
Dieser Appell geht an alle Frauen , denn alle Frauen
ohne Ausnahmen sind der gleichen Rechtlosigkeit ihres
Geschlechtes unterworfen . Jene aber , die durch glückliche
Umstände gesichert , weniger von den Folgen der uner-
träglichen und unwürdigen Einrichtungen des Männerstaates
zu spüren bekommen , sie sollten es in erster Linie als
Ehrenpflicht betrachten , durch Wort und Tat für ihre
weniger günstig gestellten Schwestern den Kampf auf-
zunehmen .
Frauen organisiert euch !
Nur gemeinsames organisiertes Vorgehen kann zum
Erfolge führen . Die Organisation zur Erlangung des
Frauenstimmrechts in Deutschland ist der Deutsche Ver-
band für Frauenstimmrecht . Der Mitgliedsbeitrag ist am 1. Oktober jeden Jahres fällig
und beträgt : für die Einzelmitglieder „ mindestens “ Mk. 2 , – nach
dem 1. April beitretende Mitglieder zahlen Mk. 1. – für das laufende
Jahr . Das Organ des Verbandes , Zeitschrift für Frauenstimmrecht ,
Wird den Einzelmitgliedern vom Vorstande geliefert . Mitglieder er-
halten die Frauenbewegung zum Vorzugspreis von 3 Mk. jährlich ,
dieselbe erscheint alle 14 Tage . Die Satzung des Deutschen Verbandes
für Frauenstimmrecht ist durch das Bureau des Verbandes , Hamburg ,
Paulstrasse 25/II zu beziehen .
Ihm tretet bei , ihm werbt
neue Mitglieder in euren Kreisen ! Zur Anmeldung bediene man sich der beigefügten Karten .
Nur die Wucht der
Masse wird unsern Forderungen Nachdruck geben . Frauen
Deutschlands , vergesset , was euch sonst trennt . Uns alle
einigt die Forderung der politischen Rechte für unser
ganzes Geschlecht .
Nur Einigkeit macht stark ! Je einmütiger wir in
diesem Kampfe zusammen halten , um so früher ist der
Sieg unser .
München 1907 .
Lida Gustava Heymann .
Kgl. Hofbuchdruckerei Kastner & Caltwey , München .