Erſtes Buch .
Muͤnchhauſens Debuͤt .
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 1
Eilftes Capitel .
Worin der Freiherr ſeinen Abſcheu vor
dem Laſter des Lügens nicht allein aus-
ſpricht , ſondern auch bethätigt .
Was für ein ſchändliches Laſter iſt das Lügen !
Denn erſtens kommt es leicht heraus , wenn Einer
zu arg flunkert , und zweitens kann Jemand , der
ſich’s angewöhnt hat , auch einmal die Wahrheit
ſprechen , und Keiner glaubt ſie ihm dann .
Daß mein Ahnherr , der Freiherr von Münch-
hauſen auf Bodenwerder einmal in ſeinem Leben
die Wahrheit ſagte , und Niemand ihm glauben
wollte , das hat bei dreihundert Menſchen das
Leben gekoſtet .
Wie ? riefen der Baron und ſeine Tochter aus
einem Munde .
Geſchätzte Freunde und liebe Wirthe , mäßiget
Euer Erſtaunen , verſetzte der Gaſt , indem er , wie
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ein Kaninchen , die Naſenflügel zitternd bewegte ,
und mit den doppelfarbigen Augen zwinkerte .
Nichts natürlicher , als das . Hört nur zu . Der
beſagte Ahnherr war leider Gottes , wie Ihr wißt ,
ein ungemeiner und erſchrecklicher Lügenſack . Wer
erinnert ſich nicht der zwölf Enten , die er mit
einem Stücke Schinkenſpeck fing , nicht ſeines
halbirten Roſſes , welches in dieſem Zuſtande der
Halbheit dennoch eine Nachkommenſchaft zu erzielen
vermögend war , nicht des tollgewordnen Jagdpel-
zes , nicht der im Poſthorn eingefrornen Töne , und
— und — o ! o ! o ! — —
Das blaue Auge des Enkels weinte , ſein
braunes blitzte von tugendhaftem Zorne , er konnte
nicht weiter reden . Dem alten Baron und ſeiner
Tochter gelang es endlich , ihn zu beruhigen .
Der edle Redner ſchluchzte noch ein Weniges ,
dann fuhr er ſo fort : Es iſt meiner Treu recht
ſchlecht von mir , daß ich von meinem in Gott
ruhenden Ahnherrn Uebles rede , aber Ehrlich
währt am längſten . Dieſer Menſch und Lügner
hat die hiſtoriſche Wahrheit auf Jahrhunderte hin
vergiftet , und die nachgebornen Geſchlechter gewiſ-
ſermaßen unter die Botmäßigkeit jedes Irrwahn’s
gegeben , der ſeitdem in der Welt auftrat . Ja ,
um mich eines Gleichniſſes aus einer ſeiner abge-
ſchmackten Fabeln zu bedienen , es erging der
Menſchheit nachmals mit jedem falſchen Propheten
wie dem Bären , den der Ahnherr an die honigbe-
ſchmierte Wagenſtange lockte , und der ſich durch
und durch auf ſelbige hinaufleckte . Denn es
mochte den Leuten etwas noch ſo Unglaubliches
vorgeſchwätzt werden , ſie riefen immer : Das muß
wahr ſeyn ; Münchhauſen hat ganz andre Sachen
erfahren ! So leckten ſich die Leute vor fünfzig
bis ſechszig Jahren auf den Eiszapfen der Auf-
klärung hinauf , und als ſie mit Mühe und Noth
von dieſem wieder heruntergeſchroben waren , und
die grimmige Erkältung noch in ihren Einge-
weiden raſſelte , da kamen die Franzoſen und hiel-
ten ihnen den Freiheitsbaum vor , mit einer
Miſchung von Sirup und Cognac beſtrichen , und
die Narren leckten wieder ſo tapfer darauf los ,
daß ſie bald Alle mit Schmerzen an dem ſtach-
lichten Stamme feſtſaßen , und Napoleon mit
leichter Mühe ſie daran hinter ſich herziehen
konnte . Nun , dieſe Begeiſterung nahm denn endlich
auch ein Ende mit Schrecken und gegenwärtig …
Gegenwärtig ? fragte der Baron erwartungs-
voll . Gegenwärtig , verſetzte der Freiherr bedächtig ,
werden ſo viele und verſchiedenartige Stangen ,
Bäume und Zapfen , worunter ſich auch einige
Eiſenſchienen befinden , mit Honig beſtrichen , daß ſich
noch nicht entſcheiden läßt , welches dieſer Fang-
mittel die Meiſten zu feſſeln im Stande ſeyn
werde .
Aber das Wort der Wahrheit , durch welches
Ihr Ahnherr an die dreihundert Menſchen töd-
tete ! rief das Fräulein Emerentia ſanft und
dringend .
Recht ſo , meine Gnädige , erwiederte der Freiherr .
Allegorie und Phantaſieſpiele ſind aus der Mode ,
gehören der Ramlerſchen Zeit an ; Stoff ! Stoff !
Stoff ! ruft die nach Realitäten hungrige Welt .
Hier iſt der meinige . Münchhauſen , der Ahnherr ,
war trotz ſeines gräulichen Laſters eine ſelten-
begabte Natur . Er hatte mit Caglioſtro in Ver-
bindung geſtanden , zu ſeiner Zeit Gold gemacht ,
von der Sorte , die man Knallgold nennt , man
verſicherte , er höre , nicht im figürlichen , ſondern
im buchſtäblichen Sinne , das Gras wachſen , kurz ,
er hatte tiefe Blicke in ſo manches Naturgeheimniß
gethan . Beſonders war an ihm ein ſcharfes
Ahnungsvermögen für eigne Körperzuſtände ausge-
bildet worden , und Alles , was nachmals in dieſem
Betreff von nervöſen oder ſomnambülen Perſonen
erzählt worden iſt , war Kleinigkeit gegen das , was
glaubwürdige Gewährsmänner mir von ihm berich-
tet haben . Er wußte an ſich ſelbſt jede Befin-
densveränderung , wie die Homöopathen die Krank-
heiten nennen , vorauszuſpüren , und trug , ſo zu
ſagen , ſeine ganze ſomatiſche Zukunft , im Geruch
vorgebildet , mit ſich umher . Daß Einer merkt ,
wenn ein Schnupfen bei ihm im Anzug iſt , will
nicht viel bedeuten ; aber durch den Schnupfen
hindurch die ſpäteren Uebel , die ihn noch betreffen
ſollen , zu merken , iſt allerdings nicht Jedem gege-
ben . Theophilus , ſagte der Ahnherr eines Tages
zu dem Manne , der mein Vater vor der Welt
heißt , Theophilus , ich kriege morgen einen rech-
ſchaffenen Schnupfen , wenn der vorüber iſt , giebt ’s
ein kaltes Fieberchen , und darnach wird der Reſt
der böſen Schärfe als Podagra in den rechten Fuß
fahren . Und richtig , ſo kam es . Er hatte durch den
Schnupfen hindurch das kalte Fieber , durch dieſes
hindurch das Podagra an ſich abgewittert .
Sie haben gewiß von jenem ſüdamericaniſchen
Indianerſtamme im Gebiete Apapurincaſiquinitſch-
chiquiſaqua gehört ?
A … pa … pu … rin … buchſtabirte der
alte Baron . Ja wohl , ja wohl haben wir von
dieſem Stamme gehört , fuhr er nach einigem
Beſinnen fort . Wer ſollte auch davon nicht gehört
haben !
Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua , flüſterte das
Fräulein ſchwärmeriſch vor ſich hin .
Dieſer Indianerſtamm , ſagte der Freiherr ,
wohnt dreiundſechszigdreiviertel Meilen ſüdlich vom
Aequator auf einem Bergplateau zweitauſendfünf-
hundert Fuß über der Meeresfläche . Von den
ſchneeigten Pics der Cordilleras rings geſchützt ,
leben jene Menſchen ein einfaches Ur- und Natur-
leben hin . Nie ſuchte die Habſucht und Grau-
ſamkeit der Conquiſtadoren ſie hinter ihren beſchir-
menden Felſenwällen heim . Bäume giebt es nicht
auf Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua wegen ſeiner
hohen Lage , aber unendliche Flächen dehnen ſich
an den ſonnebeſchienenen Abhängen der Pics aus ,
ſmaragdgrün von einer Grasart , in deren breiten ,
fächerartigen Blättern der Weſtwind , welcher da
beſtändig weht , ein melodiſches Säuſeln zu erwecken
nicht müde wird . Zahlreiche Heerden von phirſich-
blüthenen Kühen und Stieren , ( ſo lieblich ſcherzt
dort die Natur in Farben ) weiden in den grünen
Grasweiden ; die feurigen Kälber ſind goldgelb ,
erſt nach und nach nehmen ſie jenen kälteren Far-
benton an . Dieſes Rindvieh iſt der einzige
Reichthum der unſchuldigen Apapurincaſiquinitſchchi-
quiſaquaner . Sie leben faſt nur von der ſauren
oder ſogenannten Schlippermilch , welche ihre ſchönen
Jungfrauen , vom Antlitz bis zu den Fußknöcheln
tättowirt , mit den feinen , roth und gelbbemalten
Fingern den ſtrotzenden Eutern der Kühe entziehn .
