Die Blinden.
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Erſtes Capitel.
Am offnen Fenſter, das auf den kleinen Blumen¬
garten hinausging, ſtand die blinde Tochter des Dorf¬
küſters und erquickte ſich am Winde, der über ihr
heißes Geſicht flog. Die zarte, halbwüchſige Geſtalt
zitterte, die kalten Händchen lagen in einander auf dem
Fenſterſims. Die Sonne war ſchon hinab und die
Nachtblumen fingen an zu duften.
Tiefer im Zimmer ſaß ein blinder Knabe auf einem
Schemelchen an dem alten Spinett und ſpielte un¬
ruhige Melodieen. Er mochte fünfzehn Jahre alt ſein
und nur etwa um ein Jahr älter als das Mädchen.
Wer ihn gehört und geſehen hätte, wie er die großen
offnen Augen bald emporwandte, bald das Haupt nach
dem Fenſter neigte, hätte ſein Gebrechen wohl nicht
geahnt. So viel Sicherheit, ja Ungeſtüm lag in ſei¬
nen Bewegungen.
Plötzlich brach er ab, mitten in einem geiſtlichen
Liede, das er nach eignem Sinne verwildert zu haben
ſchien.
„Du haſt geſeufzt, Marlene?“ fragte er mit um¬
gewandtem Geſicht.
1 *
„Ich nicht, Clemens. Warum ſollt' ich ſeufzen?
Ich ſchrak nur zuſammen, wie der Wind auf einmal
ſo heftig hereinfuhr.“
„Du haſt doch geſeufzt. Meinſt du, ich hörte es
nicht, wenn ich ſpiele? Und ich fühl' es auch bis
hieher, wie du zitterſt.“
„Ja, es iſt kalt geworden.“
„Du betrügſt mich nicht. Wenn dir kalt wäre,
ſtündeſt du nicht am Fenſter. Ich weiß aber, warum
du ſeufzeſt und zitterſt. Weil der Arzt morgen kommt
und uns mit Nadeln in die Augen ſtechen will, dar¬
um fürchteſt du dich. Und er hat doch geſagt, wie
bald Alles geſchehen ſei, und daß es nur thue wie
ein Mückenſtich. Warſt du nicht ſonſt tapfer und ge¬
duldig, und wenn ich als Kind ſchrie, ſo oft mir was
weh that, hat dich meine Mutter mir nicht immer
zum Muſter aufgeſtellt, obwohl du nur ein Mädchen
biſt? Und nun weißt du dich nicht auf deinen Muth
zu beſinnen, und denkſt gar nicht an das Glück, das
wir hernach zu hoffen haben?“
Sie ſchüttelte das Köpfchen und erwiederte: „Wie
du nur denken kannſt, ich fürchtete mich vor dem kur¬
zen Schmerz. Aber beklommen bin ich von dummen,
kindiſchen Gedanken, aus denen ich mich nicht heraus¬
finde. — Seit dem Tage ſchon, wo der fremde Arzt,
den der Herr Baron hat kommen laſſen, vom Schloß
herunter zu deinem Vater kam, und die Mutter uns
dann aus dem Garten rief, ſeit der Stunde ſchon
liegt was auf mir und will nicht weichen. Du warſt
ſo in Freuden, daß du nichts gewahr wurdeſt. Aber
wie dein Vater damals zu beten anfing und Gott
Dank ſagte für dieſe Gnade, ſchwieg es ganz ſtill in
mir und betete nicht mit. Ich ſann in mir herum,
wofür ich danken ſolle und begriffs nicht.“
So ſprach ſie mit ruhiger, gefaßter Stimme.
Der Knabe ſchlug wieder einige leiſe Accorde an.
Zwiſchen den heiſer ſchwirrenden Tönen, wie ſie die¬
ſen alten Inſtrumenten eigen ſind, klang ferner Ge¬
ſang heimkehrender Feldarbeiter, ein Gegenſatz wie
der eines hellen, kräftig erfüllten Lebens zu dem
Traumleben dieſer blinden Kinder.
Der Knabe ſchien es zu empfinden. Er ſtand raſch
auf, trat an das Fenſter mit ſicherem Schritt — denn
er kannte dies Zimmer und all ſein Geräth — und
indem er die ſchönen blonden Locken zurückwarf, ſagte
er: „Du biſt wunderlich, Marlene! Die Eltern und
Alle im Dorf wünſchen uns Glück. Sollt' es nun
kein Glück ſein? Bis mir's verheißen wurde, hab'
ich auch nicht viel danach gefragt. Wir ſind blind,
ſagen ſie. Ich verſtand nie, was uns fehlen ſoll.
Wenn wir draußen ſaßen am Wäldchen, und Rei¬
ſende kamen vorbei und ſagten: Arme Kinder! ward
ich zornig und dachte: Was haben ſie uns zu be¬
dauern? Aber daß wir anders ſind als die Andern,
das wußt' ich wohl. Sie ſprachen oft Dinge, die ich
nicht verſtand und die doch lieblich ſein müſſen.
Nun wir's auch wiſſen ſollen, läßt mich die Neugier
nicht los Tag und Nacht.“
„Mir war's wohl, ſo wie es war,“ ſagte Marlene
traurig. „Ich war ſo fröhlich und hätte all mein
Lebtag ſo fröhlich ſein mögen. Nun kommt es wohl
anders. Haſt du nicht die Leute klagen hören, die
Welt ſei voll Noth und Sorgen? Und kannten wir
die Sorge?“
„Weil wir die Welt nicht kannten; und ich will
ſie kennen, auf alle Gefahr. Ich ließ mir das auch
gefallen, ſo mit dir hinzudämmern und faul ſein zu
dürfen. Aber nicht immer; und ich will nichts vor¬
aus haben vor denen, die es ſich ſauer werden laſſen.
Manchesmal, wenn mein Vater uns Geſchichte lehrte
und von Helden und wackern Thaten erzählte, fragt'
ich ihn, ob der und der auch blind geweſen. Aber
wer was Rechtes gethan hatte, der konnte ſehen. Da
hab' ich mich oft tagelang mit Gedanken geplagt.
Dann, wenn ich wieder Muſik machte und gar Orgel
ſpielen durfte — an deines Vaters Stelle, vergaß
ich meinen Unmuth. Aber wenn er wiederkam,
dacht' ich: Sollſt du immer Orgel ſpielen und die
tauſend Schritt weit im Dorf umher gehn, und
außer dem Dorf kennt dich kein Menſch und nennt
dich Keiner, wenn du geſtorben biſt? Siehſt du, ſeit
nun der Arzt im Schloſſe iſt, hoffe ich, daß ich noch
ein ganzer Mann werden kann! Und dann gehe ich
in die Welt, und jede Straße, die mir anſteht, und
habe Keinem was nachzufragen.“
„Auch mir nicht, Clemens!“
Sie ſagte das ohne Klage und Vorwurf. Aber
der Knabe erwiederte heftig: „Höre, Marlene! ſprich
nicht ſo Zeugs, was ich nicht leiden kann. Meinſt
du, ich würde dich allein zu Hauſe laſſen und mich
ſo fortſtehlen in die Fremde? Trauſt du mir's zu?“
„Ich weiß wohl, wie es geht. Wenn die Bur¬
ſche im Dorf zur Stadt müſſen oder auf Wander¬
ſchaft, da geht Keins mit, auch nicht die eigene Schwe¬
ſter. Und hier ſogar, wenn ſie noch unerwachſen ſind,
laufen die Knaben von den Mädchen weg, gehn in
den Wald mit ihres gleichen und necken die Mäd¬
chen, wo ſie ihnen begegnen. Bisher, da ließen ſie
dich mit mir zuſammen, und wir ſpielten und lern¬
ten mit einander. Du warſt blind wie ich; was woll¬
teſt du bei den andern Jungen? Aber wenn du ſehen
kannſt und du wollteſt bei mir im Haus ſitzen, wür¬
den ſie dir nachſpotten, wie ſie's Jedem thun, der's
nicht mit ihnen hält. Und dann — dann gehſt du
gar fort auf lange Zeit, und ich hatte mich ſo ganz
an dich gewöhnt!“
Sie hatte die letzten Worte mit Mühe herausge¬
bracht; da übermannte ſie die Angſt und ſie ſchluchzte
laut. Clemens zog ſie feſt an ſich, ſtreichelte ihr die
Wangen und ſagte dringend: „Du ſollſt nicht wei¬
nen! Ich will nicht von dir gehen, nie, nie! und
eh ich das thäte, will ich lieber blind ſein und Alles
vergeſſen. Ich will nicht von dir, wenn dich's wei¬
nen macht! Komm, ſei ruhig, ſei froh! Du darfſt
dich nicht erhitzen, hat der Arzt geſagt, weil es den
Augen nicht gut iſt. Liebe, liebe Marlene!“
Er drückte ſie feſt in den Arm und küßte ſie, was
er nie zuvor gethan. Draußen rief ſeine Mutter vom
nahen Pfarrhaus herüber. Er führte die fort und
fort Weinende zu einem Lehnſtuhle an der Wand,
ließ ſie darauf niederſinken und ging eilig hinaus.
Kurz darauf ſchritt ein würdiges Paar den Schlo߬
berg herab ins Dorf, der Pfarrer, eine hohe, gewal¬
tige Geſtalt in aller Kraft und Majeſtät eines Apo¬
ſtels, der Küſter, ein ſchlichtgewachſener Mann von
demüthiger Haltung, deſſen Haar ſchon weiß wurde.
Sie waren beide vom Gutsherrn eingeladen worden,
den Nachmittag mit ihm und dem Arzt zuzubringen,
der auf die Einladung des Barons aus der Stadt
herübergekommen war, die Augen der beiden Kinder
zu prüfen und eine Operation zu verſuchen. Nun
hatte er den hocherfreuten Vätern wiederholt ſeine
Hoffnung auf völlige Heilung verſichert, und gebeten,
auf den kommenden Tag ſich bereit zu halten. Den
Müttern lag es ob, in der Pfarre das Nöthige zu¬
zurüſten; denn man wollte die Kinder an dem Tage
nicht trennen, der beiden das ſo lange gemeinſam
entbehrte Licht bringen ſollte.
Als die beiden Väter vor ihren einander gegen¬
über gelegenen Häuſern angekommen waren, drückte
der Pfarrer ſeinem alten Freunde die Hand und ſagte
mit feuchtem Blick: „Gott ſei mit uns und ihnen!“
dann ſchieden ſie. Der Küſter ging in ſein Haus;
da war Alles ſtill, die Magd draußen im Garten.
So trat er in ſein Zimmer und war der Stille froh,
die ihn mit ſeinem Gott allein ſein ließ. Als er
über die Schwelle geſchritten, erſchrak er. Sein Kind
war vom Stuhle aufgefahren, drückte das Tuch
haſtig vor die Augen, die Bruſt flog ihr wie von
Krämpfen, die Wangen und Lippen waren blaß. Er
ſprach ihr zu und bat ſie, ſich zu faſſen und fragte
ernſtlich: „Was iſt dir geſchehen?“ Sie antwortete
nur mit Thränen, die ſie ſelbſt nicht verſtand.
Zweites Capitel.
In zwei Kammern des Pfarrhauſes, die im obern
Geſchoß nach Mitternacht gelegen waren, hatte man
die Kinder gebettet. Die Fenſter waren in Erman¬
gelung der Läden mit dunkeln Tüchern ſorglich ver¬
hangen, ſo daß vom hellſten Tage kaum ein Zwie¬
licht herein drang. Der geräumige ſtille Baumgarten
des Pfarrers verſchattete zum Ueberfluß die Mauer
und hielt das Geräuſch des täglichen Lebens fern.
Beſonders für das Mädchen hatte der Arzt die
größte Vorſicht eingeſchärft. Was an ihm geweſen,
ſei geglückt. Nun müſſe die Natur im Stillen das
Uebrige thun, und des Mädchens leicht erregbares
Weſen brauche der ſtrengſten Pflege und Schonung.
Marlene war in der entſcheidenden Stunde un¬
verzagt geweſen. Als ihre Mutter bei dem Schritt
des Arztes über den Flur in Weinen ausbrach, war
ſie zu ihr getreten, um ſie zu beſchwichtigen.
Der Arzt fing mit dem Knaben an, der aufgeregt,
aber von geſundem Muth, niederſaß und Alles ertrug.
Nur wollte er nicht dulden, daß man ihn während
der Operation halte. Erſt Marlenens Zureden bewog
ihn, ſich auch das gefallen zu laſſen. Als der Arzt
von den entſchleierten Augen auf einige Secunden
die Hand wegnahm, ſchrie er heftig auf vor freudi¬
gem Schreck.
Marlene zuckte zuſammen, dann beſtand ſie auch
ohne einen Laut die kurze Pein. Aber Thränen ſtürz¬
ten ihr aus den Augen und ihr Leib zitterte, ſo daß
der Arzt ihr die Binde eilig umthat und ſie ſelbſt in
ihre Kammer bringen half, denn die Kniee wankten
ihr. Dort auf ihrem Lager ſtritten ſich lange Schlaf
und Ohnmacht um ſie, während der Knabe verſicherte,
ihm ſei völlig wohl, und nur auf den ernſten Befehl
des Vaters ſich niederlegte.
Sobald aber entſchlief er nicht. Bunte Geſtalten,
bunt zum erſtenmal, glitten an ihm vorüber, geheim¬
nißvoll, die ihm noch Nichts waren und doch ſo Viel
werden ſollten, wenn die Leute Recht hatten, die
ihm Glück wünſchten. Er fragte Vater und Mutter,
die an ſeinem Bette ſaßen, nach hundert Dingen,
die ihm freilich die tiefſinnigſte Wiſſenſchaft nicht hätte
enträthſeln können. Denn was weiß ſie von dem
Quell des Lebens? Der Vater bittet ihn, ſich zu ge¬
dulden, denn mit Gottes Hilfe werde er bald in
ſeinen Zweifeln ſelbſt klarer ſehen. Jetzt ſei ihm Ruhe
noth und vor Allem Marlenen, die er leicht durch
ſein Sprechen aufwecken könne. Da ſchweigt er denn
und horcht durch die Wand. Er bittet flüſternd, man
ſolle die Thür öffnen, daß er hören könne, ob ſie
ſchlafe und nicht etwa ſtöhne vor Schmerz. Die
Mutter thut ihm den Willen. Nun liegt er unbe¬
weglich und lauſcht, und das Athmen ſeiner ſchlafen¬
den kleinen Freundin, das ruhig aus- und eingeht,
ſingt ihn endlich auch in den Schlaf.
So lagen ſie ſtundenlang. Im Dorf draußen
ging es ſtiller zu als ſonſt. Wer mit einem Fuhr¬
werk der Pfarre vorbei mußte, hütete ſich vor allem
Lärm. Auch die Schulkinder, denen es der Lehrer
geſagt haben mochte, tobten nicht wie ſonſt aus dem
Unterricht nach Haus, ſondern gingen, das Haus
ſcheu und flüſternd anblickend, paarweiſe entfernten
Spielplätzen zu. Nur der Geſang der Vögel ſchwieg
nicht in den Zweigen; aber wann hätte ſein Klang
ein ruhbedürftiges Menſchenkind geſtört oder ver¬
droſſen?
Erſt die Heerdenglocken weckten die beiden Kinder.
Des Knaben erſte Frage war, ob Marlene ſchon nach
ihm gerufen habe. Er fragte ſie dann halblaut, wie
ſie ſich fühle. — Der dumpfe Schlaf hat ihr kaum
wohlgethan und die Augen brennen ihr unter der
leichten Binde. Aber ſie zwingt ſich, ſagt, es ſei
ihr beſſer, und plaudert heiter mit Clemens, dem die
abenteuerlichſten Gedanken über die Lippen gehen.
Spät, als der Mond ſchon aus dem Walde ſtieg,
klopft zaghafte Kinderhand an die Thür des Pfarr¬
hauſes. Die kleinen Mädchen vom Dorfe ſind's mit
einem Kranz für Marlene von ihren beſten Garten¬
blumen und einem Strauß für Clemens. Als man
ihn dem Knaben bringt, verklärt ſich ſein Geſicht.
Der Duft und der kühle Thau erfriſchen ihn. Er
bittet: „Sagt ihnen viel ſchönen Dank. Sie ſind
gute Mädchen. Jetzt bin ich noch krank. Aber wenn
ich erſt ſehen darf, ſteh' ich ihnen bei gegen die Bu¬
ben.“ — Marlene, da man ihr den Kranz aufs Bett
legte, ſchob ihn mit den blaſſen Händchen ſanft zurück
und ſagte: „Ich kann nicht! Mir ſchwindelt, Mutter,
wenn mir die Blumen nahe ſind. Bring' ihn dem
Clemens auch!“
Sie fiel bald wieder in ihren fieberhaften Halb¬
ſchlaf. Erſt die geſunde Nähe des Tages beruhigte
ſie, und der Arzt, der in aller Frühe kam, fand ſie
außer Gefahr, wie er kaum gehofft hatte. Lange ſaß
er dann am Bett des Knaben, hörte lächelnd die
ſeltſamen Fragen an, ermahnte ihn freundlich zu Ge¬
duld und Ruhe und ging mit der beſten Zuverſicht.
Aber Ruhe und Geduld einem anzuſinnen, dem
ein vielgelobtes Land endlich einen Augenblick aus
der Ferne gezeigt worden! Der Vater muß, ſo oft
ſein Amt ihm die Zeit läßt, in die Kammer hinauf
und erzählen. Die Thür darf dann nicht geſchloſſen
werden, daß auch Marlene die ſchönen Geſchichten
hören kann, Legenden von frommen Männern und
Frauen, denen Gott ſchwere Gebrechen gegeben und
genommen, das Märchen vom armen Heinrich, für
den das fromme Mägdlein in ihrer Demuth ſich hat
opfern wollen, und wie Gott Alles herrlich hinaus¬
geführt habe, und was der würdige Pfarrer an er¬
baulichen Hiſtorien aufzutreiben wußte.
Wenn dann dem frommen Mann unvermerkt die
Erzählung zum Gebet wurde, oder die Mutter mit
ihrer klaren Stimme ein Danklied zu ſingen anhob,
faltete Clemens auch die Hände und ſang mit; aber
gleich darauf warf er neue Fragen hin, die zeigten,
daß er mehr Antheil an der Geſchichte genommen,
als am Geſang. Marlene fragte nie. Sie war freund¬
lich zu Jedermann, und Keiner ahnte, wie viele Ge¬
danken und Fragen in ihr arbeiteten.
Sichtbar genaſen ſie von Tag zu Tag, und ſchon
am vierten nach der Operation erlaubte ihnen der
Arzt aufzuſtehn. Er ſelber ſtützte das Mädchen, wie
ſie ſchwach und zitternd durch die finſtere Kammer
ging nach der offenen Thür, in der der Knabe ſtand
und fröhlich ſeine ſuchenden Hände nach den ihren
ausſtreckte. Dann hielt er ihre Hand feſt und bat
ſie, ſich auf ihn zu ſtützen, was ſie zutraulich that.
Sie ſchritten die Kammer auf und ab mit ein¬
ander, und er mit dem feinen Gefühl der Oertlich¬
keit, wie es Blinden eigen iſt, geleitete ſie behutſam
an den Seſſeln und Schränken vorüber, die an den
Wänden ſtanden. „Wie iſt dir?“ fragte er ſie. —
„Mir iſt wohl,“ war ihre Antwort heut wie immer.
„Komm“, ſagte er raſch, „lehn dich feſter an; du
biſt noch matt. Es thäte dir gut, ein bischen Wie¬
ſenduft im Freien zu athmen, denn hier iſt die Luft
dick und ſchwer. Aber noch iſt's nicht geſund, ſagt
der Doctor. Die Augen werden wund und erblin¬
den gar wieder, wenn ſie zu früh ins Licht ſehen.
O, nun weiß ich ſchon, was Licht und Dunkel iſt.
Kein Flötenton iſt ſo ſüß, als wenn es dir ſo weit
ums Auge wird. Es that mir weh, muß ich ſagen;
doch hätt' ich immer ſo ins Bunte ſtarren mögen;
ſo ſelig war der Schmerz. Du wirſt es auch erleben.
Aber es iſt noch mancher Tag zu überſtehen, bis es
uns ſo gut wird. Dann aber thu' ich den ganzen
Tag nichts als ſehen. Was ich wiſſen möchte, Mar¬
lene: ſie ſagen, jedes Ding habe eine andere Farbe.
Was für Farben mag dein und mein Geſicht haben?
dunkel oder hell? Es wäre garſtig, wenn ſie nicht
recht ſchön hell wären. Ob ich dich wohl erkenne
mit den Augen? Jetzt, ſo taſtend, will ich dich mit
meinem kleinen Finger unter allen Menſchen heraus¬
finden. Aber hernach — da haben wir uns ganz
von neuem kennen zu lernen. Ich weiß jetzt, deine
Wangen und deine Haare ſind weich anzufühlen. —
Ob ſie den Augen auch ſo ſein mögen? Das wüßt'
ich gern, und es iſt noch ſo lange hin!“
In dieſem Ton plauderte er unaufhörlich und ach¬
tete nicht darauf, daß ſie ſtumm neben ihm ging.
Manche von ſeinen Worten waren ihr tief zu Herzen
gegangen. Sie war nie darauf verfallen, daß ſie ſich
ſelbſt nun auch ſehen würde, und wußte auch kaum,
wie ſie ſich das zu denken habe. Von Spiegeln hatte
ſie gehört, ohne es zu verſtehen. Sie dachte ſich
jetzt, ſobald ein Sehender die Augen aufthäte, er¬
ſchiene ihm ſein eigen Angeſicht.
Nun, wie ſie wieder im Bett lag und die Mutter
dachte, ſie ſchliefe, ging ihr das Wort durch den Sinn:
Es wäre garſtig, wenn unſere Geſichter nicht hell
wären. Sie hatte von Schön und Häßlich gehört,
und daß häßliche Menſchen bemitleidet und oft min¬
der geliebt würden. Wenn ich nun häßlich bin, ſagte
ſie ſich, und er will nichts mehr von mir wiſſen!
Sonſt war es ihm gleich. Er ſpielte gern mit mei¬
nen Haaren und nannte ſie Seidenfädchen. Das
wird nun aufhören, wenn er mich garſtig findet.
Und er, wenn er's auch iſt, ich will's ihn gewiß
nicht merken laſſen, will ihn doch lieb haben. Aber
nein, ich weiß wohl, er kann nicht häßlich ſein, er
nicht!
Lange grübelte ſie in Kummer und Neugier ver¬
ſunken. Es war ſchwül. Im Garten die Nachti¬
gallen riefen ängſtlich herein und ein zuckender Weſt¬
wind ſtieß gegen die Scheiben. Sie war ganz allein
in der Kammer, denn das Bett der Mutter, die
ſonſt bei ihr geſchlafen, war der Hitze wegen aus
dem engen Gemache wieder hinausgeſchafft. Ueber¬
dies hielt man eine Nachthüterin nicht mehr für nö¬
thig, da das Fieber völlig geſchwunden war. Und
gerade heute überkam es ſie wieder und warf ſie hin
und her, bis lange nach Mitternacht ein kurzer
dumpfer Schlaf ſich ihrer erbarmte.
Indeſſen zog das Wetter, das die Hälfte der
Nacht murrend am Horizonte gekreiſ't hatte, mit Macht
herauf, lagerte ſich über dem Wald und ſtand nun
ſtill; denn der Wind ſchwieg. Ein heftiger Donner
ſchallt in Marlenens Schlummer hinein. Halbträu¬
mend fährt ſie empor. Sie weiß nicht was ſie ſucht
und ſinnt, in ungewiſſer Angſt treibt es ſie aufzu¬
ſtehen, ihre Kiſſen ſind ſo heiß! Nun ſteht ſie am
Bett und hört draußen den ſtarken Regen nieder¬
rauſchen. Aber er kühlt ihre fiebernde Stirne nicht.
Sie ſucht ſich zu faſſen und zurecht zu finden und
findet in ihrer Seele nichts, als die traurigen Ge¬
danken, mit denen ſie einſchlief. Ein ſeltſamer Ent¬
ſchluß geht in ihr auf. Sie will hinein zu Clemens.
Auch er iſt allein. Wer hindert ſie, ihrer Ungewi߬
heit ein Ende zu machen und ſich und ihn zu ſehn?
Nur dies Eine denkt ſie und alle Worte des Arztes
ſind vergeſſen. So geht ſie, ohne ſich zu beſinnen,
ganz wie ſie ihr Bett verlaſſen, der Thüre zu, die
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halb offen ſteht, findet die Lehne des Bettes, huſcht
auf den Zehen an des Schlafenden Seite und mit
verhaltenem Athem über ihn gebeugt, reißt ſie ſich
raſch die Binde von den Augen.
Aber ſie erſchrickt, da es dunkel bleibt wie zuvor.
Sie hatte vergeſſen, daß es Nacht ſei und daß man
ihr geſagt hatte, in der Nacht ſeien die Menſchen
allzumal blind. Sie hatte gedacht, es müſſe eine
Klarheit ausſtrömen von einem ſehenden Auge und
ſo ſich und die Dinge erleuchten. Nun fühlte ſie den
Hauch des Knaben ſanft an ihre Augen wehen, aber
ſie unterſchied keine Geſtalt. Schon will ſie beſtürzt
und faſt verzweifelnd wieder zurück — da flammt
durch die nicht mehr genau verhüllten Scheiben ein
ſecundenlanger Blitz, dann ein zweiter und dritter,
die Luft wogt von Helle hin und her, Donner und
Regenguß wachſen an Lärm —; ſie aber ſtarrt einen
Augenblick auf das Lockenhaupt, das ſanft in die
Kiſſen gedrückt da lag; dann verſchwimmt das Bild,
die Augen thränen gewaltſam, und von unausſprech¬
licher Angſt aufgeſcheucht flieht ſie in ihre Kammer,
legt die Binde um, ſinkt aufs Bett, und in ihr iſt
es, als wiſſe ſie es unerſchütterlich, daß ſie geſehen
hat zum erſten und letzten Male.
Drittes Capitel.
Wochen ſind vergangen. Zum erſten Mal ſoll
ſich die junge Kraft der Augen am Licht verſuchen.
Der Arzt, der indeß von der Stadt aus die einfache
Pflege der Kinder geleitet hat, war an einem um¬
wölkten Tage herüber gekommen, um ſelbſt zugegen
zu ſein und die Frucht ſeiner Sorge mitzugenießen.
Man hatte ſtatt der Vorhänge Laubgewinde um
die Fenſter gebreitet und beide Kammern mit Grün
und Blumen feſtlich aufgeſchmückt. Der Gutsherr
ſelbſt und wer im Dorfe den beiden Familien am
nächſten ſtand hatte ſich eingefunden, Eltern und
Kindern Glück zu wünſchen und ſich am Staunen
der Geheilten zu freuen.
Marlene drückte ſich in düſterer Angſt in die
Zweige im Winkel, als Clemens, hochroth vor Ent¬
zücken, ihr gegenübergeſtellt wurde uudund ihre Hand
faßte. Er hatte ſich's ausgebeten, ſie zuerſt ſehen zu
dürfen. So löſ'te man ihnen in demſelben Augen¬
blick die Binden.
Ein Ach des höchſten wortloſen Jubels klang von
des Knaben Lippen. Er blieb ſtarr auf demſelben
2 *
Fleck, ein verklärtes Lächeln um die Lippen, die hellen
Augenſterne hierhin und dorthin bewegend. Er hatte
vergeſſen, daß Marlene vor ihm ſtehen ſollte und
wußte ja noch nicht, was menſchliche Geſtalt ſei. Sie
that auch nichts, ihn an ſich zu erinnern. Ohne Re¬
gung ſtand ſie, nur leicht mit den Wimpern zuckend,
die klare, braune, todte Augen beſchatteten. Noch
hatte man kein Arg. Die Wunder, dachte man, die
ſie zuerſt fremd anſehen, verſteinern ſie. Aber als
die Freude des Knaben laut ausbrach, man ihm
ſagte: das iſt Marlene! und er in der alten Gewohn¬
heit mit der Hand ihre Wangen ſuchte und ſagte:
„du haſt ein helles Geſicht“ — da ſtürzten ihre
Thränen hervor, ſie ſchüttelte heftig den Kopf und
ſagte kaum vernehmlich: „Es iſt ja dunkel hier! Es
iſt ja Alles wie es war!“
Wer ſchildert das Entſetzen der nächſten Stunde!
Der Arzt, tief erſchüttert, führte ſie auf einen Stuhl
zum Fenſter und unterſuchte die Augen. Das graue
Häutchen des Staars, das er entfernt hatte, war
nicht wieder erneut. Nichts unterſchied die Pupille
von geſunden, als, die lebloſe, traurige Starrheit.
„Der Nerv iſt erloſchen,“ ſagte er. „Eine heftige
Erſchütterung durch einen plötzlichen, grellen Schein
muß ihn getödtet haben.“ — Die Küſtersfrau ver¬
ließen ihre Sinne; ſie fiel ihrem Manne todtenblaß
in den Arm. Clemens begriff noch kaum, was vor¬
ging. Seine Seele war von dem neu geſchenkten
Leben zu voll. Aber Marlene lag in Thränen auf¬
gelöſt und antwortete auf keine Frage des Arztes.
Auch ſpäter erfuhr man nichts von ihr. Sie wiſſe
nicht, wie es gekommen; man ſolle ihr vergeben, daß
ſie ſo kindiſch geweint habe. Sie wolle Alles hin¬
nehmen, wie es ihr beſchieden ſei. Habe ſie es doch
bisher nicht anders gekannt.
Als man Clemens das Unglück klar gemacht hatte,
gerieth er außer ſich, ſtürzte zu ihr und ſchrie unauf¬
hörlich: „Du ſollſt auch ſehen! Ich will nichts vor
dir voraus haben. Sei ruhig, es wird nicht Alles
verloren ſein. Ach nun weiß ich erſt, was du ver¬
loren hätteſt! Es iſt nichts, daß man ſelber ſieht.
Aber Alles ringsum hat Augen und ſieht uns an,
als hätt' es uns lieb. Und es wird dich auch an¬
ſehen; gedulde dich nur und weine nicht.“ — Und
dann fragte er nach dem Arzt und drängte ſich ungeſtüm
an ihn und bat unter Thränen, Marlenen zu helfen.
Dem braven Manne ſtanden helle Tropfen im Auge;
er faßte ſich mühſam, ermahnte ihn ſich zu ſchonen,
er wolle ſehen, was zu thun ſei, und hielt ihn mit
Hoffnungen hin, um eine Aufregung zu verhüten, die
ihm hätte gefährlich werden können. Den Eltern
verhehlte er die troſtloſe Wahrheit nicht.
Aber des Knaben Schmerz ſchien Marlene ge¬
tröſtet zu haben. Sie ſaß ſtill am Fenſter und rief
ihn leiſe zu ſich. „Es muß dich nicht ſo kümmern,“
ſagte ſie. „Es kommt Alles von Gott. Freue dich
nur, wie ich mich freue, daß du geheilt biſt. Du
weißt ja, ich habe nie ſonderlich danach verlangt.
Nun wär' ich's auch zufrieden, wenn es meine Eltern
nicht ſo betrübte. Aber ſie werden ſich daran ge¬
wöhnen, und du auch, und ſo wird es gut werden,
wenn du mich nur lieb behältſt, da ich nun bleibe,
wie ich war.“
Er ließ ſich nicht beruhigen, und der Arzt drang
darauf, die Kinder zu trennen. Man führte Cle¬
mens hinunter in das größere Zimmer, wo ſich die
Leute aus dem Dorf um ihn drängten. Sie drückten
ihm der Reihe nach die Hand und ſagten herzliche
Worte. Ihn betäubte die Menge. Er ſagte nichts
als: „Wißt ihr auch ſchon, Marlene iſt blind ge¬
blieben!“ Und weinte dann von neuem.
Es war hohe Zeit, ihm die Binde wieder umzu¬
thun und ihn in ein einſames, kühles Zimmer zu
bringen. Da lag er und war erſchöpft von Freude,
Schmerz und Weinen. Der Vater ſprach mild und
fromm zu ihm, was ihm doch wenig half. Auch im
Schlaf weinte er viel und ſchien ängſtlich zu träumen.
Am folgenden Tag aber forderten Freude, Wi߬
begier und Staunen ihr Recht an ihn, und die
Trauer über Marlenen ſchien ihm nur nahe zu kom¬
men, wenn er ſie ſah. Er hatte ſie gleich in der
Frühe beſucht und mit der zärtlichſten Sorge gefragt,
ob ſich über Nacht nichts geändert und gebeſſert habe.
Dann aber beſchäftigte ihn die bunte Welt, die ſich
ihm aufthat, und wenn er zu Marlenen zurückkam,
war es nur, ihr ein neues Wunder zu ſchildern, wo
er denn oft mitten im Fluß der haſtigen Erzählung
einhielt, durch einen Blick auf die arme kleine Freun¬
din erinnert, wie weh ihr ſeine Freude thun müſſe.
Im Grunde that ſie ihr aber nicht weh. Sie wollte
nichts für ſich; ihn begeiſtert reden zu hören, war
ihr ein Feſt. Aber als er ſeltener kam, im Wahn,
ſie zu betrüben, und dann ſchweigſam war, weil ihm
alles Andere verſchwand gegen Das, was er ihr nicht
zu ſagen wagte, wurde ſie unruhig. Sie hatte ihn
ſonſt am Tage nur ſelten entbehrt. Jetzt ſaß ſie viel
allein. Die Mutter kam wohl oft, ihr Geſellſchaft
zu leiſten. Aber die gute Laune der ſonſt lebhaften
Frau war fort, ſeit ihre liebſte Hoffnung fehlgeſchla¬
gen. Sie wußte ihrem Kinde nichts zu ſagen, als
Troſtworte, die ihre eigenen Seufzer Lügen ſtraften
und die Marlenen wenig ſein konnten. — Wie viel
von dem, was ſie nun litt, hatte das Mädchen vor¬
aus gefürchtet! Und doch überraſchte ſie das Gefühl
der Entbehrung mit unbekannten Schmerzen.
Sie ſaß nun wieder oft in ihres Vaters Gärt¬
chen unter den Zweigen und ſpann. Wenn dann
Clemens zu ihr kam, glänzte es ſeltſam um ihre ar¬
men Augen. Er war immer freundlich zu ihr, ſetzte
ſich neben ſie auf das Bänkchen und ſtreichelte ihr
Haar und Wangen wie ſonſt. Sie bat ihn einmal,
er ſolle nicht ſo ſtill ſein. Wenn er ihr erzähle, wie die
Welt ſei und was er täglich mehr von ihr lerne, ſo
fühle ſie nichts von Neid. Aber wenn er gar nicht
komme, ſo bleibe ſie gar zu einſam. Sie erinnerte
ihn mit keinem Wort daran, daß er ihr an jenem
Abend verſprochen hatte, ſie nie zu verlaſſen; denn
ſie hatte längſt darauf verzichtet. Nun aber war es,
als ſei ſie ihm doppelt lieb geworden, ſeit er ihr
nichts mehr zu verſchweigen hatte. Da floß ihm das
Herz über und er erzählte ihr ſtundenlang von Sonne,
Mond und den Geſtirnen, von allen Blumen und
Bäumen, und vor Allem, wie die Eltern und ſie
ſelbſt ausſähen. Sie bebte freudig bis ins innerſte
Herz, als er ihr unſchuldig ſagte, daß ſie hübſcher
ſei, als alle Mädchen im Dorf. Nun beſchrieb er
ſie, daß ſie ſo ſchlank ſei und einen feinen Kopf habe
und dunkle, zarte Augenbrauen. Er habe ſich nun
auch geſehen, im Spiegel, aber er ſei lange nicht ſo
hübſch. Er brauch' es auch nicht, und es ſei ihm
gleichgiltig; wenn er nur ein geſcheiter Mann werde.
Männer ſeien überhaupt nicht ſo ſchön wie Frauen.
Sie verſtand das Alles nicht ganz; aber ſo viel
begriff ſie, daß ſie ihm gefalle, und was wollte ſie
mehr?
Sie kamen nicht wieder auf dieſe Dinge zu ſpre¬
chen. Aber unerſchöpflich war er, ihr von der ſchö¬
nen Welt zu reden. Wenn er dann nicht kam, dachte
ſie ſeinen Worten nach und es beſchlich ſie faſt wie
Eiferſucht auf dieſe Welt, die ihn ihr raubte. Leiſe
wuchs dies feindliche Gefühl an und ward bald her¬
riſcher, als ihre Freude über ſein Glück. Vor Allem
haßte ſie die Sonne; denn ſie wußte, daß dieſe glän¬
zender ſei, als Alles und in ihrer unklaren Vorſtel¬
lung war glänzend und ſchön ein und daſſelbe.
Nichts verſtimmte ſie mehr, als wenn er Abends bei
ihr ſaß und über den Sonnenuntergang in einen
Rauſch von Entzücken gerieth. Mit ſolchen Worten
hatte er nie von ihr geſprochen; und warum vergaß
er ſie ſo völlig über dieſem Schauſpiel, daß er es
nicht ſah, wenn ihr der ſeltſame eiferſüchtige Kum¬
mer Thränen in die Augen preßte?
Noch ſchwerer ward ihr das Herz, als der Pfar¬
rer, ſobald es der Arzt geſtattete, ſeinen Sohn zu
unterrichten anfing. Vor der Heilung hatte Clemens
den größten Theil des Tages mit Muſikübungen ver¬
bracht. Religionsunterricht, Geſchichte, Mathematik
und ein wenig Latein war Alles, was früher nöthig
und möglich ſchien, und man ließ Marlene an den
Stunden Theil nehmen, die nicht viel über die all¬
gemeinſten Kenntniſſe hinausgingen. Jetzt, wo der
Knabe den entſchiedenſten Hang zu Naturwiſſenſchaften
an den Tag legte, ward er ernſtlich beſchäftigt und
für eine der höheren Claſſen der ſtädtiſchen Schulen
vorbereitet.
Sein feſter Wille arbeitete ſich raſtlos durch, und
ſeine guten Anlagen halfen ihm, in überraſchend
kurzer Zeit ſeinen Jahren nachzukommen und das
Verſäumte einzubringen. Manche Stunde ſaß er denn
auch wohl mit einem Buch in des Küſters Garten.
Aber es war doch an kein Geplauder zu denken, wie
ſonſt, und Marlene fühlte wohl, daß ſie jetzt zwei¬
fach entbehre, den Unterricht und ihren Freund.
Viertes Capitel.
Der Herbſt unterbrach auf einige Tage die Ar¬
beiten des Knaben. Der Pfarrer hatte beſchloſſen,
noch vor dem Winter ſeinen Sohn in das nahe Ge¬
birge mitzunehmen, daß er Berg und Thal ſähe und
weiter hineinblicke in die Welt, die ihm ſchon in der
dürftigen Dorfebene ſo ſchön geſchienen. Als man
es dem Knaben ſagte, fragte er: „Und wir nehmen
doch Marlene mit?“
Man verſuchte es ihm auszureden. Aber er wollte
nicht ohne ſie reiſen. „Wenn ſie auch nichts ſieht,
die Bergluft ſoll geſund ſein, und ſie iſt ſeit lange
blaß und matt und fängt Grillen ohne mich.“ So
that man ihm ſeinen Willen. Das Mädchen wurde
zu ihm und ſeinen Eltern in den Wagen gehoben
und eine kurze Tagreiſe brachte ſie an den Fuß des
Berglandes.
Nun begann das Wandern zu Fuß. Geduldig
führte der Knabe ſeine blinde Freundin, die ver¬
ſchloſſener war als je. Oft wäre er noch gern auf
dieſe oder jene vereinzelte Felshöhe geklettert, die eine
neue Ausſicht verſprach. Aber er ſtützte ſie, wo ſie
ging, und trat ſein Amt nicht ab, ſo viel ſich die
Eltern dazu anboten. Nur wenn ſie eine Höhe er¬
reicht hatten und auf einer ſchattigen Stelle raſteten,
beurlaubte er ſich von dem Mädchen und ſuchte ſich
durch die gefährlichſten Klippen eigene Wege, ſeltne
Steine ſammelnd, oder Blumen, die in der Tiefe
nicht wuchſen. Kam er dann zu den Ruhenden zu¬
rück, ſo hatte er immer etwas für Marlenen, Bee¬
ren oder eine ſtark duftende Blume, oder das weiche
Neſt eines Vogels, das der Wind vom Baum ge¬
weht hatte.
Sie nahm ihm Alles freundlich ab und ſchien
vergnügter zu ſein, als daheim. Und ſie war es
auch, weil ſie doch den Tag über Eine Luft mit ihm
athmete. Daneben aber begleitete ſie ihre thörichte
Eiferſucht, und ſie zürnte dem Gebirge, deſſen herbſt¬
liche Pracht, wie ſie wähnte, ihm die Welt nur lieber
machte und ihn ihr ſelbſt nur mehr entfremdete. Der
Pfarrerin fiel ihr ſeltſames Weſen auf. Sie ſprach
mit ihrem Manne dann und wann über das Kind,
das ihnen Beiden wie das eigene lieb war. Und Beide
gaben die Schuld ihres hartnäckigen Trübſinns der
getäuſchten Hoffnung. Und doch entbehrte das Mäd¬
chen nichts, was ihr verheißen und ihrer Hoffnung
vorgeſpiegelt worden war, ſondern nur was ſie ge¬
kannt und beſeſſen hatte.
Am zweiten Tage der Reiſe ſollte in einem ein¬
ſamen Hauſe übernachtet werden, das durch die Nähe
eines gewaltigen Waſſerfalls berühmt war. Sie hatten
eine weite Wanderung beſtanden, und die Frauen
waren erſchöpft. Als ſie das Haus erreichten, führte
der Pfarrer ſeine Frau hinein, ohne vorher die Strecke
nach der Schlucht weiter hinauf zu wandern, aus der
man den Sturz brauſen hörte. Auch Marlene war
völlig ermattet; aber ſie wollte Clemens folgen, den
noch nicht nach Ruhe verlangte. So ſtiegen ſie die
Stufen weiter hinan, und immer deutlicher klang
das toſende Waſſer herüber. Mitten auf der ſchmalen
Steile verließ Marlenen die letzte Kraft. „Ich will
hier ſitzen bleiben“, ſagte ſie. „Geh du vollends hin¬
auf und hole mich wieder, wenn du dich ſatt geſehen
haſt.“ Er erbot ſich, ſie zuerſt ins Haus zu bringen,
aber ſie ſaß ſchon, und ſo verließ er ſie und ging
dem Schalle nach, ſelig ergriffen von der Einſamkeit
und Majeſtät des Ortes.
Das Mädchen ſaß auf einem Stein und wartete
ſeiner Rückkehr. Es däuchte ſie, daß er unendlich
zögere. Ein Froſt überrieſelte ſie, und der dumpfe
ferne Donner des Waſſerfalls machte ſie ſchauern.
Warum kommt er nicht? dachte ſie bei ſich. Er wird
mich vergeſſen über ſeiner Freude, wie immer. Fänd'
ich nur den Weg ins Haus, daß ich warm würde!
— So ſaß ſie ängſtlich und horchte in die Ferne.
Plötzlich war es ihr, als unterſcheide ſie ſeine Stimme,
die ihr zurief. Zitternd fuhr ſie in die Höhe. Was
ſollte ſie thun? Sie verſuchte unwillkürlich einen
Schritt, aber ihr Fuß glitt aus, ſie taumelte und
fiel. Zum Glück waren die Steine neben dem Weg
mit Moos überwuchert. Aber dennoch betäubte ſie
der Fall und ſie ſchrie außer ſich nach Hilfe. Um¬
ſonſt! Ihre Stimme drang nicht zu Clemens hin¬
auf, der hart an der Kluft vom Getöſe umgeben
ſtand. Und das Haus war zu entfernt. Ein ſchnei¬
dendes Weh fuhr ihr durchs Herz, wie ſie da lag
zwiſchen den Steinen, verlaſſen und hilflos; Thrä¬
nen der Verzweiflung im Auge, richtete ſie ſich müh¬
ſam auf. Was ihr das Liebſte war, ſchien ihr in
dieſem Augenblicke haſſenswürdig, und die Bitterkeit
in ihrem Innern ließ den Gedanken an die Nähe
des Allgegenwärtigen nicht auftauchen.
So fand ſie Clemens, der ſich um ihretwillen mit
Gewalt von dem Zauber des mächtigen Bildes los¬
geriſſen hatte.
„Ich komme“, rief er ihr ſchon von ferne ent¬
gegen. „Gut, daß du nicht mitgegangen! Der Platz
oben iſt ſchmal und der kleinſte Fehltritt koſtet das
Leben. Wie das endlos tief ſich hinunterſtürzt und
rauſcht und in Wolken aufſprüht, daß einem alle
Sinne vergehn. Fühl, wie es mich beſtäubt hat mit
feinem Waſſerdunſt. Aber was iſt dir? Du biſt
eiskalt und dein Mund zittert. Komm, es war un¬
recht, daß du im Freien bliebſt. Gott verhüte, daß
du dich krank gemacht haſt!“
Sie ſchwieg eigenſinnig und ließ ſich in das Haus
zurückführen. Die Pfarrerin erſchrak. Die feinen,
lieben Züge des Mädchens waren unheimlich verſtört.
Man ſorgte eilig für ein wärmendes Getränk und
brachte ſie zu Bett, ohne mehr von ihr zu erfahren,
als daß ihr nicht wohl ſei.
Und freilich war ſie krank, und ſo ſchwer, daß
ſie ſich nach dem Ende ſehnte. Das Leben war ihr
verhaßt, das ſich ihr ſo feindlich bewies. In bitte¬
rem, gottverlaſſenem Sinnen lag ſie, und die letzten
Fäden, die ſie an die Menſchen knüpften, zerriß ſie
eigenmächtig. Ich will morgen hinauf, ſprach ſie
finſter bei ſich ſelbſt. Er ſoll mich ſelbſt an die
Tiefe führen, wo ein Fehltritt das Leben koſtet. Und
ſeines wird ihn mein Tod nicht koſten. Was ſoll er
die Laſt noch ferner mit mir haben, die er aus Mit¬
leid bisher ſich aufgebürdet hat?
Immer feſter lagerte ſich der unſelige Vorſatz um
ihr Herz. Was war aus dem klaren, liebevollen Ge¬
müth in den kurzen Monaten der innerlichen Noth
geworden? Sie dachte ſogar an die Folgen ihres
Frevels ohne Scheu und ſagte trotzig vor ſich hin:
Sie werden ſich darein finden, wie ſie es ertragen,
daß ich blind geblieben bin. Und ihm wird das
Jammerbild nicht mehr vor Augen ſtehen, das ihm
die Freude an ſeiner ſchönen Welt verdirbt. — Das
war immer der letzte Gedanke, der ihr kam, wenn
ein unſicheres Gefühl gegen ihren Entſchluß laut
werden wollte.
Im Nebenzimmer, das nur durch eine dünne
Wand von Marlenens Kammer getrennt war, ſaßen
der Pfarrer und die Pfarrerin beiſammen. Clemens
zögerte noch draußen unter den Bäumen herum und
konnte ſich von Gebirg und Sternen und der ge¬
dämpften Muſik des Waſſers nicht trennen.
„Es ängſtigt mich,“ ſagte die Pfarrerin, „daß
Marlene ſo verkommt und verkümmert. — Der ge¬
ringſte Anlaß erſchüttert ſie und das wird ſie bald
aufreiben. Wenn du einmal mit ihr reden wollteſt,
daß ſie ſich das Unabänderliche nicht ſo quälend zu
Herzen nehmen möchte!“
„Ich fürchte nur, ich werde nichts ausrichten.“
erwiederte der Pfarrer. „Hat nicht ihre Erziehung
und die Liebe ihrer Eltern und unſer täglicher Um¬
gang zu ihr geredet, ſo vermag Menſchenwort nichts
mehr. Hätte ſie Demuth gegen Gott gelernt, ſo er¬
trüge ſie ſeine Fügung, die ihr noch ſo viel gelaſſen
hat, mit Dank, ſtatt mit Murren.“
„Er hat ihr aber viel genommen.“
„Ja wohl; aber nicht Alles für immer. Das iſt
meine Hoffnung und mein Gebet. — Die Kraft zu
lieben und gegen die Liebe zu Gott und Menſchen
Alles gering zu achten ſcheint von ihr gewichen.
Aber ſie kommt zurück, wenn wir zu Gott zurück¬
kommen. Wie ſie jetzt iſt, verlangt ſie nicht nach
ihm. Sie hat ihren Mißmuth und ihren Groll noch
zu lieb. Aber ihr Herz iſt zu kräftig, um dieſe trau¬
rige Geſellſchaft lange dulden zu können. Dann, wenn
es leer in ihr geworden von Unzufriedenheit, wird
Gott wieder einziehen und die Liebe im Herzen die
alte Stätte finden. Und dann wird es licht in ihr
ausſehen, ob es auch Nacht bleibt vor ihren Augen.“
„Gott gebe das! Und dennoch betrübt mich der
Gedanke an ihre Zukunft.“
„Sie wird nicht verloren ſein, wenn ſie ſich nicht
ſelber verlieren will. Würden auch Alle, die ſie jetzt
hüten und hegen, vor ihr abgerufen, Menſchenliebe
ſtirbt nicht aus. Und wenn ſie recht auf Gottes
Hand achtet und auf die Wege, die ſie geführt wird,
wird ſie noch einmal ihre Blindheit ſegnen, die ſie
von Kindesbeinen an dem Schein fern gerückt und
dem wahren Weſen genähert hat.“
Clemens unterbrach das Geſpräch. „Ihr denkt
nicht,“ rief er ſchon auf der Schwelle, „wie wunder¬
voll die Nacht iſt. Ich gäbe eins meiner Augen
darum, wenn ich's Marlenen ſchenken könnte, um
dieſe Pracht der Sterne zu ſehen. Wenn ſie nur der
Lärm des Waſſerfalls ſchlafen läßt! Ich kann mir's
3
noch nicht vergeben, daß ich ſie in der Kühle draußen
ſitzen ließ.“
„Sprich leiſer, lieber Sohn,“ ſagte die Mutter.
„Sie ſchläft dicht nebenan. Und am beſten thäteſt
du, du gingeſt auch ſchlafen.“
Flüſternd ſagte der Knabe „gute Nacht.“ — Als
die Mutter zu Marlenen in die Kammer kam, fand
ſie das Mädchen ruhig und anſcheinend entſchlafen.
Jener unheimliche Ausdruck der Züge war einer liebe¬
vollen Stille gewichen. Der Sturm war vorüber
und hatte noch nichts in ihr verwüſtet. Auch Scham
und Reue regten ſich kaum; ſo allmächtig herrſchte
in ihr der freudige Frieden, der ihr im Nebengemach
war gepredigt worden. Denn das Böſe erwirbt ſich
langſam und auf Schleichwegen ſeine Herrſchaft über
uns; der Sieg des Guten iſt ſchnell entſchieden.
Fünftes Capitel.
Mit Verwunderung bemerkten am andern Morgen
ihre Freunde die Umwandlung, die mit ihr vorge¬
gangen war. Die Pfarrerin konnte ſich's nicht an¬
ders denken, als daß Marlenen durch die Wand ihr
Geſpräch zugekommen ſei. „Um ſo beſſer,“ ſagte der
Pfarrer; „ſo hab' ich ihr nichts mehr zu ſagen.“
Rührend war die Freundlichkeit, mit der das Mäd¬
chen Clemens und den Eltern begegnete. Sie wollte
nichts mehr, als zu ihnen gehören dürfen. Was
ihr Liebes geſchah, nahm ſie faſt beſtürzt wie ein Un¬
verdientes an. Sie ſprach noch immer nicht viel;
aber was ſie ſprach, war heiter und belebt. Ihr
ganzes Weſen erſchien hingegeben und weich, als wolle
ſie ſtumm Abbitte thun. Sie nahm wieder Clemens
Arm, wenn ſie wanderten. Aber oft bat ſie, daß ſie
ein wenig ruhen dürfe. Nicht weil ſie müde war,
ſondern um dem Knaben die Freiheit zu laſſen, her¬
umzuſteigen, wohin es ihn lockte. Sie lächelte dann,
wenn er zurückkam und ihr erzählte. Ihre alte Ei¬
3 *
ferſucht war vergangen, ſeit ſie nichts mehr für ſich
verlangte, als die innige Freude an der ſeinen.
So gekräftigt und gehoben vollendete ſie die Reiſe.
Und ſie war zur rechten Zeit gekräftigt worden. Denn
als ſie heim kam, fand ſie ihre Mutter in ſchwerer
Krankheit, der die ſchwache Frau in wenigen Tagen
erlag. Nun, nachdem die erſten Wochen der Trauer
überſtanden waren, forderte das traurig veränderte
Leben Pflichten von ihr, denen ſie früher ſchwerlich
gewachſen war. Die Sorge für das Hausweſen be¬
ſchäftigte ſie früh und ſpät. Trotz ihres Gebrechens
wußte ſie in jedem Winkelchen des kleinen Hauſes
Beſcheid, und wenn ſie auch ſelbſt nur ſelten Hand
anlegen konnte, war ſie doch umſichtig und geſchickt,
Alles anzuordnen, daß es ihrem gebeugten Vater an
nichts fehle. Eine wunderbare Hoheit und Sicher¬
heit kam über ſie. Wo es früher vielfacher Verweiſe
bedurft hatte, um Knecht und Magd zum Rechten zu
gewöhnen, genügte jetzt ein ruhiges Wort von ihr. —
Und war einmal etwas Arges verſehen oder zu irgend
einer Arbeit böſer Wille vorhanden, ſo wirkte ein
ernſthafter Blick mit den großen, blinden Augen un¬
widerſtehlich auf die rohſte Natur.
Seit ſie fühlte, daß ſie heiter ſein müſſe um ihres
Vaters willen, ſeit ſie begriff, daß ſie wirken und das
Leben ſelbſt geſtalten müſſe, kamen auch die Stunden
immer ſeltener, in denen ſie die Trennung von Cle¬
mens ſchmerzlich empfand. Und als er endlich nach
der Stadt in die Schule ſollte, vermochte ſie's, ge¬
faßter als die Andern ihm Lebewohl zu ſagen. Sie
ging dann freilich wochenlang wie im Traum umher,
als ſei die beſte Hälfte ihres Weſens von ihr geſchie¬
den. Bald aber war ſie heiter wie ſonſt, ſang ihre
Lieblingslieder vor ſich hin und ſcherzte mit dem Va¬
ter, bis ſie ihm ein Lachen abgewann. Wenn die
Pfarrerin herüberkam mit Briefen aus der Stadt
und ihr Nachrichten und Grüße von Clemens vorlas,
ſchlug ihr heimlich das Herz und ſie lag länger als
ſonſt des Abends im Bett, ohne daß der Schlaf
kommen wollte. Am andern Morgen war ſie hellen
Sinnes, wie immer.
In den Ferien kam Clemens zu den Eltern zurück,
und ſein erſter Gang war dann ins Küſterhaus.
Marlene unterſchied ſeinen Schritt ſchon aus der
Ferne, blieb ſtill wo ſie war und horchte, ob er nach
ihr fragen würde. Sie ſtrich haſtig mit den Händ¬
chen ihr Haar ein wenig glatt, das noch immer in
Zöpfchen über den ſchlanken Nacken hing und ſtand
auf von ihrer Arbeit. Trat er dann an die Thür,
ſo war jede Spur von Aufregung aus ihrem Geſicht
verſchwunden. Heiter gab ſie ihm die Hand und bat
ihn, ſich zu ihr zu ſetzen und ihr zu erzählen. Da
vergaß er denn die Zeit und mußte von der Mutter
geholt werden, die anfing mit ihm zu geizen. Denn
ſelten blieb er die ganze Zeit der Ferien im Dorf,
ſondern wanderte ins Gebirge, an das ihn die wach¬
ſende Leidenſchaft für die Natur feſſelte.
Die Jahre gingen ihren einförmigen Gang. Die
Alten welkten langſam, und die Jungen erblühten
raſch. — Als Clemens einmal wieder um Oſtern zu
Marlenen kam und ſie vom Spinnrad aufſtand,
ſtaunte er, wie ſtattlich ſie ſich in der Zeit ſeit dem
Herbſt entfaltet hatte. „Du biſt ein Fräulein gewor¬
den,“ ſagte er. „Aber ich bin auch kein Kind mehr.
Fühl nur, wie mir der Bart gewachſen iſt über dem
winterlangen Studiren.“ Sie erröthete flüchtig, als
er ihre Hand ergriff und an ſein Kinn führte, daß
ſie den zarten Flaum fühlen ſollte. Er hatte ihr
auch ſchon Anderes zu erzählen, als in der erſten
Zeit. Der Lehrer, bei dem er wohnte, hatte Töchter
und dieſe Töchter Freundinnen. Die mußte er ihr
alle aufs genaueſte beſchreiben. „Ich mache mir
nichts aus den Mädchen. Sie ſind albern und eitel,
und ſchwatzen ſo viel. Eine iſt da, Cäcilie, die mag
ich noch am beſten leiden, weil ſie wenig ſpricht und
keine Geſichter ſchneidet, um ſchön zu ſein. Aber
was gehn ſie mich Alle an? Neulich, wie ich Abends
in mein Zimmer komme, find' ich einen Blumenſtrauß
auf dem Tiſch. Ich ließ ihn ſo liegen und ſtellt'
ihn nicht einmal ins Waſſer, obwohl mich die Blu¬
men dauerten, denn es verdroß mich; und andern
Tags hatten die Mädchen ein Gekicher und Geziſchel,
daß ich kein Wort mit ihnen redete vor Aerger. Sie
ſollen mich zufrieden laſſen, denn ich habe keine Zeit
für ihre Narrheiten.“
Marlene verlor keines von dieſen Worten, und
ſpann ein endloſes Geſpinnſt von wunderlichen Ge¬
danken aus ihnen. Faſt wäre ſie in Gefahr gekom¬
men, in unfruchtbaren Träumen hinzukränkeln, wenn
nicht begründetere Sorge und ernſthafterer Schmerz
ſie gerettet hätten. Ihr Vater, der lange ſchon nur
mit Anſtrengung ſeinen Dienſt verſehen hatte, wurde
durch einen Schlaganfall gelähmt, und lag faſt ein
Jahr im hilfloſeſten Zuſtande, bis ein zweiter Schlag
ſeine Leiden verkürzte. Keine Stunde wich ſein Kind
von ſeiner Seite. Auch in den Ferien, die Clemens
ins Dorf führten, gönnte ſie ſich nicht, ihn länger
zu ſprechen, als wenn er auf Viertelſtunden in das
Krankenzimmer kam.
Sie ward immer feſter in ſich, immer entſagender.
Keinem klagte ſie und hätte Keines bedurft, wenn
ihre Blindheit ihr Alles ſelbſt zu thun erlaubt hätte.
Und dies ihr Unglück, das ſie innerlich erzog, ge¬
wöhnte ſie auch an häusliche Tugenden, die manche
Sehende vernachläſſigen. Sie hielt die genaueſte Ord¬
nung in allen Dingen, die ſie zu verwalten hatte,
und that ſich nie genug in Sauberkeit, weil ſie mit
den Augen nicht beurtheilen konnte, wann das letzte
Stäubchen entfernt war. Clemens traten die Thrä¬
nen in die Augen, wenn er ſie bemüht ſah, ihren
gelähmten Vater zu waſchen und ſeine dünnen Locken
zu kämmen. — Sie war blaß geworden in der heißen
Luft der Krankenſtube, aber die braunen Augen hatten
darum nur tieferen Glanz, und in aller niederen Ar¬
beit trat der Adel ihres Weſens nur lebendiger hervor.
Der alte Mann ſtarb; in das Häuschen zog ſein
Nachfolger ein und Marlene fand im Pfarrhauſe
eine freundliche Zuflucht. Clemens, der indeſſen eine
entferntere Univerſität bezogen hatte und nicht wie
ſonſt zweimal des Jahres ſeine Heimath beſuchen
konnte, erfuhr dies Alles aus Briefen, die ſelten
kamen und die er unregelmäßig beantwortete. Zu¬
weilen kam ein Zettel für das Mädchen mit, in dem
er ſich gegen ſeine Art übermüthig ſcherzhaft geberdete
und ihr faſt wie einem Kinde begegnete, daß die
Mutter den Kopf ſchüttelte und vor dem Vater da¬
von ſchwieg. Marlene ließ ſich dieſe ſeltſamen Brief¬
chen ernſthaft vorleſen, bat ſie ſich aus und bewahrte
ſie. Als ihr Vater geſtorben war, erhielt ſie einen
kurzen aufgeregten Brief, der weder tröſtete noch ein
Wort der Mittrauer enthielt, nur heftige Bitten, ihre
Geſundheit zu ſchonen, ſtille zu ſein, ihn genau wiſ¬
ſen zu laſſen, wie es um ſie ſtehe. Das war im
Winter und dieſer Brief der letzte an Marlenen. Man
erwartete auf Oſtern einen Beſuch des Jünglings.
Er blieb aus und ſchrieb, er habe die Gelegenheit
nicht verſäumen dürfen, einen verehrten Lehrer auf
einer botaniſchen Wanderung zu begleiten. Der Vater
war damit zufrieden, und Marlenen gelang es endlich,
auch die ungeduldige Mutter zu beſchwichtigen.
Unangemeldet kam er plötzlich um Pfingſten, zu
Fuß, von einem ſtarken Marſch vor Tagesgrauen
nicht ermüdet, mit friſchen Wangen und ein voller
Mann. So trat er in die ſtille Wohnung, in der
die Mutter allein ihr Weſen hatte; denn es war der
Sonnabend vor dem Feſt. Mit einem Freudenſchrei
hing ihm die überraſchte Frau am Halſe. „Du?“ rief
ſie, als ſie ſich erholte und nun einen Schritt zurück¬
tretend den lang Entbehrten mit vollem Blick der
Liebe maß. „Alſo kommſt du doch noch, du Böſer,
du Vergeßlicher, und weißt noch den Weg zu Vater
und Mutter. Gott ſei gelobt! Ich dachte, du hätteſt
dir in den Kopf geſetzt, nur als Profeſſor dich wie¬
der ſehn zu laſſen, wenn meine alten Augen ſich viel¬
leicht nicht mehr hier unten an dir freuen würden.
Aber ich will dich nicht ſchelten; du biſt brav, du
biſt der Alte, du machſt mir ein Pfingſten, wie lange
keins war, mir und dem Vater, uns Allen!“ — „Mut¬
ter!“ ſagte er, „wie wohl iſt mir, daß ich wieder hier
bin! Es litt mich zuletzt nicht mehr da draußen; ich
wußte ſelbſt nicht, wie es kam, ich beſchloß es nicht
erſt, ich mußte fort, eines ſchönen Morgens anſtatt
ins Colleg zum Thor hinaus, und bin drauf los ge¬
laufen als entliefe ich einer Sünde, Tagereiſen, wie
ich ſie bisher noch nicht gemacht habe, ſo gut ich von
jeher zu Fuße war. Wo iſt der Vater? — wo iſt
Marlene?“
„Hörſt du ihn nicht?“ ſagte die Mutter. „Der
Vater iſt oben im Predigtſtübchen.“ — Sie hörten über
ſich den ſtarken Schritt des Alten auf und ab. „Es
iſt Alles wie es war,“ fuhr die Mutter fort. „Das
iſt ſein Sonnabendsgang die zwanzig Jahr, ſeit ich ihn
kenne. Und Marlene iſt im Feld mit unſern Leuten.
Ich habe ſie weggeſchickt, denn ſie läßt mir keine Ruhe.
Wenn ſie im Haus iſt, hätte ſie am liebſten, ich ſäße
da im Winkel, die Hände im Schoß; ſie thäte am
liebſten Alles allein. Nun haben wir neue Knechte,
und es iſt mir lieb, wenn ſie die Aufſicht führt, bis
ſie ſich eingewöhnt haben. Wie wird ſie ſtaunen, dich
hier zu finden! Aber komm, ich bringe dich zum
Vater, nur daß er dich ſieht; es iſt auch bald Mittag.
Komm, er wird nicht ungehalten ſein, daß du ihn
ſtörſt.“
Sie führte den Sohn, leiſe voranhuſchend, aber
immer ſeine Hand in der ihren, das Treppchen hin¬
auf. Leiſe öffnete ſie die Thür, winkte Clemens,
und ſelber zurücktretend, trieb ſie ihn einzutreten.
„Da iſt er!“ rief ſie, „da haſt du ihn.“ Der Alte fuhr
auf wie aus tiefen Gedanken. „Wen?“ fragte er halb
unmuthig. Da ſah er in das Geſicht ſeines Sohnes,
das von der Sonne hell angeſchienen war. Er ſtreckte
die Hand herzlich aus. „Clemens!“ rief er, noch zwi¬
ſchen Ueberraſchung und Freude; „du hier!“ — „Ich
hatte Heimweh,“ ſagte der Sohn und drückte warm
die dargebotene Hand. „Ich bleibe über das Feſt hier,
Vater, wenn noch Platz iſt, ſeit Marlene unter euerm
Dache iſt.“ — „Wie du ſo reden kannſt!“ fiel die
Mutter eifrig ein. „Und wenn ich ſieben Söhne hätte,
ich wollte ihnen Platz ſchaffen. Aber ich laſſe dich
dem Vater; ich will in die Küche, in den Garten;
ſie haben dich in der Stadt verwöhnt, du wirſt vor¬
lieb nehmen müſſen.“
Sie war ſchon hinaus, als Vater und Sohn ſich
noch ſchweigend gegenüber ſtanden. „Ich habe dich
geſtört,“ ſagte endlich Clemens. „Du biſt in der Pre¬
digt. Sag, ob ich wieder gehen ſoll.“ — „Du ſtörſt nur
einen, der ſich ſelber geſtört hat. Seit dem Morgen bin
ich herumgegangen, mein Textwort in Gedanken, aber
die Gnade war nicht mit mir und der Keim ging
nicht auf. Es iſt mir ſeltſam geweſen, Schauer über
mir, die ich nicht bezwingen konnte.“ — Er trat an
das kleine Fenſter, das auf die Kirche ſah. Der
Weg zu ihr ging über den Todtenacker. Der lag
ſtill mit Blumen und blinkenden Kreuzen im Mit¬
tagslicht. „Komm heran, Clemens,“ ſagte der Alte
ſanft. „Stelle dich neben mich. Siehſt du das Grab
zur Linken mit den Primeln und Monatsroſen? Du
haſt es ſonſt nicht geſehn. Weißt du, wer da ſchläft?
Mein guter, alter Freund, der Vater unſrer Marlene.“
Er trat vom Fenſter zurück, an dem der Sohn
ergriffen ſtehn blieb. Er ging wieder das Zimmer
auf und nieder, und während ſie ſchwiegen, hörten
ſie den Sand unter dem ruhigen Schritt kniſtern.
„Ja,“ ſagte der Alte mit tiefem Athemzug, „es hat
ihn Keiner gekannt ſo wie ich, Keiner das an ihm
gehabt, Keiner das an ihm verloren. Was wußte
er von der Welt und ihrer Weisheit, die ja Thorheit
iſt vor Gott! Was er wußte, war ihm Alles Offenba¬
rung von innen, und aus der Schrift, und aus dem
Schmerz. Er iſt ſelig geworden, weil er ſelig war.“
Nach einer Pauſe ſprach er weiter: „Wen habe ich
nun, der mich beſchämt, wenn ich hoffährtig werde,
und rettet, wenn ich ſtrauchle im Glauben, und die
Gedanken ſchlichtet, die ſich anklagen und entſchul¬
digen? Die Welt wird ſo klug um mich. Was ich
höre, verſtehe ich nicht, und was ich leſe, will meine
Seele nicht verſtehen, denn es iſt ihr Unheil. Wie
Viele ſtehn auf und meinen, mit Zungen zu reden,
und ſiehe, es iſt Lippenwerk. Und die Spötter hören
es und haben ihre Freude. Mein alter Freund, wäre
ich wo du biſt!“
Clemens wandte ſich. Er hatte den Vater nie ſo
über eigne Herzensnöthe reden hören. Er trat zu ihm
und ſuchte nach Worten. „Laß, mein Sohn,“ ſagte
der Alte abwehrend. „Was willſt du mir geben, das
mir nicht Himmliſche beſſer gegeben hätten? Sieh,
es war kurz nach ſeinem Tode, ich ſchlief hier oben,
die Nacht mit Sturm und Regen weckte mich, ich
war betrübt bis zum Tode: da erſchien er mir, es
leuchtete um ihn — er war in ſeinen Kleidern als
lebte er, ſprach aber nicht, ſondern ſtand zu Füßen
des Bettes und ſah ſtill auf mich nieder. Erſt griff
es mich hart an. Ich war der Gnade nicht gewach¬
ſen, ein verklärtes Angeſicht zu ſehn. Andern Tags
empfand ich den Frieden, den es mir zurückgelaſſen
hatte. Seitdem kam es nicht wieder. Aber die letzte
Nacht — ich hatte am Abend eine Schrift geleſen,
aufrühreriſch gegen Gott und Gotteswort, und war
im Zorn zu Bett gegangen — da war es nach Mit¬
ternacht, als ich wieder auffahre, und er ſteht vor
mir, angethan wie damals, aber in Händen die Bi¬
bel, aufgeſchlagen und mit goldner Schrift geſchrie¬
ben. Er weiſ't mit dem Finger darauf, aber es ging
ein Glanz aus von den Blättern, daß ich vergebens
hinſtarre und vor Fülle des Lichts keine Zeile leſen
kann. Ich näherte mich ihm, halbaufgerichtet; er
ſtand, Mitleid und Liebe im Angeſicht, die immer
mehr der Angſt wichen, je mehr ich zu leſen ſtrebte
und es nicht vermochte. Da gingen von der Klar¬
heit mir die Augen über, verdunkelten ſich ganz, und
er ſchwand leiſe dahin und ließ mich in Thränen.“
Der Alte war wieder ans Fenſter getreten, und
Clemens ſah, wie ein Zittern ihn überlief. „Vater!“
rief er und faßte die matt herabhängende Hand. Sie
war feucht und kalt. „Vater! du ängſteſt mich. Du
ſollteſt zum Arzt ſchicken.“
„Zum Arzt?“ ſagte der Vater faſt heftig und rich¬
tete ſich in allen Gliedern auf. „Ich bin geſund, das
iſt es eben. Es will und ahnt meine Seele den Tod,
und mein Leib widerſteht ihm eigenſinnig.“
„Dieſe Träume, Vater, zerrütten dich!“
„Träume? Ich ſage dir, daß ich wachte wie jetzt.“
„Ich zweifle nicht, Vater, daß du wachteſt. Aber
um ſo mehr beunruhigen mich dieſe Fieberſchauer,
die dich wachend mit Träumen heimſuchen. Sieh,
noch jetzt biſt du durch die Erinnerung wie außer
dir und dein Puls fliegt. Ich weiß, ſo wenig Arzt
ich bin, daß du Fieber hatteſt die Nacht und jetzt.“ —
„Dünkſt du dir das zu wiſſen, armer Menſch?“ rief
der Alte. „O der herrlichen Weisheit! O der gna¬
denreichen Wiſſenſchaft! Aber wen klage ich an?
Bin ich nicht der Strafe werth, da ich Gottes Ge¬
heimniſſe ausplaudre und mein volles Herz den Spöt¬
tern zur Scheibe mache? Iſt das die Frucht deines
Lernens und wähnſt du Feigen zu eſſen von dieſem
Dornbuſch? Aber ich kenne euch wohl, ihr Armſe¬
ligen, dte ihr neue Götter macht für das Volk und
im Herzen euch ſelbſt anbetet. Eure Tage ſind ge¬
zählt!“ — Er ging zur Thür, ſeine kahle Stirn war
geröthet, er ſah Clemens nicht an, der beſtürzt zu
Boden ſtarrte. Plötzlich fühlte er die Hand des Va¬
ters auf ſeiner Schulter.
„Sage mir offen, mein Sohn, biſt du ſchon ſo
weit wie Jene, von deren Treiben ich mit Schau¬
dern geleſen habe? Hältſt du ſchon, wo die ſaubern
Materialiſten halten, daß du der Wunder lachſt und
der Geiſt dir ein Märchen iſt, das die Dinge ein¬
ander erzählen und dem der Menſch zuhört? Hat
weder deine Jugend, noch die Saat der Dankbarkeit,
die Gott dir ins Herz geſät, das Unkraut erſticken
können? Antworte mir, Clemens!“
„Vater,“ ſagte der junge Mann nach einigem Be¬
ſinnen, „wie ſoll ich darauf antworten? Ein ganzes
Leben hab' ich darangeſetzt, über dieſe Frage nach¬
zudenken. Ich habe ſie von Männern, die ich ver¬
ehre, auf jede Weiſe beantworten hören. Unter mei¬
nen liebſten Freunden bekennen ſich Einige zu jener
Anſicht, die du verdammſt. Ich höre und lerne, und
wage noch nicht zu urtheilen.“
„Wer nicht für mich iſt, der iſt wider mich, ſpricht
der Herr.“
„Wie könnt' ich wider ihn ſein? Wie könnt' ich
wider den Geiſt ſein? Wer läugnet überhaupt den
Geiſt, wenn er ihn auch an den Stoff bindet? Blei¬
ben nicht ſeine Wunder was ſie ſind, wenn ſie auch
nur die Blüte der Natur ſein sollten? Gereicht es
einem edeln Bildwerk zur Schande, daß es aus Stein
gehauen iſt?“
„Du ſprichſt wie ſie Alle; ſo berauſcht ihr euch
in trüben Gleichniſſen, ſo betäubt ihr euch mit klin¬
genden Worten, daß ihr den Ruf in euch überhört.
Und du biſt gekommen, Pfingſten mit uns zu feiern?“
„Ich bin gekommen, weil ich euch liebe.“ —
Es entſtand eine Stille zwiſchen ihnen. Mehr¬
mals öffnete der Alte den Mund und preßte wieder
ſtark die Lippen zuſammen. Sie hörten Marlenens
Stimme unten im Haus, und Clemens trat horchend
vom Fenſter zurück, an dem er traurig geſtanden
hatte. „Es iſt Marlene,“ ſagte der Alte. „Haſt du ſie
denn vergeſſen? Tritt nicht, wenn deine frevelhafte
Genoſſenſchaft ſich in Aberwitz überbot, dem Geiſte
ſeine freie Gotteskindſchaft zu beſtreiten, tritt dann
nicht das Bild deiner Jugendgeſpielin vor deine Seele?
Erinnert ſie dich nicht daran, welche Wunder der
Geiſt wirken kann, wenn ihm die Sinne abgeſchnitten
ſind, allein aus ſich, will ſagen aus Gott, durch
Seine Gnade, in demüthiger Bruſt, die ſtark iſt im
Glauben?“
Clemens drängte die Antwort zurück, die er wohl
bereit hatte. Sie vernahmen jetzt den zarten Schritt
der Blinden auf der Treppe. Die Thür ging auf
und mit gerötheten Wangen ſtand Marlene auf der
Schwelle. „Clemens!“ ſagte ſie und heftete die heitern
braunen Augen auf die Stelle, wo er wirklich ſtand.
Er näherte ſich ihr und faßte die Hand, die ſeiner
wartete. „Welche Freude haſt du den Eltern gemacht!
Willkommen! willkommen! — Du biſt ſo ſtill!“ fuhr
ſie fort.
„Liebe Marlene.“ ſagte er, „ich bin wieder hier.
Ich mußte euch wieder ſehn. Du ſiehſt wohl aus,
du biſt noch größer geworden.“ —
„Seit dem Frühling bin ich wieder aufgelebt. Der
Winter war ſchwer. Es geht mir ſo wohl bei deinen
Eltern, Clemens. Guten Tag, lieber Vater,“ ſagte
ſie dann; „wir ſind früh am Morgen hinausgegangen,
ich konnte Euch noch keine Hand geben.“ — Sie reichte
ſie ihm jetzt. „Geh hinunter, mein Kind,“ ſagte der
Alte; „Clemens wird dich begleiten; du kannſt ihm
deinen Garten zeigen. Bis zu Mittag iſt noch eine
kleine Friſt. Denk' an meine Worte, Clemens!“
Die jungen Leute gingen. „Was hat der Vater?“
fragte das Mädchen, als ſie unten waren. „Seine
Stimme klang ſeltſam, auch deine. Hatte er was
mit dir?“
„Ich fand ihn aufgeregt; ſein Blut ſcheint ihm
wieder zu ſchaffen zu machen. Hat er nicht geklagt
die Tage her?“
4
„Nicht zu mir. Doch war er oft unruhig und
ſchwieg ſtundenlang, daß es auch der Mutter auf¬
fiel. Iſt er ſtreng gegen dich geweſen?“
„Wir hatten einen Streit über ernſte Dinge. Er
fragte mich und ich konnte ihm meine Gedanken nicht
verſchweigen.“
Das Mädchen war nachdenklich geworden. Erſt
als ſie in die freie Luft traten, erhellte ſich wieder
ihr Geſicht. „Iſt es nicht hübſch hier?“ fragte ſie und
breitete die Hände aus. „Wahrhaftig,“ ſagte er, „ich
erkenn' es nicht wieder; was haſt du aus dem kleinen
wüſten Fleck gemacht? Seit ich denken kann, ſtan¬
den hier nur die Obſtbäume und die wenigen Malven-
und Aſternbeete, und nun iſt es voll von Roſen.“
„Ja,“ ſagte ſie, „deine Mutter hielt nicht viel auf
das Gärtchen, und nun freut ſie ſich auch darüber.
Der Schulzenſohn, der die Gärtnerei in der Stadt
gelernt hat, ſchenkte mir die erſten Roſenſtöcke und
pflanzte ſie ſelber ein. Dann fanden ſich die andern
dazu und nun iſt es ganz luſtig. Die ſchönſten blühn
aber noch nicht.“
„Und du pflegſt ſie allein?“
„Du wunderſt dich, weil ich nicht ſehen kann,“ ſagte
ſie heiter. „Ich verſtehe mich aber doch darauf was
den Pflanzen gut thut. Ich ſpür' es am Geruch,
ob eins welkt, oder im Aufgehn iſt, oder Waſſer be¬
darf. Es ſpricht ordentlich zu mir. Aber freilich,
pflücken kann ich dir keine Blume, ich zerſteche mir
die Hände.“
„Ich will es für dich thun,“ ſagte er und brach ihr
eine von den Monatsroſen. Sie nahm ſie. „Du haſt
ſo viele Knoſpen mitgepflückt,“ ſagte ſie; „ich will mir
eine behalten und in Waſſer ſtellen. Da haſt du die
blühende wieder.“
So gingen ſie den ſaubern Gang hinab, bis die
Mutter ſie zu Tiſche rief. Clemens war beklommen,
dem Vater gegenüber. Aber Marlene, ſo beſcheiden
ſie ſonſt an der Unterhaltung Theil nahm, hatte heut
hundert Dinge zu erzählen und zu fragen. Auch der
Alte verlor darüber das Nachgefühl des erſten Ge¬
ſprächs mit ſeinem Sohn, und das alte trauliche
Verhältniß ſtellte ſich bald wieder her.