Ihr himmliſchen Mächte , wie reizend ! ſagte
das Fräulein , in Gefühl ſchwelgend .
Das heißt , erinnerte der Baron , und rieb ſich
die Stirn , aus den Eutern gewinnen ſie ſüße
Milch , und nachher machen ſie den ſauren Schlipper
daraus .
Nein ! antwortete der Freiherr . Der ſaure
Schlipper kommt auf jenem glücklichen Bergplateau
von der Kuh , und nur , wenn er lange geſtanden
hat , und dem Zuſtande der Verderbniß ſich nähert ,
dann geht er in Süßigkeit über .
Hm ! Hm ! Hm ! Ja … aber — — murmelte
der Alte und ſchüttelte den Kopf .
Erſtaunen Sie nicht , hören Sie mich ruhig
aus . Iſt nicht alles Urſprüngliche ſauer ? Wie
ſchmeckt die wilde und unverbildete Caſtanie ?
Kannſt du in den jugendgrünen Apfel beißen ,
ohne das Geſicht verzerren zu müſſen , oder in
die kindliche harte Pflaume ? Geben Trauben ,
die der buhleriſche Strahl der Sonne noch nicht
um ihre Unſchuld betrog , etwas Anderes ,
als Eſſig ? Pindar ſingt : Das Fürnehmſte iſt
Waſſer ; ich aber ſage : Das Urſprüngliche iſt
ſauer .
O , das Urſprüngliche ! ſeufzte Emerentia .
Sauer iſt daher die Milch jener Natur-Kühe .
Alle Hausthiere verlieren bekanntlich durch den
Umgang mit Menſchen viel von ihrer urſprünglichen
Ausſtattung ; Hund und Katze , die in der Wild-
niß zottige , energiſche Beſtien ſind , werden in
unſern Stuben kleine glatte Schmeichler , und ſo
giebt denn auch unſer Hornvieh , weil es in alle
Widerſprüche abſchwächender Cultur mit einging ,
einen Saft , von welchem wir zwar glauben , er
ſei das Ergebniß unverſtimmter Kräfte , welcher
aber gleichwohl in ſeiner ſüßen Schlaffheit nur die
herabgekommne Conſtitution der zahmen oder Kunſt-
Kuh anzeigt . Erſt wenn dieſe ſogenannte ſüße ,
eigentlich aber entnervte Milch eine Zeitlang
geſtanden hat , beſinnt ſie ſich wieder auf ihre ver-
ſcherzte Urſprünglichkeit , fährt in Reue und
Schaam zu den klaren Molken und dem gehalt-
vollen Schlipper auseinander , den die Leute in
Niederſachſen auch wohl Waddicke nennen , und
nun , in dieſem biedern Zuſtande , wird ſie von allen
reinen Seelen in der holden Einſamkeit eines
bäuerlichen Düngerhofes mit Wolluſt verſchlürft .
Aber Reue iſt keine Unſchuld , und unſre Schlip-
permilch nicht die , welche auf den Höhen von
Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua warm von der Kuh
gezogen wird . — O tränke wieder jeder deutſche
Mann ſaure Milch …
Und rauchte dazu ſeine Pfeife Tobak … fiel
der alte Baron mit Wärme ein .
… ginge dann zwiſchen Gemüſebeeten auf
und nieder ſpazieren ! … rief der Freiherr .
Und hörte nichts , als : Alle Neun ! oder Sand-
haſe ! von der benachbarten Kegelbahn — ſeufzte
der alte Baron .
Dann wäre Germanien wahrhaft reſtaurirt !
ſchloß der Gaſt mit Emphaſe .
Aber um der Götter willen , rief ein hagrer
Mann , welcher während dieſer Geſpräche einge-
treten war , wir erfahren ja noch immer das
Wort der Wahrheit nicht , wodurch Ihr Ahnherr
dreihundert Menſchen vom Leben zum Tode brachte !
Der Freiherr ſah auf ſeine Uhr , und ſagte
mit dem Tone geiſtiger Ueberlegenheit , welcher
ihm eigen war : Es möchte dazu heute zu ſpät
ſeyn . Auf morgen alſo , wenn Sie vergönnen . Er
ſtand auf , nahm eine Kerze , und verließ , Allen
eine gute Nacht wünſchend , das Zimmer .
Warum fielt Ihr ihm in die Rede , Schul-
meiſter ? ſagte der alte Baron verdrießlich zu dem
Hagern . Einen ſolchen Mann , mit einem ſo Welt-
umfaſſenden Geſichtskreiſe muß man nie im Fluſſe
der Worte ſtören , es kommt immer dabei etwas
zum Vorſchein , was unterhält und belehrt , und
am Ende wären wir doch wohl noch zu dem
Worte der Wahrheit ſeines Ahnherrn gediehen ,
wenn Ihr ihn nicht unterbrochen hättet .
Schelten Sie mich nicht , mein Gönner , um
dieſen Freiherrn von Münchhauſen , der uns da ſo
unverſehens in das Schloß geworfen iſt ; erwie-
derte der Hagre . Er kann den an Kürze und
Laconismus Gewöhnten ſchon ungeduldig machen ,
dieſer endloſe Redner und Erzähler , denn er ver-
fällt immer aus dem Hundertſten in das Tauſendſte .
Kürze aber , die körnige Kürze der Sparter , iſt wie ein
Köcher , darin gar viele Pfeile ſtecken ; indem erſtens …
Es iſt ſchon gut , Schulmeiſter , fiel ihm der
Alte in die Rede , indem er ihn mit einem zwei-
deutigen Blicke maaß . Warum kommt Ihr heute
ſo ſpät ? Wir haben Alles aufgeſpeiſt .
Der Schulmeiſter Ageſilaus ließ ſeine Augen
in die Ecke des Zimmers dringen , worin ein klei-
ner Tiſch ſtand , ärmlich gedeckt . Die Knochen eines
verzehrten Huhns lagen auf den Tellern verſtreut .
Es wollte ſich in der Eile nicht des Schilfes
genug für mein Nachtlager ſchneiden laſſen , ver-
ſetzte er . So bin ich denn hier nach dem Mahle
erſchienen , und werde mich zu Hauſe mit ſchwar-
zer Suppe verköſtigen müſſen . Er zündete ſeine
Blendlaterne an , ſchlug den groben , zerrißnen
Mantelkragen , den er ſtatr des Rockes trug , feſter
um ſich , und entfernte ſich nach höflicher Verbeu-
gung gegen den Baron und das Fräulein .
Der Alte ſah ſich um und murrte : Kein zweiter
Leuchter mehr hier ? Er nahm aus dem Wand-
ſchranke ein Lichtſtümpfchen , ſteckte es in den
Hals einer Flaſche , und ging mit dieſer Vorrich-
tung aus dem Stegreife davon , in tiefen Gedan-
ken über die Erzählungen des Gaſtes , ohne der
Tochter weiter zu achten .
Dieſe hatte von allen ſeitherigen Verhandlun-
gen nichts bemerkt , weil ſich nach der Schilderung
jenes glückſeligen Bergplateaus die romantiſche Träu-
merei ihrer bemächtigt hatte , in die ſie nicht ſelten
verſinken konnte . Jetzt fuhr ſie aus dieſen Ent-
zückungen der Abweſenheit empor , und rief : Gro-
ßes , ungeheures Naturbild ! Das Smaragdgrün
der Wieſen am Abhange der Pics , vermiſcht mit
dem Phirſichroth der Kühe und dem Goldgelb der
Kälber , ſich abhebend von dem Schneeweiß der
Cordillerasgipfel im Hintergrunde ! O wäre ich
auf Apapur … auf Apapur … auf der Berg-
ebene mit dem unausſprechlichen Namen !
Ein Windſtoß warf das Fenſter auf , deſſen
einer Flügel , nur noch morſch in ſeinen Nägeln
hangend , zu Boden fiel , und klirrend zertrümmerte .