Es konnte aber nicht fehlen, daß in den nächſten
Tagen die Gelegenheit zum Streit ſich erneuerte. Der
Vater erkundigte ſich nach dem Zuſtande der Theo¬
logie an jener Univerſität, und das Geſpräch ſprang
bald zu allgemeineren Fragen über. Je mehr Cle¬
mens auswich, deſto eifriger drängte ihn der Alte.
Manch beſorgter, zuweilen unwilliger Blick der Mut¬
ter hielt ihn freilich in ſeinem Vorſatz, offene Be¬
kenntniſſe zu vermeiden. Aber wenn er dann ab¬
brach oder ein Wort ſagte, das für ihn leer war,
drückte ihm die peinliche Stille das Herz ab. Mar¬
lene wußte immer wieder den alten Ton anzuſchla¬
4 *
gen. Aber er ſah, wie auch ſie zu leiden hatte und
wich ihr aus, wenn er ſie allein traf; denn er wußte,
daß ſie ihn befragt hätte, und ihr hätte er nichts
verſchweigen können. Es ſchien ein Schatten über
ihn zu fallen, ſobald er ihrer anſichtig wurde. War
es jenes kindiſche Verſprechen, dem er untreu ge¬
worden? War es der Glaube, daß ſie in dem Zwie¬
ſpalt der Meinungen, der ihm die Eltern entfremden
wollte, ſtillſchweigend auf ihre Seite trat?
Und doch fühlte er eine Neigung zu ihr immer
unwiderſtehlicher in ſich, die er ſich nicht mehr ver¬
läugnen konnte und die er mühſam bekämpfte. Denn
er war erfüllt von ſeiner Wiſſenſchaft, von ſeiner Zu¬
kunft, und wehrte ſich mit dem Eigenſinn innerer
Geſundheit gegen Alles, was ſich hinderlich an ſeine
Schritte hängen wollte. Ein Reiſender will ich ſein,
ein Fußreiſender, ſagte er ſich oft. Ich muß ein
leichtes Bündel haben. — Es wurde ihm wunderlich
beklemmt ums Herz, wenn er dem Gedanken nach¬
hing, ſich an ein Weib zu feſſeln, das einen Theil
ſeines Lebens für ſich verlangte. Und ein blindes
Weib, das er ſich ſcheuen mußte je zu verlaſſen! Hier
auf dem Dorf, wo Alles ſeinen einfachen Zuſchnitt
hatte, den ſie ſeit Kindesbeinen kannte, hier war ſie
wohl vor verwickelten Verhältniſſen geborgen, die in
der Stadt nicht ausbleiben konnten. So beredete er
ſich, daß er auch ihr ein Unrecht thue, wenn er ſich
ihr nähere. Daß er ihr Schmerzen mache durch ſeine
Entſagung, wagte er nicht zu denken.
Er entſchied ſich immer unverhohlener. Am letzten
Tage, da er die Eltern umarmt hatte und hörte,
Marlene ſei im Garten, ließ er ihr einen Gruß zu¬
rück und mit klopfendem Herzen ſchlug er den Dorf¬
weg ein und wendete ſich dann ſeitwärts über die
Felder dem Walde zu. Auch der Garten öffnete ſich
nach dem Felde, und der nächſte Weg wäre durch
eine kleine Gitterthür gegangen. Er machte einen
weiten Bogen. Aber draußen angelangt, vermochte
er's nicht, auf dem Rain durch die junge Saat fort¬
zuwandern, ohne umzublicken. So ſtand er in der
milden Sonne ſtill und überſchaute die Hütten und
Häuſer. Hinter der Hecke, die den elterlichen Garten
einfaßte, gewahrte er die ſchlanke Geſtalt des Mäd¬
chens. Ihr Geſicht war ihm zugekehrt, aber ſie ahnte
ſeine Nähe nicht. Es trat ihm heiß und heftig ins
Auge, er kämpfte das Weinen gewaltſam nieder. Dann
ſprang er wie unſinnig über die Gräben und Wege
zurück zur Hecke. Sie fuhr zuſammen. „Lebe wohl,
Marlene,“ ſagte er mit klarer Stimme. „Ich gehe
fort, vielleicht auf ein Jahr.“ Er ſtrich ihr mit der
flachen Hand leicht über Stirn und Scheitel. „Leb
wohl!“ — „Du gehſt,“ ſagte ſie. „Was ich dich noch
bitten wollte, ſchreibe öfter an die Eltern. Deine
Mutter bedarf es. Laß mich auch einmal grüßen.“
„Ja,“ ſagte er zerſtreut. Dann ging er. „Cle¬
mens!“ rief ſie noch einmal, als er ſchon weg war.
Er hörte wohl, aber er ſah nicht wieder um. „Es
iſt gut, daß er es überhört hat,“ ſprach ſie leiſe bei
ſich ſelbſt. „Was habe ich ihm auch zu ſagen?“
Sechstes Capitel.
Seit jenem Tage wohnte der Sohn nicht wieder
längere Zeit in ſeiner Eltern Haus. Jedesmal fand
er den Vater herber und unduldſamer, die Mutter
immer in gleicher Liebe, aber verſchloſſener gegen ihn,
Marlene ruhig, aber bei dem Geſpräch der Männer
ſtumm. Sie ließ ſich dann auch wenig ſehn.
In einem klaren Spätherbſt finden wir Clemens
wieder oben in der Kammer, in der er als Knabe
die Wochen der Geneſung zugebracht hatte. Einer
ſeiner Freunde und Studiengenoſſen hatte ihn begleitet.
Die herkömmliche Univerſitätszeit war hinter ihnen
und ſie kehrten von einer größern Reiſe zurück, auf
der Wolf ſich ein Unwohlſein zugezogen hatte, das
er in der Stille des Dorfs abzuwarten wünſchte.
Clemens mußte es geſchehen laſſen, obwohl er gerade
dieſen unter all ſeinen Bekannten am wenigſten ge¬
eignet wußte, dem Vater zu gefallen. Indeſſen rich¬
tete ſich der Fremde wider Erwarten mit Klugheit
und Gewandtheit nach der Sinnesart der alten Leute
und gewann beſonders die Mutter durch ein heiteres
Intereſſe, das er an häuslichen Dingen zu nehmen
ſchien. Er konnte ihr auch manchen Rath geben und
ein Uebel, an dem ſie litt, durch ein einfaches Mittel
lindern. Denn er hatte ſich dazu vorbereitet, die
Apotheke eines alten Oheims zu übernehmen, ein
Beruf, über den ihn Anlagen und Kenntniſſe im
Grunde hinauswieſen. Doch er war von Natur be¬
quem und es war ihm recht, beizeiten auszuruhn
und zu genießen.
Mit Clemens hatte er innerlich nie etwas gemein
gehabt. Und ſo fühlte er ſich auch gleich beim Ein¬
tritt in das Pfarrhaus in einer durchaus fremden
Luft und hätte nach der nothdürftigſten Erholung
gewiß eine Umgebung verlaſſen, die ihn engte und
beſchränkte, wäre ihm das blinde Mädchen nicht beim
erſten Blick als ein merkwürdiges Räthſel aufgefallen.
Sie hielt ſich zwar von ihm zurück, ſo viel ſie konnte.
Als er ihr das erſte Mal die Hand gegeben, hatte
ſie ſie mit unbegreiflicher Unruhe ihm wieder entzogen
und all ihre Unbefangenheit verloren. Dennoch war
er ſtundenlang um ſie und beobachtete ihre Art die
Dinge aufzufaſſen, forſchte mit einer munteren Rück¬
ſichtsloſigkeit, die man nicht übel nehmen konnte, nach
den Mitteln, die ihr den Verkehr mit der Außenwelt
möglich machten, und belauſchte ihre Sinne, wie ſie
ſich gegenſeitig für die Entbehrung des einen fehlen¬
den entſchädigten. Er begriff Clemens nicht, daß er
ſich ſo wenig aus ihr zu machen ſchien. Der aber
vermied es mehr als je, dem Mädchen zu begegnen,
am meiſten, wenn er ſie in Wolf's Geſellſchaft
fand. Er ward dann plötzlich blaß und ſuchte ſich
loszumachen, und die Leute im Dorf begegneten ihm
oft auf entlegneren Waldwegen, wo er ſich in troſt¬
loſe Betrachtungen vergrub.
So kehrte er eines Abends wieder von einem
mißmuthigen weiten Irrgang zurück und trat eben
aus dem Wald in die Saatfelder ein, als ihm Wolf
entgegen kam. Dieſer war aufgeregter als gewöhnlich.
Nach einem langen Beſuch bei Marlenen, die ihn
heute beſonders gefeſſelt hatte, war er in die Dorf¬
ſchenke gerathen und hatte ſo viel von dem leichten
Landwein getrunken, daß er Luſt bekam, in der Abend¬
kühle ein wenig über Feld zu gehen.
„Ihr werdet mich ſo bald noch nicht los,“ rief er
Clemens entgegen. „Dieſe kleine blinde Hexe giebt
mir noch auf zu rathen. Sie iſt geſcheiter, als ein
Dutzend Weiber in der Stadt, die ihre Augen nur
haben, um mit Gott und Menſchen zu liebäugeln.
Und wie ſie mich kurz hält, das iſt nun vollends ein
Meiſterſtück.“
„Laß dir's lieb ſein, wenn ſie dich ein wenig zah¬
mer macht,“ ſagte Clemens kurz.
„Zahmer? das werd' ich nimmermehr. Wenn ich
ſie ſo anſehe mit ihrer prächtigen Geſtalt und dem
ſchönen Geſicht, es iſt wahrlich nicht um zahm zu
werden. Glaube nicht, daß ich ihr was thun will.
Aber weißt du, zuweilen denk ich, wenn ſie einen
lieb hätte, das müßte eigen ſein. So eine, die nicht
ſieht, die nur Gefühl iſt, und Gefühl wie es ſonſt
nirgend ſo fein und ſtark und reizbar gefunden wird,
wenn die einem um den Hals fiele, es müßte ihr
und ihm ſonderbar wohl thun.“
„Du thäteſt beſſer, deine Gedanken für dich zu
behalten.“
„Warum? Wem ſchaden ſie? Und wem ſchadet's,
wenn ich ſie am Ende ein bischen in mich verliebt mache,
um zu ſehen, wie die Nerven ſich dann aus der Ver¬
legenheit ziehen? So vieles von dem innern Feuer
verdampft ſonſt durch die Augen; hier aber“ — —
„Ich verbitte mir, daß du mit ihr experimentirſt,“
fuhr Clemens auf. „Ich ſage dir in allem Ernſte,
daß ich dergleichen in Zukunft weder hören noch ſehen
will. Danach richte dich!“
Wolf ſah ihn blinzend von der Seite an, faßte
ihn am Arm und ſagte lachend: „Ich glaube gar, du
biſt in das Mädchen verliebt und willſt das Experi¬
mentiren dir ſelber vorbehalten. Seit wann biſt du
denn ſo ekel? Haſt du mich doch ſonſt ausgehört,
wenn ich dir ſagte was ich von den Weibern halte.“
„Ich bin nicht dein Erzieher; was habe ich mit
deinen unſaubern Gedanken zu ſchaffen? Aber daß
du jemand damit beſchmutzeſt, der mir nahe ſteht,
der tauſendmal zu gut dafür iſt, daß du nur dieſelbe
Luft mit ihm theilſt, das denk ich noch dir verwehren
zu dürfen.“
„Oho,“ ſagte Wolf gelaſſen, „zu gut, zu gut! Du
biſt ein guter Kerl, Clemens, ein zu guter Kerl. Geh
mir aus der Luft, guter Junge.“
Er gab ihm einen leichten Schlag und wollte
gehn. Clemens blieb ſtehn, ſeine Wangen wurden
plötzlich blaß. „Du wirſt dich erklären, was dieſe Worte
meinen,“ ſagte er feſt.
„Daß ich ein Narr wäre. Frage Andere, wenn
du willſt. Es wird ſich ſchon einer finden, der mehr
Luſt hat, als ich, tauben Ohren zu predigen.“
„Was heißt das? Wer ſind die Anderen? Wer
wagt es, ſchlecht von ihr zu ſprechen? Wer?“
Er hielt Wolf eiſern am Arme feſt. „Narr,“
brummte der ärgerlich,“ du verdirbſt mir den gan¬
zen Spaziergang mit deinen langweiligen Fragen.
Laß mich los!“
„Nicht von der Stelle, eh du mir genug gethan
haſt,“ rief Clemens im höchſten Zorn.
„Ich? Mach es mit dem Schulzenſohn aus, wenn
du eiferſüchtig biſt. Der arme Teufel! Erſt ſchön zu
thun, bis er aus der Haut fahren möchte, und ihm
dann einen ſchnöden Laufpaß gegeben. Pfui, iſt das
ehrlich? Er hat mir ſeine Noth geklagt; ich habe
ihn getröſtet. Sie iſt wie die andern Weiber auch,
ſagt' ich ihm, eine Kokette. Jetzt hat ſie ſich an mich
gemacht. Wir aber wiſſen ſie zu nehmen, und wer¬
den uns nicht das Maul verbinden laſſen, damit nicht
andere gute Jungen in dieſelbe Schlinge rennen.“
„Nimm dies Wort zurück,“ ſchrie Clemens außer
ſich und ſchüttelte heftig Wolf's Arm.
„Warum? Es iſt die Wahrheit, und ich will ſie
noch beweiſen. Geh, du biſt ein Kind von einem
Menſchen.“
„Und du biſt ein Lump von einem Teufel.“
„Oho, nun kommt die Reihe an dich zu wider¬
rufen!“
„Ich widerrufe nicht.“
„So weißt du, was die Folge iſt. Du hörſt von
mir, ſobald wir in der Stadt ſind.“
Damit ging er kaltblütig von ihm, dem Dorfe
zu. Clemens blieb eine Weile wo er ſtand. „Der
Elende!“ brach es von ſeinen Lippen. Seine Bruſt
arbeitete heftig, ein bitterlicher Schmerz niſtete in
ihr; er warf ſich zwiſchen den Aehren zu Boden und
lag lange, jedes Wort, das ihn empört hatte, tau¬
ſendmal wiederholend.
Als er ſpät am Abend in das Haus zurückkehrte,
fand er gegen ſeine Erwartung die Familie noch bei¬
ſammen.
Wolf fehlte. Der alte Herr ging mit ſtarken
Schritten durch das Zimmer; die Mutter und Mar¬
lene ſaßen und hatten eine Arbeit auf dem Schoß
gegen die Sitte des Hauſes zu ſo ſpäter Zeit. Als
Clemens ins Zimmer trat, ſtand der Pfarrer ſtill
und wandte das Haupt ernſt nach ihm um.
„Was haſt du mit deinem Freunde gehabt? Er
iſt auf und davon, da wir über Feld waren, und
hat nur einen kurzen Gruß hinterlaſſen. Als wir nach
Hauſe kamen, fanden wir einen Boten, der ſeine Sa¬
chen abholte. Habt ihr euch verfeindet? Denn warum
ſollte er ſonſt ſo übereilt unſer Haus verlaſſen?“
„Wir hatten einen Wortwechſel. Es iſt mir lieb,
daß ich ihn nicht mehr unter dieſem Dache finde.“
„Um was entzweitet ihr euch?“
„Ich kann es dir nicht ſagen, Vater. Ich hätt'
es gerne vermieden. Aber es gibt Dinge, die ein
rechtſchaffener Menſch nicht mit anhören darf. Ich
kannte ihn lange, daß er roh iſt und weder ſich noch
irgend wen ſchont. So wie heut, ſah ich ihn nie.“
Der Pfarrer ſah den Sohn an und ſagte mit lei¬
ſerer Stimme: „Wie werdet ihr's ausmachen?“
„Wie es Sitte iſt unter jungen Leuten,“ erwie¬
derte Clemens ernſt.
„Weißt du, wie es unter Chriſten Sitte iſt,
Beleidigungen auszugleichen?“
„Ich weiß es, aber ich kann nicht ſo handeln.
Wenn er mich beleidigt hätte, ſo könnt' ich ihm ver¬
geben, und ihm die Züchtigung ſchenken. Aber er
hat ein Weſen beleidigt, das mir ſehr nahe ſteht!“
„Ein Mädchen, Clemens?“
„Ja, ein Mädchen.“
„Und du liebſt dieſes Mädchen?“
„Ich liebe ſie,“ ſagte halblaut der junge Mann.
„Ich hab' es mir gedacht,“ fuhr der Alte auf.
„Die Stadt hat dich verdorben; du biſt der Welt¬
kinder eines geworden, die den Dirnen nachgehen
und ſich raufen um ſie und ſie zu ihren Götzen er¬
wählen. Ich aber ſage dir, ſo lang ich lebe, will ich
arbeiten, dich zum Herrn zurückzuziehen, und will
deine Götzen zertrümmern. Hat Gott Wunder an
dir gethan, damit du ihn verläugneſt? So wäre es
beſſer, du ſäßeſt noch in der Nacht und hätteſt die
Thore ewig verſchloſſen, durch die der böſe Geiſt mit
ſeinen Verlockungen in dein Herz gedrungen iſt.“
Mühſam bezwang der junge Mann ſeine Auf¬
wallung. „Was gibt dir ein Recht, Vater,“ rief er
endlich, „mir unedle Neigungen zuzutrauen? Weil ich
thun muß, was nöthig iſt, um in der Welt den
Uebermuth des Gemeinen niederzuhalten, bin ich dar¬
um niedriger? Es gibt verſchiedene Wege, gegen den
unſaubern Geiſt zu kämpfen. Deiner iſt friedlich,
denn du haſt es mit der Maſſe zu thun. Ich ſtehe
dem Einzelnen gegenüber und kenne meinen Weg.“
„Du wirſt ihn nicht wandeln,“ rief der Alte ei¬
fernd aus. „Willſt du Gottes Gebote mit Füßen
treten? Der iſt mein Sohn nicht mehr, der die Hand
an ſeinen Bruder gelegt hat. Ich verbiete dir den
Kampf kraft meiner väterlichen und prieſterlichen
Gewalt. Hüte dich, ihr zu trotzen!“
„So ſtößeſt du mich aus deinem Hauſe,“ ſagte
Clemens düſter. Eine Pauſe trat ein. Die Mutter,
die in Thränen ausgebrochen war, ſtand auf und
ſtürzte zu ihrem Sohn. „Mutter,“ ſagte er ernſt,
„ich bin ein Mann, ich darf mir nicht untreu wer¬
den!“ Er näherte ſich der Thür und blickte nach
Marlenen hinüber, die ihn mit den blinden Augen
ſchmerzlich ſuchte. Die Mutter folgte ihm, ſie konnte
vor Schluchzen nicht ſprechen. „Halt ihn nicht auf,
Frau!“ rief der alte Mann. „Er iſt unſer Kind
nicht, wenn er Gottes Kind nicht ſein will. Laß
ihn gehn, wohin er will. Er iſt todt für uns!“
Marlene hörte die Thür gehen und die Pfarrerin
mit einem Schrei des tiefſten Mutterherzens zu Bo¬
den ſtürzen. Da wich die Lähmung von ihr, in der
ſie bisher geſeſſen hatte. Sie ſtand auf, ging zur
Thür und trug mit gewaltſamer Anſtrengung die
ohnmächtige Frau auf ihr Bett. Der Alte ſtand am
Fenſter und ſprach kein Wort. Seine gefalteten Hände
zitterten heftig.
Eine Viertelſtunde ſpäter klopft' es oben an der
Thür von Clemens Kammer. Der junge Mann öff¬
nete und ſah Marlenen vor ſich ſtehen. Sie trat
ſtill hinein. Die Kammer war voll Unordnung. Sie
ſtieß mit dem Fuß an den Reiſekoffer und ſagte
ſchmerzlich: „Was willſt du thun, Clemens?“ Da
brach ihm ſein ſtarrer Schmerz. — Er ergriff ihre
Hände und drückte ſeine Augen dagegen, die in
Thränen ſtanden. „Ich muß es thun,“ rief er weich.
„Ich habe lange empfunden, daß ich ſeine Liebe ver¬
loren habe. Vielleicht fühlt er, wenn ich ihm fern
bin, daß ich nie aufgehört habe, ſein Kind zu ſein.“
Sie richtete ihn auf und ſagte: „Weine nicht ſo!
ich habe ſonſt nicht die Kraft, dir das zu ſagen, was
ich dir ſagen muß. Deine Mutter würde es ſagen,
wenn der Vater ihr nicht wehrte. Ich hörte es ſei¬
ner Stimme an, wie ſchwer es ihm ankam, hart zu
ſein. Aber er wird hart bleiben, ich kenne ihn wohl.
Er glaubt, daß ſeine Strenge Gottesdienſt ſei, daß
er ſein eigen Herz zum Opfer bringen müſſe.“
„Und du glaubſt auch, daß er es müſſe?“
„Nein, Clemens. Ich weiß nicht viel von der
Welt und kenne die Geſetze der Meinung nicht, die
Ehrenmännern den Zweikampf gebieten. Aber dich
kenne ich genug, um zu wiſſen, daß der Leichtſinn
der Welt dir nichts anhaben konnte, daß du dein
Thun und Laſſen mit aller Strenge prüfſt, auch die¬
ſen Schritt. Du wirſt ihn der Welt ſchuldig ſein
und deiner Geliebten. Aber du biſt deinen Eltern
mehr ſchuldig, als Beiden. Ich kenne das Mädchen
nicht, das man dir beleidigt hat, und fühl' es wohl
nicht ſo ganz, wie es dich aufbringen muß, für ſie
nicht Alles zu thun. Unterbrich mich nicht. Glaube
nicht, daß die Furcht mit im Spiele ſei, du könnteſt
mir um ihretwillen den Reſt der Freundſchaft ent¬
ziehen, den du mir in den letzten trennenden Jahren
bewahrt haben magſt. Ich gönne ihr dich ganz, wenn
ſie dich glücklich macht. Aber du darfſt das um ihret¬
willen nicht thun was du thun willſt, und wäre ſie
dir theurer, als Vater und Mutter. Du darfſt nicht
im Zorn aus deiner Eltern Hauſe gehen, das ſich
dir dann auf immer verſchließt. Dein Vater iſt alt
und wird ſeine Grundſätze mit ins Grab nehmen.
Er hätte dir den Kern und den Inhalt ſeines ganzen
Lebens zu opfern, wenn er nachgäbe. Du opferſt
ihm die flüchtige Achtung, die du in den Augen
fremder Menſchen beſitzeſt. Denn wenn jenes Mäd¬
chen, das du liebſt, ſich von dir losſagen könnte,
weil du die alten Tage deines Vaters nicht verbit¬
tern wolleſt, — ſo wäre ſie deiner nie werth geweſen!“
Die Stimme verſagte ihr. Er hatte ſich auf ei¬
nen Stuhl geworfen und ſtöhnte heftig. Sie ſtand
noch immer nahe an der Thür und wartete, was er
ſagen würde. Auf ihrer Stirn lag ein ſeltſam ge¬
ſpannter Zug, als horche ſie mit den Augen zu ihm
hinüber. Plötzlich ſprang er auf, trat zu ihr, legte
ihr beide Hände auf die Schultern, und rief: „Für
dich wollt' ich's thun, nnd für dich bezwing' ich mein
5
Herz!“ Damit ſtürmte er an ihr vorbei und die
Treppe hinab.
Sie blieb droben. Seine letzten Worte hatten ihr
ganzes Weſen erſchüttert, und eine Fluth jauchzender
Gedanken ſtrömte über ihr ſcheues, ungläubiges Herz.
Sie ſetzte ſich zitternd auf den Mantelſack. „Für dich,
für dich!“ klang es ihr im Ohr. Sie fürchtete faſt
ſeine Rückkehr, wenn er es anders gemeint hatte —
und wie ſollte er es nicht anders meinen? Was war
ſie ihm? — —
Endlich kam er wieder herauf. Die Unruhe drängte
ſie, ſie ſtand auf und wollte aus der Thür. Da trat
er ein und faßte ſie in die Arme und ſagte ihr Alles.
„Ich bin der Blinde!“ rief er. „Du biſt die
Sehende, die Seherin. Was wär' ich jetzt ohne
deine Klarheit? Ein Verwaiſ'ter durch alle Zukunft,
vertrieben von allen Herzen, die ich liebe, durch un¬
ſelige Verblendung! — Und nun — nun — Alles
wieder mein, und mehr als ich wußte, als ich ſonſt
mir gönnte!“
Sie hing ſtumm und heftig hingegeben an ſeinem
Halſe. All die lang verhaltene Innigkeit ward frei
und glühte in ihrem Kuß und verachtete die armen
Worte.
Der Tag brach an über ihrem Glück. Nun wußte
er auch, was ſie bisher ſtandhaft verſchwiegen hatte,
und was dieſelbe Kammer mit angeſehen, in der ſie
jetzt, für immer einander unverlierbar, in der an¬
brechenden Frühe ſich die Hände drückten und ſchieden.
Im Laufe des Tages kam ein Brief, den Wolf
noch in der Nacht vom nächſten Dorfe aus geſchrie¬
ben hatte. Clemens ſolle es gut ſein laſſen, ſchrieb
er; er nehme Alles zurück, er wiſſe am beſten, daß
es alberne Lügen ſeien. Der Aerger habe ſie ihm
ausgepreßt und die Weinlaune. Er habe es ihm
freilich verdacht, wie er ſo kalt herumgegangen ſei,
da es ihn nur ein Wort gekoſtet hätte, ein ſolches
Mädchen zu haben. Und wie er dann geſehn, daß
es Clemens Ernſt ſei, habe er gegen das geläſtert,
was ihm ſelber für immer verſagt bleibe. Er ſolle
ihn nicht für ſchlimmer halten als er ſei, ihn auch
gegen das Mädchen und die Eltern entſchuldigen
und ſich nicht ganz und gar von ihm losſagen.
Als Clemens dieſe Zeilen Marlenen vorgeleſen,
ſagte ſie bewegt: „Er dauert mich nun! Mir war
nicht wohl, als er da war, und wie viel hätte er ſich
und uns erſparen können! Aber ich will nun ruhig
an ihn denken. Wie viel haben wir ihm zu verdanken!“
5 *
La Rabbiata.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ueber
dem Veſuv lagerte eine breite graue Nebelſchicht, die
ſich nach Neapel hinüberdehnte und die kleinen Städte
an jenem Küſtenſtrich verdunkelte. Das Meer lag ſtill.
An der Marine aber, die unter dem hohen Sorren¬
tiner Felſenufer in einer engen Bucht angelegt iſt,
rührten ſich ſchon Fiſcher mit ihren Weibern, die Kähne
mit Netzen, die zum Fiſchen über Nacht draußen ge¬
legen hatten, an großen Tauen ans Land zu ziehen.
Andere rüſteten ihre Barken, richteten die Segel zu
und ſchleppten Ruder und Segelſtangen aus den gro¬
ßen vergitterten Gewölben vor, die tief in den Felſen
hineingebaut über Nacht das Schiffsgeräth bewahren.
Man ſah keinen müßig gehen; denn auch die Alten,
die keine Fahrt mehr machen, reihten ſich in die große
Kette derer ein, die an den Netzen zogen, und hie und
da ſtand ein Mütterchen mit der Spindel auf einem
der flachen Dächer, oder machte ſich mit den Enkeln
zu ſchaffen, während die Tochter dem Manne half.
Siehſt du, Rachela? da iſt unſer Padre Curato,
ſagte eine Alte zu einem kleinen Ding von zehn Jah¬
ren, das neben ihr ſein Spindelchen ſchwang. Eben
ſteigt er ins Schiff. Der Antonino ſoll ihn nach
Capri hinüberfahren. Maria Santiſſima, was ſieht
der ehrwürdige Herr noch verſchlafen aus! — Und
damit winkte ſie mit der Hand einem kleinen freund¬
lichen Prete zu, der unten ſich eben zurechtgeſetzt hatte
in der Barke, nachdem er ſeinen ſchwarzen Rock ſorg¬
fältig aufgehoben und über die Holzbank gebreitet
hatte. Die Andern am Strand hielten mit der Ar¬
beit ein, um ihren Pfarrer abfahren zu ſehen, der
nach rechts und links freundlich nickte und grüßte.
Warum muß er denn nach Capri, Großmutter?
fragte das Kind. Haben die Leute dort keinen Pfar¬
rer, daß ſie unſern borgen müſſen?
Sei nicht ſo einfältig, ſagte die Alte. Genug
haben ſie da und die ſchönſten Kirchen und ſogar
einen Einſiedler, wie wir ihn nicht haben. Aber da
iſt eine vornehme Signora, die hat lange hier in
Sorrent gewohnt und war ſehr krank, daß der Padre
oft zu ihr mußte mit dem Hochwürdigſten, wenn ſie
dachten, ſie überſteht keine Nacht mehr. Nun, die
heilige Jungfrau hat ihr beigeſtanden, daß ſie wieder
friſch und geſund worden iſt und hat alle Tage im
Meere baden können. Als ſie von hier fort iſt, nach
Capri hinüber, hat ſie noch einen ſchönen Haufen
Ducaten an die Kirche geſchenkt und an das arme
Volk, und hat nicht fort wollen, ſagen ſie, ehe der
Padre nicht verſprochen hat, ſie drüben zu beſuchen,
daß ſie ihm beichten kann. Denn es iſt erſtaunlich,
was ſie auf ihn hält. Und wir können uns ſegnen,
daß wir ihn zum Pfarrer haben, der Gaben hat wie
ein Erzbiſchof und dem die hohen Herrſchaften nach¬
fragen. Die Madonna ſei mit ihm! — Und damit
winkte ſie zum Schiffchen hinunter, das eben abſtoßen
wollte.
Werden wir klares Wetter haben, mein Sohn?
fragte der kleine Prieſter und ſah bedenklich nach
Neapel hinüber.
Die Sonne iſt noch nicht heraus, erwiederte der
Burſch. Mit dem bischen Nebel wird ſie ſchon fer¬
tig werden.
So fahr zu, daß wir vor der Hitze ankommen.
Antonino griff eben zu dem langen Ruder, um
die Barke ins Freie zu treiben, als er plötzlich inne
hielt und nach der Höhe des ſteilen Weges hinaufſah,
der von dem Städtchen Sorrent zur Marine hin¬
abführt.
Eine ſchlanke Mädchengeſtalt ward oben ſichtbar,
die eilig die Steine hinabſchritt und mit einem Tuch
winkte. Sie trug ein Bündelchen unterm Arm, und
ihr Aufzug war dürftig genug. Doch hatte ſie eine
faſt vornehme, nur etwas wilde Art den Kopf in
den Nacken zu werfen, und die ſchwarze Flechte, die
ſie vorn über der Stirn umgeſchlungen trug, ſtand
ihr wie ein Diadem.
Worauf warten wir? fragte der Pfarrer.
Es kommt da noch Jemand auf die Barke zu,
der auch wohl nach Capri will. Wenn Ihr erlaubt,
Padre — es geht darum nicht langſamer, denn 's iſt
nur ein junges Ding von kaum 18 Jahr.
In dieſem Augenblick trat das Mädchen hinter
der Mauer hervor, die den gewundenen Weg ein¬
faßt. Laurella! ſagte der Pfarrer. Was hat ſie in
Capri zu thun?
Antonino zuckte die Achſeln. — Das Mädchen kam
mit haſtigen Schritten heran und ſah vor ſich hin.
Guten Tag, la Rabbiata! riefen einige von den
jungen Schiffern. Sie hätten wohl noch mehr ge¬
ſagt, wenn die Gegenwart des Curato ſie nicht in
Reſpect gehalten hätte; denn die trotzige ſtumme Art,
in der das Mädchen ihren Gruß hinnahm, ſchien die
Uebermüthigen zu reizen.
Guten Tag, Laurella, rief nun auch der Pfarrer.
Wie ſteht's? Willſt du mit nach Capri?
Wenn's erlaubt iſt, Padre!
Frage den Antonino, der iſt der Patron der
Barke. Iſt jeder doch Herr ſeines Eigenthums und
Gott Herr über uns Alle.
Da iſt ein halber Carlin, ſagte Laurella, ohne
den jungen Schiffer anzuſehn. Wenn ich dafür
mitkann.
Du kannſt's beſſer brauchen, als ich, brummte
der Burſch und ſchob einige Körbe mit Orangen zu¬
recht, daß Platz wurde. Er ſollte ſie in Capri ver¬
kaufen, denn die Felſeninſel trägt nicht genug für
den Bedarf der vielen Beſucher.
Ich will nicht umſonſt mit, erwiederte das Mäd¬
chen und die ſchwarzen Augenbrauen zuckten.
Komm nur, Kind, ſagte der Pfarrer. Er iſt
ein braver Junge und will nicht reich werden von
deinem bischen Armuth. Da, ſteig ein — und er
reichte ihr die Hand — und ſetz dich hier neben
mich. Sieh, da hat er dir ſeine Jacke hingelegt, daß
du weicher ſitzen ſollſt. Mir hat er's nicht ſo gut
gemacht. Aber junges Volk, das treibt's immer ſo.
Für Ein kleines Frauenzimmer wird mehr geſorgt,
als für zehn geiſtliche Herren. Nun nun, brauchſt dich
nicht zu entſchuldigen, Tonino. 's iſt unſers Herr¬
gotts Einrichtung, daß ſich Gleich zu Gleich hält.
Laurella war inzwiſchen eingeſtiegen und hatte ſich
geſetzt, nachdem ſie die Jacke, ohne ein Wort zu ſagen,
beiſeit geſchoben hatte. Der junge Schiffer ließ ſie
liegen und murmelte was zwiſchen den Zähnen. Dann
ſtieß er kräftig gegen den Uferdamm und der kleine
Kahn flog in den Golf hinaus.
Was haſt du da im Bündel? fragte der Pfar¬
rer, während ſie nun übers Meer hintrieben, das
ſich eben von den erſten Sonnenſtrahlen lichtete.
Seide, Garn und ein Brod, Padre. Ich ſoll
die Seide an eine Frau in Capri verkaufen, die
Bänder macht, und das Garn an eine andre.
Haſt du's ſelbſt geſponnen?
Ja, Herr.
Wenn ich mich recht erinnere, haſt du auch ge¬
lernt Bänder machen.
Ja Herr. Aber es geht wieder ſchlimmer mit der
Mutter, daß ich nicht aus dem Hauſe kann, und einen
eignen Webſtuhl können wir nicht bezahlen.
Geht ſchlimmer! Oh, oh! Da ich um Oſtern
bei euch war, ſaß ſie doch auf.
Der Frühling iſt immer die böſeſte Zeit für ſie.
Seit wir die großen Stürme hatten und die Erd¬
ſtöße, hat ſie immer liegen müſſen vor Schmerzen.
Laß nicht nach mit Beten und Bitten, mein
Kind, daß die heilige Jungfrau Fürbitte thut. Und
ſei brav und fleißig, damit dein Gebet erhört werde.
Nach einer Pauſe: Wie du da zum Strand her¬
unterkamſt, riefen ſie dir zu: Guten Tag, la Rab¬
biata! Warum heißen ſie dich ſo? Es iſt kein ſchö¬
ner Name für eine Chriſtin, die ſanft ſein ſoll und
demüthig.
Das Mädchen glühte über das ganze braune Ge¬
ſicht und ihre Augen funkelten.
Sie haben ihren Spott mit mir, weil ich nicht
tanze und ſinge und viel Redens mache, wie Andere.
Sie ſollten mich gehen laſſen; ich thu' ihnen ja nichts.
Du könnteſt aber freundlich ſein zu Jedermann.
Tanzen und ſingen mögen Andere, denen das Leben
leichter iſt. Aber ein gutes Wort geben ſchickt ſich
auch für einen Betrübten.
Sie ſah vor ſich nieder und zog die Brauen
dichter zuſammen, als wollte ſie ihre ſchwarzen Augen
darunter verſtecken. Eine Weile fuhren ſie ſchweigend
dahin. Die Sonne ſtand nun prächtig über dem Ge¬
birg, die Spitze des Veſuv ragte über die Wolken¬
ſchicht heraus, die noch den Fuß umzogen hielt, und
die Häuſer auf der Ebene von Sorrent blinkten
weiß aus den grünen Orangengärten hervor.
Hat jener Maler nichts wieder von ſich hören
laſſen, Laurella, jener Neapolitaner, der dich zur
Frau haben wollte? fragte der Pfarrer.
Sie ſchüttelte den Kopf.
Er kam damals, ein Bild von dir zu machen.
Warum haſt du's ihm abgeſchlagen?
Wozu wollt' er es nur? Es ſind andere ſchöner
als ich. Und dann — wer weiß, was er damit ge¬
trieben hätte. Er hätte mich damit verzaubern kön¬
nen und meine Seele beſchädigen, oder mich gar zu
Tode bringen, ſagte die Mutter.
Glaube nicht ſo ſündliche Dinge, ſprach der
Pfarrer ernſthaft. Biſt du nicht immer in Gottes
Hand, ohne deſſen Willen dir kein Haar vom Haupte
fällt? Und ſoll ein Menſch mit ſo einem Bild in
7
der Hand ſtärker ſein als der Herrgott? — Zudem
konnteſt du ja ſehen, daß er dir wohl wollte. Hätte
er dich ſonſt heirathen wollen?
Sie ſchwieg.
Und warum haſt du ihn ausgeſchlagen? Es ſoll
ein braver Mann geweſen ſein und ganz ſtattlich und
hätte dich und deine Mutter beſſer ernähren können,
als du es nun kannſt mit dem bischen Spinnen und
Seidewickeln.
Wir ſind arme Leute, ſagte ſie heftig, und
meine Mutter nun gar ſeit ſo lange krank. Wir
wären ihm nur zur Laſt gefallen. Und ich tauge
auch nicht für einen Signore. Wenn ſeine Freunde zu
ihm gekommen wären, hätte er ſich meiner geſchämt.
Was du auch redeſt! Ich ſage dir ja, daß es
ein braver Herr war. Und überdies wollte er ja
nach Sorrent überſiedeln. Es wird nicht bald ſo
einer wiederkommen, der wie recht vom Himmel ge¬
ſchickt war, um euch aufzuhelfen.
Ich will gar keinen Mann, niemals! ſagte ſie
ganz trotzig und wie vor ſich hin.
Haſt du ein Gelübde gethan, oder willſt in ein
Kloſter gehn?
Sie ſchüttelte den Kopf.
Die Leute haben Recht, die dir deinen Eigenſinn
vorhalten, wenn auch jener Name nicht ſchön iſt.
Bedenkſt du nicht, daß du nicht allein auf der Welt
biſt und durch dieſen Starrſinn deiner kranken
Mutter das Leben und ihre Krankheit nur bitterer
machſt? Was kannſt du für wichtige Gründe haben,
jede rechtſchaffne Hand abzuweiſen, die dich und die
Mutter ſtützen will? Antworte mir, Laurella!