Das Fräulein aber achtete dieſes Umſtandes nicht
ſonderlich , ſondern hob eine Tiſchplatte ab , ſtellte
ſie gegen die Lücke , und begab ſich dann , gleich
den übrigen Perſonen , zur Ruhe , um von der
Bergebne , mit deren langen Namen ich meine
Zuhörer ſchon ſo oft habe behelligen müſſen , wei-
ter zu träumen .
Zwoͤlftes Capitel .
Der Freiherr bringt zwar die angefangne
Geſchichte nicht zu Ende , handelt aber von
andern außerordentlichen Dingen .
Münchhauſen hob am folgenden Abende ohne Vor-
rede alſo an : Der ſüdamericaniſche Indianerſtamm ,
welcher uns geſtern beſchäftigte , bringt es bei ſei-
ner ſauren Milchnahrung meiſtens zu einem ſehr
hohen Alter . Es iſt unter ihnen gar nicht ſelten ,
daß Männer und Frauen das hundertſte Jahr zurück-
legen . Weil ihre Sinne und Säfte nun immer
in der unmittelbarſten Gemeinſchaft mit der Natur
verblieben , ſo wiſſen ſie auch durch ein richtiges
Gefühl , wenn die Natur ſich ihr Ziel geſetzt hat .
Ein ſolcher Sterbegreis ſagt daher ganz genau
Stunde , Minute und Augenblick ſeines Todes vor-
aus , flicht ſich die Strohflaſche , worin er ſich zu
beſtatten gedenkt …
Die Strohflaſche ? fragte der Schulmeiſter
Ageſilaus .
Die Strohflaſche , erwiederte der Freiherr
kaltblütig . Wenn man mir von Anfang an zu-
gehört hätte , ſo würde manche Frage zu ſparen
ſeyn . Holz haben ſie nicht , das ſagte ich ſchon
geſtern , Särge können ſie folglich nicht zimmern ,
ſie müſſen ſich mit getrocknetem Graſe oder Stroh
helfen , um ihre Leichenfutterale zu fertigen . Ein
ſolches Futteral hat die Form desjenigen Geflechts ,
worin der Maraſchino von Trieſt verſchickt wird ,
länglicht-viereckicht , oben mit einem kurzen , etwas
engeren Halſe . Dahinein kriecht nun der Sterbe-
greis , nachdem er von ſeinen Angehörigen Abſchied
genommen hat , und endet pünktlich in dem vorher-
geſagten Augenblicke . Sobald er verſchieden iſt ,
binden ſie eine Blaſe über die Mündung , und dann
ſetzt ſich die ganze Familie im Kreiſe um das
Sterbefutteral her und ißt zum Gedächtniß des
Verewigten ſaure Milch . Hierauf tragen ſie die
Strohflaſche nach der Felſenbank Pipirilipi , dem
allgemeinen Begräbnißorte des Volks . Dort wird
ſie zu den Uebrigen geſtellt . Ich habe jene Ruhe-
ſtatt ſelbſt geſehen ; ſie gewährt einen ſchönen An-
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 2
blick . Wie auf Rayolen in einem wohlverſehenen
Keller ſtehen dort auf der Felſenbank viele tauſend
Flaſchen neben einander , die Vorzeit des Volks
iſt ſo zu ſagen auf Stroh abgezogen .
Sie waren auch auf dem ſmaragdgrünen Pla-
teau ? fragte das Fräulein einigermaßen befremdet .
Liebe Seele , wo wäre ich nicht geweſen ! ant-
wortete lächelnd der Freiherr . Ich war vor eini-
gen Jahren Europamüde , warum ? weiß ich ſelbſt
nicht , denn es hatte mir Niemand etwas zu Leide
gethan , aber ich war Europamüde , wie man
gegen Eilf Uhr Abends Schlafmüde wird . Be-
ſchloß alſo , zu reiſen , ſo weit weg , wie möglich .
Weil aber heut zu Tage jeder Menſch , der in
Betrachtung kommen will , abſonderlich unterweges ,
intereſſant ſeyn und den Spleen haben muß , reiſte
ich erſt nach Berlin und ließ mich dort im Inte-
reſſantſeyn unterrichten ; dafür zahlte ich zwei Frie-
drichsd’or Honorar . Dann ging ich nach London ,
und lernte dort bei einem Maſter den Spleen ;
der Tauſendſaſſa war aber theuer , ich mußte ihm ,
Sie mögen es mir glauben , oder nicht , zwanzig
Guineen entrichten , und außerdem ſchwören , das
Geheimniß nicht verrathen zu wollen .
Nachdem ich ſo das Intereſſante und den Spleen
weg hatte , glückte es mir überall recht ſehr . Ich
trug mich bald als Engländer , bald als Neugrieche ,
zuweilen lag ich als Dame auf dem Sopha und
hatte Migraine ; dabei redete ich ein Kauderwälſch
von Franzöſiſch und Deutſch , wie es zu Anfang
des Achtzehnten Jahrhunderts während der großen
Sprachverderbniß Mode war . In jenen wechſelnden
Coſtümen , und in dieſem Deutſch , gorge — de —
pigeon , beſtand das Intereſſante ; was aber den
Spleen angeht , ſo führte ich immer Kampher bei mir ,
um das Geheimniß friſch zu erhalten . Davon bekommt
man nämlich eine blaſſe Couleur ; ich ſah bald aus , als
hätte ich ſchon zehn Jahre im Grabe gelegen . Als ich
mich eines Tages in meinem Toilettenſpiegel , deren ich
damals , wo ich der Eitelkeit fröhnte , ſtäts mehrere
beſaß , zu Geſichte bekam , und meine bleiche Farbe
erblickte , ging mir ein lichter Gedanke im Kopfe auf .
Sehe ich nicht wie eine Leiche aus ? ſagte ich zu
mir ſelber . Ich will mich den Verſtorbenen nen-
nen . Geſagt , gethan ! Dieſer Einfall hat Wun-
der gewirkt . Einen Verſtorbenen hatten die Deut-
ſchen noch nicht gehabt . Und nun gar ein Ver-
ſtorbener , der ſo traulich mit ihnen zu plaudern
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wußte , und ihnen tauſend Geſchichtchen erzählte ,
die ein Lebender allenfalls auch in jedem Klatſchzim-
mer der Societät hätte auftreiben können ! Jung
und Alt , Männer und Weiber , Gelehrte und
Idioten drängten ſich zu den Leichenſpuren des
Verſtorbenen ; die alte Fabel wurde wieder neu ,
welche das Volk hinter einem geſchmückten Ver-
weſ’ten jubelnd herwandern läßt . Geheime Künſte
haben es aus der Gruft emporbeſchworen , die
Menge zu locken . Die Jünglinge drängen ſich be-
gehrlich heran , mit der buntgeſchminkten Frau
Venus zu tanzen ; immer weiter lockt die Peſt-
dampfende Schönheit , welche ihnen wie Zibeth und
Ambra riecht , die Lüſternen ; endlich auf einem
Kirchhofe fallen die Gewänder von den klappernden
Gebeinen ab , und ein ſcheußliches Skelett faucht
ihnen den Spruch zu : Sic transit gloria mundi .
Aber mit mir kam es nicht ſo weit , vielmehr blieb
ich , obgleich ein duftender Verſtorbener , recht in-
mitten der Gloria Mundi . Nachdem ich ſo be-
rühmt geworden war , ſtrich ich durch die ganze
Welt , kam auch im Vorbeigehen durch Africa ; in
Algier wurde ich Arabiſch mit allen Formalitäten ,
hatte dann gutes Logis bei Vicekönigs von Egypten .
Er wurde mein Dutzbruder , und ich mußte ihm
tauſend Sachen erzählen , die er mir alle geglaubt
hat . Weiter oberhalb nach Nubien zu , unfern der
großen Katarakte , ſtieß mir ein hübſches Aben-
theuer mit einem Nilpferde auf . Ich ſitze am
Strom im Schilf , in naturalibus , wie mich der
Herr geſchaffen hat , denn anders bin ich in Africa
nie gegangen ; eſſe mein Mittagsbrod in guter
Ruhe , ſiehe da , ſchießt eine Beſtie von Hippopo-
tamos auf mich zu , und hat mich im Rachen , ehe
ich noch rufen kann : Qui vive ! Ich indeſſen nehme
in der Geſchwindigkeit mein Bischen Geiſtesgegen-
wart zuſammen , ſchreie in dem Rachen , als das
Vieh mich eben verſchlucken will : Monsieur ! Mon-
sieur ! avec permission , je suis son Altesse
telle et telle ! Was geſchieht ? Sie mögen es mir
glauben oder nicht : Die gute Seele von Nilpferd
ſpuckt mich auf der Stelle aus , wiſcht ſich die
Thränen aus den Augen …
Womit ? Womit ? rief der Baron .