Ich habe wohl einen Grund, ſagte ſie leiſe und
zögernd. Aber ich kann ihn nicht ſagen.
Nicht ſagen? Auch mir nicht? Nicht deinem
Beichtvater, dem du doch ſonſt wohl zutrauſt, daß
er es gut mit dir meint? Oder nicht?
Sie nickte.
So erleichtere dein Herz, Kind. Wenn du Recht
haſt, will ich der Erſte ſein, dir Recht zu geben. Aber
du biſt jung und kennſt die Welt wenig, und es möchte
dich ſpäter einmal gereuen, wenn du um kindiſcher
Gedanken willen dein Glück verſcherzt haſt.
Sie warf einen flüchtigen ſcheuen Blick nach dem
Burſchen hinüber, der emſig rudernd hinten im Kahn
ſaß und die wollene Mütze tief in die Stirn gezogen
hatte. Er ſtarrte zur Seite ins Meer und ſchien in
ſeine eignen Gedanken verſunken zu ſein. Der Pfarrer
ſah ihren Blick und neigte ſein Ohr näher zu ihr.
Ihr habt meinen Vater nicht gekannt, flüſterte
ſie, und ihre Augen ſahen finſter.
Deinen Vater? Er ſtarb ja, denk' ich, da du
kaum zehn Jahr alt warſt. Was hat dein Vater,
deſſen Seele im Paradieſe ſein möge, mit deinem
Eigenſinn zu ſchaffen?
7 *
Ihr habt ihn nicht gekannt, Padre. Ihr wißt
nicht, daß er allein Schuld iſt an der Krankheit der
Mutter.
Wie das?
Weil er ſie mißhandelt hat und geſchlagen und
mit Füßen getreten. Ich weiß noch die Nächte, wenn
er nach Hauſe kam und war in Wuth. Sie ſagte
ihm nie ein Wort und that Alles was er wollte.
Er aber ſchlug ſie, daß mir das Herz brechen wollte.
Ich zog dann die Decke über den Kopf und that als
ob ich ſchliefe, weinte aber die ganze Nacht. Und
wenn er ſie dann am Boden liegen ſah, verwandelt'
er ſich plötzlich und hob ſie auf und küßte ſie, daß
ſie ſchrie, er werde ſie erſticken. Die Mutter hat mir
verboten, daß ich nie ein Wort davon ſagen ſoll;
aber es griff ſie ſo an, daß ſie nun die langen Jahre,
ſeit er todt iſt, noch nicht wieder geſund worden
iſt. Und wenn ſie früh ſterben ſollte, was der Him¬
mel verhüte, ich weiß wohl, wer ſie umgebracht hat.
Der kleine Prieſter wiegte das Haupt und ſchien
unſchlüſſig, wie weit er ſeinem Beichtkind Recht geben
ſollte. Endlich ſagte er: Vergieb ihm, wie ihm deine
Mutter vergeben hat. Hefte nicht deine Gedanken
an jene traurigen Bilder, Laurella. Es werden beſ¬
ſere Zeiten für dich kommen und dich Alles ver¬
geſſen machen.
Nie vergeſſ' ich das, ſagte ſie und ſchauerte
zuſammen. Und wißt, Padre, darum will ich eine
Jungfrau bleiben, um Keinem unterthänig zu ſein,
der mich mißhandelte und dann liebkoſ'te. Wenn
mich jetzt einer ſchlagen oder küſſen will, ſo weiß ich
mich zu wehren. Aber meine Mutter dürfte ſich ſchon
nicht wehren, nicht der Schläge erwehren und nicht der
Küſſe, weil ſie ihn lieb hatte. Und ich will Keinen
ſo lieb haben, daß ich um ihn krank und elend würde.
Biſt du nun nicht ein Kind und ſprichſt wie
eine, die nichts weiß von dem, was auf Erden ge¬
ſchieht? Sind denn alle Männer, wie dein armer
Vater war, daß ſie jeder Laune und Leidenſchaft
nachgeben und ihren Frauen ſchlecht begegnen? Haſt
du nicht rechtſchaffne Menſchen genug geſehn in der
ganzen Nachbarſchaft, und Frauen, die in Frieden
und Einigkeit mit ihren Männern leben?
Von meinem Vater wußt' es auch niemand, wie
er zu meiner Mutter war, denn ſie wäre eher tau¬
ſendmal geſtorben, als es einem ſagen und klagen.
Und das Alles, weil ſie ihn liebte. Wenn es ſo um
die Liebe iſt, daß ſie einem die Lippen ſchließt, wo
man Hülfe ſchreien ſollte, und einen wehrlos macht
gegen Aergeres, als der ärgſte Feind einem anthun
könnte, ſo will ich nie mein Herz an einen Mann
hängen.
Ich ſage dir, daß du ein Kind biſt und nicht
weißt, was du ſprichſt. Du wirſt auch viel gefragt.
werden von deinem Herzen, ob du lieben willſt oder
nicht, wenn ſeine Zeit gekommen iſt; dann hilft Alles
nicht, was du dir jetzt in den Kopf ſetzeſt. — Wieder
nach einer Pauſe: Und jener Maler, haſt du ihm
auch zugetraut, daß er dir hart begegnen würde?
Er machte ſo Augen, wie ich ſie bei meinem
Vater geſehen habe, wenn er der Mutter abbat und
ſie in die Arme nehmen wollte, um ihr wieder gute
Worte zu geben. Die Augen kenn' ich. Es kann
ſie auch einer machen, der's übers Herz bringt ſeine
Frau zu ſchlagen, die ihm nie was zu Leide gethan
hat. Mir graute, wie ich die Augen wieder ſah.
Darauf ſchwieg ſie beharrlich ſtill. Auch der
Pfarrer ſchwieg. Er beſann ſich wohl auf viele ſchöne
Sprüche, die er dem Mädchen hätte vorhalten kön¬
nen. Aber die Gegenwart des jungen Schiffers, der
gegen das Ende der Beichte unruhiger geworden war,
verſchloß ihm den Mund.
Als ſie nach einer zweiſtündigen Fahrt in dem
kleinen Hafen von Capri anlangten, trug Antonino
den geiſtlichen Herrn aus dem Kahn über die letzten
flachen Wellen und ſetzte ihn ehrerbietig ab. Doch
hatte Laurella nicht warten wollen, bis er wieder
zurück watete und ſie nachholte. Sie nahm ihr Röck¬
chen zuſammen, die Holzpantöffelchen in die rechte,
das Bündel in die linke Hand und plätſcherte hurtig
ans Land.
Ich bleibe heut wohl lang auf Capri, ſagte der
Padre, und du brauchſt nicht auf mich zu warten.
Vielleicht komm' ich gar erſt morgen nach Haus. Und
du, Laurella, wenn du heimkommſt, grüße die Mutter.
Ich beſuche euch in dieſer Woche noch. Du fährſt
doch noch vor der Nacht zurück?
Wenn Gelegenheit iſt, ſagte das Mädchen und
machte ſich an ihrem Rock zu ſchaffen.
Du weißt, daß ich auch zurück muß, ſprach An¬
tonino, wie er meinte in ſehr gleichgültigem Ton.
Ich wart' auf dich bis Ave Maria. Wenn du dann
nicht kommſt, ſoll mir's auch gleich ſein.
Du mußt kommen, Laurella, fiel der kleine Herr
ein. Du darfſt deine Mutter keine Nacht allein laſ¬
ſen. Iſt's weit, wo du hin mußt?
Auf Anacapri, in eine Vigne.
Und ich muß auf Capri zu. Behüt dich Gott,
Kind, und dich, mein Sohn.
Laurella küßte ihm die Hand und ließ ein Lebt¬
wohl fallen, in das ſich der Padre und Antonino
theilen mochten. Antonino indeſſen eignete ſich's nicht
zu. Er zog ſeine Mühe vor dem Padre und ſah
Laurella nicht an.
Als ſie ihm aber beide den Rücken gekehrt hatten,
ließ er ſeine Augen nur kurze Zeit mit dem geiſtlichen
Herrn wandern, der über das tiefe Kieſelgeröll müh¬
ſam hinſchritt, und ſchickte ſie dann dem Mädchen
nach, das ſich rechts die Höhe hinauf gewandt hatte,
die Hand über die Augen haltend gegen die ſcharfe
Sonne. Eh ſich der Weg oben zwiſchen Mauern
zurückzieht, ſtand ſie einen Augenblick ſtill, wie um
Athem zu ſchöpfen, und ſah um. Die Marine lag
zu ihren Füßen, ringsum thürmte ſich der ſchroffe
Fels, das Meer blaute in ſeltener Pracht — es war
wohl ein Anblick des Stehenbleibens werth. Der
Zufall fügte es, daß ihr Blick, bei Antonino's Barke
vorübereilend, ſich mit jenem Blick begegnete, den
Antonino ihr nachgeſchickt hatte. Sie machten beide
eine Bewegung, wie Leute, die ſich entſchuldigen wol¬
len, es ſei etwas nur aus Verſehen geſchehn, worauf
das Mädchen mit finſterm Munde ihren Weg fortſetzte.
Es war erſt eine Stunde nach Mittag, und ſchon
ſaß Antonino zwei Stunden lang auf einer Bank
vor der Fiſcherſchenke. Es mußte ihm was durch
den Sinn gehn, denn alle fünf Minuten ſprang er
auf, trat in die Sonne hinaus und überblickte ſorg¬
fältig die Wege, die links und rechts nach den zwei
Inſelſtädtchen führen. Das Wetter ſei ihm bedenk¬
lich, ſagte er dann zu der Wirthin der Oſterie. Es
ſei wohl klar, aber er kenne dieſe Farbe des Himmels
und Meers. Gerade ſo hab' es ausgeſehn, eh der
letzte große Sturm war, wo er die engliſche Familie
nur mit Noth ans Land gebracht habe. Sie werde
ſich erinnern.
Nein, ſagte die Frau.
Nun, ſie ſolle an ihn denken, wenn ſich's noch
vor Nacht verändere.
Sind viel Herrſchaften drüben? fragte die Wir¬
thin nach einer Weile.
Es fängt eben an. Bisher hatten wir ſchlechte
Zeit. Die wegen der Bäder kommen, ließen auf
ſich warten.
Das Frühjahr kam ſpät. Habt ihr mehr verdient,
als wir hier auf Capri?
Es hätte nicht ausgereicht, zweimal die Woche
Maccaroni zu eſſen, wenn ich bloß auf die Barke
angewieſen wäre. Dann und wann einen Brief nach
Neapel zu bringen, oder einen Signore aufs Meer
gerudert, der angeln wollte — das war Alles. Aber
Ihr wißt, daß mein Onkel die großen Orangengärten
hat und ein reicher Mann iſt. Tonino, ſagt er, ſo
lang ich lebe, ſollſt du nicht Noth leiden, und her¬
nach wird auch für dich geſorgt werden. So hab'
ich den Winter mit Gottes Hülfe überſtanden.
Hat er Kinder, Euer Onkel?
Nein. Er war nie verheirathet und lang außer
Landes, wo er denn manchen guten Piaſter zuſammen¬
gebracht hat. Nun hat er vor, eine große Fiſcherei
anzufangen und will mich über das ganze Weſen
ſetzen, daß ich nach dem Rechten ſehe.
So ſeid Ihr ja ein gemachter Mann, Antonino.
Der junge Schiffer zuckte die Achſeln. Es hat
jeder ſein Bündel zu tragen, ſagte er. Damit ſprang
er auf und ſah wieder links und rechts nach dem
Wetter, obwohl er wiſſen mußte, daß es nur Eine
Wetterſeite giebt.
Ich bring' Euch noch eine Flaſche. Euer Onkel
kann's bezahlen, ſagte die Wirthin.
Nur noch ein Glas, denn ihr habt hier eine feu¬
rige Art Wein. Der Kopf iſt mir ſchon ganz warm.
Er geht nicht ins Blut. Ihr könnt trinken, ſo
viel Ihr wollt. Da kommt eben mein Mann, mit
dem müßt Ihr noch eine Weile ſitzen und ſchwatzen.
Wirklich kam, das Netz über die Schulter gehängt,
die rothe Mütze über den geringelten Haaren, der
ſtattliche Padrone der Schenke von der Höhe herunter.
Er hatte Fiſche in die Stadt gebracht, die jene vor¬
nehme Dame beſtellt hatte, um ſie dem kleinen Pfarrer
von Sorrent vorzuſetzen. Wie er des jungen Schif¬
fers anſichtig wurde, winkte er ihm herzlich mit der
Hand einen Willkommen zu, ſetzte ſich dann neben ihn
auf die Bank und fing an zu fragen und zu erzäh¬
len. Eben brachte ſein Weib eine zweite Flaſche des
echten unverfälſchten Capri, als der Uferſand zur
Linken kniſterte und Laurella des Weges von Ana¬
capri daher kam. Sie grüßte flüchtig mit dem Kopf
und ſtand unſchlüſſig ſtill.
Antonino ſprang auf. Ich muß fort, ſagte er.
's iſt ein Mädchen aus Sorrent, das heut früh mit
dem Signor Curato kam und auf die Nacht wieder
zu ihrer kranken Mutter will.
Nun nun, 's iſt noch lang bis Nacht, ſagte der
Fiſcher. Sie wird doch Zeit haben, ein Glas Wein
zu trinken. Hola, Frau, bring noch ein Glas.
Ich danke, ich trinke nicht, ſagte Laurella und
blieb in einiger Entfernung.
Schenk nur ein, Frau, ſchenk ein! Sie läßt ſich
nöthigen.
Laßt ſie, ſagte der Burſch. Sie hat einen harten
Kopf; was ſie einmal nicht will, das redet ihr kein
Heiliger ein. — Und damit nahm er eilfertig Ab¬
ſchied, lief nach der Barke hinunter, löſ'te das Seil
und ſtand nun in Erwartung des Mädchens. Die
grüßte noch einmal nach den Wirthen der Schenke
zurück und ging dann mit zaudernden Schritten der
Barke zu. Sie ſah vorher nach allen Seiten um,
als erwarte ſie, daß ſich noch andere Geſellſchaft ein¬
finden würde. Die Marine aber war menſchenleer;
die Fiſcher ſchliefen oder fuhren im Meer mit Angeln
und Netzen, wenige Frauen und Kinder ſaßen unter
den Thüren, ſchlafend oder ſpinnend, und die Frem¬
den, die am Morgen herübergefahren, warteten die
kühlere Tageszeit zur Rückfahrt ab. Sie konnte auch
nicht zu lange umſchauen, denn eh ſie es wehren
konnte, hatte Antonino ſie in die Arme genommen
und trug ſie wie ein Kind in den Nachen. Dann
ſprang er nach und mit wenigen Ruderſchlägen waren
ſie ſchon im offnen Meer.
Sie hatte ſich vorn in den Kahn geſetzt und ihm
halb den Rücken zugedreht, daß er ſie nur von der
Seite ſehen konnte. Ihre Züge waren jetzt noch ernſt¬
hafter als gewöhnlich. Ueber die kurze Stirn hing
das Haar tief herein, um den feinen Naſenflügel zit¬
terte ein eigenſinniger Zug, der volle Mund war feſt
geſchloſſen. — Als ſie eine Zeitlang ſo ſtillſchweigend
über Meer gefahren waren, empfand ſie den Son¬
nenbrand, nahm das Brod aus dem Tuch und ſchlang
dieſes über die Flechte. Dann fing ſie an von dem
Brode zu eſſen und ihr Mittagsmahl zu halten; denn
ſie hatte auf Capri nichts genoſſen.
Antonino ſah das nicht lange mit an. Er holte
aus einem der Körbe, der am Morgen mit Orangen
gefüllt geweſen, zwei hervor und ſagte: Da haſt du
was zu deinem Brod, Laurella. Glaub nicht, daß
ich ſie für dich zurückbehalten habe. Sie ſind aus
dem Korb in den Kahn gerollt und ich fand ſie, als
ich die leeren Körbe wieder in die Barke ſetzte.
Iß du ſie doch. Ich hab' an meinem Brode genug.
Sie ſind erfriſchend in der Hitze, und du biſt weit
gelaufen.
Sie gaben mir oben ein Glas Waſſer, das hat
mich ſchon erfriſcht.
Wie du willſt, ſagte er, und ließ ſie wieder in
den Korb fallen.
Neues Stillſchweigen. Das Meer war ſpiegel¬
glatt und rauſchte kaum um den Kiel. Auch die
weißen Seevögel, die in den Uferhöhlen niſten, zogen
lautlos auf ihren Raub.
Du könnteſt die zwei Orangen deiner Mutter
bringen, fing Antonino wieder an.
Wir haben ihrer noch zu Haus, und wenn ſie zu
Ende ſind, geh' ich und kaufe neue.
Bringe ſie ihr nur, und ein Compliment von mir.
Sie kennt dich ja nicht.
So könnteſt du ihr ſagen, wer ich bin.
Ich kenne dich auch nicht.
Es war nicht das erſte Mal, daß ſie ihn ſo ver¬
leugnete. Vor einem Jahr, als der Maler eben nach
Sorrent gekommen war, traf ſich's an einem Sonn¬
tage, daß Antonino mit andern jungen Burſchen
aus dem Ort auf einem freieren Platz neben der
Hauptſtraße Boccia ſpielte. Dort begegnete der Ma¬
ler zuerſt Laurella, die, einen Waſſerkrug auf dem
Kopfe tragend, ohne ſein zu achten vorüberſchritt.
Der Napolitaner, von dem Anblick betroffen, ſtand
und ſah ihr nach, obwohl er ſich mitten in der Bahn
des Spieles befand und mit zwei Schritten ſie hätte
räumen können. Eine unſanfte Kugel, die ihm gegen
das Fußgelenk fuhr, mußte ihn daran erinnern, daß
hier der Ort nicht ſei, ſich in Gedanken zu verlieren.
Er ſah um, als erwarte er eine Entſchuldigung. Der
junge Schiffer, der den Wurf gethan hatte, ſtand
ſchweigend und trotzig inmitten ſeiner Freunde, daß
der Fremde es gerathen fand, einen Wortwechſel zu
vermeiden und zu gehen. Doch hatte man von dem
Handel geſprochen, und ſprach von neuem davon,
als der Maler ſich offen um Laurella bewarb. Ich
kenne ihn nicht, ſagte dieſe unwillig, als der Maler
ſie fragte, ob ſie ihn jenes unhöflichen Burſchen we¬
gen ausſchlüge. Und doch war auch ihr jenes Gerede
zu Ohren gekommen. Seitdem, wenn ihr Antonino
begegnete, hatte ſie ihn doch wohl wiedererkannt.
Und nun ſaßen ſie im Kahn wie die bitterſten
Feinde, und beiden klopfte das Herz tödtlich. Das
ſonſt gutmüthige Geſicht Antonino's war heftig ge¬
röthet; er ſchlug in die Wellen, daß der Schaum
ihn überſpritzte, und ſeine Lippen zitterten zuweilen,
als ſpräche er böſe Worte. Sie that, als bemerke ſie
es nicht, und machte ihr unbefangenſtes Geſicht, neigte
ſich über den Bord des Nachens und ließ die Flut
durch ihre Finger gleiten. Dann band ſie ihr Tuch
wieder ab und ordnete ihr Haar, als ſei ſie ganz
allein im Kahn. Nur die Augenbrauen zuckten noch,
und umſonſt hielt ſie die naſſen Hände gegen ihre
brennenden Wangen, um ſie zu kühlen.
Nun waren ſie mitten auf dem Meer, und nah
und fern ließ ſich kein Segel blicken. Die Inſel war
zurückgeblieben, die Küſte lag im Sonnenduft weitab,
nicht einmal eine Möwe durchflog die tiefe Einſam¬
keit. Antonino ſah um ſich her. Ein Gedanke ſchien
in ihm aufzuſteigen. Die Röthe wich plötzlich von
ſeinen Wangen und er ließ die Ruder ſinken. Un¬
willkürlich ſah Laurella nach ihm um, geſpannt,
aber furchtlos.
Ich muß ein Ende machen, brach der Burſch
heraus. Es dauert mir ſchon zu lange und wundert
mich ſchier, daß ich nicht drüber zu Grunde gegan¬
gen bin. Du kennſt mich nicht, ſagſt du? Haſt du
nicht lange genug mit angeſehen, wie ich bei dir vor¬
überging als ein Unſinniger und hatte das ganze
Herz voll, dir zu ſagen? Dann machteſt du deinen
böſen Mund und drehteſt mir den Rücken.
Was hatt' ich mit dir zu reden? ſagte ſie kurz.
Ich habe wohl geſehen, daß du mit mir anbinden
wollteſt. Ich wollt' aber nicht in der Leute Mäuler
kommen um nichts und wieder nichts. Denn zum
Manne nehmen mag ich dich nicht, dich nicht und
Keinen.
Und Keinen? So wirſt du nicht immer ſagen.
Weil du den Maler weggeſchickt haſt? Pah! Du
warſt noch ein Kind damals. Es wird dir ſchon
einmal einſam werden, und dann, toll wie du biſt,
nimmſt du den erſten beſten.
Es weiß Keiner ſeine Zukunft. Kann ſein, daß
ich noch meinen Sinn ändere. Was geht's dich an?
Was es mich angeht? fuhr er auf und ſprang
von der Ruderbank empor, daß der Kahn ſchaukelte.
Was es mich angeht? Und ſo kannſt du noch fragen,
nachdem du weißt, wie es um mich ſteht? Müſſe der
elend umkommen, dem je beſſer von dir begegnet
würde als mir!
Hab' ich mich dir je verſprochen? Kann ich da¬
für, wenn dein Kopf unſinnig iſt? Was haſt du für
ein Recht auf mich?
Oh, rief er aus, es ſteht freilich nicht geſchrieben,
es hat's kein Advocat in Latein abgefaßt und ver¬
ſiegelt; aber das weiß ich, daß ich ſo viel Recht auf
dich habe, wie in den Himmel zu kommen, wenn ich
ein braver Kerl geweſen bin. Meinſt du, daß ich
mit anſehn will, wenn du mit einem Andern in die
Kirche gehſt und die Mädchen gehn mir vorüber und
zucken die Achſeln. Soll ich mir den Schimpf an¬
thun laſſen?
Thu was du willſt. Ich laſſe mir nicht bangen, ſo
viel du auch drohſt. Ich will auch thun was ich will.
Du wirſt nicht lange ſo ſprechen, ſagte er und
bebte über den ganzen Leib. Ich bin Manns genug,
daß ich mir das Leben nicht länger von ſolch einem
Trotzkopf verderben laſſe. Weißt du, daß du hier in
meiner Macht biſt und thun mußt, was ich will?
Sie fuhr leicht zuſammen und blitzte ihn mit den
Augen an.
Bringe mich um, wenn du's wagſt, ſagte ſie
langſam.
Man muß nichts halb thun, ſagte er, und ſeine
Stimme klang leiſer. 's iſt Platz für uns Beide im
Meer. Ich kann dir nicht helfen, Kind, — und er
ſprach faſt mitleidig, wie aus dem Traum — aber
wir müſſen hinunter, alle Beide, und auf einmal,
und jetzt! ſchrie er überlaut und faßte ſie plötzlich
mit beiden Armen an. Aber im Augenblick zog er
die rechte Hand zurück, das Blut quoll hervor, ſie
hatte ihm heftig hineingebiſſen.
Muß ich thun, was du willſt? rief ſie und ſtieß
ihn mit einer raſchen Wendung von ſich. Laß ſehn,
ob ich in deiner Macht bin! — Damit ſprang ſie über
den Bord des Kahns und verſchwand einen Augen¬
blick in der Tiefe.
Sie kam gleich wieder herauf; ihr Röckchen um¬
ſchloß ſie feſt, ihre Haare waren von den Wellen auf¬
gelöſ't und hingen ſchwer über den Hals nieder, mit
den Armen ruderte ſie emſig und ſchwamm, ohne
einen Laut von ſich zu geben, kräftig von der Barke
weg nach der Küſte zu. Der jähe Schreck ſchien ihm
die Sinne gelähmt zu haben. Er ſtand im Kahn,
vorgebeugt, die Blicke ſtarr nach ihr hingerichtet, als
begebe ſich ein Wunder vor ſeinen Augen. Dann
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ſchüttelte er ſich, ſtürzte nach den Rudern, und fuhr
ihr mit aller Kraft, die er aufzubieten hatte, nach,
während der Boden ſeines Kahns von dem immer
zuſtrömenden Blute roth wurde.
Im Nu war er an ihrer Seite, ſo haſtig ſie
ſchwamm. Bei Maria Santiſſima! rief er, komm
in den Kahn. Ich bin ein Toller geweſen; Gott
weiß, was mir die Vernunft benebelte. Wie ein
Blitz vom Himmel fuhr mir's ins Hirn, daß ich ganz
aufbrannte und wußte nicht was ich that und redete.
Du ſollſt mir nicht vergeben, Laurella, nur dein Le¬
ben retten und wieder einſteigen.
Sie ſchwamm fort, als habe ſie nichts gehört.
Du kannſt nicht bis ans Land kommen, es ſind
noch zwei Miglien. Denk an deine Mutter. Wenn
dir ein Unglück begegnete, ſie ſtürbe vor Entſetzen.
Sie maß mit einem Blick die Entfernung von der
Küſte. Dann, ohne zu antworten, ſchwamm ſie an
die Barke heran und faßte den Bord mit den Hän¬
den. Er ſtand auf, ihr zu helfen; ſeine Jacke, die
auf der Bank gelegen, glitt ins Meer, als der Nachen
von der Laſt des Mädchens nach der einen Seite
hinübergezogen wurde. Gewandt ſchwang ſie ſich em¬
por und erklomm ihren früheren Sitz. Als er ſie
geborgen ſah, griff er wieder zu den Rudern. Sie
aber wand ihr triefendes Röckchen aus und rang
das Waſſer aus den Flechten. Dabei ſah ſie auf
den Boden der Barke und bemerkte jetzt das Blut.
Sie warf einen raſchen Blick nach der Hand, die,
als ſei ſie unverwundet, das Ruder führte. Da,
ſagte ſie und reichte ihm ihr Tuch. Er ſchüttelte
den Kopf und ruderte vorwärts. Sie ſtand endlich
auf, trat zu ihm und band ihm das Tuch feſt um
die tiefe Wunde. Darauf nahm ſie ihm, ſo viel er
auch abwehrte, das eine Ruder aus der Hand und
ſetzte ſich ihm gegenüber, doch ohne ihn anzuſehn,
feſt auf das Ruder blickend, das vom Blut geröthet
war, und mit kräftigen Stößen die Barke forttrei¬
bend. Sie waren beide blaß und ſtill. Als ſie näher
ans Land kamen, begegneten ihnen Fiſcher, die ihre
Netze auf die Nacht auswerfen wollten. Sie riefen
Antonino an und neckten Laurella. Keins ſah auf
oder erwiederte ein Wort.
Die Sonne ſtand noch ziemlich hoch über Pro¬
cida, als ſie die Marine erreichten, Laurella ſchüt¬
telte ihr Röckchen, das faſt völlig überm Meer ge¬
trocknet war, und ſprang ans Land. Die alte ſpin¬
nende Frau, die ſie ſchon am Morgen hatte abfahren
ſehen, ſtand wieder auf dem Dach. Was haſt du an
der Hand, Tonino? rief ſie hinunter. Jeſus Chriſtus,
die Barke ſchwimmt ja in Blut!
's iſt nichts, Commare, erwiederte der Burſch.
Ich riß mich an einem Nagel, der zu weit vorſah.
Morgen iſt's vorbei. Das verwünſchte Blut iſt nur
8 *
gleich bei der Hand, daß es gefährlicher ausſieht,
als es iſt.
Ich will kommen und dir Kräuter auflegen, Com¬
parello. Wart', ich komme ſchon!
Bemüht Euch nicht, Commare. Iſt ſchon alles
geſchehn und morgen wird's vorbei ſein und vergeſſen.
Ich habe eine geſunde Haut, die gleich wieder über
jede Wunde zuwächſt.
Addio! ſagte Laurella und wandte ſich nach dem
Pfad, der hinaufführt.
Gute Nacht! rief ihr der Burſch nach, ohne ſie
anzuſehn. Dann trug er das Geräth aus dem Schiff
und die Körbe dazu, und ſtieg die kleine Steintreppe
zu ſeiner Hütte hinauf.
Es war Keiner außer ihm in den zwei Kammern,
durch die er nun hin und her ging. Zu den offenen
Fenſterchen, die nur mit hölzernen Läden verſchloſſen
werden, ſtrich die Luft etwas erfriſchender herein, als
über das ruhige Meer, und in der Einſamkeit war
ihm wohl. Er ſtand auch lange vor dem kleinen Bilde
der Mutter Gottes und ſah die aus Silberpapier
daraufgeklebte Sternenglorie andächtig an. Doch zu
beten fiel ihm nicht ein. Um was hätte er bitten
ſollen, da er nichts mehr hoffte.
Und der Tag ſchien heute ſtill zu ſtehn. Er ſehnte
ſich nach der Dunkelheit, denn er war müde, und
der Blutverluſt hatte ihn auch mehr angegriffen, als
er ſich geſtand. Er fühlte heftige Schmerzen an der
Hand, ſetzte ſich auf einen Schemel und löſ'te den
Verband. Das zurückgedrängte Blut ſchoß wieder
hervor, und die Hand war ſtark um die Wunde an¬
geſchwollen. Er wuſch ſie ſorgfältig und kühlte ſie
lange. Als er ſie wieder vorzog, unterſchied er deut¬
lich die Spur von Laurella's Zähnen. Sie hatte
Recht, ſagte er. Eine Beſtie war ich und verdien'
es nicht beſſer. Ich will ihr morgen ihr Tuch durch
den Giuſeppe zurückſchicken. Denn mich ſoll ſie nicht
wiederſehn. — Und nun wuſch er das Tuch ſorgfältig
und breitete es in der Sonne aus, nachdem er ſich
die Hand wieder verbunden hatte, ſo gut er's mit der
Linken und den Zähnen konnte. Dann warf er ſich
auf ſein Bett und ſchloß die Augen.
Der helle Mond weckte ihn aus einem halben
Schlaf, zugleich der Schmerz in der Hand. Er ſprang
eben wieder auf, um die pochenden Schläge des Bluts
in Waſſer zu beruhigen, als er ein Geräuſch an ſei¬
ner Thür hörte. Wer iſt da? rief er und öffnete.
Laurella ſtand vor ihm.
Ohne viel zu fragen trat ſie ein. Sie warf das
Tuch ab, das ſie über den Kopf geſchlungen hatte,
und ſtellte ein Körbchen auf den Tiſch. Dann ſchöpfte
ſie tief Athem.
Du kommſt, dein Tuch zu holen, ſagte er; du
hätteſt dir die Mühe ſparen können, denn morgen
in der Früh hätte ich Giuſeppe gebeten, es dir zu
bringen.
Es iſt nicht um das Tuch, erwiederte ſie raſch.
Ich bin auf dem Berg geweſen, um dir Kräuter zu
holen, die gegen das Bluten ſind. Da! Und ſie
hob den Deckel vom Körbchen.
Zu viel Mühe, ſagte er, und ohne alle Herbig¬
keit, zu viel Mühe. Es geht ſchon beſſer, viel beſſer;
und wenn es ſchlimmer ginge, ging' es auch nach Ver¬
dienſt. Was willſt du hier um die Zeit? Wenn dich
einer hier träfe! du weißt, wie ſie ſchwatzen, obwohl
ſie nicht wiſſen, was ſie ſagen.
Ich kümmere mich um Keinen, ſprach ſie heftig.
Aber die Hand will ich ſehen und die Kräuter dar¬
auf thun, denn mit der Linken bringſt du es nicht
zu Stande.
Ich ſage dir, daß es unnöthig iſt.
So laß es mich ſehen, damit ich's glaube.
Sie ergriff ohne weiteres die Hand, die ſich nicht
wehren konnte, und band die Lappen ab. Als ſie
die ſtarke Geſchwulſt ſah, fuhr ſie zuſammen und
ſchrie auf: Jeſus Maria!
Es iſt ein bischen aufgelaufen, ſagte er. Das
geht weg in einem Tag und einer Nacht.
Sie ſchüttelte den Kopf: So kannſt du eine Woche
lang nicht aufs Meer.
Ich denk', ſchon übermorgen. Was thut's auch?
Indeſſen hatte ſie ein Becken geholt und die
Wunde von neuem gewaſchen, was er litt wie ein
Kind. Dann legte ſie die heilſamen Blätter des
Krautes darauf, die ihm das Brennen ſogleich lin¬
derten, und verband die Hand mit Streifen Leinwand,
die ſie auch mitgebracht hatte.
Als es gethan war, ſagte er: Ich danke dir. Und
höre, wenn du mir noch einen Gefallen thun willſt,
vergieb mir, daß mir heut ſo eine Tollheit über den
Kopf wuchs und vergiß das Alles, was ich geſagt
und gethan habe. Ich weiß ſelbſt nicht, wie es kam.
Du haſt mir nie Veranlaſſung dazu gegeben, du
wahrhaftig nicht. Und du ſollſt ſchon nichts wieder
von mir hören, was dich kränken könnte.
Ich habe dir abzubitten, fiel ſie ein. Ich hätte
dir Alles anders und beſſer vorſtellen ſollen und dich
nicht aufbringen durch meine ſtumme Art. Und nun
gar die Wunde —
Es war Nothwehr und die höchſte Zeit, daß ich
meiner Sinne wieder mächtig wurde. Und wie ge¬
ſagt, es hat nichts zu bedeuten. Sprich nicht von
Vergeben. Du haſt mir wohlgethan, und das danke
ich dir. Und nun geh ſchlafen, und da — da iſt auch
dein Tuch, daß du's gleich mitnehmen kannſt.
Er reichte es ihr, aber ſie ſtand noch immer und
ſchien mit ſich zu kämpfen. Endlich ſagte ſie: Du haſt
auch deine Jacke eingebüßt um meinetwegen, und ich
weiß, daß das Geld für die Orangen darin ſteckte.
Es fiel mir Alles erſt unterwegs ein. Ich kann dir's
nicht ſo wieder erſetzen, denn wir haben es nicht, und
wenn wir's hätten, gehört' es der Mutter. Aber da
hab' ich das ſilberne Kreuz, das mir der Maler auf
den Tiſch legte, als er das letzte Mal bei uns war.
Ich hab' es ſeitdem nicht angeſehn und mag es nicht
länger im Kaſten haben. Wenn du es verkaufſt — es
iſt wohl ein paar Piaſter werth, ſagte damals die
Mutter —, ſo wäre dir dein Schaden erſetzt, und was
fehlen ſollte, will ich ſuchen mit Spinnen zu verdie¬
nen, Nachts, wenn die Mutter ſchläft.
Ich nehme nichts, ſagte er kurz und ſchob das
blanke Kreuzchen zurück, das ſie aus der Taſche ge¬
holt hatte.
Du mußt's nehmen, ſagte ſie. Wer weiß, wie lang
du mit dieſer Hand nichts verdienen kannſt. Da
liegt's und ich will's nie wieder ſehn mit meinen Augen.
So wirf es ins Meer.
Es iſt ja kein Geſchenk, was ich dir mache; es iſt
nicht mehr als dein gutes Recht und was dir zukommt.
Recht? Ich habe kein Recht auf irgend was von
dir. Wenn du mir ſpäter einmal begegnen ſollteſt,
thu mir den Gefallen und ſieh mich nicht an, daß
ich nicht denke, du erinnerſt mich an das, was ich
dir ſchuldig bin. Und nun gute Nacht, und laß es
das letzte ſein.
Er legte ihr das Tuch in den Korb und das Kreuz
dazu und ſchloß den Deckel darauf. Als er dann
aufſah und ihr ins Geſicht, erſchrak er. Große ſchwere
Tropfen ſtürzten ihr über die Wangen. Sie ließ
ihnen ihren Lauf.
Maria Santiſſima! rief er, biſt du krank? du
zitterſt von Kopf bis Fuß.
Es iſt nichts, ſagte ſie. Ich will heim! und
wankte nach der Thür. Das Weinen übermannte
ſie, daß ſie die Stirn gegen den Pfoſten drückte und
nun laut und heftig ſchluchzte. Aber eh er ihr nach
konnte, um ſie zurückzuhalten, wandte ſie ſich plötzlich
um und ſtürzte ihm an den Hals.
Ich kann's nicht ertragen, ſchrie ſie und preßte
ihn an ſich, wie ſich ein Sterbender ans Leben klam¬
mert, ich kann's nicht hören, daß du mir gute Worte
giebſt, und mich von dir gehen heißeſt mit all der
Schuld auf dem Gewiſſen. Schlage mich, tritt mich
mit Füßen, verwünſche mich! — oder, wenn es wahr
iſt, daß du mich lieb haſt, noch, nach all dem Bö¬
ſen, das ich dir gethan habe, da nimm mich und
behalte mich und mach mit mir was du willſt. Aber
ſchick mich nicht ſo fort von dir! — Neues heftiges
Schluchzen unterbrach ſie.
Er hielt ſie eine Weile ſprachlos in den Armen.
Ob ich dich noch liebe? rief er endlich. Heilige Mut¬
ter Gottes! meinſt du, es ſei all mein Herzblut aus
der kleinen Wunde von mir gewichen? Fühlſt du's
nicht da in meiner Bruſt hämmern, als wollt' es
heraus und zu dir? Wenn du's nur ſagſt, um mich
zu verſuchen oder weil du Mitleiden mit mir haſt,
ſo geh, und ich will auch das noch vergeſſen. Du
ſollſt nicht denken, daß du mir's ſchuldig biſt, weil
du weißt, was ich um dich leide.
Nein, ſagte ſie feſt und ſah von ſeiner Schulter
auf und ihm mit den naſſen Augen heftig ins Ge¬
ſicht, ich liebe dich, und daß ich's nur ſage, ich hab'
es lange gefürchtet und dagegen getrotzt. Und nun
will ich anders werden, denn ich kann's nicht mehr
aushalten, dich nicht anzuſehn, wenn du mir auf der
Gaſſe vorüberkommſt. Nun will ich dich auch küſſen,
ſagte ſie, daß du dir ſagen kannſt, wenn du wieder
in Zweifel ſein ſollteſt: Sie hat mich geküßt, und
Laurella küßt Keinen, als den ſie zum Manne will.
Sie küßte ihn dreimal und dann machte ſie ſich
los und ſagte: Gute Nacht, mein Liebſter! Geh nun
ſchlafen und heile deine Hand, und geh nicht mit
mir, denn ich fürchte mich nicht, vor Keinem, als
nur vor dir.
Damit huſchte ſie durch die Thür und verſchwand
in den Schatten der Mauer. Er aber ſah noch lange
durchs Fenſter, aufs Meer hinaus, über dem alle
Sterne zu ſchwanken ſchienen.
Als der kleine Padre Curato das nächſte Mal aus
dem Beichtſtuhl kam, in dem Laurella lange gekniet
hatte, lächelte er ſtill in ſich hinein. Wer hätte ge¬
dacht, ſagte er bei ſich ſelbſt, daß Gott ſich ſo ſchnell
dieſes wunderlichen Herzens erbarmen würde. Und
ich machte mir noch Vorwürfe, daß ich den Dämon
Eigenſinn nicht härter bedräut hatte. Aber unſere
Augen ſind kurzſichtig für die Wege des Himmels.