… mit einem Palmblatte , welches die ehr-
liche Haut in die rechte Vorderpfote nimmt ; erröthet ,
und rennt beſchämt davon . So weit haben es
Vicekönigs ſchon in Egypten gebracht , daß ſelbſt
die Hippopotamoi vor literariſchen Sommitäten
Reſpect bezeigen .
Ich meine , das Nilpferd nähre ſich nur von
Vegetabilien , nicht von Fleiſch , wandte das Fräu-
lein beſcheiden ein .
Es iſt vermuthlich kurzſichtig geweſen , und hat
mich für eine Pflanze angeſehen , antwortete der
Freiherr . Ich weiß , was ich weiß ; ich habe im
Rachen drin geſteckt . Wahrheit muß Wahrheit
bleiben , und Ehrlich währt am längſten . Wo blieb
ich ſtehen ? Ja , in Africa . Warum ſoll ich Sie
aber mit ſolchen Kleinigkeiten aufhalten ? Ich war
bald Africamüde , wie ich Europamüde geweſen
war , beſchloß daher nach America zu reiſen , vor-
her aber einen Abſtecher nach Deutſchland und
England zu machen , wohin mich verſchiedne Gründe
zuvor riefen .
Erſtens hatte ich das Intereſſante und den
Spleen etwas verlernt , und wollte daher wieder
in Berlin und in London meinen Curſus machen .
In Africa ſind die Leute gar nicht intereſſant , der
Koran begünſtigt dieſe Richtung nicht , eine ara-
biſche Schnauze iſt wie die andre , und was den
Spleen betrifft , ſo vertreibt den der Vicekönig
von Egypten durch die Vaſtonade ; es giebt kein
efficaceres Mittel gegen Schwermuth , als ſie .
Einmal hatte ich mich mit ihm etwas brouillirt ,
wie das unter Freunden wohl kommen kann ; da
dachte ich an die möglichen Folgen für die Fuß-
ſohlen , und von dem Gedanken ſchon war aller
Spleen weg , ſelbſt bis auf die Erinnerung . Es
kam zum Glück nicht zu jenen Folgen , wir ver-
ſöhnten uns und aßen noch denſelben Mittag Sauer-
kraut mit Schweineohren zuſammen , denn er iſt
ein aufgeklärter Türke , und will nächſtens in einer
Schrift beweiſen , daß Mahomet ein Product der
Gläubigen ſei . Wo blieb ich ſtehen ? Ja ſo ; bei
dem Spleen . Nun , das Intereſſante hatte ich
aus Mangel an Anſchauungen in meiner Umgebung
ebenfalls wieder eingebüßt . Ich mußte alſo ſchon
deßhalb nach Deutſchland und England .
Dießmal war ich genöthigt , in Berlin für den
Unterricht im Intereſſanten eine Bonne zu nehmen ,
die Mere Oye , der es im Rückblick auf Perſonen
und Zuſtände nicht gegangen war , wie Loths Weibe
bei einer ähnlichen Gelegenheit . Denn , anſtatt
zur Salzſäule zu erſtarren , war ſie nur immer
geſprächiger und mercurialiſcher geworden . Viele
Leute wollten der guten Mere und Commere etwas
am Zeuge flicken ; ſie ſagten , all ihr Geiſtreicheln
und Intereſſantiſiren ſei doch purer Waſchſchaum ,
aber ich muß die Mere Oye vertheidigen . Auf
hohe Ziele hat ſie es überhaupt nicht abgeſehen ;
ſie gedenkt nur ihrer Ahnmütter , die urlängſt
durch Schnattern das Capitol retteten . Und da
übt ſie nun mittlerweile ihr Organ , um bei
Stimme zu ſeyn , wenn dermaleinſt das Capitol
des plattirten-Liberalismus in Deutſchland gefährdet
werden ſollte .
Warum gingen Sie aber nicht zu Ihrem alten
Lehrer ? fragte der Baron .
Der ſaß in Paris dazumal und las Altfranzö-
ſiſche Manuſcripte . Ich reiſte von Algier über
Toulon und jene Hauptſtadt , und traf ihn auf der
Bibliothek . Da ſah ich nun ein wahres Wunder
jetziger Bücherſchnellfabrication oder Schnellbücher-
fabrication . Denn es iſt gewiß ; Sie mögen mir
es glauben , oder nicht , mit der linken Hand
ſchlug er die Blätter des pergamentenen Folianten
um , der vor ihm lag , und mit der rechten ſchrieb
er gleichzeitig ein Buch darüber oder daraus , ſo
daß , wenn er links in Folio fertig geleſen hatte ,
ihm rechts ein Octavband abgegangen war . Da-
zwiſchen dictirte er noch ein ſpirituelles Billet an
eine Comödiantin , und unterhielt ſich mit einem
Arrondiſſementscommiſſair gründlich über das Pari-
ſer Griſettenweſen . Er blieb folglich nur drei
Stadien hinter Cäſar’s Vielſeitigkeit zurück .
Was aber der zweite Grund meines Abſtechers
nach Deutſchland war , ich wollte mir dort wieder
einen guten Bedienten miethen . Meinen bisherigen
hatte ich abſchaffen müſſen ; er wollte auch intereſ-
ſant ſeyn , und hielt deßhalb beſtändig Maulaffen
feil . Als Intereſſanter von Diſtinction glaubte
ich Einſpruch thun zu dürfen , aber da die Gewerbe-
freiheit überall herrſchte , ſo war in der Sache
nichts zu machen ; jeder Lump durfte intereſſant
ſeyn .
Nur aus Deutſchland wollte ich mir den Erſatz-
bedienten holen , denn jedes Land hat ſeine eigenthüm-
lichen Producte , die man nirgends anders ſo gut be-
kommt . Spanien hat ſeine Weine , Italien den Geſang ,
England die Conſtitution , Rußland den feſteſten Juch-
ten , Frankreich die Revolution , und in Deutſch-
land gerathen die Bedienten am beſten .
Dreizehntes Capitel .
Der Freiherr beginnt eine hiſtoriſche No-
velle von ſechs verbundnen Kurheſſiſchen
Zöpfen zu erzählen , wird aber von dem
Ausbruche der Verzweiflung bei dem Schul-
meiſter Ageſilaus unterbrochen , und ver-
ſpricht geordnetere Mittheilungen .
Da , wo die buſchichten Anhöhen des Habichtwal-
des gegen Abend , die Hügelketten des Reinhartwal-
des gegen Mitternacht , der felſichte Sörewald gegen
Mittag zu einem weiten Thale auseinandertreten ,
durch welches die Fulda in mannigfachen Krümmun-
gen von Mittag nach Mitternacht ihre Fluthen wälzt ,
gegen Morgen aber eine lachende Ebne ſich auf-
thut , über welcher in weiter Ferne der majeſtäti-
ſche Meißner ſein blaues Haupt erhebt , liegt Caſſel …
O Ihr heiligen und gerechten Götter , wohin
ſoll denn nun das wieder führen ? ſtöhnte der
Schulmeiſter Ageſilaus , den die Erzählungen des
Freiherrn in einen Zuſtand verſetzt hatten , welcher
ſich ſchwer beſchreiben läßt .
… liegt Caſſel , die Hauptſtadt des Kurfür-
ſtenthums Heſſen . Reinliche , breite Straßen durch-
ſchneiden die obere oder Neuſtadt , deren Gebäude
faſt alle von regelmäßiger Bauart ſind , während
die untere oder Altſtadt mehr dem Schmutze und
der Krümme anheimgefallen iſt . Mehrere ſchöne
öffentliche Plätze verſchönern jenen ſchöneren Theil
der Stadt , unter allen jedoch iſt der Friedrichs-
platz der ſchönſte , an welchem ſich das prachtvolle
Schloß mit ſeinen langen Fenſterfluchten erhebt .
Es war um die Zeit , als nach der glücklichen
Herſtellung der alten Verhältniſſe Kurfürſt Wilhelm
in die Hallen ſeiner Väter zurückgekehrt war ,
und unter mehreren früheren bewährten Einrich-
tungen auch jene Verlängerung des Haarwuchſes
wieder eingeführt hatte , welche man im Deutſchen
mit dem Namen Zopf zu belegen pflegt . Auch
dieſe Zeit iſt längſt vorüber , die Kunde von ihr
klingt faſt wie die Mähr von dem verſunkenen
Eilande Atlantis ; der hiſtoriſchen Dichtung aber
ziemt es , nichts in der Geſchichte verloren geben zu
laſſen , nicht einmal den ehemaligen Kurheſſiſchen Zopf .