Nun ſo ſegne ſie der Herr und laſſe mich's erleben,
daß mich Laurella's älteſter Bube einmal an ſeines
Vaters Statt über Meer fährt! Ei ei ei! la Rab¬
biata!
Am Tiberufer.
Es war tief im Januar. Der erſte Schnee hing
am Gebirge, und die Sonne, die hinter dem Nebel
ſtand, hatte nur einen geringen Streif am Fuß der
Höhen weggeſchmolzen. Aber die Oede der Campagne
grünte wie Frühling. Nur die gelichteten Zweige
der Oelbäume, die hie und da in Reihen die gelin¬
den Senkungen der Ebene hinab ſtehen oder eine
einſame Capanne umgeben, und das niedre Geſtrüpp,
das bereift an den Straßen wuchert, empfanden den
Winter. Um dieſe Zeit ſind die zerſtreuten Heerden
in die Hürden nah bei der Hütte des Campagnuolen
geſammelt, die gewöhnlich, im Schutz eines Hügels
errichtet, mit Stroh bis auf den Boden dürftig ge¬
nug vor dem Wetter verwahrt iſt, und wer von den
Hirten zu ſingen oder Flöte und Sackpfeife zu ſpielen
verſteht, hat ſich aufgemacht, in Rom nachzügelnd
als Pifferaro, den Malern zum Modell zu dienen,
oder mit anderm Erwerb das arme frierende Leben
zu friſten. Herren der Campagne ſind nun die Hunde,
die in großen Rudeln die verlaſſene Weite durchſtreifen,
vom Hunger verwildert, von den Hirten nicht mehr
ſtreng bewacht, deren Armuth ſie nur zur Laſt fallen.
Gegen den Abend, als der Wind ſtärker wurde,
ſchritt ein Mann durch die Porta Pia und wanderte
den Fahrweg zwiſchen den Landhäuſern hin. Der Man¬
tel hing ihm nachläſſig um die ſtarken Schultern und
der breite graue Hut ſaß tief im Nacken. Er ſah
nach den Bergen hinüber, bis der Weg tiefer ward
und nur ein geringes Stück der Ferne zwiſchen den
Gartenmauern durchblickte. Die Enge ſchien ihn zu
beklemmen. Er verlor ſich wieder unmuthig in ſeine
Gedanken, denen zu entrinnen er das Freie geſucht
hatte. Eine ſtattliche Eminenz trippelte mit ihrem
Gefolge an ihm vorbei, ohne daß er ſie gewahrte
und grüßte. Erſt der nachfahrende Cardinalswagen
erinnerte ihn an ſeinen Verſtoß. Von Tivoli her
rollten Caroſſen und leichtere Fuhrwerke voll Frem¬
der, die es gelüſtet hatte, die Berge und Cascaden
im Schnee zu ſehen. Er warf keinen Blick auf die
zierlichen Geſichter der jungen Engländerinnen, mit
deren blauen Schleiern die Tramontane ſpielte. Ha¬
ſtig bog er von der Straße ab, links einen Feldweg
hinein, der erſt Mühlen und Schenken vorüber lief
und dann mitten in die Wildniß der Campagne hin¬
aus führte.
Nun ſtand er einen Augenblick, tief athmend, und
genoß die Freiheit des weiten winterlichen Himmels.
Die gedämpfte Sonne ſchien röthlich herüber, hauchte
die Trümmer der Waſſerleitung an und färbte den
Schnee am Sabinergebirge. Hinter ihm lag die
Stadt. Aber nicht fern von ihm begann eine Glocke
zu läuten, nur leiſe durch den widrigen Wind. Das
machte ihn unruhig. Als wolle er dem letzten Laut
des Lebens verwehren, zu ihm zu dringen, ging er
vorwärts. Er verließ bald den ſchmalen Pfad, die
Wellen der Ebne auf und ab kreuzend, ſchwang ſich
über die Stangen, die im Sommer die weidenden
Rinder eingehegt hatten, und vertiefte ſich mehr und
mehr in die einſame Dunkelheit.
Es war eine tiefe Stille dort, wie mitten auf
dem ruhigen Meer. Faſt hörte man den Flügelſchlag
der Krähen, die über den Boden hin hüpften. Keine
Grille ſang, kein Ritornell eines heimwandernden
Weibes drang von der fernen Straße bis zu ihm.
Da ward ihm wohl. Er ſtieß den Stock mehrere
Male hart gegen den Boden und freute ſich an dem
Ton, der ihm antwortete. — Sie ſpricht nicht viel,
ſagte er vor ſich hin im Dialekt des gemeinen römi¬
ſchen Volks, aber ſie meint es ehrlich und ſorgt
im Stillen für ihre plappernden Kinder, die ſie mit
Füßen treten. Daß ich ſie nie wieder zu hören brauchte,
dieſe windigen Schufte! Meine Ohren ſind wund
von ihren glatten Phraſen. Als wär' ich nichts, als
wüßt' ich es nicht beſſer, woran dieſe Dinge hängen,
von denen ſie zu ſchwatzen wiſſen, während ich nichts
verſtehe, als ſie zu ſchaffen. Und doch leb' ich von
9
ihnen und muß eine gute Miene machen, wenn die
Fratzen mein Werk beſchnüffeln! Accidenti! fluchte
er in den Bart. — Ein Echo kam zurück. Er ſah
betroffen umher. Keine Hütte, kein Hügel war auf
eine halbe Stunde im Umkreis zu ſehn, noch konnte
er einen Menſchen nahe glauben. Er ging endlich
weiter und dachte, ein Windſtoß äfft dich. Da klang
es plötzlich wieder, näher und lauter. Er ſtand und
horchte ſcharf. Bin ich einer Capanne nah, oder
einem Schuppen, aus dem die Rinder brüllen? Es
kann nicht ſein — es klang anders — es klingt an¬
ders — und jetzt, jetzt — und ein Schauder ſchüt¬
telte ihn; — es ſind die Hunde, ſagte er dumpf.
Das Geheul kam näher, heiſer wie von Wölfen,
kein Bellen und Kläffen, ſondern ein Geſtöhn, rauh
vorgeſtoßen, das die Stimme des Winds in Eine
ununterbrochene furchtbare Melodie zuſammenwehte.
Eine lähmende Kraft ſchien in ihr zu liegen. Denn
der Wanderer ſtand regungslos, den Mund und die
Augen ſtarr geöffnet, das Geſicht der Seite zugewen¬
det, von der der Schlachtruf der wüthenden Thiere
heranſchwoll. Endlich richtete er ſich gewaltſam in
ſeinen Gliedern auf und ſagte: Es iſt zu ſpät; ſie
haben längſt die Witterung, und bei dem falſchen
Zwielicht ſtürzt' ich nach dem zehnten Schritt, wenn
ich laufen wollte. Nun denn, wie ein Hund gelebt
und von meinesgleichen umgebracht! es iſt doch Sinn
darin. Hätt' ich ein Meſſer, macht' ich's meinen Gäſten
leichter. So aber — und er prüfte die ſtarke Eiſen¬
ſpitze ſeines Stockes — wenn es ihrer wenige ſind —
wer weiß, ob mein Hunger nicht den ihren überlebt.
Er ſchlug ſich den Mantel um, daß der rechte
Arm frei wurde und der linke, vielfach umwunden,
zur Abwehr gerüſtet war, und faßte den Stock. Mit
kaltblütiger Entſchloſſenheit unterſuchte er den Boden,
wo er ſtand. Er fand ihn von Gras entblößt, ſteinig
und hart. Sie mögen kommen, ſagte er, und ſtellte
ſich feſt gegen die Erde. Er ſah ſie jetzt und zählte in
der Dämmerung. Fünf! zählte er, und da ein ſechster!
Sie raſen heran wie der hölliſche Feind, dürre hoch¬
beinige Beſtien. Wart! — und er hob einen ſtarken
Stein — man muß doch den Krieg anzeigen, wie es
Brauch iſt.
Damit ſchleuderte er den Stein gegen den vor¬
derſten, auf funfzig Schritt hinaus. Ein verdop¬
peltes Geheul antwortete. Das Rudel hielt einen
Augenblick im Jagen inne. Einer von ihnen lag
zuckend am Boden.
Waffenſtillſtand! ſagte der Mann. Seine Lippe
zitterte, das Herz ſchlug tobend gegen den linken Arm,
der den Mantel krampfhaft feſt hielt. Aber die Wim¬
per über dem ſcharfen Auge zuckte nicht. Er ſah ſeine
Feinde wieder losbrechen und ihre Augen glänzen
durch die Schatten. Zu Paaren kamen ſie, der größte
9 *
voran. Ein zweiter Stein, der dieſen anflog, ſprang
von der knochigen Bruſt ab und das gereizte Thier
ſtürzte heiſer aufmurrend gegen die dunkle Geſtalt.
Ein Ruck, und er lag rücklings auf dem Geſtein, und
der im Wirbel geſchwungene Stock fuhr ihm gewalt¬
ſam gegen den offnen Rachen.
Ein Reiter ſprengte durch das Grau der Winter¬
nacht, einige Hundert Schritt dem Kampfe fern, über
die pfadloſe Campagne. Er ſpähte nach der Stelle,
von der das Geheul in kurzen Pauſen zu ihm kam,
und ſah einen Mann ſtehn, wanken, zurückweichen,
wieder feſten Fuß faſſen, während die Feinde ſich ab¬
löſ'ten im Angriff und von allen Seiten auf ihn ein¬
ſtürmten. Dem zu Pferde grauſ'te. Er ſtieß ſeinem
Thier die Sporen in die Seite und flog heran. Der
Hufſchlag drang dem Kämpfenden zu Ohren; aber
es war, als ob der jähe Schreck der Hoffnung ihm
plötzlich die Kraft bräche. Sein Arm ſank nieder,
ſeine Sinne verwirrten ſich, er fühlte ſich von hinten
niedergeriſſen und taumelte zu Boden. Noch hörte
er durch den Nebel des Bewußtſeins einige Schüſſe
fallen; dann verfiel er der Ohnmacht.
Als er ſich wieder ermannte und die Augen zuerſt
aufſchlug, ſah er das Geſicht eines jungen Mannes
über ſich, an deſſen Knie ſein Haupt lehnte und
deſſen Hand ihm mit ausgerauftem naſſen Gras die
Schläfe rieb. Das Pferd ſtand dampfend neben ih¬
nen; ihm zu Füßen wanden ſich zwei Hunde, blutig,
im letzten Todeszucken.
Seid Ihr verwundet? hörte er fragen.
Ich weiß nicht.
Ihr wohnt in Rom?
Beim Tritone.
Der Andere half ihm ſich aufrichten. Er ver¬
mochte nicht zu ſtehen, der linke Fuß ſchmerzte ihn
heftig. Er war barhaupt, der Mantel in Fetzen, der
Rock am Arm aufgeriſſen und blutig, das Geſicht
blaß und ſtarr. Ohne zu ſprechen, ließ er ſich von
ſeinem Retter ſtützen, der ihn die kurzen Schritte
bis zu dem Pferde mehr trug als führte. Er ſaß
endlich im Sattel, und der Andere faßte den Zügel
des Pferdes und leitete es langſam nach der Stadt zu.
Bei der erſten Oſterie außerhalb der Mauern hiel¬
ten ſie. Der junge Mann rief der Wirthin, daß ſie
Wein bringe. Als der Verwundete ein Glas geleert,
belebten ſich ſeine Züge und er ſprach:
Ihr habt mir einen Dienſt geleiſtet, Herr. Viel¬
leicht verwünſch' ich ihn noch einmal, ſtatt ihn Euch
zu danken. Fürs erſte dank ich aber. Man hängt
nun einmal am Leben wie an anderen ſchlechten Ge¬
wohnheiten. Man weiß, die Luft iſt voll von Fieber und
Fäulniß und nichtswürdigem Dunſt der Menſchen,
und doch dünkt Jeden Athemholen eine gute Sache.
Ihr ſeid ſchlecht auf die Menſchen zu ſprechen.
Ich habe keinen gefunden, der mich nicht für
einen Dummkopf hielt, wenn ich gut von ihm ſprach.
Verzeiht, Ihr ſeid nicht aus Rom?
Ich bin ein Deutſcher.
Gott ſegn' es Euch!
Sie erreichten ſchweigend das Thor und lenkten
ein nach Piazza Barberini. Der Verwundete wies
auf ein kleines Haus im Winkel des Platzes, bau¬
fällig und dunkel. Als das Pferd vor der niedrigen
Thür hielt, ließ ſein Reiter ſich niedergleiten, ehe
der Andre helfen konnte, brach aber hülflos zuſam¬
men. Es iſt ärger als ich dachte, ſagte er. Thut
noch das und helft mir hinein, und da iſt der Schlüſ¬
ſel. — Der junge Mann unterſtützte ihn ſchweigend,
rief einem Knaben, das Pferd zu halten, und einem
müßigen Burſchen, das Haus zu öffnen. Drinnen
war es dunkel, die feuchte Kälte ſchlug ihnen unheim¬
lich entgegen. Sie trugen ihn durch den Flur, wie
er's ihnen ſagte, links in ein wüſtes großes Gemach.
Wo iſt Euer Bett? fragte der Deutſche. — Wo Ihr
wollt; aber legt mich lieber drüben an die Wand.
Dort hinten iſt die Mauer nicht zuverläſſig. Dieſer
brave alte Palazzo, im Frühjahr wollen ſie ihn nie¬
derreißen; ich glaube, er hat nicht die Geduld es ab¬
zuwarten.
Und Ihr haltet es hier aus? —
Es iſt die billigſte Art, ſich begraben zu laſſen,
ſagte der Andere trocken. Ich ſpiele hier den Wirth
für freies Quartier.
Indeſſen hatte der Burſch Feuer angeſchlagen und
die kleine Meſſinglampe angezündet, die am Fenſter
ſtand. Der junge Mann half dem Verwundeten auf
eine Decke, über Stroh ausgebreitet, und deckte ihn
mit dem zerriſſenen Mantel nothdürftig zu. Mit
einem tiefen Athemzuge ſtreckte ſich die kräftige Ge¬
ſtalt aus und ſchloß die Augen. Der Deutſche gab
dem Burſchen Geld und trug ihm Verſchiedenes auf;
dann ging er ohne Abſchied hinaus, warf ſich aufs
Pferd und ritt eilig davon.
Nach einer Viertelſtunde betrat er wieder das
Gemach und brachte den Arzt. Während dieſer die
Wunden an Bein und Arm unterſuchte und verband,
was der Kranke geſchehen ließ, ohne einen Laut von
ſich zu geben, ſah ſich der junge Deutſche an den
Wänden um. Sie waren kahl und der Bewurf in
großen Stücken abgefallen. Die Balken am Dach
ſtanden nackt und geſchwärzt heraus, das ſchlechte
Fenſter ließ die ſchneidende Luft ein, weniges Geräth
ſtand herum. Indeß brachte der Burſch einen Arm
voll Holz und macht' ein Feuer im Kamin. Wie es
nun roth aufpraſſelte, wurden im Winkel einige ver¬
ſtaubte Thonfiguren und Gipsabgüſſe ſichtbar, ein
großer Delphin, der einen todten Knaben auf dem
Rücken trug, eine Meduſe in Relief, koloſſal, die
Haare noch nicht zu Schlangen belebt, wirr um die
ſchmerzlichen Schläfen herabgeringelt — er entſann
ſich nicht, dieſe Züge an einer Antike geſehn zu haben.
Abgüſſe über dem Leben, Arme, Füße, die Bruſt
eines jungen Mädchens, dazwiſchen flüchtige Skizzen
in Thon ſtanden und lagen wüſt durch einander. Auf
dem Tiſch aber ſah er mannigfaches Geräth, wie es
ein Cameenſchneider braucht, und einige Stöcke mit
halbvollendeten Arbeiten, zum größten Theil Medu¬
ſenköpfe, die jenem großen Relief glichen, aber von
verſchiedenem Grad und Charakter der Leidenſchaft
und Hoheit. Unbearbeitete Muſchel-Stücke, Abdrücke
geſchnittner Steine und Paſten in Glas und Gips
lagen in einem Käſtchen daneben.
Ich denke, es hat keine Gefahr, ſagte nun der
Arzt. Laßt Eis holen und den Burſchen die Nacht
aufſitzen, den Verband unabläſſig zu kühlen. Sie
haben Euch arg mitgeſpielt, Sor Carlo. Aber wer
Teufel heißt Euch auch um dieſe Jahres- und Tages¬
zeit in die Campagne rennen?
Dieſe eigenſinnigen Schufte, die Kamine, ſagte
der Künſtler; ſie wollen ihre Schuldigkeit nicht thun,
ohne daß man ihnen Scheiter in den Hals ſtopft.
Ich hatte was gegen meinen guten alten Palazzo,
Sor Dottore; ich hätt' ihm am liebſten einen Tritt
gegeben, uns Beide zu erwärmen. Nun, da lief ich
ihm davon, damit es nicht zu Thätlichkeiten zwiſchen
uns komme.
Ihr ſeid hier übel verwahrt, erwiederte der gut¬
müthige kleine Herr und wiſchte ſich die Brillengläſer,
die beſchlagen waren. Meine Frau ſoll Euch noch
eine Decke ſchicken; und morgen ſeh' ich wieder nach.
Der Schlaf wird kommen, und dieſer Arzt ſteckt uns
Alle in die Taſche. Gute Nacht.
Der junge Mann begleitete ihn hinaus und ſie
ſprachen im Flur eine Weile. Ich kenne ihn dem
Namen nach, ſagte der Arzt. Er geht ſo ſeine ſelt¬
ſamen menſchenſcheuen Wege, verkehrt in den Kneipen
mit dem letzten Facchin am liebſten, und was er hat,
verthut er. Es iſt aber Keiner in Rom, der's ihm
gleich thäte in Cameen. Er hat's von ſeinem Vater,
Giovanni Bianchi, der lange todt iſt.
Sind die Wunden im Ernſt ungefährlich?
Wenn er ſich ſchont und mit dem Eis nichts ver¬
ſäumt wird. Er hat Glieder wie von Eiſen, ſonſt
hätt' er auch den Beſtien nicht ſo lange Stand ge¬
halten. Fünf, ſagt Ihr! der tollkühne Mann! Aber
das iſt ſo einer von ſeinen Streichen. Nun nun,
er wird ſchlafen; ſeid unbeſorgt, Sor Teodoro!
Er ſchlief ſchon, als Theodor wieder zu ihm ein¬
trat, obwohl er das Geſicht nach dem hellen Feuer
gewendet hatte. Theodor betrachtete ihn lange. Er
war völlig ſchön, nur die Naſe ein wenig hager, das
Haar ſchon hie und da verblichen, der Bart unge¬
pflegt; aus dem athmend halbgeöffneten Munde glänz¬
ten die weißen Zähne vor. Als Theodor den Mantel
lüftete, um das Eis aufzulegen, ſah er die ganze Kraft
der Glieder.
Er ſchickte den Burſchen fort, nachdem er ihn
Vorrath von Holz und Eis hatte zutragen laſſen und
befahl ihm, in der Frühe wiederzukommen. Er ſelbſt
ſchob einen Rohrſtuhl an den Kamin und ließ ſich
nieder, den Mantel umgeſchlagen, und bereitete ſich
zu wachen. Es war nun um die zehnte Stunde;
draußen über dem öden Platz ſtand die klare Nacht
und der Strahl des Springbrunns plätſcherte leiſe
in die Muſchel des Tritonen. Aus einem nahen
Hauſe hörte er eine Mädchenſtimme ſingen:
Chi sa se mai
Ti soverrai di me!
den Refrain eines alten ſchmerzlichen Liedes. Bald
ſchwieg auch das und ſummte wortlos in ihm nach.
Er ſah ſich wieder am Rande der Schlucht von
Tivoli, auf dem Fußweg den Waſſern gegenüber, die
in winterlicher Dürftigkeit aus ihren vielen Mündun¬
gen niederſtürzten. Sie gingen, ohne ſich zu führen,
neben einander, er, das ſchöne Mädchen und ihre be¬
wegliche kleine Begleiterin, die unabläſſig über den
mühevollen abſchüſſigen Weg eiferte. Wir hätten mit
Euern Eltern zurückgehn ſollen, Mary, ſagte ſie mehr
als einmal auf Engliſch; ja, wir ſollten es noch. Da
ſind ſie noch, Kind, droben über der Cascade, ſeht
nur, Mary, und werden bald ganz comfortabel am
Kamin ſitzen, in der Sibylle, und wir erfrieren uns
die Naſen. Die Eure iſt ſchon ganz roth, Mary;
dear me, wie ſeht Ihr aus, Kind! Der Wind iſt
auch ſo ſcharf von dem Waſſer herüber; Ihr ſagtet
es gleich, Sir, und warntet; aber unſer Kind hat
ihre Einfälle. Guter Gott! wir haben die Landſchaft
ja im Herbſt geſehn und gar im Sommer und ritten
damals ſanft und bequem den Abhang nieder, den
wir jetzt hinabſtolpern und -gleiten müſſen.
Es iſt nicht mehr weit, liebe Miß Betſy, ſagte
das Mädchen lächelnd, dann wird die Straße gelin¬
der. Unſer Freund bot Euch ja ſeinen Arm; warum
ſchlugt Ihr ihn aus?
Die kleine Perſon näherte ſich ihr und ſagte leiſe:
Mary! daß Ihr mich das fragt! Ihr kennt meine
Grundſätze, daß es unſchicklich iſt, bergunter ſich von
einem unverheiratheten Manne führen zu laſſen. Wenn
wir gleiten und uns an ihm halten, nimmt er jeden
Druck für eine Zärtlichkeit. Ihr ſetzt mich in Ver¬
legenheit, Kind.
Marie lächelte faſt unmerklich. Sie ging dann
ernſthaft ihres Wegs; der Hut von ſchwarzem Sam¬
met verbarg ihr Geſicht dem jungen Manne bis auf
die vornickende braune Locke. — Es war kein bloßes
Compliment, Sir, ſagte ſie dann und blickte ihn un¬
befangen an, als mein Vater Euch geſtand, daß Ihr
durch Eure Zurückhaltung ihm weh gethan. Wenn
ich mich recht entſinne, waret Ihr ſeit meines armen
Bruders Tode nur viermal in unſerm Hauſe.
Viermal! ſagte er. Und Ihr habt gezählt —
Wir mußten die Zahl oft vom Vater hören. Seit
ich Edward verloren habe, ſagt er, mag ich mit Nie¬
mand ſprechen, der ihn nicht gekannt hat. Wie ſoll
er mich noch kennen lernen? Dann kommt er immer
auf Euch und lobt Euch und vermißt Euch.
Ich geſtehe, ſagte Theodor, die Liebe und Herz¬
lichkeit, mit der mich Eure Eltern begrüßten, als wir
uns hier begegneten, überraſchte und rührte mich hef¬
tig. Auch ich bin in dieſem Winter menſchenbedürf¬
tiger als ſonſt. Im vorigen, der der erſte war, durfte
ich mich von nichts zurückziehen, was ſich aufdrängte
und Gewinn verſprach. Ich ſehe nun, daß ich nur
verloren habe. Die Geſellſchaft widerſpricht dem Ort.
Sie fühlt das, und weil ſie doch gelten will, muß
ſie ſich überheben. Das iſt widerwärtig und verbit¬
tert andächtigen Menſchen, wie ich einer bin, die
fruchtbare Stimmung. Darum leb' ich nun für mich
oder mit Einzelnen, denen es nicht beſſer gegangen
als mir. Und doch bin ich von meiner Heimath her
verwöhnt, auf die Länge nur in der Familie meines
Lebens froh zu werden.
Ihr ſeid nun ſchon ſo lange von Euern Eltern
getrennt —
Ich habe ſie verloren, ſagte er ſtill. Sie ſtarben
Beide in derſelben Woche. Da ging ich über die
Alpen, und Gott weiß, ob ich je zurückkehre.
Sie betraten die leichten Schatten der Oliven¬
pflanzung. Der Weg war durchaus trocken; über
ihnen in den Zweigen glänzte es von Sonne, die
den flüchtigen Schnee auf den Blättern aufgethaut
hatte, daß ſie ſchimmerten wie nach feinem Frühlings¬
regen. Die kleine Ehrendame wurde der beſten Laune
und erzählte von ihren einſamen Wanderungen durch
Rom. Man wollte wiſſen, daß ſie an einem Buch
über Rom arbeite. Wie es auch immer damit ſein
mochte, es ſtand feſt, daß ſie ſogar ihren Grundſätzen
Gewalt anthat und es ſich nachſagen ließ, daß ſie
mit einem wildfremden jungen Italiäner eine Stunde
lang die Thermen des Caracalla nach allen Seiten
durchforſcht und ſeine Begleitung nach ihrer Woh¬
nung nicht abgelehnt habe.
Glaubt Ihr wohl, Mary, rief ſie jetzt, daß ich
mich leicht entſchließen könnte, mein altes England
mit keinem Auge wiederzuſehn? Ihr wißt, wie ich
es Anfangs keinen Monat hier auszuhalten meinte.
Denn ich bin von alter Familie, Sir, und mein er¬
ſter Ahn fiel bei Haſtings, nachdem er für ſein Theil
und für ſeine Kinder das Land mit erobert hatte.
Darum gehört mir mein Stück England ſo gut wie
dem größten Grundbeſitzer, und wer läßt gern das
Seine im Stich! Und dennoch, wer weiß, ob ich nicht
hier mein Leben beſchlöſſe, wenn es nicht unedel wäre,
ſeines Vaterlandes zu vergeſſen, ſo ſehr es uns ſelbſt
und alte gute Dienſte der Vorfahren vergeſſen ha¬
ben mag.
Ich wüßte nicht, ſagte Theodor lächelnd. Ihr
erweiſ't Alt-England nur einen Dienſt, wenn Ihr an
Euerm Theil Rom erobert und ſo in die Fußſtapfen
Eures Urahnen tretet.
Ihr ſeid ein Spötter, ſagte ſie und gab ihm einen
leichten Schlag mit dem Fächer. Aber wenn ich auch
noch in den Jahren ſtünde, wo Euer Spott artiger
wäre, meint Ihr im Ernſt, vorausgeſetzt, Ihr hättet
einigen Grund zu Eurer Aeußerung und es wäre Je¬
mand um mich bemüht — meint Ihr, ſag' ich, daß
engliſcher und italiäniſcher oder eigentlich römiſcher
Charakter ſich auf die Länge mit einander vertrügen?
Ihr wißt, theuerſte Freundin, daß die Liebe Wun¬
der thut, Abgründe ausfüllt und Schranken nieder¬
reißt. Für die Charaktere fürchte ich nicht. Fände
ſich die Bildung übereinſtimmend, was ſollte den
Herzen nicht gelingen! Ich habe mehr Ehen an
verſchiedenem Geſchmack, als an verſchiedenen Leiden¬
ſchaften zu Grunde gehen ſehn. Aber welcher Römer
würde z. B. Euern Geſchmack an Rom nicht theilen?
Ihr habt Recht, ſagte ſie, im Grunde iſt die Liebe
Geſchmacksſache. — Sie zog den grünen Schleier
übers Geſicht und ſchien in ernſtlichen Betrachtungen
ungeſtört bleiben zu wollen.
Die beiden jungen Leute gingen nun ein wenig
voran, denn ſie hörten Miß Betſy halblaut mit ſich
ſelbſt reden, wie es ihr oft begegnete, und wollten
ihre Träume nicht belauſchen. Die Gute! ſagte Ma¬
rie mit ihrer ſanften Stimme, die Reiſe hat ſie ganz
aus ihrer Faſſung gebracht. Sie hatte auch ſonſt
wohl einen abenteuerlichen Zug, den ſie aber in Eng¬
land unſchuldig an der Politik ausließ. Mit dem
erſten Fuß auf das Feſtland iſt dieſer ſeltſame Hang,
Erlebniſſe zu machen, in ihr aufgewacht und hat
uns auf der Reiſe ſchon manche Sorge um ſie und
freilich auch manchen Anlaß zum Lachen gegeben.
In jüngern Jahren muß ihr dies phantaſtiſche
Weſen allerliebſt geſtanden haben, ſagte Theodor.
Aeltere Leute wiſſen in der Regel, daß man ſchon
vollauf zu thun hat, Schickſale, die kommen, zu neh¬
men, und daß es mißlich iſt, ſie aufzuſuchen. Hof¬
fentlich wird ſie es mit ihrem höflichen römiſchen
Freunde bald eben ſo wenig ernſt nehmen, als er es
mit ihr von Anfang an genommen hat.
Ich ſah ſie Beide nach Haus kommen. Er war
um vieles jünger, ein anſehnlicher Mann mit etwas
übermüthigen, aber feinen Zügen.
Was haltet Ihr von der Streitfrage, die Miß
Betſy aufwarf? fragte Theodor nach einer Pauſe.
Von welcher?
Ob Menſchen verſchiedener Nation für einander
taugen?
Marie ſchwieg eine Weile. Je mehr die Menſchen
von einander wollen, ſagte ſie dann, und je mehr ſie
einander zu geben wünſchen, deſto verwandter, dünkt
mich, müßten ſie ſein. Und ſelbſt dann — ich habe
einen Engländer gekannt, der mit einer Creolin ver¬
heirathet war. Sie nahmen beide das Leben leicht
und äußerlich; er freute ſich, eine ſchöne Frau zu
haben, und ſie ſchien zufrieden, daß er ſie mit Reich¬
thum überſchüttete. Und doch war etwas zwiſchen
ihnen, etwas Klimatiſches, wo ſie nun auch leben
mochten. Sie wurden nicht recht froh mit einander.
Sie waren aus verſchiedenen Zonen. Aber wenn
ſie nordländiſches Blut gehabt hätte —?
Es mag ſein. Und doch — ich ſpüre es an mir
ſelber. Ich bin im Gebirge aufgewachſen und habe
mich langſam an die weichen römiſchen Lüfte gewöh¬
nen müſſen. Nun haben wir Winter. Droben liegt
der ſchöne klare Schnee. Wenn wir heut wieder bei
den Eltern ſind, am Kamine ſitzen, das Waſſer im
Keſſel ſingt, und ich Alles um mich habe, was zu
meinem Leben gehört, ſollte ich billig ganz glücklich
ſein können. Doch geſtehe ich, daß mir dann erſt
recht das Heimweh kommen könnte nach unſerm Land¬
hauſe, wo die alten Ahornbäume vor den Fenſtern
ſtehn und hinter dem Garten das verſchneite Feld
liegt, lange nicht ſo ſchön wie dort drüben die Cam¬
pagna, und der Himmel darüber ganz in trüben Ne¬
beln verſunken, während dieſer Horizont, der ſo rein
iſt, mich erquicken und erheitern könnte. Es iſt den¬
noch die Fremde. Und ſo ein Fremdes mag wohl
auch zwiſchen den Menſchen bleiben.
Sie hatten das Geſpräch bisher engliſch geführt.
Er fing plötzlich deutſch an, deſſen ſie völlig mächtig
war bis auf einen geringen Accent. Erlauben Sie
mir, ſagte er, daß ich deutſch ſpreche. Sie haben
mir von Ihrem Heimweh mitgetheilt. Als Sie von
Ihrer winterlichen Stille erzählten, mußte ich an deut¬
ſche Winter denken, die nun hinter mir liegen und
ſo nie wieder kommen werden. Ich hörte wieder den
leiſen Ton, wenn die Raben durch die kahlen Zweige
ſtrichen und die kleinen dürren Aeſte brachen, daß
ein feines Schneewölkchen dem Fenſter vorbei nieder¬
ſtäubte. Meine Mutter lag dort monatelang ans
Ruhebett gefeſſelt; ſie konnte und wollte nicht mehr
in die unruhige Stadt. Der alte Landſitz hatte ſonſt
nur ſommerliche Bewohner geſehn, fröhliche Jagden,
heitere Spaziergänger. Jetzt war er die Zuflucht im
Winter, wo die Mutter ſich von ihren beſchwerlichen
Badereiſen erholte.
Sie waren dann bei ihr?
In den erſten Jahren nur immer auf Wochen.
10
Den letzten Winter aber ließ ſie mich nicht von ſich.
Ich ſaß die vollen Tage neben ihr, arbeitete und
ſprach dazwiſchen, oder ſpielte ihr ihre Lieblingsmelo¬
dieen vor, jene einfachen alten Lieder, die nun ganz
aus der Mode ſind. Der kleine Saal ging auf den
Garten hinaus mit vielen hohen Fenſtern. Ich ſehe
noch meinen Vater auf der Terraſſe davor auf und
nieder wandeln mit der Bärenmütze und kurzen Pfeife.
Er konnte die Luft des geheizten Raumes nicht lange
ertragen. Aber ſelten verließ er jenen Platz, und wer
ein Geſchäft mit ihm hatte, mußte ihn dort aufſuchen.
Von Zeit zu Zeit kam er auf eine Viertelſtunde zu
uns herein. Ich werde den Blick nie vergeſſen, mit
dem dann meine arme Mutter zu ihm aufſah. Sie
hatte ſchöne verklärte blaue Augen.
Dann ſtarb ſie?
Im Frühling. Der Vater bald darauf. Er ver¬
unglückte auf einem Ritt. Seit die Mutter von uns
gegangen war, hatte er nicht Ruhe, beſtieg die wil¬
deſten Pferde und blieb oft halbe Tage lang aus,
ſo ſehr ich ihn beſchwor, ſich zu ſchonen. Ich kannte
ihn, ich wurde die unheimlichſte Angſt nicht los —
ich hatte nur zu ſehr Recht. — —
Sie waren im Grunde angekommen und blieben
ſtehn, ihre Begleiterin zu erwarten. Marie ſtand einige
Schritte von ihm, ſo daß er, wie er ſich wandte und
die Gegend überſchaute, ihr volles Bild vor ſich hatte.
Die ſchönen klaren Züge waren ſchmerzlich überflort;
unter den geſenkten Augenliedern ſchimmerte es feucht.
Als ſie ſie aufſchlug, ſah er die blauen Augen groß
und ernſthaft auf der Landſchaft ruhen. Er kannte
ſchon dieſen Blick. Er hatte ihn früher vermieden,
denn er wußte, welche Macht er hatte. Jetzt über¬
ließ er ſich ihr zum erſten Mal. Marie! ſagte er.
Sie regte ſich nicht und ſah ihn nicht an. Da er¬
reichte ſie die kleine nachdenkliche Freundin. Das Ge¬
ſpräch ward wieder angeknüpft, während ſie die Höhe
von Tivoli erſtiegen. Marie aber nahm nicht Theil
daran.
Als ſie gegen die erſte Dämmerung von Tivoli
aufbrachen, nun heiterer vom Wein, und Theodor
die Damen eben in den Wagen gehoben hatte, ſagte
der alte Herr zutraulich zu ihm: Ich ſteige nicht eher
ein, als bis ich weiß, wann wir Euch wiederſehn,
theurer Sir. Ich habe noch eine kleine Angelegen¬
heit, die mir und uns Allen ſehr wichtig iſt und die
ich gern mit Euch berathen möchte. Sie betrifft un¬
ſern armen Edward. Ich weiß, Ihr kommt am ehe¬
ſten, wenn Ihr wißt, daß man auf Euern Beiſtand
rechnet.
Kommt heute Abend noch, bat die Mutter.
Er verſprach es, Als man ihm ſein Pferd brachte,
ſah er einen ängſtlichen Zug auf Mariens Geſicht.
Er ſaß bald im Bügel, und das muntere Thier leicht
10 *
regierend begleitete er eine Strecke weit den Wagen.
Alsdann blieb er zurück, ritt langſamer und ließ den
Tag an ſich vorüberziehen. Die Nacht überholte ihn.
Er ſpornte nun wieder das Pferd, und in der Mei¬
nung, einen Umweg abzuſchneiden, ritt er quer über
die Heidefläche. So war er in Bianchi's Nähe ge¬
kommen.
Er ſchüttelte ſich jetzt, warf Holz nach in die
Glut und ſtarrte mit ſeinen ſchwarzen Augen ernſt¬
haft hinein. Was werden ſie denken, ſagte er bei
ſich ſelbſt, daß ich ausgeblieben bin! Was wird ſie
denken. Es iſt nun zu ſpät, einen Boten zu ſchicken,
und wen hätte ich auch? Sie wird zu Haus ſitzen
und nicht wiſſen, was dieſer Tag bedeuten mag. Oder
— Chi sa se mai! —
Dann wartete er wieder ſeines Dienſtes bei dem
Kranken, ging auf und ab und vertiefte ſich in den
Meduſenkopf, den der Feuerſchein warm anflog, der
Farbe des ſchwindenden Lebens täuſchend gleich, wo
das widerwillige Blut mit dem Todesſchrecken kämpft.
Das ergriff ihn mit Gewalt. Er mußte endlich die
Augen abwenden und entdeckte nun erſt auf dem dun¬
keln Sims des Kamins einige freche Figürchen, theils
nach verrufenen pompejaniſchen Bronzen, theils von
neuer Hand, in die Wette mit jenen zügellos und
lebendig. Daneben lag ein zerriſſenes, verſtaubtes
Exemplar des Arioſt. Danach griff er und las be¬
gierig. Es war das einzige Buch, das er entdecken
konnte.
So gingen die Stunden. Lange nach Mitternacht
ſtöhnte der Schlafende heftig auf und ſchlug mit den
Händen im Traum um ſich. Als Theodor ihm das
verſchobene Lager wieder zurecht rückte und die Decken
neu über ihn breitete, erwachte er vollends und fuhr
auf. Wie zur Gegenwehr taſtete er umher und rief
mit entſchloſſener Stimme:
Wer ſeid Ihr?
Ein Freund; erkennt mich nur! erwiederte Theodor.
Das iſt gelogen; ich habe keinen! ſchrie der Ver¬
wundete und ſtrebte in die Höhe. Der Schmerz an
den verbundenen Gliedern klärte ihn auf; er ſank
zurück und ſammelte ſich vollends. Eine Zeitlang lag
er ſtill. Dann ſagte er ſanfter:
Ihr ſeid's. Nun erkenn' ich Euch. Was thut Ihr
hier zu dieſer Zeit? Warum ſeid Ihr nicht nach
Haus gegangen? Seid Ihr anders, als andere Mut¬
terkinder, die im Wachen rechtſchaffen ſind nur um
einen ruhigen Schlaf zu haben? Geht! Ihr habt
Euern Schlaf verdient; warum bewacht Ihr meine
Träume?
Der Arzt will, daß Eure Wunden über Nacht
kühl gehalten werden. Ich konnt' es dem fremden
Menſchen nicht anvertrauen.
Seid Ihr nicht auch ein fremder Menſch?
Nein, denn ich thue es nicht um ein paar Paul.
Ich thu' es Euch zu Liebe.
Der Andere lag eine Weile ſtumm. Dann ſagte
er mit ſeltſamer Heftigkeit: Ihr thätet mir einen Ge¬
fallen, wenn Ihr ginget. Es iſt mir wie eine Krank¬
heit, wenn ſich ein Menſch um mich bekümmert, und
wenn ich danken ſoll, bin ich ungeſchickter, als ein
alter Mann, der einer Dirne aufwarten will.
Was geht mich Euer Dank an. Ich bleibe, weil
Ihr mich braucht. Könnt Ihr mich entbehren, ſo
ſollt Ihr nicht zu klagen haben, daß ich Euch beſchwer¬
lich falle.
Ich kann nicht ſchlafen, wenn ich Euch da ſitzen
und frieren weiß.