Es war ſpät Abends und Caſſels Bewohner
ſchliefen ſchon , oder legten ſich zu Bett . Auf
dem Schloſſe aber war es im Cabinett des Für-
ſten noch hell . Die Soir é e war zwar geen-
digt , jedoch hielt der alte würdige Herrſcher noch
einige ſeiner Auserwählten um ſich verſammelt .
Man hatte ſich auf die gewohnte Weiſe von der
Zwiſchenregierung und von dem wunderbaren
Umſchwunge der Dinge unterhalten . Der Kurfürſt ,
welcher ſeine Gardeuniform , Klappenweſte und
ſteife Stiefeln trug , ſtand feſt auf das ſpaniſche
Rohr mit goldnem Knopfe geſtützt , und ſagte :
Es bleibet dabei , Ich agnoſcire Nichts von dem ,
was Mein Verwalter Jerome inzwiſchen angeordnet
hat . Wer darunter leidet , mag ſich an Meinen
Verwalter halten , dem Wir nicht die Macht gege-
ben hatten , auf ſeinen Kopf neue Sachen einzu-
führen , und der mithin bei derartigen Thathandlungen
Mandatum excediret hat . Wir wiſſen wohl , daß
Wir dieſerwegen der Cenſur etlicher unruhiger
Köpfe unterliegen , aber das läßt Uns völlig unan-
gefochten in Unſrem Gewiſſen , und Wir vertrauen
hierinnen gänzlich der göttlichen Providentz , die
Uns nach kurzer Ueberwältigung in Unſre Erb-
ſtaaten zurückgeführet , und deutſche Treue und
Redlichkeit auch auf Unſrem Territorio retabliret
hat . Habt Ihr das Edict verfaſſet , wodurch den
Domainen-Ankäufern alle und jegliche Hoffnung ,
ſich in ihrem unrechtfertigen Beſitze zu mainteniren ,
entzogen wird ?
Das ließ ich meine eiligſte Sorge ſeyn , ver-
ſetzte der Angeredete , der Geheimerath Vellejus
Paterculus . Es war in der That hohe Zeit , daß
deutſche Treue und Redlichkeit bei uns retablirt
wurde .
Man kennet Mich noch nicht gehörig , fuhr der
alte kräftige Fürſt mit erhobener Stimme fort .
Ich habe ſchon einmal die Gaſſenkehrer zur Correc-
tion der Weichlinge und Schwelger in neumodiſchen
franzöſiſchen Kleidern die Straßen fegen laſſen ,
und es dürfte paſſiren , daß ſich Gleiches oder
Aehnliches abermalen ereignete , wenn man Uns
zu viel Aergerniß giebt . Dieſes Caſſel war unter
der Wirthſchaft Meines Verwalters ein liederlicher
Ort geworden , und alle Zucht und Sitte hatte
Abſchied genommen .
Eine Dame näherte ſich dem Fürſten , und
ſagte mit ſchmeichelndem Tone : Ereifre dich
nicht , Väterchen , du haſt ja beides , Zucht und
Sitte , hier wieder eingeführt .
Sie und der Geheimerath Vellejus Paterculus
wurden hierauf entlaſſen . Nur der Baron von
Rothſchild verblieb noch bei dem Fürſten . Er
war nach Caſſel gekommen , um mit ſeinem
erlauchten Geſchäftsfreunde Abrechnung zu halten ,
und hatte jetzt zu vernehmen , daß der Kurfürſt
die in des Barons Händen beruhenden Fonds
ihm nicht länger zu ſieben Procent laſſen könne ,
ſondern auf dem achten fortan beſtehen müſſe .
Der Baron von Rothſchild war durch dieſe
Nachricht und Eröffnung im Tiefſten erſchüttert .
Er ſchwor bei dem Gotte Abrahams , Iſaaks und
Jakobs , daß ihn eine ſolche Maaßregel in das
Verderben ſtürze , da aber ſein hoher Gläubiger
feſt darauf beſtand , und ihn für den Fall des
Weigerns mit der Kündigung bedrohte , ſo gab
der Baron endlich mit blutendem Herzen nach und
erwog zu ſeinem Troſte im Stillen , daß in ſeiner
Bank das Pfund mit zwanzig Procent wuchre ,
ihm ſonach allerdings zwölf noch übrig verblieben .
Der Fürſt hatte bei der ganzen Verhandlung
ſeine Haltung unerſchütterlich bewahrt . Jetzt ſtieß
er das Fenſter auf , ſah in die ſternenklare Nacht
und ſagte : Wenn Ich conſiderire , daß Ich
wieder hier im Palais bin , und welche Intereſſen
Mir die Engliſchen Gelder , die Ich dazumal für
das Americaniſche Corps erhielt , in Seinen Hän-
den getragen haben , Rothſchild , ſo muß Ich ſpre-
chen : Der alte Gott lebet noch und läſſet nicht
zu Schanden werden .
Der Baron erwiederte etwas verſtimmt : Warum
ſoll nicht leben der alte Gott , da noch leben Eur ’
Hoheit ? Wie kann man werden zu Schanden
mit acht Procent ?
Während ſich dieſe Begebenheiten im Innern
des Schloſſes zutrugen , erzählten unten in der
Wachtſtube die ſechs Gebrüder Piepmeyer ihren
Cameraden Geſpenſtergeſchichten . Die ſechs Gebrü-
der Piepmeyer waren die ſechs Söhne des Kaſtel-
lans Piepmeyer auf der Löwenburg . Dieſer Mann
hatte , wie es bei ſolchen Aufſehern herrſchaftlicher
Schlöſſer der Fall zu ſeyn pflegt , die loyalſten
Geſinnungen , und in denſelben auch ſeine Söhne
erzogen . Man konnte daher von dieſer Familie
behaupten , daß in ſieben Individuen nur ein und
daſſelbe heſſiſche Herz ſchlage . Vater Piepmeyer
war derjenige geweſen , welcher ſich bei dem Ein-
zuge des Kurfürſten auf einen Eckſtein geſtellt ,
jubelnd ſeinen durch alle Verführungen der Fremd-
herrſchaft hindurch geretteten Zopf geſchwungen
und gerufen hatte : Durchlaucht ! Durchlaucht !
meiner ſitzt noch ! was dem alten Herrn die erſte
wahre Regentenfreude in ſeinen Staaten bereitet
haben ſoll . Sobald nun die ſechs Söhne Piep-
meyer , welche zwei Paar Drillinge waren , die
Mutter Piepmeyer in zwei nach einander folgenden
Jahren ihrem Gatten geſchenkt hatte , in das
Soldatenalter traten , ließ Vater Piepmeyer alle
ſechs an einem und demſelben Tage in die Kur-
fürſtliche Zopf- und Stiefeletten-Garde eintreten .
Sie hatten alle ſechs daſſelbe Maaß , nämlich ſechs
Fuß , drei Striche ; hielten auf die völlige Iden-
tität ihrer Stiefeletten und Zöpfe , und ſahen
einander überhaupt zum Verwechſeln gleich , ſo
daß der Commandeur ſie mit verſchiedenfarbigen
Strichen über der Naſe bezeichnen laſſen mußte ,
um ſie im Dienſt unterſcheiden zu können . Karl
Piepmeyer bekam einen gelben , Heinrich Piepmeyer
einen blauen , Ferdinand Piepmeyer einen rothen ,
Guido Piepmeyer einen orangefarbnen , Chriſtian
Piepmeyer einen grünen , Romeo Piepmeyer einen
ſilbergrauen und Peter Piepmeyer einen ſchwarzen
Strich über der Naſe . Aber außer dem Dienſte ,
wo ſie ſich als Menſchen fühlten , wiſchten ſie die
Striche ab .