Der Andere ſchürte das Feuer. Ich hoffe, Ihr
ſpürt bis da drüben hin, daß mir warm ſein muß.
Nach einer Pauſe, in der der Kranke mit geſchloſ¬
ſenen Augen gelegen hatte, fragte er von neuem:
Ihr ſeid ein Lutheraner, Herr?
Ja.
Ich wußt' es, ſagte Bianchi vor ſich hin. Er
will die Kirche um eine Seele betrügen. Darum
thut er das Alles. Sie ſind nicht beſſer als wir.
Ihr redet im Fieber, ſagte Theodor nachdrücklich.
Redet was Ihr wollt.
Sie ſchwiegen jetzt eine lange Zeit. Theodor legte
nach wie vor friſches Eis auf, und Bianchi lag in¬
deſſen, das Geſicht nach der Wand gekehrt, regungs¬
los als ob er ſchliefe. Plötzlich, als Theodor wieder
mit ihm beſchäftigt war, warf er ſich herum und
ſtützte ſich auf. Mit dem verwundeten Arm haſchte
er nach Theodors Hand und hielt ſie mit ſeiner
heißen und ſagte leiſe und langſam: Ihr ſeid gut!
Ihr ſeid gut! Ihr ſeid ein Menſch. — Die Schwäche
übermannte ihn, er fiel aufs Stroh zurück und brach
in ein krampfhaftes Weinen aus. Als die Thränen
nachließen, ſchlief er von neuem.
Als er erwachte, brach helles Tageslicht durch die
Spalten des Ladens, daß eine ſonnige Dämmerung
um ihn war. Er ſah den Burſchen an ſeinem Bett
und den Arzt und hörte, daß Theodor am frühen
Morgen, da der Burſch gekommen, in die Stadt
hinunter gegangen ſei, ohne eine Wort von Wieder¬
kommen zu ſagen.
Den halben Tag verbrachte er ſo, unruhig, ſin¬
nend, hinaushorchend nach dem Flur. Ein paar
Mäuſe, die er gezähmt hatte und für die er ſonſt in
aller Noth und Drangſal Aufmerkſamkeit hatte, ka¬
men bis in die Mitte des Zimmers, blinzten ihn an,
pfiffen und ſchwänzelten, ohne daß er einen Blick
auf ſie warf. Der Burſch, der es nicht wußte, daß
ſie Hausrecht hatten, verſcheuchte ſie. Es pochte einer,
der einen Auftrag vom Kunſthändler brachte auf
ein Paar Ohrringe in rother Muſchel. Er ließ ihn
ohne Beſcheid abweiſen. Nicht anders einen Bild¬
hauer ſeiner Bekanntſchaft, dem das Gerücht des
furchtbaren Abenteuers zu Ohren gekommen und der
gutherzig genug war, den Einſamen aufzuſuchen.
Indeſſen war Theodor ſchon ziemlich früh die ſtei¬
nernen Stufen eines großen Hauſes hinaufgeſtiegen,
in dem Mariens Eltern wohnten. Der alte Diener
öffnete ihm. Die Herrſchaften haben Euch lange er¬
wartet geſtern Abend, ſagte er. Ich wurde nach
Eurer Wohnung geſchickt, aber Ihr waret nicht nach
Hauſe gekommen. Miß Mary meinte, wenn Euch
nur kein Unglück zugeſtoßen ſei, da Ihr zu Pferde
geweſen! Gottlob, Ihr ſeid ja wohlauf.
Theodor antwortete nicht. Er hörte von innen
Muſik, eine Beethoven'ſche Sonate. Plötzlich brach
ſie ab, ein Seſſel wurde geſchoben, ein Kleid rauſchte.
Als er eintrat, ſtand er vor Marien, die in der
Richtung nach der Thür mitten im Zimmer ſtehen
geblieben ſchien. Sie ſuchte nach Worten, ihre Wan¬
gen glühten. Da ergriff er haſtig ihre Hand mit
beiden Händen und ſah nun, daß ihre Augen ver¬
weint waren. Marie, ſagte er, ich höre, daß ich
Ihnen mehr abzubitten habe, als ich dachte. Sie
hatten Unruhe um mich! —
Sie verſuchte zu lächeln. Ich freue mich, daß es
unnöthig war, ſagte ſie. Sie werden verhindert wor¬
den ſein; es war thöricht, ſich gleich das Schlimmſte
zu denken. Ich will meine Eltern rufen.
Er hielt ſie dringend zurück. Sie haben geweint,
Marie —
Es iſt nichts; ich hatte eine ſchlechte Nacht, und
eben hat mich die Muſik in allen Nerven erſchüttert.
Er ließ ihre Hände los, ſie blieb auf derſelben
Stelle und ſtützte ſich auf die Lehne des Stuhls.
Ein paar Mal durchmaß er das Zimmer, dann blieb
er ihr gegenüber ſtehn. Er nahm wieder ihre Hände,
er ſtammelte ein Wort, dann umſchlang er ſie heftig.
Sie ruhte weinend, innig und ſelig in ſeinen Armen.
Wir wollen zu den Eltern gehn, ſagte Marie,
als ſie ſich aus dem Sturm der erſten Umarmung
wieder aufrichtete. Komm!
Sie faßte ihn ſanft bei der Hand. Er wäre gern
geblieben; es dünkte ihn, als werde ſie ihm wieder
entriſſen, wenn ſie unter Andern wären. Doch ließ
er ſich führen. Sie fanden die Eltern zuſammen im
Cabinet der Mutter. Als er eintrat, war es ihm,
als müſſe er ſeine Geliebte bitten zu verſchweigen,
was zwiſchen ihnen vorgegangen war. Er fühlte
ſich unfähig, darüber Rede zu ſtehn und Andern als
ihr ſelbſt in ſeiner Trunkenheit zu begegnen. Da hatte
ſie ſchon das Wort geſagt. Die Mutter, eine große
feierliche Frau, ſchloß ihn herzlich in die Arme. Wie
ſie auch ſonſt ein wenig förmlich war, konnte ſie auch
jetzt das freudige neue Schickſal nicht ohne einige
würdige Segensworte entgegennehmen, die, ſo herz¬
lich ſie gemeint waren, in Theodors Stimmung fremd
hineinklangen. Der Vater ſagte nichts; er drückte
ſeinem Eidam immer wieder die Hand und küßte
die Stirn ſeiner Tochter.
Theodor erzählte nun die Ereigniſſe des letzten
Abends. Marie lehnte an ſeiner Bruſt und ſchlang,
als er von dem Kampf erzählte, den Arm ängſtlich
um ihren Geliebten, wie um ſich zu verſichern, daß
Alles vorbei ſei und ſie ihn ja ſicher beſitze. Die
Mutter gab ihr einen Wink, der dem jungen Manne
nicht entging. Da entzog ſie ihm den Arm und ſaß
nun neben ihm, ohne ihn zu berühren. Er empfand
es peinlich; er fühlte auch, als er nach einigen Stun¬
den gehen mußte und ſie an der Schwelle der Thür
noch einmal von Herzen küßte, daß ſie es ſcheu er¬
wiederte und ihm zuerſt ihre Lippen entzog. Er ging
mit einem wunderlichen Gefühl, einen Druck auf
dem Herzen, eine widerwillig gedämpfte Glut in
allen Pulſen. Draußen ſtand er unter der Pforte
ſtill. Die Straße war menſchenleer; er kühlte ſich
die Stirn an dem ſteinernen Pfoſten, ſtreckte die
Arme aus, als wolle er ein Stück des Himmels
herabziehn und an ſeine Bruſt preſſen, und ging dann
etwas ruhiger den Weg zum Tritonen.
Eine leidenſchaftliche Röthe ſchlug in Bianchi's
erloſchnen Wangen auf, als er Theodors Schritt
draußen vernahm. Er richtete ſich auf und ſah ihm
feſt und voll entgegen, da er eintrat, größer und
männlicher, als er ihm geſtern erſchienen. Theodor
näherte ſich dem Kranken und ſagte: Ihr ſeid erholt,
Bianchi, und der Arzt iſt zufrieden. Haltet Euch
ruhig, ich bitt' Euch. Mich laßt ein wenig auf und
ab gehn; meine Gedanken ſind noch in Tumult und
meine Sinne wollen ſich treiben.
Er ſagte ihm nicht, von wo er kam, nicht, daß
er vor wenigen Stunden ſein Schickſal an ein Weib
gebunden hatte. Aber es lag eine Glorie um ihn,
von der Bianchi die Augen nicht abwenden konnte.
Er hatte den Hut abgelegt und den Mantel über die
eine Schulter geſchlagen. Der Kopf ſtand frei auf
der breiten Bruſt, die kurzen krauſen Haare ein wenig
geſträubt, die Stirn ausgearbeitet und edel. So den
Blick nach innen gewendet, die Arme überm Mantel
zuſammengelegt ſchien er faſt die Abſicht ſeines Be¬
ſuchs zu vergeſſen, ging auf und nieder, ſtieß mit
dem Fuß an die brennenden Scheiter und ſah ins
Feuer. Endlich wandte er ſich und ſagte: Erzählt
mir von Euch, Bianchi!
Was wollt Ihr wiſſen?
Der Ton dieſer Frage, zweifelhaft, faſt argwöh¬
niſch, und doch ergeben und willfährig, berührte
Theodors feines Ohr. Er ſchob einen Stuhl neben
das Lager, faßte Bianchi's Hand und ſagte: Nichts
will ich wiſſen, als wie Ihr Euch fühlt; und wenn Ihr
zum Sprechen keine Laune habt, ſo ſagt mir's Eure
Hand, die nur einen gelinden Reſt von Fieber verräth.
Er fühlte den Druck dieſer Hand, die ſich ihm
darauf verlegen entzog.
Ihr werdet bald ſo weit ſein, daß wir auf Nie¬
wiederſehn von einander gehn können. Vorläufig
findet Euch noch in meine Zudringlichkeit; denn Ihr
müßt wiſſen, daß ich nicht geſonnen bin, einen Künſt¬
ler, wie Ihr ſeid, durch einen plumpen Burſchen
umbringen zu laſſen.
Wie ich bin! und er lachte ſchmerzhaft. Wißt
Ihr, wie ich bin? Wer weiß es? Ein Tagelöhner
bin ich, der Muſcheln ſchnitzelt mit Weibergeduld für
Weiber, daß ſich ſeine geſunden Arme ſchämen, wenn
ſie einem Stück Marmor begegnen. Nun, es iſt viel¬
leicht geſtern dafür geſorgt worden, daß die armen
Krüppel ſich nichts mehr vorzuwerfen haben.
Ihr redet wunderlich. Als ob nicht auf zwei
Zollen Raum genug für den Geiſt wäre, der ſich
zuweilen in zwei Worten ausſpricht.
Für den Geiſt vielleicht; aber ſchwerlich für die
Form.
Ihr müßt das erfahren haben, ſagte Theodor. Aber
ſeid Ihr gezwungen, zu thun, was Euch widerſtrebt?
Der Kranke warf einen ruhigen Blick auf die
nackten vier Wände und ſagte: An ſo viel Luxus als
Ihr da ſeht, bin ich gewöhnt. Ich habe freilich ſchon
einmal dran gedacht, draußen auf dem Platz ein
großes Stück anzufangen, am Brunnen Mittags
meine Artiſchocken zu eſſen und Nachts zu Füßen
meines Werks zu ſchlafen. Aber man iſt weichlich
und ſcheut das Wetter, und feige und ſcheut das
Gerede. Ueberdies kann ich den Wein nicht entbeh¬
ren, noch die Weiber.
Wenn Euch aber Gelegenheit würde, Euch mit
aller Sorgloſigkeit an einen Marmor zu machen —
Der Kranke richtete ſich ungeſtüm auf. Wißt Ihr
was Ihr anrichtet mit Eurer leichtſinnigen Frage? rief
er und ſeine Augen funkelten. Da ſeht in die Ecke!
Dahin hab' ich Alles über einander geworfen, was
mir zuweilen mit ſolchen Fragen kam. Der Staub
begräbt dieſe vorlauten Schreier nach und nach, und
meine Augen wiſſen ſchon, daß ich's ihnen nicht ver¬
geben kann, wenn ſie da herumgehn. Und ich war
Narr genug und laß mich wieder gelüſten, da es hieß,
man ſolle Entwürfe einliefern zum Monument des
verſtorbenen Papſtes. Ein paar Wochen ſeh' ich und
ſinn' ich nichts anders und bracht' es zu Stande mit
allem Feuer und war ſelbſt zufrieden mit meiner Sache.
Ich Narr, mir was einzubilden! Das war geſtern.
Ich ſchlag' es in ein Tuch und trag' es ſelbſt den
weiten Weg zum Cardinal Staatsſecretair; denn meine
Seele hing dran und ich ſorgte, ein Andrer möcht's
zu Falle kommen laſſen. Nun muß ich erſt dem Schlin¬
gel von Bedienten gute Worte geben und meinen
letzten Scudo, daß er mich nur vorläßt. Drinnen
war es dann ſchwarz und roth und violett von geiſt¬
lichen Strümpfen, und ſie beſehn mich von oben bis
unten, weil ich ſo im einfachen Rock aus der Werk¬
ſtatt weggerannt war. Ich denke: Laß ſie gaffen!
mache mir einen Muth und trete mit meinem Com¬
pliment und Werk vor die Eminenz. Ich ſah gleich,
daß er ungnädig war und ſeine Nächſten ſchon die
Mißlaune gekoſtet hatten. Nun erklär' ich kurz, um
was ich gekommen und bitte, meine Skizze zeigen zu
dürfen. Der Alte nickt, wie's ſeine Art iſt, wirft
einen halben Blick auf die Figuren, die mir unter
den Schranzen doppelt anſtändig ſchienen, und ſagt:
Nicht übel; aber geht nicht, geht nicht! fehlt die No¬
bleſſe, mein Sohn, und der Hinblick auf die heilige
Kirche! Tragt es heim und ſchmelzt es um. Der
Thon iſt ja noch naß! — Ich ſtand wie in einem
Tollhaus. Umſchmelzen, als ob meine feſten Gedan¬
ken Brei wären! — Indem ich ſo keines Wortes mäch¬
tig bin, treten die Monſignori heran, ſetzen die ge¬
lehrte Brille auf und tadeln hinten und vorn, daß
keines Nagels Breite ohne Schimpf beſteht, wie wenn
der alte Wolf ein Schaf halb todt gebiſſen hat und
läßt es danach ſeinen Jungen, daß ſie ihre Milch¬
zähne dran durchbeißen. Hätt' ich reden können und
ſagen, was mir Alles während des Arbeitens durch
den Kopf gegangen, vielleicht daß der Alte andre
Augen gemacht hätte, denn es ſoll ein guter Verſtand
in ihm ſein. Nur war er gerade um die Stunde
grämlich aufgelegt und ließ Alles über mich ergehn.
Es ward mir endlich des Schwatzens zu viel, dieſes
Geſchwirrs von bunten Kinderbolzen, von denen kei¬
ner die Sache traf und jeder den Mann; denn es
prickelte mich wie lauter Nadeln. Ein Andrer hätte
ſich lächelnd geſchüttelt und vielleicht das Feld be¬
hauptet. Ich aber — woher ſoll ich's haben? Mein
Vater machte nicht viel Redens über ſeine Cameen,
und wie er todt war, war's in Rom nicht lauter und
nicht ſtiller. Und ich bin immer den Gelehrten aus
dem Wege gegangen. So macht' ich mich auch dies¬
mal von ihnen fort und verſchwor's, je wieder mit
ihnen anzubinden. Wie ich nach der Ripetta hin¬
unterkam, grimmte mich's und ich warf meine Skizze
in den Tiber. Der mag ſie umſchmelzen, ſagt' ich
und war erleichtert in mir, daß mich's trieb, ſpazieren
zu gehn in die Campagne. Da habt Ihr mich ge¬
funden.
Ihr ſollt den Gelehrten nicht entgehn, ſagte Theo¬
dor nach einer Pauſe ſcherzend, um den Andern, der
in ein Brüten verſank, wieder auf die Gegenwart
zurückzulenken. Ihr hattet ein ſichres Gefühl, als
Ihr Euch gegen meine Nähe ſträubtet. Denn ich bin
hier in Rom, um in Pergamenten zu kramen und
verſchollene Dinge auszugraben, denen Wenige nach¬
fragen, Geſchichten der alten Städte Italiens, Staats¬
verhandlungen und Rechtsurkunden. Und ſo ſind wir
doppelt geſchiedne Leute.
Ihr mögt ſein und thun was Ihr wollt, ſagte
Bianchi lebhaft und halb für ſich. Ihr ſeid gut und
ſchön und ein Deutſcher.
Ihr kennt die deutſche Gelehrſamkeit nicht. Sie
iſt entſetzlicher, als die römiſche. Mir ſelber graut
gelegentlich davor. Schwache Seelen kann ſie ſo
furchtbar anblicken, daß ſie davon verſteinern, wie
jene armen Schelme, die der Meduſe ins Geſicht
ſahen.
Der Meduſe?
Ihr müßt ſie ja beſſer kennen als ich. Habt Ihr
ſie nicht auch dort in den Winkel geworfen, und viel¬
fach angefangen und halb vollendet in Muſchel ge¬
ſchnitten auf dem Tiſche liegen?
Ich weiß nicht viel davon. Schon als Knabe
gab mir mein Vater eine Paſte, danach ich arbeitete.
Ich liebte den Kopf, weil ich wenig Freude hatte
und mich der finſtre Tod in dem ſchönen Weibe lockte.
Hernach ſah ich das Rundbild in Villa Ludoviſi
und hatte nicht Ruhe, bis ich's zu Haus ſo gut ich's
behalten, nachgeformt hatte. Es iſt menſchlicher und
heftiger dort, als bei den Griechen, wo's zur Larve
geworden iſt. Ich habe nie danach gefragt, was ſie
davon fabeln, und leſen widerſteht mir.
Wenn es Euch recht iſt, leſ' ich Euch die Ge¬
ſchichte vor, wie ſie ein alter Poet erzählt hat.
Thut's, und bald, und — wann kommt Ihr wie¬
der? fragte er, als Theodor aufſtand.
Heute Nacht, ſagte der junge Mann. Aber nicht
um vorzuleſen. Denn Ihr ſeid noch nicht aus der
Cur. Ich will nichts hören; ich weiß was Ihr ſagen
wollt. Aber ein Kranker hat keinen Willen. — —
Als er auf die Nacht wiederkam, fand er Wein
auf dem Tiſch und einen bequemen gepolſterten Seſſel
am Kamin. Bianchi ſchlief, und der Burſch flüſterte
ihm zu, daß er den Wein aus der Oſterie holen und
den Seſſel von einer Nachbarin habe entlehnen müſſen.
Erſt als Beides angeſchafft, habe ſich der Herr be¬
ruhigt und ſei entſchlafen.
Am folgenden Abend las Theodor aus einem ita¬
liäniſchen Ovid, wie er verſprochen hatte. Er ſah
zuweilen übers Buch weg nach Bianchi, deſſen Augen
ſtill an der Decke hingen. Kein Wort gab er von
ſich. Die ruhige Stimme Theodors ſchien ihn zu be¬
zaubern, die Märchen, die er hörte, ihn im Innerſten
11
aufzuregen. So las der Andere immer fort. Als
er dann aufſtand, ſeufzte Bianchi und rief: Ihr geht?
Ihr wißt nicht, wie ich genoſſen habe. Dieſe Ge¬
ſchichten waren mir wie verſtümmelte alte Steinfigu¬
ren, die Glieder verzettelt, der Kopf weit vom Rumpfe
und alle Umriſſe verwittert oder zerſtört. Während
ihr laſet, fügte ſich's von ſelber zuſammen und ſteht
nun ganz vor mir. Hätt' ich meine heilen Glieder!
Es zuckt mir in den Fingern, ein Stück Thon zu
kneten. Aber das ſoll nicht ſein, und Ihr geht —
Ihr lächelt? Ich rathe, wohin Ihr geht. Genießt
denn Eure Jugend. Aber ich bedenke nun erſt, um
was für Nächte ich Euch gebracht habe!
Sie waren einſamer als hier, und wohin ich gehe,
rathet Ihr nur halb, Bianchi. Ich mache zwei alten
Leuten den Hof und nur dann und wann ſtreift die
weiche Hand ihrer ſchönen Tochter heimlich meinen
Arm. All mein Genuß iſt Schauen und Hoffen.
Und Ihr könnt das ſo gelaſſen eingeſtehn und
knirſcht nicht vor Ungeduld und Verlangen? Ich hatt'
einmal ſo eine fruchtloſe Verliebtheit. Wie ein Wurm
wand ich mich am Boden und verfluchte meine Au¬
gen, die mir den Poſſen geſpielt hatten.
Ich ſegne ſie, und wenn ich ähnliche Tollheiten
in meinem Blut ſpüre, lüfte ich meine dumpfen Sinne
im Freien, das Forum auf und ab, oder zu den
Kapuzinern hinauf, wo nun Schnee um den Stamm
der Palme liegt. Sie muß den Winter auch über¬
ſtehen, ſo gern ihr ſommerlich zu Muth wäre.
Könnt Ihr's läugnen, daß es Euch dennoch mehr
plagt und verzehrt, als der ganze Bettel werth iſt?
Es macht uns müßig und weibiſch und das iſt das
Schlimmſte. Wenn wir nicht die Narren wären, uns
ins Unmögliche zu vergaffen — Alles wäre gut, Eine
ſo gut wie die Andere, wenn ſie hübſch iſt und zu
haben.
Ich denke nicht. Ich brauch' eine Andere als
jeder Andere, wenn ich ihr nicht um jeder Andern
willen davon laufen ſoll.
Wer ſpricht auch davon?
Ich denke wir Beide.
Ich nicht, erwiederte Bianchi. Ich konnte mir
nicht einfallen laſſen, daß Ihr Euch ſo ſchlecht auf Eu¬
ern Vortheil verſteht, mit dieſem Geſicht und dieſen
Jahren.
Darauf ſchwieg er verſtimmt. Laſſen wir das
ſein wie es ſein will, ſagte Theodor heiter, und Je¬
der ſorge für ſich und freue ſich, wenn der Andere
auf ſeine Weiſe ſich ein gutes Leben ſchafft.
Sie ſprachen in Zukunft nicht wieder über dieſen
Punkt; Bianchi ſchien ihn durchaus vergeſſen zu ha¬
ben, Theodor rührte ihn nicht an. Die alte Herbig¬
keit und Wildheit des Kranken kam ihm wieder, je
mehr die Wunden heilten, und jene einzelnen Spu¬
11 *
ren von Weichheit, die er ſeinem Freunde gezeigt,
vergingen für immer. Er vermied es, ihm die Hand
zu reichen, er ſprach nie von ſich ſelbſt und ſeinen
Stimmungen, fragte nie nach Theodors Thun und
Treiben und ſeinem früheren Leben und nannte ihn
kaum einmal bei Namen. Doch wehrte er nichts von
Theodors Seite ab, nicht ſein häufiges Kommen, nicht
die kleinen Erfriſchungen, die er ihm brachte. Nur
einmal, als er in einem Körbchen Früchte ſah unter
den erſten Veilchen, mit jener Aufmerkſamkeit geord¬
net, wie ſie nur eine Frauenhand ſolchen Dingen zu¬
wendet, ſtellte er das Geſchenk kalt und ohne ein
Wort zu ſagen auf den Sims des Kamins neben
jene unſaubern Figürchen. Theodor ſchwieg; aber als
er ging, nahm er den Korb zu ſich, wie er ihn ge¬
bracht hatte.
Uebrigens fuhr er fort, ihm vorzuleſen, Dichter
der Alten, Stücke aus Dante und Taſſo, endlich auch
aus Macchiavelli. Es fiel ihm auf, als ſie auf po¬
litiſche Dinge zu reden kamen, daß Bianchi ſich mit
Heftigkeit zu tyranniſchen Grundſätzen bekannte, wie
Alle thun, die an ſich wenig Freude haben und die
Menſchen verachten. Sie ſtritten dann leidenſchaft¬
lich und unfruchtbar. Um ſo näher begegneten ſich
ihre Meinungen und Gefühle, ſobald es ſich um künſt¬
leriſche Dinge handelte. Bianchi konnte nun ſchon
wieder am Stock ſich bis zum Tiſche ſchleppen und
ſeine Arbeiten wieder aufnehmen. Während er dort
ſaß und ſeine Köpfe ſchnitt oder eigne kleine Com¬
poſitionen in Wachs bildete, um ſie nachher zu ſchnei¬
den, las ihm Theodor aus dem Homer. Die Göt¬
ter, deren Bilder, im weiten Rom verſtreut, ihm ſo
lange nur ſchöne Leiber geweſen, von verworrnen
Begriffen dürftig belebt, wachten nun klar in ihm auf.
Es war, als faſſe er jetzt erſt die Welt, in der er im
Traum herumgegangen, offen ins Auge. Und nun
wuchs die Begier, wieder hinauszugehen und das
Alles leibhaftig aufzuſuchen, was er ſich in der Phan¬
taſie neu und zum erſten Mal angeeignet hatte. —
Die Mandeln blühten röthlich in den Gärten am
Monte Pincio, als er zuerſt wieder an der Brüſtung
ſtand und über das weite Rom zu den Höhen hin¬
überſah. Unten lag die Stadt laut und ſonnig, der
Strom blinkte herauf, von der Engelsburg flatterten
die großen Wimpel der Standarten im Winde, der
weich vom Meer herüberkam, und über der Runde
ſpannte ſich das zarte feine Blau des römiſchen März¬
himmels. Bianchi ſtützte ſich auf den Stock und
ſah finſter unter den Augenbrauen hervor, wie er that,
wenn er ſich gegen ſein eignes Herz wehrte. Auch
Theodor ſtand in tiefen Gedanken. Endlich wandte
er den Blick von der Ferne ab, ſah Bianchi ernſthaft
an und ſagte: Ihr ſeid wieder geneſen; noch wenige
Tage, ſo werdet Ihr da unten in der Ripetta in Euer
neues Studio ziehen, und ich denke, wir bleiben wohl
noch ein Stück Zeit zuſammen, wenn ich auch meine
Arbeiten nachdrücklicher weiterführen und die Freude,
mit Euch zu ſein, beſchränken muß. Es fügt ſich
nun, daß mir ein Vorwand kommt, Euch öfter auf¬
zuſuchen, als ſonſt vielleicht erlaubt wäre; wenn Ihr
anders darauf eingehen wollt, das neue Studio mit
einem Werk einzuweihen, an dem mir ſelbſt viel ge¬
legen iſt. Die Sache iſt die. Eine Familie, der ich
befreundet bin, hat ſich hier niedergelaſſen, vielleicht
auf immer. Der Mann, ein Deutſcher, lebte früher
in England, heirathete eine Engländerin und ſie
brachte ihm zwei Kinder, einen Sohn und eine Toch¬
ter. Der Sohn, der an der Schwindſucht litt, ſollte
hier das Letzte zu ſeiner Rettung verſuchen, und ſo
ſiedelte die Familie über. Ich habe den jungen Men¬
ſchen geliebt, wie Alle, die ihn kannten, und kann es
noch nicht verwinden, daß ich ſo viel Reiz und Adel
drüben bei der Ceſtius-Pyramide in die Erde ver¬
ſenken ſah. Das war im vorigen Winter. Nun wol¬
len die Eltern ihm einen Stein am Hügel aufrichten
mit einem Bildwerk, das ſein Weſen bezeichnet und
ſein Andenken ehrt. Ich wüßte Keinen, dem ich dies
Werk lieber anvertraute, als Euch.
Ihr könnt auf mich rechnen, Teodoro, ſagte der
Bildhauer. Ich will ſehn was ich kann.
Wollt Ihr nicht die Eltern kennen lernen und
ihnen abhören, in welchem Sinne ſie das Denkmal
ausgeführt wünſchen?
Der Andere ſchwieg eine Weile. Nein, ſagte er
dann ruhig, ich mag keine Bekanntſchaften und keine
Thränen. Ihr habt ihn lieb gehabt, das iſt genug;
ich mach' es für Euch. — Ihr dürft mir das nicht
verdenken, fuhr er nach einer Pauſe fort; ich tauge
da nicht hin. Wer mich haben will, muß mich über¬
fallen wie den Bären in der Grube; wo ich nicht
entrinnen kann, ſetz' ich mich faſt manierlich auf die
Hinterfüße und brumme mein Wort mit drein. Aber
auch das verhütet noch. Laßt mich machen. Ich will
nichts ſagen und zeigen, bis der Entwurf ſo weit
gediehen iſt, daß auch Laien einen Eindruck haben.
Hernach mögen ſie kommen.
Sie ſprachen von andern Dingen; Bianchi wurde
immer heller und faſt übermüthig, während auf Theo¬
dors Geſicht ein Schatten lag. So blieben ſie den
Tag zuſammen, und es war Beiden wie Abſchied zu
Muth; denn zum erſten Mal umgab ſie der offne
gemeinſame Tag, Lärm der Wagen und Gewühl la¬
chender Spaziergänger. Bianchi nahm Theodors
Arm nicht an. Langſam ging er neben ihm, Frauen
und Mädchen muſternd, deren Viele ihn zu kennen
ſchienen, und hie und da einem Bekannten zunickend,
ohne zum Anreden einzuladen. War er vorüber, ſo
blieben die Leute ſtehn, flüſterten, zeigten nach ihm,
und ſahen ihm mit einer Miene, in der ſich Mitleid,
Reſpect und eine Art von Grauen miſchten, eine
Strecke weit nach. Er ſelbſt ſchien das nicht zu ge¬
wahren; er ſah nur voraus, oft über die Menſchen
fort nach den Villen vorm Thor und der Campagne
dahinter, und ſeine Augen blitzten. Woran denkt Ihr?
fragte Theodor. — Ich denke, wie meine Mäuſe das
Schickſal überſtehen werden, daß ihnen der Palazzo
überm Kopf abgetragen wird und über kurz der Him¬
mel in ihre Heimlichkeiten und Schlupflöcher eindringt.
Ich weiß, ſie haben Familie bekommen. Arme Tröpfe!
das lebt ſo lange unter Einem Dach mit einem, ohne
einem was abzulernen. Wie mir zu Muth iſt, daß
ich arm und frei und allein bin und meinen Umzug
auf einem Karren zu Stande bringen kann! — Er
ſtreckte ſeine Arme aus und wiegte ſie ſo in der Höhe,
als biete er ſie jeder Laſt, die ihrer warte. Er ſah
jünger und friſcher aus als je.
Am Abend bat er Theodor, ihn in eine Schenke
zu begleiten, in der er vor ſeiner Verwundung manche
Nacht zugebracht habe. Ihr ſollt erführen, was gute
römiſche Geſellſchaft iſt und ein Reſt beſſerer Ge¬
ſchlechter, ſagte er. Sie ſind ein wenig mißtrauiſch
gegen fremde Elemente, die ſo hineinſchneien, ohne
zu wiſſen was ſie wollen, oder gar, die's nur zu gut
wiſſen. Das ſoll ja in vornehmen Häuſern nicht
viel beſſer ſein. Laßt ſie treiben was ſie wollen und
trinkt Euern Wein, ohne viel Weſens zu machen.
Mir geht Manches hin, auch wenn ich einen Deut¬
ſchen mitbringe, denn ſie halten was auf mich.
Er führte ihn einige Gaſſen weit vom Tritonen
nach der prächtigen Waſſerkunſt des Bernini, der
Fontona di Trevi, hinunter. Gegenüber der hohen
Grotten- und Niſchenfaçade, in deren Mitte der
Waſſergott über den künſtlichen Felſen ſteht und die
Bäche beherrſcht, die von allen Seiten in die tiefe
Schale vorbrechen, ſtand ein niedriges altes Haus,
über der Thür eine trübe Laterne. Sie traten in
den geräumigen Flur ein, der die ganze Breite des
Hauſes einnahm und zum Schenkzimmer hergerichtet
war. Hinten ſchlug das Herdfeuer vor der geſchwärz¬
ten Wand auf und zur Rechten führte eine Treppe
nach dem obern Geſchoß. An Geräth war nichts zu
ſehn als Bänke und Tiſche, deren ſich eine bunte
ſchweigſame Geſellſchaft bemächtigt hatte. Ein Burſch
trug die Schüſſeln mit geröſteten Fiſchen, Salat und
Maccaroni auf und verſchwand von Zeit zu Zeit
durch eine Fallthür, aus der er mit friſch gefüllten
Flaſchen wieder auftauchte.
Ein freudiger Ausruf ſchallte aus der Tiefe der
Halle herüber, als die Beiden eintraten. Eccolo! rief
eine ſtattliche Frau und drängte ſich durch bis zur
Thür, die Hände an der Schürze trocknend, eccolo!
Tauſendmal willkommen, Sor Carlo! und ſie reichte
ihm herzlich die Hand. Ein Mezzo vom Frascati,
Checo, vom neuen, der geſtern angekommen. Sieh,
ſieh, Sor Carlo! Von wem, glaubt Ihr, daß ich
eben mit meinem Domenico geſprochen habe, eben in
dieſem Augenblick, und ſagte ihm: Domenicuccio,
ſagt' ich, du biſt ein Bärenhäuter und Taugenichts,
daß du nicht einmal nachfragſt, wie es unſerm Sor
Carlo geht. Denn ich, wie du weißt, habe alle Hände
voll und Kinder, Gäſte und dich ſelber zu bedienen,
du Tölpel. Aber es dünkt mich tauſend Jahr, bis ich
ihn wiederſehe — der brave Junge, der er iſt. — Lalla
mia, ſagt' er, morgen will ich hinauf, und, ſagt' er,
wenn du willſt, Lalla, eine Kleinigkeit von dem neuen
Wein würd' er nicht verſchmähen, ſo ein Bariletto,
ſagt' er. — Ich aber: Nun, ſag' ich, Cuccio, das iſt
noch der geſcheiteſte Einfall, den du die zehn Jahre,
daß wir verheirathet ſind, gehabt haſt, und eben tritt
der Girolamo, der Carretiere, dazu, und ſagt, daß
er Euch heut auf dem Pincio geſehn, und ich ſage
noch: Gelobt ſei Gott! ſo dauert's nicht lang und
wir ſehn ihn auch! — Da macht Ihr die Thür auf
und ſteht vor mir, und wahrhaftig, es hat Euch gut
gethan, Ihr ſeid ſchöner geworden, Sor Carlo; ich
wollt's dem Girolamo nicht glauben, aber die Ma¬
donna hat ein Wunder gethan, ich habe nicht um¬
ſonſt meine Roſenkränze für Euch gebetet.
Alſo Euch hab' ich's zu danken, Sora Lalla, daß
mich die Tollwuth verſchont hat und Alles nur auf
ein bischen Lahmheit hinausgelaufen iſt. Ihr habt
die bravſte Frau in Rom, Domenico, eine Heilige,
einen wahren Schatz von Gnaden-Gaben! Ja, da
bin ich wieder! und er ſchüttelte dem Wirth, einem
etwas ſchwerfälligen zuthulichen Burſchen kräftig die
Hand. Und hier der Herr, daß Ihr's wißt, iſt mein
Freund, der mich den Beſtien aus dem Rachen ge¬
holt hat. Aber hola! da drüben ſitzt mein edler Gigi
und ißt und trinkt und kann ſeine Kehle nicht ein¬
mal zu einem „guten Abend“ abmüßigen. Schämt
Euch, Gigi; alte Freunde, und eine ſo kalte Manier
ſich wiederzuſehn, wenn einer wie San Lazzaro auf¬
erſtanden iſt von den Todten!
Er hat mehr als Alle nach Euch gefragt, Sor
Carlo, flüſterte die Wirthin, und konnt' eine Woche
lang nicht ein Glas 'runterbringen, wenn auf Euch
die Rede kam. Er ſcheute ſich nur, Euch zu beſuchen.
Der, von dem die gute Frau ſprach, ſaß an einem
der mittleren Tiſche, feſt gegen die Wand gelehnt,
und ſchob große Biſſen in den Mund. Er war wohl¬
beleibt, der kahle Kopf mit einem Käppchen bedeckt,
ſein ſchwarzer Rock bis an den Hals zugeknöpft, ſein
Benehmen von einer gewiſſen Feierlichkeit, die ihn
unter den Andern auszeichnete, ohne daß er ſich
überhob.
Bianchi trat zu ihm und grüßte über den Tiſch
mit Händewinken. Theurer Sor Gigi, ſagte er, laßt
Euch nicht ſtören! wir kennen einander. — Er ſah
nun erſt, daß die Augen des würdigen Mannes feucht
ſchimmerten und daß er nur im Eſſen fortfuhr, um
ſeine verlegene Freude nicht offenbar zu machen. Er
iſt ein Sänger, raunte Bianchi ſeinem Begleiter zu,
der ſich zu den Kirchen hält und bei Feſten mitſingt.
Sie haben ihn ſcheeren wollen, weil er Bildung hat
und was vorſtellt; aber er hat ihnen die Feige ge¬
boten. Das ſind Alles freie Leute, ſo viel hier ſitzen.
Kommt, mein Freund Gigi macht uns Platz neben ſich.
Indeſſen kam der Burſch, fegte mit einem nicht
ſehr ſaubern Tuche die Tiſchplatte und ſtellte die
große offne Flaſche vor die Beiden. Theodor nahm
Platz, während Bianchi noch hie und da Hände zu
drücken und neugierigen Fragen zu antworten hatte.
Eine qualmende Meſſinglampe leuchtete mit ihren
drei rothen Flämmchen über den Tiſch. Der junge
Mann brauchte einige Zeit, ſich an den Dunſt und
Tabacksdampf, durch den der Geruch des ſiedenden
Oels hinzog, zu gewöhnen. Bald aber vergaß er
Alles über dem Anblick eines auffallenden Paars, das
ihm gegenüber am Tiſch ſaß. Es war ein junges
Mädchen in der Tracht derer von Albano; die rothe
Jacke umſchloß knapp den eben erſt gereiften Buſen,
darüber war das Spitzentuch gefaltet und große ſil¬
berne Nadeln hielten über den Flechten das flache
weiße Tuch feſt, das die Form des Kopfes nicht ver¬
barg. Das Geſicht ſtand im erſten Flor der Jugend,
Schönheit und Geſundheit, drei Tugenden, die in
jenen Gegenden gern zuſammenhalten; nur war der
Ausdruck des Mundes von einer ſcheuen Weichheit
und Hingebung, faſt willenlos und ſchmerzlich, und
die großen Augenlieder bedeckten die Augen ganz,
daß nur ein ſchmaler funkelnder ſchwarzer Streif
verrieth, daß ſie wache.
Sie aß von dem Teller vor ihr, langſam und
theilnahmlos, und trank ein wenig vom Wein, und
ihre braune Wange glühte immer in gleichem Feuer
fort. Neben ihr ſaß eine Alte in römiſcher Tracht,
lebhaft um ſich blickend, aber ſchweigſam und ganz
mit ihrem Wein und Eſſen beſchäftigt, das ſie gierig
genoß. Sie hatten nicht das Geringſte mit einander
gemein und ſchienen doch zu einander zu gehören.
Als Bianchi endlich dazu kam, ſich auf ſeinen
Platz zu ſetzen und eben das erſte Glas geleert hatte,
fuhr er mit einem faſt komiſchen Erſtaunen zurück
und rief: Madonna ſanta! welch eine Schönheit!
Wie kommt Ihr zu ſolch einer Nachbarin, Sor Gigi!
Eine Nichte von Euch? Oder gar ein vergeſſenes
Kind, das Euch eines ſchönen Tags vor die Augen
gekommen? Geſegnet ſei ihre Mutter!
Chè, chè! ſagte der Sänger ernſthaft. Ich wollte,
Ihr hättet Recht. Fragt ſie ſelbſt, woher ſie kommt.
Mir hat das Zuckermündchen nicht Rede ſtehn wollen.
Bianchi warf einen ſcharfen Blick auf die Alte
und brummte vor ſich hin: So! ſo! Ich denke, wir
kennen uns. Die Alte ward es inne und indem ſie
den Reſt ihrer Flaſche in ihr Glas goß, ſagte ſie:
Ein blödes Ding, meine Herren, ein armes blödes
Waiſenkind, war bei ſchlechten Leuten drüben im Ge¬
birg, als ich ſie dort fand, und mich dauerte der
jungen Creatur. Wie leicht wird eins verdorben,
wenn es in unrechte Hände kommt! Ich nahm es
denn mit nach Rom, um Jeſu Barmherzigkeit willen,
und halt' es hier, ſo gut's eine arme Alte kann, in
allen Ehren und Tugenden, das arme Ding! Schlag
die Augen auf, Caterina, wenn die Herren mit dir
reden wollen.
Das Mädchen gehorchte und ließ ihre großen
ſtillen Augen einen Moment auf Bianchi ruhen, um
ſie ſogleich wieder zu ſenken. Der Künſtler hob ſich
halb empor auf ſeinem Sitz und bog ſich zu ihr
hinüber.
Du heißt Caterina? ſagte er.
Ja, Herr! erwiederte ſie mit einer tiefen aber wei¬
chen Stimme.
Wie alt biſt du?
Achtzehn Jahr.
Du wirſt einen Liebſten in Albano zurückgelaſſen
haben, oder mehr als Einen.
Sie ſchüttelte den Kopf. Was Ihr redet! fiel die
Alte haſtig ein, eine Jungfer iſt's, ſag' ich Euch, und
ſie nickte bekräftigend, ja, ja, ein Ding ſo unſchuldig
wie Chriſti Blut. Hätt' ich mich ſonſt ihrer ange¬
nommen?
Nun, nun! wenn ich's glaube, glaub' ich's ihrem
Geſicht und nicht Eurem, Mutter. Kann ſie tanzen?
Der Herr hier iſt ein Fremder, und ich gönnt' es
ihm, daß er einen braven Saltarello kennen lernte.
Theodor ſagte einige Worte, daß ihm ein Ge¬
fallen geſchehen würde. Die Alte winkte der Wirthin;
Caterina ſtand ſtillſchweigend aus. Bald waren die
nächſten Tiſche zurückgeſchoben, daß ein geringer Raum
frei wurde, und Lalla brachte das Tamburin. Wäh¬
rend die Alte ſich in einem Winkel damit zurechtſetzte,
die übrigen Gäſte der Schenke einer nach dem an¬
dern herankamen und der Burſch, der die Gäſte be¬
dient hatte, ſich zum Tanz anſchickte, flüſterte Bianchi
dem Freund ins Ohr: Seht dieſe Geſtalt und die
Feinheit der Hände und Füße, und wie ſie ſteht, ein
vollkommnes Gewächs, wie ich keines ſah, tadellos
bis zu den allerliebſten Ohren, und weiß noch nicht
viel von ſich. Daß ich's dem Checo laſſen muß, mit
ihr zu tanzen! ich verſtand es ſonſt wohl leidlich. Aber
nun beſchwör' ich Euch, thut Alles auf, was Auge
an Euch iſt. Ein Wunder will ſich begeben.
Theodor bedürfte der Erinnerung nicht. Er lehnte
gegen einen Tiſch und verwandte keinen Blick von
Caterina. Bei den erſten heftigen Tönen des Tam¬
burin begann das Mädchen den Tanz. Lalla ſtand
neben der Alten und klapperte und ſchnalzte mit den
Caſtagnetten; Sor Luigi der Sänger ſaß unbeweglich
hinter ſeinem Tiſch und begann ſchon nach den erſten
Tacten eine Melodie zu ſummen. Bald ſang er das
Lied und die Worte voll heraus. Die Worte, die
Theodor nicht verſtand, die fieberhafte Unruhe der
eintönigen Inſtrumente und mehr als Alles der hohe
Zauber der Tänzerin verwirrten ihm allmählich die
Gedanken, daß er drein ſah wie in eine fremde Welt.
Das Bekannte, Eigne, Theuerſte trat in eine nichtige
Dämmerung zurück, die es aller Farbe entkleidete.
Menſchen, Gedanken, Wünſche und Hoffnungen wälz¬
ten ſich in dieſem Halbtraum nach dem Tact des
dumpfen Tamburin durch ſeine Seele wie zu einer
großen Muſterung: er verwarf ſie alle; es war ihm
als hörte er in ſich rufen: Ihr ſeid werthlos und
ſcheintodt. Hier iſt Leben und Seligkeit!
Mit dem Ende des Tanzes erwachte er und ſah
verſtört um ſich. Er griff nach ſeinem Hut. Ihr
wollt fort? ſchon? heute? fragte Bianchi betroffen.
Ich ſehe, es gefällt Euch nicht unter dieſen meinen
Freunden.
Ihr verkennt mich ganz und gar, erwiederte Theo¬
dor und ſah düſter vor ſich hin. Wie gern bliebe
ich, wie gern! Aber ich habe ein Verſprechen gege¬
ben, ich muß in eine Geſellſchaft; wir ſehn uns mor¬
gen, Bianchi!
Oh, murmelte Bianchi, ſchade, ſchade! Nun,
Ihr werdet Euch unterhalten, Euch und die Andern.
Schade, ſchade!
Er lächelte ſcharf und bitter, als Theodor den
Rücken gewendet; doch ſchien es ihm nicht geradezu
unlieb, daß er ging.
Draußen ſtand der junge Mann den Cascaden
gegenüber und ſog den Hauch des Waſſers und das
lebendige Rauſchen ſeines Sturzes in die verwirrten
Sinne ein. Der Mond beſchien dem Waſſergott das
Haupt und einen Theil der Bruſt. Unten blitzten
nur Tropfen aus der Dunkelheit auf. Er ſtieg hin¬
unter und trank, als wollte er den Rauſch des Ge¬
müths von ſich thun, und ſaß dann eine Weile am
Rande des Beckens. Die Sage fiel ihm ein, wer
aus dieſer Quelle getrunken, ſei dem Heimweh nach
Rom verfallen, da verlor er ſich in peinliches Sin¬
nen. Erſt als drüben aus der Oſterie das Tambu¬
rin von neuem klang, ſtieg er faſt erſchrocken aus
der Tiefe auf. Mühſam zwang er ſich, der Thür
wieder vorüberzugehn und eine der Seitenſtraßen
einzuſchlagen. Als er von fern zuletzt noch einmal
den gedämpften Ton hörte, ſtand er einen Augen¬
blick und kämpfte wieder. Dann ging er entſchloſſen
tiefer in die Stadt hinunter nach Mariens Hauſe.
12
Die Unterhaltung ſtockte, als er eintrat; ſeine Braut
ſtand auf, ging ihm entgegen und gab ihm herzlich
die Hand. Er ließ einen kurzen dringenden Blick auf
dem edeln Geſicht ruhen, das unbefangen zu ihm
aufſah, und näherte ſich dann der Mutter, die ihm
freundlich einen Gruß entgegenrief und ſich vorneigte
in dem ſeidnen Seſſel, ihm ebenfalls die Hand zu
ſchütteln. Sie war, wie auch die Tochter, noch im¬
mer ſchwarz gekleidet, nur daß ſie ihr Haar unter
einer grauen Florhaube trug, während ein ſchmales
ſchwarzes Band über der Stirn die braunen Locken
des Mädchens zuſammenhielt. Auch der Vater em¬
pfing ihn freundlich und ſtellte ihn einigen Herren
vor, die um den lichterhellen Tiſch ſaßen. Es waren
zwei engliſche Herren, Brüder, alte Freunde des Hau¬
ſes, die vor kurzem aus England gekommen waren.
Den Fremden zu Liebe ſprach man engliſch.
Ihr ſeid ſpät gekommen, lieber Theodor, ſagte
die Mutter. Ihr habt uns gefehlt, als wir unſern
würdigen Freunden von den letzten Stunden unſeres
Edward erzählten. Meine armen Augen thaten da¬
mals nur ſchwach ihren Dienſt, und der Vater und
Mary waren krank, wie Ihr wißt. Wir verloren
Alle mehr als Ihr, denn Ihr kanntet ihn kaum. So
hattet Ihr am meiſten Faſſung, und könnt ergänzen,
was uns wie ein ſchrecklich zerriſſener Traum, noch
jetzt faſt unglaublich, in der Erinnerung ſteht.
Theodor war unfähig zu ſprechen; die Stille im
Zimmer, die Stimmung der Erſchütterung in die er
eintrat, fremde Geſichter und fremde Sprache be¬
klemmten ihn aufs höchſte. Und hier in dieſem Au¬
genblick, nachdem er kurz zuvor einem wonnevollen
Leben ins Geſicht geſchaut, ſollte er Unbekannten vom
Todbette des armen Edward erzählen. Ein Schauer
überlief ihn und ſenkte ihn in jenen Zuſtand hell¬
ſeheriſcher Dumpfheit zurück, der ihn vorher in der
Schenke überkommen. Sein Herz hob ſich wieder
aus den feſten Schranken, in denen es ſich ſelbſt be¬
gnügt und gebunden hatte, und fühlte ſich über und
außer ihnen. Es war nur ein frevelhafter Traum
ohne Antheil des wachen Willens. Aber das Bild
deſſelben trat auch im Wachen zwiſchen ihn und Alles,
was er bisher am Herzen gehalten hatte, und das
Band, das ihn daran knüpfte, ſchien ihm morſch, ſeit
der Traum es zerriſſen hatte.
Die Geſellſchaft gab es ſeiner Trauer Schuld, daß
ihm jede Antwort verſagte. Er hatte ſich neben Ma¬
rien geſetzt und ſah lange auf ihre feine blaſſe Stirn.
Das ſtille Weiß beunruhigte ihn. Die blauen Augen,
die ihm klar und glücklich und ernſthaft entgegen ſchie¬
nen, hatten heut keine Gewalt über ihn. Er empfand
es deutlich als ſeine eigene Unfähigkeit, daß er ſich
heut dieſer adligen Geſtalt nicht freuen konnte wie ſonſt,
von dieſen reizenden Lippen nicht begierig jedes Wort
12 *
verſchlang und jedes Lächeln ſich bis ins Herz drin¬
gen fühlte. Er kämpfte eine Weile gegen dieſe Kühl¬
heit an, die ihm ſehr wehe that. Es war umſonſt.
Sie ward es inne, daß er etwas zu bekämpfen
hatte. Aber die Gegenwart der Andern wehrte ihr,
mit vertraulicher Inbrunſt der Leidenſchaft das Herz
feſtzuhalten, das ſich ihr entzog.
Der eine der Fremden fragte nach dem Denkmal,
das dem Verſtorbenen beſtimmt ſei. Theodor er¬
mannte ſich und erzählte, daß er eben heut auf den
Wunſch der Eltern die Arbeit einem Freunde über¬
tragen habe, von deſſen Weſen und Schickſalen er
kurz die Umriſſe hinwarf. Mariens Eltern wußten
mehr von ihm. Den Fremden aber ſchien das zer¬
ſtückte Bild nicht anzuſprechen.
Es wäre zu wünſchen, ſagte er, daß dieſer Mann
einen Hauch von Edwards inniger Natur in ſich
ſelber ſpürte, daß er die zarte Geſtalt unſeres Theuern
und ſein kurzes geſegnetes Leben in ſich aufnehmen
könnte, wie etwas Geliebtes. Er ſcheint, wie Ihr
ihn ſchildert, ein heftiger ſtarrer Menſch, dem nichts
verſchloſſner ſein muß, als dieſe Art unſers Edward,
nur für die Seinen zu leben, den letzten Athemzug
zu einem Glückwunſch für ſeine Geliebten zu machen.
Er iſt rauh und energiſch, erwiederte Theodor,
aber das Schöne rührt ihn und das Edelſte nimmt
er mit Scheu und Ehrfurcht auf. Ich ſah es, als
ich ihm aus Homer vorlas, wie ihn die idylliſchen,
ich möchte ſagen die weiblichen Stellen des Gedichts
ergriffen.
Vielleicht, weil ſie ſeiner künſtleriſchen Stimmung
fruchtbarer begegneten, als die wüſte Einförmigkeit
von Kampf und Gefahr. Und dann iſt es doch ein
Anderes, ein Gemüth haben, für gewiſſe gemeinſame,
natürliche, heidniſche Rührungen empfänglich, und
eines, das den Segnungen unſrer Religion geöffnet
iſt. Edward war Chriſt; Euer Freund iſt höchſtens
ein äußerlicher Katholik.
Ich läugne nicht, nahm die Mutter das Wort.
ich habe mir auch ſchon darüber Gedanken gemacht.
Ehe man dieſem Unbekannten ein Werk überträgt,
das uns Allen am Herzen liegt, würde es wenigſtens
wünſchenswerth ſein, eine Skizze zu ſehn, über die
man reden und entſcheiden könnte.
Ich kenne ihn, theure Mutter, ſagte Theodor mit
Nachdruck. Wäre es ſeine Art, den erſten Gedanken
auf ein Blättchen zu werfen, ſo wäre es natürlich,
über den Entwurf mit ihm zu verhandeln. Er liebt
es aber, gleich in Thon und in einiger Größe zu ent¬
werfen, und hat ſich beſonders ausgebeten, diesmal
eine Zeitlang arbeiten zu dürfen, ohne ſich mitzuthei¬
len. Daß es auf Eure Entſcheidung ankommt, weiß er.
Darauf ward eine Stille, in der die etwas leb¬
haft geſprochenen Worte des jungen Mannes em¬
pfindlich nachtönten. Marie trat zum Flügel und
begann die Verſtimmung mit Muſik zu beſprechen.
Nur bei Theodor gelang es nicht. Das einfache Lied
vermochte nichts über ihn, in deſſen Ohr der haſtig
raſende Ton des Tamburin ſpukhaft wieder aufwachte
und das wunderliche Lied des Sängers die gegenwär¬
tige Stimme überbrauſte. Er ſah Bianchi's ſichern
Blick auf ſich gerichtet und hörte wieder die Worte:
Ein Wunder will ſich begeben. Um ihn her war
ihm Alles fremd, nüchtern und wunderlos.
Nachdem ſie geſungen, ſetzte ſich Marie wieder zu
ihm; ſie ſprach deutſch mit ihm, ſie fragte nach ſeinem
Tage, nach ſeinen Arbeiten, nach Bianchi. Er ſprach
zerſtreut, und ſo auch halb in Zerſtreuung, als ſpräche
er mit ſich ſelbſt, erzählte er von der Oſterie und
dem Tanze des Mädchens. Als er dann zufällig auf¬
ſah, bemerkte er eine dunkle Spannung über den
feinen Brauen. Das Geſpräch zwiſchen ihnen ſtockte.
Der Vater fragte nach engliſchen Familien, über die
die Gäſte bereitwillig Rede ſtanden. Sie waren Theo¬
dor fremd, und ſo war er von neuem ſeinen wüh¬
lenden Gedanken überantwortet. Er ging endlich.
Die Fremden hatten eine Wohnung bei Mariens El¬
tern angenommen. So kam es ihm vor, als ob er
auf einmal unſelig aus dieſem Kreiſe, der ihm ſonſt
gehörte, verdrängt worden ſei, zwiefach, durch ſich
und Andere.
Nirgends ſind unreine Stimmungen, halbe Ver¬
hältniſſe und unentſchloſſene Wünſche widerwärtiger
und empörender, als in Rom. Die großen Umge¬
bungen, voller Zeugniſſe reiner Menſchenkraft und
ſicheren Wollens, ſind nur ohne Neid und Schmerz
zu ertragen, wenn man ſich auch im engſten Bereich
des eigenen Wirkens ſeiner Geſundheit und Lauter¬
keit freuen kann. Wem es dort nicht gelingt, die
halben und ſchiefen Stimmungen mit Gewalt von
ſich zu ſtoßen, dem wachſen ſie wie eine Krankheit
unglaublich ſchnell über den Kopf und verſchlingen
ſeine ganze Ruhe. Denn an Beſchönigen und Be¬
trügen vor ſich ſelbſt ſoll er nicht denken, wo ihn
jeden Augenblick die ganze Offenheit, das unbeküm¬
merte Bekenntniß einer genialen Vorwelt niederſchlägt
und beſchämt.
Und doch können wir nichts von uns ablöſen,
was ein Recht auf uns hat, ohne uns in neuen
Streit mit uns ſelbſt zu ſtürzen und mit unſerm
Gewiſſen zu zerfallen, da wir früher nur mit unſern
Meinungen und Wünſchen entzweit waren. Uns zu
retten, bedarf es der Ueberzeugung. Und Theodor
war nicht überzeugt; nur zweifelhaft und erſchüttert.
In lichteren Stunden wiederholte er ſich die alte Weis¬
heit, daß Eines nicht für Alle tauge. Bianchi's Art
zu ſein und zu leben, die ihm oft als die menſchlichſte,
nothwendigſte und reinſte erſchien, kam ihm dann
faſt niedrig vor. Er ſchämte ſich, daß er ihn hatte
beneiden können. Ein zarter Glanz breitete ſich wie¬
der um die lieben Geſtalten ſeiner nächſten Angehö¬
rigen. Er ſprang dann auf und ſtürzte mit über¬
vollem Herzen zu ihnen. Fand er aber dort Die er
ſuchte in der ruhigen würdevollen Umgebung, die
ihn verhinderte, ſein Inneres auszuſchütten, mußte er
ſeine leidenſchaftliche Hingebung zu einem gleichmü¬
thigen Geſpräch über fremde Dinge herabſtimmen
und fand kaum Gelegenheit, ſeine Geliebte beim Weg¬
gehn flüchtig an ſich zu preſſen: ſo gerieth er in der
Einſamkeit von neuem außer ſich und brach in ſtür¬
miſche Anklagen der Lauheit, des Zwanges und der
Unnatur aus. Dann konnte er ſtundenlang am Ufer
der Tiber vor Bianchi's Thür auf und ab gehn, hin¬
überſtarren, wo ſich Sanct Peter mächtig über die
breite Maſſe des Vatican erhob, den Fluß verfolgen,
der unter Gebüſch weit in die Landſchaft hinaus lief,
und dann zu der Thür ſeines Freundes flüchten, ohne
den Klopfer zu rühren. Trat er wirklich ein, ſo ließ
freilich die zielloſe Qual von ihm. Aber die gereizte
Fröhlichkeit, die ihn dann ergriff, die Begeiſterung,
die aus ihm ſprühte, wenn er in der Werkſtatt auf
und ab ging und von Dingen der Kunſt redete, waren
weit von Geſundheit entfernt.
Bianchi entging der ſeltſam gährende Zuſtand ſei¬
nes Freundes nicht. Aber er vermied es, den Grund
aus ihm herauszulocken, wie er überhaupt Geſprächen
über perſönliche Verhältniſſe und innere Erlebniſſe
auswich. Gerade dies unruhige Gebahren feſſelte ihn
täglich mehr an Theodor. Er ſelbſt war ſeit der
Krankheit zahmer und freudiger in allem Thun und
Reden. Wenn er Theodors Klopfen vernahm, deckte
er ein Tuch über ſeinen großen Entwurf und öffnete
haſtig. Er war noch immer ſparſam mit den gering¬
ſten Liebesbezeigungen. Aber ſein Geſicht konnte nicht
verläugnen, daß die Gegenwart ſeines Freundes ihm
mehr als Alles war. Er ſaß dann bei ſeinen Mu¬
ſcheln am offnen Fenſter, das Geſicht kaum einmal
zu Theodor gekehrt, und arbeitete rüſtig, während ſie
ſprachen oder ein Buch Beide erquickte. Er hatte
durch Theodors Vermittlung Käufer für ſeine Arbei¬
ten gefunden, die ihm das Doppelte zahlten was der
Händler bisher gegeben; doch war ſeine neue Woh¬
nung in nichts reicher ausgeſtattet, als die frühere.
Freilich vergoldete die Sonne die nackte Wand, an
der das Rundbild der Meduſe hing und vor dem
Fenſter lag die entzückende Ferne. — —
Eines Abends, im heißen Mai, als es draußen
am Tiberufer einſam war und die Mücken überm Ge¬
ſträuch ungeſtört ſpielten, klang der Klopfer an Bian¬
chi's Thür raſcher und lauter als ſonſt. Er ſtand
von der Arbeit auf, vor der er ſinnend geſeſſen hatte,
und deckte nicht wie ſonſt das Tuch darüber. Er
mag's heute ſehen, ſagte er für ſich, wenn er's wirk¬
lich iſt, der ſo unbändig lärmt. — Damit ging er zu
öffnen.
Der junge Mann trat ungeſtüm ein, ſein Geſicht
war lebhaft geröthet, ſeine Augen ſtrahlten. Bianchi,
rief er, Bianchi, ich komme von ihr, ich habe ſie
geſehen, geſprochen, das Wunder iſt mir wieder bis
ins Mark gedrungen. Und Ihr, Lieber, Böſer, ſagtet
Ihr nicht damals, ſie ſei fort, ins Gebirge zurück,
der Alten entflohen und wie das Märchen weiter lau¬
tete! Oder ward es Euch wirklich erzählt? Denn ſie
iſt hier, keinen Fußbreit aus Rom hinausgekommen
die zwei Monate lang. Redet, Bianchi; was ſagt
Ihr? Preiſet mein Schickſal, das mich ihr an die
Seite führte, wodurch ich noch wie von Sinnen bin!
Er ſtürmte das Gemach hin und her, ohne um¬
zublicken. Er ſah nicht, daß Bianchi todtenblaß in
der Thür ſtehn geblieben war und ſeinen Irrgängen
mit durchdringendem Blick folgte. Caterina? brach
es endlich von ſeinen Lippen.
Caterina! rief Theodor; ſie ſelbſt, ſie ſelbſt, ſchön
und ſtill und Himmel und Hölle in den Augen, wie
an jenem erſten unvergeßlichen Abend, nur nicht jene
bitterliche Schwermuth um die Lippen, und in rö¬
miſchen Kleidern. Denkt, wie es kam. Ich ſitze zu
Haus in der Schwüle unluſtig über den Büchern
und es treibt mich endlich hinaus. Einige Gaſſen
weit, ſo gerath' ich in einen Schwall geputzter Men¬
ſchen, die es eilig haben und frage einen: wohin?
Auf Monte Pincio, heißt es, das Wettrennen und
die Wagen zu ſehn. Ich hatte keinen eignen Weg
und laſſe mich treiben und gelange gedankenlos mit
auf die Höhe. Ihr habt die Gerüſte geſehn, die ſie
geſtern noch zimmerten. Heut die weiten Schranken
Kopf an Kopf gefüllt, daß ich Mühe hatte, einen
Platz zu finden, und unbequem genug, wie ich im er¬
ſten Moment dachte, denn die Sonne ſtand mir ge¬
genüber, daß mir's, über die Bahn blickend, vor den
Augen flimmerte. Wie ich nun bedenke, ob ich gehen
oder wie mich ſchützen ſoll, und ſtehe noch an meinem
Platz, ſeh' ich nach unten und entdecke einen ſeidenen
Sonnenſchirm und ein bezauberndes Stück Hinter¬
haupt und Nacken darunter. Im Nu ſaß ich, und
unter den Schirm mich bückend frag' ich meine Nach¬
barin, die ſich abgewendet hatte, ob ich die Wohlthat
ihres Schirmes mitgenießen darf. Sie wendet ſich,
und es war als zuckte mir der Blitz mitten durchs
Herz, da ich ſie erkannte. Sie ſchien mich auch wie¬
derzukennen und blieb mir die Antwort ſchuldig. In¬
deß kam nun auch die Alte neben ihr zum Vorſchein,
war geſprächig und höflich und befahl Caterinen, den
Schatten mit mir zu theilen. Bianchi, wie ſie das
that, den Schirm in der kleinen Hand regierend, halb
verlegen, halb zutraulich, und dann auf meine zudring¬
lichen Fragen beſcheiden und klar antwortete mit jener
ſüßen dunkeln Stimme — es iſt über alle Worte!
Ich ſaß hingeriſſen, blind für Alles umher, unter
dem kleinen Dach wie mit ihr allein, und baute es zu
einem Haus für uns um, in dem ich Stunden, Tage
und Jahre an mir vorbeirinnen hörte ſo gleichgültig,
als gehörte ich ſchon der Ewigkeit an. Wie hätt' ich
Augen für die Spiele gehabt! Aber ich folgte dem
Eindruck, den die wilde Jagd auf Caterinen machte,
wie ihr die Freude hoch aufſchlug, wenn eine kühne
Wendung geſchah oder ein Wagen den andern weit
voraus ſauſend um die Ecke bog, wie ſie frohlockte,
wenn eins der ſchönen Thiere rauchend und ſchäu¬
mend vom Siege im Triumph nahe vorübergeführt
wurde. Heilige Natur! rief ich in mir aus, wie lachſt
du unverfälſcht und unverbildet aus dieſen Augen!
Wie muß der mit Leib und Seele dir wieder zuge¬
wendet werden, den dieſe Augen anlachen ! Laßt mich
verſchweigen, was ich weiter in mir raſ'te und jubelte.
Es nahm ein Ende. Das Volk verließ die Schran¬
ken, meine Nachbarinnen ſtanden auf. Als ich mich
erbot, ſie durch den Strudel der Menſchen nach Haus
zu führen, lehnte es die Junge ruhig, aber beſtimmt
ab. Die Alte machte mir hinter ihrem Rücken mit
Augenwinken und Grinſen Zeichen, die ich nicht völ¬
lig verſtand. Ich aber hielt mich in einiger Ferne
hinter ihnen und ging die Höhe hinunter ihnen nach
in die Stadt. Es ſchien mir, als verdoppele Cate¬
rina ihre Schritte, nachdem die Alte ſich einmal nach
mir umgewendet. Endlich in Via Margutta traten
ſie in ein Haus. Ich wagte nicht zu klopfen, ſtand
dort eine halbe Stunde wie angewurzelt und ſah die
Vorhänge wehen, aber keine Geſtalt. Nur die wider¬
liche Fratze der Alten erſchien einmal am Fenſter. Sie
ſah mich nicht, da ich mich im Schatten der Häuſer
barg, und ſo riß ich mich endlich hinweg und hier
bin ich, wenn es hier ſein heißt, daß mir der Bo¬
den unter den Sohlen brennt und mein Sinn wie
verriegelt iſt, eines andern Menſchen Gegenwart wirk¬
lich zu empfinden.
Er warf ſich auf einen Stuhl; er beachtete es
nicht, daß Bianchi noch immer in der Thür ſtand,
nicht, daß er keinen Laut von ſich gab. Er ſah vor
ſich hin. Heute zuerſt, fing er wieder an, nach
ſchweren Wochen des Druckes und Kleinmuthes einen
vollen Zug Leben geſogen, eine Stunde genoſſen, die
mich über mich ſelbſt hinaushebt! Wer ſo immer
hinſchwimmen könnte mit vollen Segeln ins offne
Meer hinaus! Aber an den Küſten hinkriechen im
geflickten Boot, ſich winden und krümmen, wie dem
Ufer die Laune ſteht, um doch endlich an einem Kieſel
zu ſcheitern — erbärmliche Feigheit!
Mit dieſen Worten ſchlug er die Augen auf und
begegnete dem Relief ihm gegenüber. Der Abend
ſchien roth durchs Fenſter und die ſcharf umriſſenen
Figuren wurden deutlich genug. Man ſah einen
Jüngling am Ufer des Fluſſes, an dem der Vorder¬
theil eines Nachens und die wilde Geſtalt des greiſen
Fährmanns harrten. Der Fuß des Scheidenden war
ſchon auf den Bord geſetzt. Aber das Haupt und
der grüßende Arm waren nach der andern Seite ge¬
wendet, wo eine blühende weibliche Geſtalt, durch
ein Füllhorn bezeichnet, unter einem fruchtbaren Baum
ſaß, in edler Geberde des Schmerzes, das Haupt
niedergeſenkt. Ein Genius der Liebe lehnte an ihrer
Seite, die Fackel umgekehrt, daß er ihr Leben erſtickte,
mit den Augen an dem Jüngling hangend, ob es
möglich ſei, ihn zurückzuhalten. Aber zwiſchen ihnen
ſtand ernſt und abwehrend das Schreckbild der Parze.
Theodor ſtarrte wortlos noch immer den Kopf
des Jünglings an, deſſen Züge ihn unbezwinglich
demüthigten. Er hatte Bianchi ein Bildniß Edwards
verſchafft, von Mariens Hand wenige Tage vor dem
Tode gezeichnet. Es zeigte die edeln Züge ſchon in
aller Feinheit der nahen Verklärung, und beſonders
die Augen waren rührend frei und groß. Zugleich,
da alles Zufällige abgefallen, ſah man die Aehnlich¬
keit der Geſchwiſter ſchlagend und faſt beunruhigend
für die Ueberlebende. Zum erſten Mal empfand dies
Theodor. Er ſah Marien vor ſich in Stunden des
Schmerzes oder einer hohen Bewegung, wo ihre
Augen dunkler aus dem zarten Geſicht herausleuch¬
teten und der ernſthafte Mund ſich leiſe öffnete, wie
hier der aufſeufzende ihres Bruders. Es litt ihn
nicht länger auf dem Sitz. Er trat dicht vor das
Bildwerk; er kämpfte nicht mehr in ſich, mit Einem
Schlage glaubte er Alles entſchieden, alle Gefahr
angeſichts dieſer Hoheit und Anmuth bezwungen für
jetzt und immer. Er blieb ſo, bis das Abendroth
erloſch und das Geſicht ſich in den raſchen Dämme¬
rungen ihm entzog. Dann ging er, ohne ein Wort
zu ſagen, nach der Thür, in der Bianchi noch immer
ſtand; er haſchte nach der Hand des Freundes, drückte
ſie, ohne zu empfinden, wie welk und kalt ſie war,
und ging hinaus.
Bianchi zuckte zuſammen, als die Thür ins Schloß
fiel. Er ſah verſtört mit abweſenden Gedanken um¬
her. So verharrte er an die Wand gelehnt, unfähig
ſich zu regen; denn entſchloſſen war er längſt. Aber
die Glieder waren dem Willen widerſpenſtig. Die
Nacht kam; er konnte ſich endlich aufrichten und ſtand,
das Zittern niederkämpfend, das ihn überfiel, die
geballten Fäuſte gegen die Augen gedrückt. Darauf
ſtieß er einen einzigen dumpfen Schrei heraus, und
es war als ſei er nun wieder Herr über ſich. Er
ging mit ruhigen Schritten aus dem Haus; keinem
der vielen Spaziergänger, die die Nachtkühle genoſſen,
fiel er auf; ſo gleichmüthig ſah er umher. Er betrat
endlich die Via Margutta und klopfte, ohne zu zau¬
dern, an einem kleinen Hauſe. Die Thür gab nach
und er trat in den Flur. Er ſah die Steintreppe
hinauf, über die ein Lichtſtreif hinunterglitt. Oben
mit der Lampe ſtand Caterina.
Der Mann weidete ſich einen Augenblick an der
vollkommenen Bildung des jungen Weibes, das am
Geländer lehnte, die Lampe weit vor ſich hin geſtreckt,
mit der lieblichſten Geberde der Freude bemüht, unten
im Schatten das bekannte Geſicht zu erkennen. Sie
nickte und lächelte und grüßte hinunter. Komm,
komm! rief ſie, als er unten verzog. Er ſtieg langſam
die Stufen hinan. Als aber die Lampe ſein Geſicht
beſchien, ſtarb ihr Lächeln und Freude von den Lip¬
pen weg. Carlo, um Gotteswillen, du biſt krank!
rief ſie ihm entgegen. Er drängte ſie ſanft zurück
und ſchüttelte den erhobnen Zeigefinger abwehrend
hin und her. Laß! ſagte er. Komm herein, Cate¬
rina, komm!
Sie folgte ihm in athemloſer Angſt. Das Zim¬
merchen war niedrig, aber ſauber und wohlausgeſtattet.
Blumen ſtanden an den Fenſtern, ein Vogel hing
im Bauer davor und ſchmetterte gerade jetzt, als der
Lampenſchein ihn beunruhigte; auf dem Tiſch lag eine
blanke Guitarre. Die Alte hatte mit einer Arbeit
daneben geſeſſen. Sie ſtand nun auf, den Eintre¬
tenden begrüßend, unterwürfig und dreiſt. Guten
Abend, Sor Carlo! rief ſie. Wie geht's? Ihr kommt
zur rechten Zeit. Das arme thörichte Ding da, kein
Liebchen wollt' ihm glücken, keine Saite ſtimmte; der
Schelm, der Vogel, den ſie doch auch von Euch hat,
ſang ihr zu laut; Tochter, ſagt' ich, er kommt ja,
den du lieber haſt als deine Augen, Närrchen das
du biſt! — Nenna, ſagte ſie, mir bangt ſo; und,
ſagte ſie, das Herz ſchlägt mir ſo, ich weiß nicht
wovon. — Still! ſtill! ſagt' ich, du biſt ein Kind.
Einen Herrn zu haben, der dich auf Händen trägt,
ſagt' ich, der dich hegt und pflegt wie ſein eigen
Herz —
Und der dich in die Hölle ſchicken wird, verruchte
Hexe! ſchrie Bianchi und trat hart an ſie heran. Du
Gift! du Niedertracht! dank es deinen grauen
Haaren, daß ich dich meine Fäuſte nicht empfinden
laſſe. — Er ſchüttelte ſie heftig bei der Schulter, die
Ader an der Stirn lief ihm glühend an. Die Alte
fuhr zuſammen und blinzte ihn an. Macht nicht ſo
ſchlechte Späße mit einer alten Frau, ſagte ſie ſtot¬
ternd. Ihr habt mich erſchreckt, daß ich die Gicht
davon haben werde. Was? Redet ſänftlich, Sor
Carlo, und führt nicht ſo unchriſtliche Worte im
Mund, daß man ſich kreuzen und ſegnen möchte!
Was habt Ihr mit der armen Nenna?
Was ich habe? ſchäumte Bianchi und ſtieß ſie
von ſich, daß ſie in die Kniee ſank. Sie kann fragen,
13
die Nichtswürdige? Mir ins Geſicht die heilige Un¬
ſchuld ſpielen, nachdem ſie mich betrogen? Hab' ich
dir nicht bei deinem Leben gedroht, zu thun was
ich ſage und nicht was dir der Teufel einbläſ't?
Und nun kitzelt ſie Habſucht und Kuppelgelüſt, daß
ſie mir das Mädchen verderben will, und muß mit
ihr unter die Leute, ſie zu zeigen und auszubieten,
ob ſie nicht einem gefiele, der reicher iſt als Bianchi
der Bildhauer, der von ſeinem Schweiß lebt und
Euch zu leben giebt? Fort! aus dem Haus, und das
ohne Zögern und Winſeln! Denn ich kenne dich und
ich hätt' es wiſſen ſollen, daß du kein Schutz biſt
und der Verrath in deiner vertrockneten Bruſt niſtet
mit allen Ränken der Hölle!
Die Alte hatte ſich erhoben und ſtand lauernd
mit erkünſtelter Demuth einige Schritte von ihm
beim Fenſter. Ihr habt Recht, Sor Carlo, ſagte ſie,
ich hätt' es nicht thun ſollen. Aber mich jammerte
der armen einſamen Creatur, wie ſie von der Welt
Sonn- und Werkeltag nichts zu ſehn kriegt, als die
Dächer gegenüber oder um Mitternacht, wenn Ihr
einmal mit ihr ausgeht, dunkle Gaſſen und das bis¬
chen Sternenhimmel. Kind, ſagt' ich, er iſt ſo gut,
er kann nicht böſe werden, wenn du ihm heut Abend
erzählſt, daß du das Rennen mit angeſehn haſt. Sie
wollte nicht, armes Ding; aber ich ſah ihr's an, daß
ſie's gern hätte, und ſo redete ich ihr zu. Was iſt's
nun weiter? Wenn Ihr nicht den Lärm darum mach¬
tet, ſo hätte ſie auch einmal ein Vergnügen gehabt.
Und ſteht ſie nicht da wie ſie war, kein Härchen an¬
ders? Denn was Ihr da ſagt, Sor Carlo, ſolltet
Ihr Euch ſchämen zu ſagen, einer armen ehrlichen
Alten ins Geſicht, die keinen Gedanken hat, als
Euch gefällig zu ſein und Caterina.
Du gehſt, ſagte Bianchi mit unerbittlicher Ruhe,
und weiter kein Wort mit dir!
Die Alte ſah ihn ſcharf an, während er am Tiſche
ſtand, auf die Platte niederſah und die Fauſt da¬
gegenſtemmte, als dächte er an Anderes. Sie ſchlich
zu dem Mädchen, das auf einem Schemel in der
Ecke ſaß mit geſenkten Augen. Tochter, flüſterte ſie,
bitte du ihn! — Caterina warf einen Blick auf
Bianchi's Geſicht und ſchüttelte dann den Kopf. Es
hilft nichts, ſagte ſie.
Laßt mich wenigſtens dieſe Nacht hier, bat die
Alte und trat dem Manne einen Schritt näher. Wo
ſoll ich mein Haupt niederlegen? Wie mein bischen
Habe zuſammenraffen? Um der allerheiligſten Jung¬
frau willen, Sor Carlo, ſtoßt mich nicht aus wie —
Du gehſt, wiederholte der Mann. Habe? Du
haſt keine, als von mir. Du gehſt, oder —
Er hob ſeine Fauſt. Das Weib ſchrak zuſammen.
Flüche, Bitten, Drohungen wüſt durcheinandermur¬
melnd verließ ſie leiſe das Gemach.
13 *
Caterina, ſagte der Mann langſam, ohne aufzu¬
blicken, es iſt aus. Du ſiehſt mich von heute an
nicht wieder. Frage mich nicht, warum? und mach
dir keine Sorgen, daß du mich erzürnt hätteſt. Ich
hab' es nur mit jener Teufelin, die eben davonge¬
gangen. Du biſt gut und es ſoll dir wohl gehn,
auch wenn du mich nicht ſiehſt. Ein Anderer wird
kommen und an dein Haus klopfen, derſelbe, der
heut beim Schauſpiel neben dir geſeſſen hat. Oeffne
ihm und begegne ihm, als wenn ich's wäre und habe
ihn lieb und — ſei ihm treu. Du darfſt ihm nicht
ſagen, daß du mich kennſt; du darfſt ihm meinen
Namen nicht nennen. Aber halt dich nach wie vor
zu Haus, und ſollteſt du ja ausgehn, ſo vermeide
den Theil der Stadt unten nach dem Tiber zu. Ver¬
ſprich mir das Alles, Caterina.
Er harrte der Antwort. Statt ihrer brach ein
Schluchzen aus der Ecke vor, das ihm in die Seele
ſchnitt. Weine nicht! ſagte er ſo ruhig er konnte;
du hörſt, es iſt nicht im Zorn, daß ich von dir
gehe, und du wirſt glücklich ſein, du wirſt es beſſer
haben als bisher, du wirſt den Andern lieber haben
als mich.