Dieſe ſechs Brüder von der Löwenburg erzähl-
ten den andern Heſſiſchen Wachtmannſchaften
folgende Geſchichte : Ihr mögt es nun glauben
oder nicht , aber ſo iſt der alte Herr alle Jahre ,
während er in der Fremde war , an ſeinem
Geburtstage jedesmal droben auf der Burg gewe-
ſen . An dieſem Tage war es von früh Morgens
an ſchon immer unruhig droben , es that ſich ein
Schwirren in den ſeidnen Gardinen hervor , die
Gardinenbetten knackten , die Harniſche in der
Rüſtkammer raſſelten , der Wetterhahn auf dem
Thurme hat unaufhörlich mit den Flügeln geſchla-
gen . Schon als Knaben bemerkten wir alles
Dieſes und noch Mehreres , aber wir achteten
deſſen nicht , bis uns der Vater , nachdem wir
fünfzehn Jahre alt und confirmirt worden waren ,
bei Seite nahm und uns das Burggeheimniß ent-
deckte , welches in nichts Anderem beſtand , als daß
der Kurfürſt , wiewohl weit entfernt im Böhmiſchen
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 3
Lande , dennoch auf ſeiner Burg ſeinen Geburtstag
feire . Er komme nämlich um ſechs Uhr Abends
gerade zur Stunde , wo vor Zeiten an der Stän-
detafel die Geſundheit ausgebracht worden ſei ,
und man die Kanonen vor der Aue gelöſt habe ,
in das gelbe Commodenzimmer , worin der alte
Fritz als kleiner Junge abgemalt hängt , gegan-
gen , und verluſtire ſich dort eine halbe Stunde
lang .
Das nächſte Jahr gab uns der Vater die
Sache zu ſchauen . Nämlich , wir ſteckten uns mit
ihm ſacht hinter den grünen Vorhang im gelben
Commodenzimmer . Was geſchieht ? Wie die
Glocke auf dem Schloßthurm ſechs ſchlägt , hören
wir auf dem langen Rittergange , der zum Zimmer
führt , Thüre nach Thüre aufklappen , endlich
ſpringt auch die vom gelben Commodenzimmer auf ,
und herein tritt der Herr , wie er leibt und lebt ,
ſteife Stiefeln , gekollerte Hoſen , Montirung , drei-
eckichter Hut , Klebelocken , kurz Alles und Jedes .
Setzt ſich an das Fenſter , was nach dem Garten
ſieht , macht ſich eine Pfeife Taback an , raucht ,
daß der Dampf davon geht , kuckt unterweilen in
den Garten , klopft , wie die Pfeife zu Ende
geraucht iſt , dieſelbige aus , daß wir nachmals noch
die Aſche auf dem Getäfel gefunden haben , erhebt
ſich dann , geht ſtill aus dem gelben Commoden-
zimmer und ſo weiter , wo wir denn die Thuren
im langen Rittergange nach einander wieder zuklap-
pen hören . Das ganze gelbe Commodenzimmer
war voll Rauch , Varinas linker Hand oben , wir
haben alle ſieben , wir ſechs Brüder und unſer
Vater , deutlich die Sorte gerochen .
Als die Gebrüder Piepmeyer dieſe Geſchichte
ihren Cameraden erzählt hatten , erhob ſich in der
Wachtſtube ein hitziger Streit ; denn …
Aber der Freiherr konnte ſeine Geſchichte nicht
weiter führen , denn es erhob ſich auch in dem
Zimmer , worin die Geſellſchaft verſammelt war ,
ein heftiger Lärmen . Bei dem Schulmeiſter Age-
ſilaus brach nämlich in dieſem Augenblicke die
Verzweiflung , in welche ihn die Erzählungen des
Freiherrn verſetzt hatten , auf die gewaltſamſte
Weiſe aus . Er warf ſeinen groben und zerriſſenen
Mantelkragen ab , und rannte in der kurzen wollnen
Jacke , die er unter demſelben trug , mit den
Gebärden eines Verlornen im Zimmer auf und
nieder . Nein , was zu viel iſt , iſt zu viel , und
3*
der menſchlichen Geduld ſind ihre Grenzen geſteckt !
rief er ſchluchzend aus . Meine hochverehrten
Gönner , ich bitte zehntauſendmal wegen dieſer
meiner Unhöflichkeit um Vergebung , aber ich kann
mir nicht helfen , ich muß mir Luft machen , ſonſt
bin ich ruinirt mit Kind und Kindeskind ! Münch-
hauſens Lügen , Homöopathie , Kurheſſiſche Zöpfe ,
ſaure Milch , Apapurincaſiquinitſchchiquiſaqua , Manna
Gans , Rhinoceroſſe , Verſtorbne , Vicekönigs von
Egypten , Altfranzöſiſche Manuſcripte , Griſetten ,
Juchten , Rothſchild , Varinas linker Hand oben — —
wer dabei den Verſtand behalten will , der muß
einen weniger geordneten Kopf haben , als ich
leider beſitze . Herr von Münchhauſen beginnen
zu erzählen , dann fangen wieder andere Perſonen
an , in dieſen Erzählungen zu erzählen ; wenn man
nicht ſchleunig Einhalt thut , ſo gerathen wir
wahrhaftig in eine wahre Untiefe des Erzählens
hinein , worin unſer Verſtand nothwendig Schiff-
bruch leiden muß . Bei den Frauen , die mit
Schachteln handeln , ſtecken oft vierundzwanzig in
einander , ſo kann es fürwahr auch hier mit den
Geſchichten gehen , denn wer ſchützt uns davor , daß
alle ſechs Gebrüder Piepmeyer ſich wieder von
ſechs Wachtcameraden ſechs Geſchichten vorplau-
dern laſſen , und daß ſolchergeſtalt ſich die hiſtoriſche
Perſpective in das Unendliche verlängert ? Herr
von Münchhauſen wollten uns das Wort der
Wahrheit vertrauen , wodurch Ihr Ahnherr an drei-
hundert Menſchen tödtete ; ſtatt deſſen werden
wir auf die Cordilleras und von da nach Africa
gehetzt , und jetzt ſind wir wieder in Heſſencaſſel ,
und wiſſen nicht , warum wir da ſind . Herr von
Münchhauſen , ich halte Sie für einen großen ,
wunderbar begabten Mann , aber ich bitte Sie um
die einzige Gnade , erzählen Sie etwas geordneter
und ſchlichter . Sie wollen , wie ich vernehme ,
unſrem Herrn Baron länger die Ehre Ihres
Beſuchs ſchenken ; es muß Ihnen daher ſelbſt daran
liegen , uns nicht ſchon in den erſten Tagen außer
Faſſung zu ſetzen und geiſtig zu vernichten .
Nach dieſer Rede entſtand eine bedeutende
Pauſe . Der Wirth ſah verlegen , der Gaſt groß
vor ſich hin , das Fräulein warf einen Blick des
Zorns auf den Schulmeiſter , einen Blick der begei-
ſtertſten Hingebung auf den Freiherrn . Der
Schulmeiſter ſtand athmend in einer Ecke , und
ſchien ſehr angegriffen zu ſeyn .
Zuerſt redete der Freiherr wieder und ſagte :
Daß ich ſo brüsk unterbrochen worden bin , thut
mir leid . Ich kann verſichern , daß ich meinen
Stoff beherrſche , und daß in meinen Geſchichten ,
wie in meinem Geiſte , Alles zuſammenhängt . Ich
würde Sie aus der heſſiſchen Wachtſtube wieder
zu den Indianern auf der ſmaragdgrünen Berg-
ebne …
O die ſmaragdgrüne Bergebne ! rief das Fräu-
lein enthuſiaſtiſch .
… auf der ſmaragdgrünen Bergebne zurück-
zuführen im Stande geweſen ſeyn , und Sie würden
bald eingeſehen haben , in welcher Verbindung die
ſechs verbundenen Kurheſſiſchen Zöpfe mit dem
Worte der Wahrheit ſtehen , durch welches mein
Ahnherr an die dreihundert Menſchen vom Leben
zum Tode brachte . Freilich für Manche ſind
manche Combinationen zu hoch .
Ja wohl ! rief das Fräulein ſcharf und bitter .
Caviar iſt nicht für das Volk . Anders als ſonſt
in Menſchenköpfen , malt ſich in dieſem Kopf die
Welt .
Da ſich keine behagliche Unterhaltung wieder
machen wollte , ſagte endlich der alte Baron , der
dem Schulmeiſter eigentlich im Stillen beiſtimmte :
Das Schlimmſte wäre nun , wenn wir Ihrer fer-
neren , ſo ſehr intereſſanten Mittheilungen verluſtig
gingen , lieber Münchhauſen .
Mein Geiſt hat die Eigenheit , erwiederte dieſer ,
daß er , wie ein Räderwerk , ſofort ſtill ſteht , wenn
auch nur ein Zahn , nur ein Federchen gebrochen wird .
Alles , was den Vorfällen in der Wachtſtube zu
Caſſel folgte , die ganze Ideenverbindung zwi-
ſchen dieſen Ereigniſſen und meines Ahnherrn
Worte der Wahrheit , von welchem ich ausging , iſt
nun für immer verloren und bleibt Ihnen auf
ewig verhüllt ; das Einzige , was ich zuſagen kann ,
beſteht darin , daß ich die Geſchichte von den ſechs
verbundenen Zöpfen zu Ende erzähle . Dann muß
ich , wenn Sie mich noch weiter hören mögen , auf
andre Materien übergehen .
Der alte Baron rückte ihm freundlich näher ,
und flüſterte ihm ſchmeichelnd ins Ohr : Und
bei dieſen Materien haltet Ihr Euch mehr an der
Stange , nicht wahr , trauteſtes Münchhauſenchen ? Ich
bitte Euch nicht der Sache halber darum , die iſt
gewiß ſo am beſten verſorgt , wie Ihr ſie gegriffen habt ;
es iſt nur wegen unſrer ſchwachen Fähigkeiten , zu
denen Ihr Euch herablaſſen müßt , wenn wir durch
Euch aufgeklärt werden ſollen .
Ich will alles Fernere herunter erzählen ,
trocken wie die Zeitung , erwiederte der Freiherr .
Uebrigens kann ich verſichern , daß ich mich nach
den beſten jetztlebenden Muſtern gebildet habe ,
und meine Darſtellung ſo einrichtete , wie die
Autoren , welche das Zeitalter und die Nation
gegenwärtig entflammen und hinreißen , es mich
gelehrt haben .
Vierzehntes Capitel .
Die angefangene hiſtoriſche Novelle
kommt glücklich , wenn auch auf uner-
wartete Weiſe zu Ende .
Nach der Erzählung der ſechs Gebrüder Piep-
meyer entſtand , wie ich ſagte , in der Wachtſtube
zu Caſſel ein großer Streit . Einige Heſſen woll-
ten die Wahrheit derſelben bezweifeln , und mein-
ten , daß Niemand bei lebendigem Leibe umgehn
könne . Ein Skeptiker aus Witzenhauſen ſagte , kein
Geiſt rauche Taback , und noch viel weniger bleibe
von ſeiner Pfeife Aſche nach , das Ganze ſei daher
eine „ Einbildungskraft “ der Gebrüder Piepmeyer ,
wie er ſich ausdrückte .
Dagegen ſagten vier Gardiſten aus Schaumburg ,
mit Potentaten verhielte es ſich anders , als wie
mit Particuliers , die hätten etwas voraus , ſie
könnten überall und doch nirgends ſeyn . Zwei
Ziegenhainer riefen : Wenn er da war und ſich
verluſtiren wollte , ſo that er rauchen , und wenn
er rauchen that , ſo that Rauch und Aſche darnach
kommen . Einer aus Hofgeismar drehte dieſe Sätze
um , und folgerte alſo : Weil Piepmeyers Aſche finden
thaten , ſo hat er rauchen gethan , und weil er rauchen
gethan hat , ſo hat er auf der Löwenburg ſeyn gethan .
Es nahmen immer mehrere Wachtmannſchaf-
ten an dieſen Debatten Theil , und der Lärmen
wuchs von Minute zu Minute . Da rief der
commandirende Fähnrich , ein junger Herr von
Zinzerling , aus einer der erſten Familien des Lan-
des , mit ſeiner hohen Discantſtimme in das Ge-
töſe hinein : Ihr Sacramenter , in dreier Teufel
Namen , raiſonnirt nicht weiter ! — Jede Unter-
ſuchung hörte demnächſt auf , und alle Wachtmann-
ſchaften enthielten ſich aus Subordination ſelbſt
der ſtillen Gedanken über den Gegenſtand .
Die Nacht hatte inzwiſchen den erſten Strah-
len des Frühlichts Raum gegeben , welche den
Ofen und die Bänke der Wachtſtube mit gelbröth-
lichen Streifen ſäumten . Unvergleichlich war die
Wirkung eines ſcharfen Schlaglichtes am oberen
Zinnrande eines Bierkrugs , von welchem ein ſelt-
ſamer , aber verſtandner Reflex den Knopf des
Feldwebelſtocks traf , welcher darüber am dritten
Haken hing . Ueberall tiefe , ſatte Farbentone , klare ,
durchſichtige Schatten ! Die Wachtſtube ſchien keine
wirkliche Wachtſtube zu ſeyn , ſie war heute mehr ,
ſie war eine gemalte .
Was Piepmeyers betrifft , ſo hatten ſie ihre
Poſtenſtunden abgeſtanden , ſie durften ſich nun
einem kurzen Schlafe überlaſſen . Ruhig lagen ſie
neben einander auf der Pritſche und ſchnarchten .
Hinter der Pritſche hingen ihre ſechs Zöpfe ein-
trächtig herunter , damit der Wachtfriſeur dieſelben
auch während ihres Schlummers neu einflechten
könne .
Um dieſe Zeit ereignete ſich folgende wunder-
würdige Begebenheit . Nämlich der Wachtfriſeur
Iſidor Hirſewenzel trat in die Wachtſtube .
Darin ſehe ich denn eben kein großes Wunder !
fuhr der alte Baron unwillkührlich heraus .
Alles in der Natur und in der Geſchichte hängt
zuſammen , ſagte der Freiherr mit Würde . Man
höre mich ohne Unterbrechung an , das Wunder
folgt dem Kurheſſiſchen Wachtfriſeur Iſidor Hirſe-
wenzel auf der Ferſe .
Dieſer Iſidor iſt doch nicht … ſagte das Fräu-
lein ſchüchtern .
Der nämliche Hirſewenzel , welcher ſeither die
deutſche Bühne mit einer ſo unermeßlichen Anzahl
von Stücken bedacht hat , verſetzte der Freiherr . Unſer
Mann und Held , aus einem guten aber herabgekom-
menen Geſchlechte in Olgendorf , einem Flecken in
der Nähe der Lüneburger Haide entſproſſen , hat
einen ſonderbaren Lebenslauf gehabt . Dramatiker
wurde er erſt ſpät ; von der Natur war er durch-
aus zum Lederhändler beſtimmt . Der erſte Laut ,
den ſein kindlicher Mund von ſich gab , klang wie :
Leder ! Kein Spielzeug von Holz oder Blech ver-
gnügte den heranwachſenden Knaben , die muntre
braun und gelbbemalte Erbſenflinte war ihm ein
Gräuel , mit Abſcheu ſtieß er das gefällig conſtruirte
grüne Nürnberger Wägelchen , das ſchuldloſe Weih-
nachtsſchaaf mit den ſinnigen rothen Lackaugen
zurück , dagegen begannen ſeine Blicke zu leuchten ,
wenn er der Peitſche anſichtig wurde , und der
fünfgeflochtenen Schnur , wenn er das Leder-über-
zogene Hottpferd beſteigen durfte , wenn man ihm
die kleine Scherzpatrontaſche umhing . Später war
er oft halbe Tage lang aus der väterlichen Woh-
nung verſchwunden , und wo fand man ihn wie-
der ? In irgend einer der Gerbereien , welche dem
Städtchen die Hauptnahrung gaben . Ja , einmal
war er , kecken Jugendmuthes voll , ſelbſt in eine
Lohgrube geſprungen , um zu verſuchen , ob er nicht
noch lebend ſeine Haut in den ſo heiß verehrten
Zuſtand bringen möchte ; leider zog man ihn zu
früh heraus , als die Ledrification erſt halb vor
ſich gegangen war . Unentwickelt blieb demnach der
höhere Zuſtand ſeiner Bedeckungen , indeſſen woll-
ten die Kundigen verſichern , er habe nach jenem Ver-
ſuche denn doch immerdar ein dickes Fell behalten .
O Ihr Väter und Erzieher , die Ihr die hei-
lige Aufgabe habt , die Keime der Euch anvertrau-
ten Pflanzen in die Blüthe zu fordern , hieher
tretet , und lernt an einem furchtbaren Beiſpiele
vor den Folgen ſchaudern , wenn Ihr die Stimme
der Natur mißachtet , und die Gerte , welche rechts
hinaus wachſen will , links hinüber zwingt . Nicht
allein macht Ihr den Baum zum brandigen Krüppel ,
nein ! er wird auch ſeine Nebenſtämme anſtecken ,
das Ungeziefer , welches die krankende Krone aus-
brütet , wird die Verwüſtung viel weiter tragen ,
als Ihr ahnen und berechnen könnt !