Nie! ſtöhnte es von den Lippen der Armen. Das
Weinen faßte ſie gewaltſam. Aber der Eine Ton
ſprach ein langes heftiges Bekenntniß grenzenloſer
Neigung aus. Bianchi's düſtre Miene lichtete ſich
jäh; er ſah freudig auf, er wandte ſich und trat ihr
näher. Außer ſich ſtürzte ſie auf ihn zu, und er em¬
pfing ſie, die wie bewußtlos ihn an ſich riß, in ſei¬
nen Armen. Er küßte ſie auf die Stirn. Still!
ſagte er, du und ich, wir müſſen uns faſſen. Es
iſt nun ſo gut, und beſſer. Wer weiß, ob ich das
Andere überſtanden hätte. Aber es darf dennoch
nicht ſo bleiben, es darf nicht, oder ich gehe dennoch
zu Grunde. Komm, ſagte er, mach' ein Bündel von
deinen beſten und liebſten Sachen und was du
brauchſt zur Reiſe. Eil dich, Caterina. Ich denke,
wir werden uns wiederſehn, aber hier nicht. Habe
Geduld!
Sie ſah ihn groß an, ſie begriff nichts, ihr ahnte
nichts. Mechaniſch that ſie was er befohlen hatte.
Wohin gehn wir? fragte ſie ſchüchtern, als Alles
bereit war. Komm! ſagte er. Er löſchte das Licht.
Der Vogel draußen im Bauer flatterte heftig gegen
die Dräthe, die Guitarre gab einen klingenden Ton,
als er im Dunkeln daran ſtieß; den beiden Menſchen
pochte das Herz laut. So gingen ſie.
In der ſeltſamſten Verfaſſung hatte Theodor
Bianchi's Haus verlaſſen. Sobald er die ſtille Luft
um ſich fühlte, wich der letzte ſchwere Hauch von ihm,
der ihn noch vor dem Bilde gedrückt hatte. Nur
eine Mattigkeit, ſchmerzlos wie ſie ein Geneſender
empfindet, nachdem das Fieber ausgetobt hat, breitete
ſich über ſein Gemüth. Auch die heimliche Reue im
Hintergrund ſeiner Gedanken trug faſt dazu bei, ſeine
innerliche Helle zu erhöhen, wie der Schatten das
Licht. Er ſagte ſich, daß noch nichts verſcherzt ſei,
daß Alles, was er in Verblendung von ſich geſtoßen,
ihm noch unverändert zugehöre, daß er nur die Hand
auszuſtrecken habe, um ſich ſeines Beſitzes zu freuen.
Habe er ſich die Zeit her mit widerſinnigen Wünſchen
gepeinigt und ſich die Freude am Beſten verkümmert,
um einem reizenden Schein nachzuhängen, ſo ſei er
an ſich ſelber geſtraft.
Die Geſtalten beider Mädchen gingen ihm vor¬
über und ſein Herz ward keinen Augenblick irre. Noch
ward es ungerecht gegen die Fremde. Ein Staunen
beſchlich es noch immer, indem es ſich aller Züge des
wunderbaren Geſichts erinnerte. Aber es hüpfte hoch
auf, wie die Zeit des erſten Sehens und Findens,
der wachſenden Neigung zu Marien ihm wieder le¬
bendig wurde. Und was war inzwiſchen anders ge¬
worden? War ſie nicht dieſelbe geblieben? Freilich
auch dieſelbe an Scheu und Gefühl der Sitte ſich
zurückzuhalten vor den Augen Anderer. Aber ſie ſagte
ihm mit der ganzen geſteigerten Wärme ihres We¬
ſens, mit den Augen, die nicht von ihm ließen, wenn
er da war, mit den Händen, die ihn nicht laſſen
wollten, wenn er ging, daß ſie ihm völlig und ohne
Vorbehalt hingegeben war. Kann ich ihr vorwerfen,
ſagte er, daß ſie noch im Bann der puritaniſchen
Mutter iſt? daß ſie nicht das Band dieſer Ehrfurcht
zerriß, ſobald ſie ſich an mich knüpfte? Und ich konnte
wollen, daß ſie wie eine zügelloſe Minente aus Tras¬
tevere, die Niemanden zu fragen hat, als ihre Leiden¬
ſchaft, mir an den Hals ſtürze!
Als habe er ihr Alles abzubitten, womit er ſich
ſeit Wochen das Leben zerſtört hatte, treibt es ihn
jetzt nach ihrem Hauſe. Er weiß, daß der Beſuch
aus England, der ihn verdroſſen, geſtern Rom ver¬
laſſen hat. Es iſt ihm, wie wenn nun Alles von
neuem beginnen ſolle. In dieſer aufwachenden glück¬
ſeligen Stimmung ſpringt er die Treppen hinauf.
Wenige Augenblicke vorher war in Mariens Zim¬
mer Miß Betſy aufgeſtanden, um zu gehen. Das
Mädchen blieb am Clavier ſitzen, im Dunkeln mit den
Händen ſich an die Arme des Seſſels klammernd,
denn es war ihr als müſſe ſie zu Boden gleiten, wenn
ſie ſich nicht halte.
Folgt meinem Rath, Kind, ſchloß die kleine Dame
ein langes Geſpräch, das ſie faſt allein geführt hatte.
Gleich wenn er wiederkommt und ohne Umſchweife
ſtellt ihn zur Rede, daß er nicht Zeit gewinnt, auf
Ausflüchte zu ſinnen. Mary, thut das, ſag' ich Euch;
er iſt noch in den Jahren ſich zu beſſern, wenn man's
recht anfängt. Schändlich iſt es und bleibt es, und
— ſüßes Herz — ſo gern ich wollte, ich kann nichts
von Allem zurücknehmen, was ich im erſten Zorn
gegen ihn geſagt habe. Indeſſen, unſer Herrgott hat
ſchon andere Sünder erleuchtet. Wenn er nur mehr
Religion hätte! Ihr müßt mir zugeben, daß ich ihm
das ſchon oft vorgeworfen habe, und nun ſeh' ich,
wie ſehr ich Recht hatte. Schande über ihn, daß er
Euch ſo wenig ehrt, Kind, Schande fürwahr! Ich
ſah mich um; zum Glück ſaßen in unſrer Nähe keine
Bekannte von Euch, denn die Meiſten von der guten
Geſellſchaft, wenn ſie nicht das Volk ſtudiren wollen,
gehen nicht auf dieſen Platz, ſondern in die getrenn¬
ten Logen. Aber mir hat er das ganze Schauſpiel
verdorben, das vergeſſ' ich ihm nicht, Dear me, wenn
Ihr mit mir geweſen wärt, Ihr wäret geſtorben auf
der Stelle. Meint Ihr, daß er Ein Auge von ihr
gelaſſen? Und ſie ſchienen ſich zu kennen, eine alte
Paſſion; und das wäre noch zu ſeiner Entſchuldi¬
gung. Denn er wird genug Mädchen ſchön gefunden
haben, ehe er Euch kennen lernte. Aber man achtet
doch auf ſich, zumal öffentlich, und thut als kenne
man ſich nicht wieder. Nun nun, Kind, wenn Ihr
mit ihm redet, ernſthaft und ein für alle Mal, ſo
wird er in ſich gehn. Aber wenn Ihr es nicht thut
— ſo gern ich es Euch erſparte — meine Grundſätze
verlangen dann, daß ich es Euern Eltern anheim¬
ſtelle, ihm ins Gewiſſen zu reden. Eine ſolche Fa¬
milie! der Schimpf wäre zu groß und das Unglück,
wenn ſie einen leichtſinnigen Menſchen in ihren Kreis
aufnähme. Habt Ihr denn nie etwas von einer alten
römiſchen Liebſchaft gehört, die er Euretwegen abge¬
ſchafft hätte?
Nein, ſagte das Mädchen leiſe. Wie hätte ſie's
über die Lippen bringen können, daß ihr die Be¬
ſchreibung der dienſtbefliſſenen Zuträgerin ein Bild
wieder lebendig machte, das ihr früher ſchon einmal
einen nachdenklichen Tag gekoſtet hatte! Am Tage
darauf, nachdem Theodor ihr von dem Tanz in der
Schenke erzählt hatte, war ſie an ſeinem Arm durch
die Stadt gegangen. Aus einem niedrigen Fenſter
ſah ein ſchönes Geſicht, auf das ſie ihren Freund
aufmerkſam machte. Er hatte eine ſtarke Bewegung
nicht unterdrücken können, und auch das Mädchen
ſchien ihn zu erkennen. Es iſt die Albaneſerin von
geſtern Abend, hatte er geſagt, und dann raſch von
andern Dingen geſprochen. Ihr aber war das Ge¬
ſicht Zug für Zug im Gedächtniß geblieben.
Laßt es jetzt gut ſein, redete ihr Miß Betſy zu
und ſtrich ihr mit der Hand über die Locken. Grämt
Euch nicht, Liebe! Die Menſchen und zumal die
Männer ſind keine Engel. Mein Gott, wer erlebte
dergleichen nicht! Und ſprecht mit ihm, ſo wird noch
Alles in Ordnung kommen. Gute Nacht, Kind!
Ich komme morgen und ſehe nach Euch. Der Herr
ſei mit Euch!
Sie ging raſch. Draußen begegnete ſie Theodor,
der ſie faſt überrannte. Verzeihung! ſagte er, ein
Bräutigam, der zu ſeiner Braut geht, darf es ja
wohl eilig haben. Nicht wahr, liebe Miß Betſy?
— Er bemerkte die kalte Miene nicht, mit der ihm
entgegnet wurde: Ihr werdet Mary finden, in der
That ſie erwartet Euch nicht. Er verabſchiedete ſich
ſchnell und ſtürzte in das Zimmer.
Zum erſten Mal fand er ſie allein, in der faſt
nächtlichen Dämmerung, am Fenſter ſtehend, die
Locken ganz um das Haupt aufgelöſ't. Er dankte im
Stillen inbrünſtig dem guten Glück, das ſo willig
ſchien, Alles auszugleichen. Leiſe tritt er heran; ſie
bewegt ſich nicht. Er ſchlingt den Arm um ihren
Leib und ruft ihren Namen. Sie fährt zuſammen
und wendet ſich um, und er ſieht es feucht in ihren
Augen ſchwimmen. Du weinſt, Marie, liebes theuer¬
ſtes Leben, du weinſt? ruft er und will ſie feſter an
ſich ziehen. Sie wehrt ihm, ohne zu antworten; ſie
drückt die Augen zu und zerdrückt die Tropfen und
ſchüttelt mit dem Kopf. Nein, ſagt ſie endlich, ich
weine nicht, laß! Es iſt vorbei, es iſt gut!
Er geht drei Schritte auf und ab; er weiß nicht
wie ihm geſchehen, aber mit Einem Schlag iſt all
ſeine Freudigkeit gelähmt. Was haſt du, fragt er
nach einer Pauſe, das ich nicht wiſſen darf? Wenn du
wüßteſt, mit welchen Freuden ich über dieſe Schwelle
trat, wie mich's ſelig durchfuhr, dich endlich einmal
allein zu finden! und ich finde dich nun ſo fremd,
verſchloſſner als in aller Bedrängniß fremder Geſell¬
ſchaft — du weißt nicht, was du uns zu Leide thuſt!
Sie ſchwieg noch immer und hatte die Augen zu¬
gedrückt. Sie hielt in Gedanken die Worte, die er
ſprach, mit denen zuſammen, die ihr ſo eben das
Herz zuſammengeſchnürt hatten, ſeine Blicke mit de¬
nen, die ihr die alte Freundin geſchildert hatte und
die einer Andern galten. Es war etwas in ihr, das
gern für ihn geſprochen hätte; aber zu viele Stim¬
men ſchrieen dagegen. Nicht, daß ſie ihn für unwahr
hielt, für unwürdig, und ihn anklagte in ihrem Her¬
zen. Sie hatte die Erzählung der Alten mit ange¬
hört, als gelte ſie weder ihr noch ihm, wie ein Un¬
erhörtes, für das wir kein Organ in uns haben. Aber
dennoch warf es ein letztes Gewicht auf die Laſt, die
ſie ſchon wochenlang getragen hatte. Theodor betrog
ſich, wenn er glaubte, durch ſeine geſpannte unglück¬
liche Stimmung nur ſich ſelbſt wehe gethan zu haben.
Daß er verändert war, der erſte Glanz der Liebe
verblichen, das Herz ſeiner ſelbſt nicht mehr gewiß,
war Marien nicht entgangen. Wenn er zugegen war,
bezwang ſie ſich um ſeinetwillen; ſie hätte ihm um
die Welt nicht geſtanden, daß ſie an ihm zweifelte;
und war ſie allein, ſo ſchalt ſie ſich ſelbſt, und ſagte
ſich, daß ſie falſch geſehn und zu viel geſehn habe,
daß ein Mann ſich mit Gedanken trage, die ihn zer¬
ſtreuten und ſelbſt bis zu ſeiner Geliebten verfolgten.
Auch wußte ſie, daß ihm der Zwang vor der Mutter
immer unerträglicher wurde. Und doch brach auf Au¬
genblicke das Gefühl des bitterſten Kummers durch
und verſchloß ihr gerade jetzt den Mund und das
Herz, wo Worte ſo nöthig geweſen wären. Sie hoffte
auch nichts von Fragen, und Vorwürfen wollte ſie
nichts zu danken haben. Sie war ohne heftigen
Schmerz, wie abgeſtorben, daß ſie ſeine Nähe nicht
fühlte und doch einen tödtlichen Stoß empfangen hätte,
wenn er gegangen wäre.
So ſtehen ſie in unſeliger Täuſchung einander ge¬
genüber. Er greift ſchon nach dem Hut, um dem
unerträglichen Zuſtand ein Ende zu machen, als die
Mutter hereintritt. Er muß bleiben; Lichter werden
gebracht, die Frauen ſetzen ſich, während er einſilbig
ſteht, ſich ſelbſt und ſein elendes Geſchick tauſendmal
verwünſchend. Und wie ſich in ſolchen Stunden alles
Widerwärtige häuft, kommt die Mntter von neuem
auf Edwards Monument zu ſprechen. Er kann nicht
verſchweigen, daß es ihm heut zum erſten Mal auf¬
gedeckt worden, und muß Gegenſtand und Art der
Darſtellung beſchreiben. Er belebte ſich wieder ein
wenig. Es iſt unvergleichlich, ſagt er; ich kann nicht
ausdrücken, wie mich das Bild ergriff; Edward ganz
und gar, lebend und verklärt zugleich, und wunder¬
bar! faſt durch Offenbarung die Art wiedergegeben,
wie er ſich bewegte, jene eigenthümlich innige Ge¬
wohnheit den Kopf vorzuneigen, von der ich meinem
Freunde nie geſprochen.
Es mag Alles unbeſtritten ſein, was Sie ſagen,
lieber Theodor, ſagte die Mutter nach einigem Be¬
ſinnen. Und doch verberge ich nicht, daß mir die
Nebenfiguren, wie Sie ſie beſchreiben, durchaus wi¬
derſtreben, daß ich mich nicht werde entſchließen kön¬
nen, an dem Grabe meines Sohnes zu beten, wenn
der Stein dieſe fremden fabelhaften Geſtalten zeigt,
die mich ſchrecken, ſtatt mich zu erheben.
Es ſind Zeichen, Mutter, Zeichen für den liebe¬
vollſten Sinn, die Ihnen nicht fremd ſind, ſobald
Ihnen der Sinn nah getreten. Und würden Sie
nicht ergriffen werden, wenn ein italiäniſcher Poet
Strophen auf Edward in ſeiner Sprache gedichtet
hätte, obwohl ſie nicht Ihre Mutterſprache iſt?
Wohl, aber dann wär' es wirklich nur die Form,
die mich fremd berührte. Hier iſt der Sinn von Vor¬
ſtellungen, die meinem Heiligſten widerſtreiten, ſo ge¬
tränkt, daß ich mich abwende und nichts damit ge¬
mein haben kann.
Sie ſprechen es hart aus.
Es wundert mich, daß Sie hart finden, lieber
Theodor, was das natürliche Gefühl eines Weibes
und einer Chriſtin iſt.
Und Sie ſind in Rom und ſehen täglich die Wun¬
der vergangner Geſchlechter und haben Freude am
Thun der tauſend verſchiednen Geiſter, die auch von
Ihnen verſchieden ſind, und wollen ſich hier ver¬
ſchließen und abwenden? hier wo ein edler Menſch
Ihnen zu Liebe aus ſeinem Tiefſten hergegeben, was
er nur hatte?
Ich fechte ſeinen Willen nicht an. Aber gerade
weil es mich zunächſt mit betrifft, mir zu Liebe ge¬
ſchehen ſoll, bin ich empfindlicher gegen das, was
geboten wird. Denn der beſte Willen kann uns be¬
leidigen, wenn er keine Rückſicht auf uns nimmt.
Theodor trat auf Marien zu, die auf einen Stick¬
rahmen gebeugt ſtill dageſeſſen. Marie, ſagte er, hat
dich Bianchi's Werk auch beleidigt?
Nein, ſagte ſie leiſe, aber ich gebe der Mutter
Recht. Man kann nichts lieben, was fremd iſt; ich
nicht; ein Mann vielleicht.
Er verſtand nur halb ihre Worte; aber er ver¬
ſtand, daß ſie ſich von ihm gewendet. Ein unſäg¬
liches Wehgefühl ergriff ihn. Es war nicht Trotz,
nicht kleine Verbitterung, daß er ſich ſtumm verneigte
und ging. Er fühlte, daß er ſich ſammeln, ſeine be¬
täubten Geiſter aufrichten müſſe. Er hätte irre ge¬
redet, wenn er geblieben wäre.
Es ſollte nicht ſein, ſagte er vor ſich hin, als er
auf der Gaſſe war. Sie hat Recht; wir wären uns
immer fremd geblieben. Ich hielt meine fruchtloſen
Mühen, mich immer wieder von neuem ihr aufzudrän¬
gen, für Zug und Beſtimmung. Kein Wunder, daß
ſie es endlich müde wird. Aber es war grauſam, daß
es gerade heut ſo kommen mußte, da ich eben mich
ſo ſchön getäuſcht, ſo ſelig belogen hatte und hoff¬
nungsvoller war als je. Es war grauſam und heil¬
ſam! Ich bin nun für immer von dieſem gutmü¬
thigen vermeſſnen Selbſtbetrug geheilt.
Dann dacht' er an Bianchi. Schade! ſagte er.
Dem hätt' ich's ſparen ſollen. Er wird wieder was
in die Tiber zu werfen haben. Nein, er ſoll nicht;
ich will dieſe Tafel beſitzen, mich in Zukunft zu war¬
nen, wenn ich Menſchen vertraue.
So kam er in ſeine Wohnung. Er zündete Licht
an und ſetzte ſich zu ſchreiben. Er fing einen Brief
an Marien an, ruhig und ſanft; nach den erſten
Zeilen ward er der Lüge inne, denn es kochte und
zürnte und ſehnte in ihm, daß er die Feder am Tiſch
zerſtieß und aufſprang. Er wußte nicht wohin. End¬
lich ging er wieder ins Freie, den Weg nach Bian¬
chi's Hauſe. Wollte er ihn aufſuchen, ihm Alles ſa¬
gen, ihm Alles verſchweigen, nur wieder in ſeiner
Nähe nach Entſchluß und Faſſung ringen? Er wußte
es nicht klar; aber er ertrug ſich nicht in der Ein¬
ſamkeit.
Nur eine ſchmale Mondſichel ſtand über den Dä¬
chern. Aber die Häuſer waren hell, die Balcone und
Fenſter belebt; auf dem Corſo wallte ein muntres
Gewoge von ſorgloſen Menſchen, die ſich nach dem
Tagesbrande erfriſchten, lachende Mädchengeſichter,
fremde und römiſche, ſo leicht gekleidet, wie ſie ſich
aus den Zimmern fortgeſchlichen hatten. Die Straße
glich einem langen Corridor neben einem Feſtſaal,
wo ſich die Geſellſchaft zwiſchen den Tänzen in küh¬
lerem Zwielicht ergeht. Hie und da drang auch
Muſik aus einem Hauſe vor und eine Mädchenſtimme
unter der Menge ſang leiſe die Melodie nach.
Theodor mußte den Strom kreuzen. Er kam ſich
vor wie ein Abgeſchiedener, der nichts mehr vom Le¬
ben will, den es nur noch zu einem Freunde treibt,
um eine unvollzogene Pflicht ihm zu offenbaren, ehe
er für immer ruht. Er vertiefte ſich in öde ſchmale
Gaſſen, die nach der Tiber führen, und ging ſo hin
ohne die Kraft, irgend einen Gedanken feſt zu halten.
Endlich, von der vergeblichen Anſtrengung ermattet,
ließ er ſeinen Geiſt auf der leeren Weite des Schmer¬
zes treiben, wie auf dem uferloſen Meer in der
Windſtille.
So kam er an den Theil des Ufers hinaus, der
Riva grande heißt, wo die Kähne liegen, die nach
Oſtia fahren, die kleinen Poſtdampfboote und andere
Fahrzeuge mehr. Von da hinunter bis zur Ripetta
ſind noch einige hundert Schritt und keine unmit¬
telbare Verbindung am Waſſer hin. Er wandte ſich
aber rechts die breitere Straße hinauf, als ihm ein
lautes Gezänk von den oberſten Stufen der Waſſer¬
treppe ans Ohr kam. Ein Ton klang dazwiſchen,
der ihn plötzlich im Gehen hemmte. Er näherte ſich
dem Menſchenhaufen, deſſen einzelne Geſtalten ſich
ihm nur langſam bei einer ſchlechten Straßenlaterne
entwirrten. Es handelte ſich um ein Mädchen, wie
es ſchien, das ein Schiffer beim Arm hielt und hinab¬
zuziehen bemüht war. Ein Anderer ſuchte Beide zu
trennen. Laßt ſie los, Pietro! rief er. Laßt ſie gehn!
Seit wann ladet Ihr Weiber, Ihr Seelenverkäufer,
der Ihr ſeid? Seht, ſie weint, armes Ding! ſie will
nicht in Euer Loch von Kajüte zurück; ſie wird ihre
Gründe haben! —
Hol's der Henker, ſchrie der Andere und riß an
dem Mädchen herum, Gründe genug wird ſie haben.
Aber der ſie mir brachte und das Geld dran wandte
und ſagte: „Schaff ſie mir nach Oſtia und gieb ſie
dort in ſichre Hände, daß ſie nicht wieder zurückkann,“
der wird auch ſeine Gründe haben, und Gründe, die
er mit Quattrinen beweiſ't. Die Dirne! Sie wird
nicht gut gethan haben. Wäre ſie die liebe Unſchuld,
die ſie jetzt ſpielen will, warum konnte ſie nicht dar¬
auf pochen, wie der Mann ſie brachte? Aber was
denkt Ihr? Da war ſie ſtille ſtille; nur geweint und
14
geſchluchzt und den Mann geküßt, daß dem angſt und
weh wurde und er verſprach, er wolle in Oſtia nach
ihr ſehn. Und jetzt? Warum kommt ihr die Tücke,
daß ſie davon laufen will, die Katze, ſobald ich den
Rücken wende, und hier die halbe Straße gegen mich
zuſammenſchreit, wie ich meiner Schuldigkeit nach¬
kommen und ſie wieder in Sicherheit bringen will?
Sag mir das Einer, wenn er kann! Nein! zurück
mit der Hexe, und Maul gehalten, und Accidenti
über Jeden, der mir in den Weg tritt!
Ich kann nicht, ich will nicht zurück, hörte man
die Stimme des Mädchens. Dieſer Mann iſt falſch.
Er muthete mir das Aergſte zu, er bricht ſeinen Ver¬
trag; rettet mich!
Wer will ihr glauben, der verruchten Lügnerin,
dem Abſchaum, die nur ſinnt ſich loszumachen und
mich zu verſchwärzen? Zurück die Hand, ſag' ich,
und hinunter mit der Metze!
Halt! donnerte eine Stimme überlaut dazwiſchen.
Die Streitenden wandten ſich ſtutzend um und ſahen
Theodor durch den Haufen brechen und die Hand auf
des Mädchens Arm legen. Sie iſt mein, rief er,
und geht mit mir!
Eine Stille trat ein; Caterina hatte aufgeblickt
und den jungen Mann erkannt. Unſchlüſſig zwiſchen
Freude und heftigen Zweifeln ſtand ſie und ſenkte
die Augen.
Haltet Ihr uns für Kinder, Herr? fuhr ihn der
Schiffer an, daß wir uns vom erſten beſten Laſſen
einſchüchtern laſſen? Wenn Ihr ein Mädchen braucht
— Ihr findet ihrer am Corſo für Geld und gute
Worte. Umſonſt und mit böſen iſt keine zu haben.
Wer zum Teufel heißt Euch hier dreinreden und
mit einer Manier, als hättet Ihr das beſte Recht
von der Welt?
Ich hab' es, ſagte Theodor laut und entſchloſſen;
ich hab' es, denn ſie iſt meine Frau.
Seine Frau! lief es durch den Haufen. Die zu¬
nächſt Stehenden wichen einen Schritt zurück.
Eure Frau? das habt Ihr zu beweiſen, oder es
könnte — halt! unterbrach ſich der Schiffer. Nennt
ihren Namen, Herr, ihren Namen; den pflegt doch
ein Ehemann von ſeiner Frau zu wiſſen, wenn er
auch nicht weiß, was ſie in ſpäter Nachtzeit auf den
Gaſſen treibt.
Caterina, ſagte Theodor, erkennſt du mich?
Ja! antwortete das Mädchen.
Es iſt richtig, murmelte der Schiffer. Caterina,
ſo nannte ſie der Andere.
Du wirſt mit mir gehn, Caterina, ſagte Theodor.
Du wirſt mir den nennen, um deſſentwillen du mich
verlaſſen haſt, daß ich in Angſt und Wuth die Straßen
Roms auf und ab nach dir geſucht habe. So! Nach
Oſtia? Und dort wollt' er nach dir ſehen? Es iſt
genug. Komm!
14 *
Er ſprach dieſe Worte ſo ernſthaft und mit einem
Geſicht, auf dem ſo deutlich Schmerz und Entſchloſ¬
ſenheit ſtand, daß Keinem ein Zweifel nahe trat. Es
iſt ihr Mann! flüſterten ſie. Sie iſt ihm mit einem
Andern entlaufen. Dem gnade Gott, wenn er ihm
auch ſo in die Hände kommt, wie dieſe!
Caterina that nichts, dieſen Glauben zu irren.
Gehorſam ſtieg ſie die letzten Stufen der Treppe an
Theodors Hand hinauf, und ihre Ueberraſchung, von
dem gerettet zu werden, dem zu entfliehen ſie in die
Gefahr gerathen war, glich täuſchend der dumpfen
Niedergeſchlagenheit einer ertappten Schuldigen. Der
Schiffer allein ſchien nicht völlig überzeugt. Er ſah
das Geldſtück an, das ihm Theodor zugeſteckt hatte,
und brummte in den Bart: Wär' Alles richtig, hätte
der Herr die Hand nicht in die Taſche geſteckt. Nun,
ich bin doppelt bezahlt. Was geht's mich an?
Er ging erſt mit ihr ein paar Straßen weit und
hatte ſie noch immer bei der Hand gefaßt; aber Keins
ſah das Andere an, noch fiel ein Wort zwiſchen ihnen,
bis er ſie auf einmal los ließ und fragte: Wohin ſoll
ich Euch führen, Caterina?
Ich weiß nicht, ſagte ſie.
Nach Via Margutta?
Nein — und ſie ſchrak zuſammen — die Alte
fände mich da, oder er.
Wer?
Ich darf ihn nicht nennen, Euch am wenigſten;
er hat mir's verboten.
So iſt es Bianchi, ſagte Theodor dumpf. Sie
wagte nicht zu läugnen.
Während ſie weitergingen, befeſtigte ſich die Ah¬
nung, die in ſeinen Gedanken aufgegangen war. Die
ſeltſame Stummheit des Künſtlers, als er ihm von
den Spielen und ſeiner Begegnung mit dem Mäd¬
chen erzählt, war ihm nun erſt bedeutſam und erklärt.
Hätten wir nicht geſchwiegen zu einander von dem
was uns das Liebſte war! klagte er ſich und den
Freund an. Doch wußte er noch nicht Alles.
Am Hauſe angelangt, wo Theodor wohnte, ſuchte
dieſer den Schlüſſel und öffnete. Caterina trat zu¬
rück. Ich gehe da nicht mit, ſagte ſie. Nein, und
ſollt' ich auf den Stufen von S. Maria Maggiore
ſchlafen, lieber als da hinein, mit Euch! — Kind,
ſagte er ſchmerzlich, ich bin nicht mehr, der ich dir
noch vor wenig Stunden ſcheinen mochte. Du biſt
ſicher bei mir, wie bei einem Bruder.
Sie ſah ihn in der Dunkelheit an, ſo ſcharf ſie
konnte, und es war, als käme ihr plötzlich eine beſon¬
dere Erleuchtung. Ich weiß, ſagte ſie und blieb
immer noch einige Schritt von der Thür; er hat es
mit Euch abgeredet. Er kam und wollte mir in
Gutem ſagen, daß er mich an Euch verhandelt habe
oder verſchenkt. Ich ſollte Euch lieben, wie ihn. Ich
kann nicht, ſagt' ich ihm, und in mir verſchwor
ich's, und er ſah wohl, daß ich Ernſt daraus mache.
Da wollt' er mich überliſten und brachte mich in den
Kahn hinunter und lief dann zu Euch, zu ſagen,
ich ſei drunten und Ihr ſolltet mich holen. Aber
Ihr ſollt mich nicht haben, und wenn Ihr tauſend¬
mal ſein Freund ſeid und er mich tauſendmal mor¬
den will, wenn ich ſeinen Willen nicht thue. Geht!
Ich finde ſchon meinen Weg nach dem Gebirge zurück,
und Ihr könnt ihm ſagen — was Ihr wollt, und
— gute Nacht!
Sie wandte ſich. Kaum hatte Theodor Zeit, aus
der Beſtürzung ſich aufzuraffen und ihr nachzueilen.
Er ergriff ſie bei der Hand. Caterina, ſagte er,
wenn ich dir ſchwöre, daß du bei mir ſein ſollſt,
wie eine Schweſter, daß ich dich deinem Carlo
wiedergeben will, wie du von ihm gegangen — du
kannſt dich nicht weigern, mir in mein Haus zu
folgen!
Das wolltet Ihr? Das könntet Ihr? fragte ſie
ſtilleſtehend und ungläubig. Es iſt unmöglich, Ihr
kennt ihn nicht; ihn ändert Keiner.
Vertraue! ſagte er. Die Hoffnung, die ihr zu
lieblich zuſprach, kam ihm zu Hülfe. Sie machte ſich
ſanft los und ging neben ihm ins Haus hinauf.
Sobald ſie oben in ſeiner Wohnung war, noch im
Dunkeln, ſetzte ſie ſich auf einen Stuhl hart neben
der Thür, ihr Bündel, das ſie immer bei ſich geführt,
auf dem Schoße vor ſich. Er zündete Licht an und
ſprach nicht mehr und wühlte in Papieren, mecha¬
niſch, ohne Zweck. Seine Seele brannte, wenn er
an Bianchi's That dachte; das entzückende Bewußt¬
ſein, ihn ſo zu beſitzen, wie dieſe Stunde ihn belehrt,
hielt ihn, wenn er an dem Gedanken, Marien ver¬
loren zu haben, faſt vergehen wollte.
Indem er ſo in die Zukunft hinausſinnt und
ſich bereitet, ſein Schickſal auf ſich zu nehmen, hört
er ein leiſes Athmen von der Thür her. Er ſieht
auf und bemerkt, daß Caterina ſich in feſten Schlaf
geweint hat. Leiſe naht er ihrem Sitz. Das Haupt
iſt ihr auf die Schulter geſunken, die Arme hangen
nieder, die Bruſt ſtürmt in ängſtlichen Träumen.
Er hebt ſie ſicher und vorſichtig auf und trägt ſie
mit kräftigen Armen auf ein Sopha, das an der
Wand ſteht. Wie er ſie dort niederläßt, nähert ſich
ſein Geſicht ihrer Wange; er empfindet den geſunden
Hauch der Lippen, der Duft des Haares weht ihn
an, die Fülle der Glieder ruht blühend vor ihm.
Aber alles Verlangen ſchweigt in ihm. Er hebt ſich
empor, breitet ſeinen Mantel über die Schlafende
und geht ſtill in ſeine Kammer. Erſt als die gerin¬
geren Sterne ausloſchen, findet er einen kurzen un¬
ruhigen Schlaf. Aber kein Gedanke an Caterina
macht ihn unruhig.
Am hellen Morgen trat er in Bianchi's Werkſtatt.
Er erſchrak, wie das fahle verwachte Antlitz des Freun¬
des von der Arbeit zu ihm aufſtarrte. Die Haare
ſchienen ihm grauer geworden, die Augen dunkler.
Doch ward der gekniffene Mund mild, als er Theo¬
dor ſah.
Ihr hattet eine böſe Nacht, ſagte der, und mein
iſt die Schuld.
Ich habe gewacht, erwiederte Bianchi ruhig; aber
was wollt Ihr für meine Grillen können, die mich
dann und wann um den Schlaf ſingen? Reden wir
von beſſern Dingen. Erzählt, leſ't, vor Allem bleibt,
wenn Ihr könnt. Sei es denn geſtanden: Es iſt
mir heut eine beſondere Wohlthat, Euch ſprechen zu
hören!
Lieber! es iſt umſonſt, noch jetzt ſich in Worte
hüllen, wo das geheime Herz zu Tage liegt. Ich
weiß Alles!
Ihr wißt? — So verſchweigt, was Ihr wißt!
ſprach Bianchi heftig, verſchweigt, von wem Ihr's
habt, redet mir nie ein Wort davon! Es liegt hinter
mir, hinter mir, ja! fuhr er fort, und denkt davon,
was Ihr mögt; nur laßt Alles bleiben, wie es war.
Verſprecht mir's!
Theodor ſtand in Schmerzen. Er dachte daran,
daß er in wenig Tagen fern von hier das Alles auch
anſehn würde, als läge es weit, weit hinter ihm.
Aber er konnt' ihm das nicht geſtehen, wenn er nicht
das Nächſte, was zu thun war, zerrütten wollte.
Ich muß dennoch reden, ſagte er endlich. Hätt'
ich geſtern geſchwiegen, da ich mit jenen leichtſinnigen
Worten Eure Ruhe erſchütterte, ſo wäre Euch viel
erſpart. Ihr hättet die Perle nicht von Euch ge¬
worfen, nach der ich Thor einen übermüthigen ſelbſt¬
vergeſſenen Augenblick lang die Hand ausſtreckte.
Bianchi ſchwieg; die Glut ſtieg ihm auf, er ſuchte
nach Worten. — Wenn ich ſie Euch nun wieder
brächte und ſagte: Da habt ſie wieder; ich beneide
Euch nicht, denn mein Herz hängt an einem andern
Kleinod und es braucht kein Opfer, um uns Beide
bei einander zu halten — würdet Ihr mir glauben,
Carlo?
Er ſah den Wechſel der übermächtigen Empfin¬
dungen auf dem Geſicht des Freundes. Der Künſtler
hielt ſich am Tiſch, das Haupt auf die Bruſt gedrückt,
die ſchwer arbeitete; die Lippen bewegten ſich tonlos.
Theodor ging zur Thür und rief: Caterina! Sie
hatte draußen geſtanden, Tod und Leben vor ſich.
Als ſie langſam mit furchtſamen Schritten über die
Schwelle trat, ſah ſie Carlo mit ausgebreiteten Armen
am Tiſche ſtehn; die Kniee verſagten ihm. Da ſtürzte
ſie mit einem Schrei an ſeinen Hals.
Die Thür war offen geblieben. Theodor hatte
ihr den Rücken zugewendet, in das Bild Edwards
vertieft, das ſeitwärts unverhangen auf dem Gerüſt
ſtand. Er hörte Geräuſch an der Schwelle und ſah
um. In demſelben Augenblick löſ'te ſich Caterina
aus Bianchi's Arm und erſchrak. Sie ſahen drei
fremde Geſtalten verlegen in der offnen Thür, ein
älteres Paar und eine ſchöne junge Dame. Theodor
erkannte ſie.
Wir ſtören, ſagte der Herr. Wir bitten um Ver¬
zeihung; aber die Thür war weit offen. Wir kommen
wieder, wenn es Euch gelegner iſt, Signor Bianchi.
Treten Sie ein, ſagte Bianchi. Sie ſtören nicht.
Die hier anweſend ſind, ſind ein Freund und meine
Frau — Signora Bianchi. Er betonte das letzte
Wort und ſein Blick fiel auf Caterina, die im Ueber¬
ſchwang des Glückes zu ihm aufſah. Indeß war
Theodor von dem Bilde zurückgetreten. Der Vater
begrüßte ihn mit alter Herzlichkeit und wandte ſich
dann dem Kunſtwerke zu. Mit den Frauen wechſelte
er keinen Gruß. Die lebhafte alte Dame war nach
den erſten Worten Bianchi's vor das Relief getreten
und ſtand ſprachlos. Mariens Auge hing nur kurze
Zeit an dem Bilde des Bruders, dann flog es zu
Caterina. Sie erkannte ſie wohl. Während die El¬
tern in tiefſter Rührung an einander lehnend ſich
vom Bilde nicht trennen konnten, trat ſie nahe zu
Theodor. Sie faßte ſeine Hand, ſie ſprach leiſe zu
ihm, die Augen floſſen ihr über. Sie tauſchten Ge¬
ſtändniſſe, Selbſtanklagen, Gelübde, Jedes dem An¬
dern zuvorkommend, Jedes das Andere an unbegrenz¬
ter Hingebung überbietend. Keiner belauſchte ſie.
Denn auch Bianchi, obwohl er nicht ſprach, vergaß
Alles über den Augen ſeines Weibes.
Endlich ging Mariens Vater auf ihn zu und
drückte ihm die Hand. Seine Augen waren feucht;
die Mutter weinte ſtill in ihr Tuch. Ihr wiſſet ge¬
nug, ſagte der alte Herr; Ihr erlaßt uns zu ſprechen.
Eins nur: Wann beginnt Ihr die Ausführung? Ich
habe meinen Plan geändert. Ich wünſche nur einen
Stein auf das Grab meines Sohnes, der die einfache
Inſchrift trägt. Dieſes Bild wüßt' ich gern in dem
Zimmer, das er bewohnte, an der Stelle, wo ſein
Bette ſtand. Wir können den Ort nicht beſſer ein¬
weihen. Aber ich kann den Tag nicht erwarten, wo
es unſer wird. Ihr werdet am beſten ſelbſt für den
Marmor ſorgen. Verſchiebt es nicht einen Tag!
Indeſſen hatte ſich die Mutter gefaßt. Sie wandte
ſich und reichte Theodor die Hand; ſie zog ihn heran
und küßte ihn auf den Mund, was ſie nur einmal
gethan, da ſie ihm ihr Kind verlobte. Dann ver¬
ließen ſie Alle die Werkſtatt. Die Lüfte waren rein
und über dem Tiberufer ſchien die Sonne.