Iſidor Hirſewenzel von Olgendorf hätte für
Deutſchland ein Lederhändler werden können , wie
wir ihn noch nicht beſeſſen haben . Möglich , daß
in der Tiefe ſeiner Seele Gedanken ſchlummerten ,
wodurch der Dampf vom Throne des neunzehnten
Jahrhunderts geſtoßen , und die gegerbte Haut
zur Weltbeherrſcherin erhoben worden wäre ! Aber
der Vater verſtand den Sohn nicht . Er verſtand
nicht die zukunftſchwangern Regungen des Geiſtes ,
der über Bälgen , über Alaun und Lohbereitung ,
über Sämiſch- und Kalkgerberei erfindungengebä-
rend brütete . Du biſt ein Narr , Dorus , ſagte
der harte Vater zu ihm , Leder kann aus der Mode
kommen , die Menſchenliebe iſt ſo hoch geſtiegen ,
daß ſie ſich unverſehens auf das Vieh werfen kann ;
woher aber ſoll Leder kommen , wenn jeder Hund
und Ochs unſer Bruder , jedes Schaf unſre Schwe-
ſter wird , und wir des verwandtſchaftlichen Lebens
ſchonen ? Du alſo wirſt das werden , mein Sohn ,
wozu ich dich beſtimmt habe .
Iſidor weinte , verzweifelte , aber ſeine Thränen
und Seufzer verfingen gegen den eiſenfeſten Vater
nichts ; Iſidor mußte Perückenmacher werden . Das
heißt : Vor der Welt wurde er ſimpler Friſeur
in der Stille aber errichtete er zu ſeiner Tröſtung ,
um ſeinem Triebe zum Compacten zu folgen , um
ſich durch das zerſtreute Haar , durch die charakter-
ſchwache Pomade , durch den geſinnungsloſen Puder
dem Zaͤhen , Ledernen wenigſtens anzunähern , jene
wunderbaren Haargebilde , welche die Welt längſt
über Schwedenkopf und Naturſcheitel vergeſſen zu
haben ſchien .
Ich will kurz ſeyn . So wie der alte Heſſen-
fürſt zurückgekeyrt war , entſtand über ſeinen Wunſch ,
oder vielmehr Befehl , die größte Verlegenheit .
Die Novella I. de capillis pudrandis zopfi-
ficandisque war erlaſſen , aber es ging mit dieſer ,
wie mit ſo mancher Inſtitution , ſie hatte ihr Da-
ſeyn vorläufig nur auf dem Papiere , und das
war die Hauptfrage : Konnte der Zopf eine Wahr-
heit werden ? Denn man wußte Niemand , der
jene Haarformationen der Urwelt noch zu bereiten
verſtand . Der alte Herr beſaß zwar ſeinen in
dieſen Dingen ergrauten Künſtler , allein es wider-
ſprach der Rangordnung und Etiquette durch-
aus , daß dieſelbe Hand , welche um die Majeſtät
beſchäftigt war , ſich gemeinen Köpfen widmen
ſolle .
In dieſer Noth und Bedrängniß ſprang unſer
Meiſter aus ſeinem Puderdunſte , wie Aeneas aus
der Wolke . Er verſtand zu friſiren , Toup é ’s ein-
zuſalben und aufzuſteifen , Zöpfe von allen Längen-
und Dickenmaaßen zu flechten . Er wurde präſen-
tirt , tentirt , approbirt , placirt . Der Staat konnte
hiemit für organiſirt erachtet werden .
Nun alſo , dieſer Mann betrat die Wachtſtube
… ſagte das Fräulein , welche bei aller Begeiſte-
rung für den Erzähler ſich doch nach einem raſche-
ren Fortſchritte der Geſchichte ſehnte .
Noch nicht , meine Gnädige , verſetzte Münch-
hauſen kalt , ſo weit ſind wir noch nicht . Die
hiſtoriſche Darſtellung erheiſcht langſame Entfal-
tung ; auf den Landſtraßen ſind Eilwagen einge-
führt , aber , Sie wiſſen es ja ſelbſt , unſre Roman-
ciers fahren in ihren Geſchichten noch mit der
Sächſiſchen gelben Kutſche , welche ſich ehemals zwi-
ſchen Leipzig und Dresden bewegte , und zur Vol-
lendung dieſer Reiſe drei Tage gebrauchte , vor-
ausgeſetzt nämlich , daß der Weg gut war .
In unſrem Iſidor war während ſeiner Lehrjahre
eine große pſychiſche Revolution vorgegangen . Man
ſah ihn einſam durch die Wälder ſtreifen , er floh
der Brüder wilde Reihn , aber ach ! das Schönſte
ſuchte er nicht auf den Fluren , womit er ſeine
Liebe ſchmückt’ ! Die Liebe erſtarb in dieſem Buſen ,
eine ſiniſtre Falte des Unmuths lagerte ſich auf
der denkenden Stirn , Entſchlüſſe reiften in ihm ,
die zum Schrecken des Geſchlechts finſtre Thaten
wurden . Haarſcheerer durch Beſtimmung , dem in-
neren Berufe nach Lederhändler , Perückenmacher
aus Reſignation , wurde er Tragiker aus Menſchen-
haß , dem leider die Reue bis jetzt nicht gefolgt
iſt . Ja , meine Freunde , alle jene Trauerſpiele ,
worin entweder der Held die Stiefeln ſeines Bru-
ders zu putzen hat , die Geliebte aber ihn auf jene
Welt vertröſtet , in welcher er nicht mehr nach
Wichſe riechen wird , oder worin der Landrath
Friedrich Barbaroſſa ſeine Dienſtleiden erzählt , der
Steuerexecutor Heinrich der Sechſte ſich mit Bei-
treibung der Gefälle-Reſte plagt , oder der biedre ,
aufgeklärte Paſtor Friedrich der Zweite aus Giels-
dorf wegen Rationalismus verdammte Scherereien
mit dem Lyoner Conſiſtorium hat , die ſtuhlſetzen-
den Kämmerlinge jedoch , alſo die Abräumer , eigent-
lich die einzigen handelnden Perſonen ſind , ja meine
Freunde , alles das , und o Gott ! wie unendlich
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 4
viel mehr hat nur die Miſanthropie Hirſewenzels
geboren . Wir wären damit verſchont geblieben ,
wenn er ſeinem wahren Berufe hätte folgen dürfen .
Könnte man denn nicht noch jetzt dem Fort-
ſchritte des Unheils Einhalt thun ? fragte das
Fräulein , ſonderbar verlegen .
O , meine Gnädige ! rief Münchhauſen begeiſtert ;
es bleibt doch ewig wahr , das Wort unſres
Schiller : Was kein Verſtand der Verſtändigen
ſieht , das über in Einfalt ein kindlich Gemüth !
Sie haben da in Ihrer Einfalt einen großen Ge-
danken gefunden . Ja , wir wollen , da gegenwärtig
auf ſo Vieles ſubſcribirt wird , eine Subſcription
durch ganz Deutſchland eröffnen , zu dem Ende-
mit vereinten Nationalkräften für Hirſewenzel eine
Gerberei in Schleſien unter den Waſſerpolacken
anzupachten , ihm ſo einen heitern Abend des Le-
bens zu ſchaffen , die Bühne aber von ihm zu be-
frein . Ich bin überzeugt , ſelbſt unſre Fürſten ,
denen ja Poeſie und Literatur ſo ſehr am Herzen
liegen , geben etwas dazu , einen Gulden oder einen
Thaler , je nachdem ſie über Gulden- oder Tha-
lerland herrſchen . Doch für jetzt nur weiter in
meinem Texte .
Als in Iſidor der Gedanke an ſein verfehltes
Daſeyn einmal recht zum Durchbruch gekommen
war , da rief er aus : Weil Ihr mich im Leben
nicht habt zum Leder kommen laſſen , ſo will
ich Euch , da ich Euch leider nicht an’s Leben
ſelbſt kommen kann , wenigſtens das Bild des Le-
bens , die Bühne ruiniren .
... .... . Die Welt
Iſt noch auf einen Abend mein . Ich will
Ihn nützen , dieſen Abend , daß nach mir
Kein Pflanzer mehr in zehen Menſchenaltern
Auf dieſer Brandſtatt ernten ſoll .
Meine Vorgänger im Geſchäft , Iffland und
Kotzebue , machten die Miſere zu Helden ; ich will
die Sache umkehren , und Helden zu miſerabeln
Perſonen machen . Müllner wirkte durch Schuld
und Blut , Houwald durch alte Camillen und
Bilder , die an den Galgen gehören , ich will durch
Langeweile wirken . Ich will die Langeweile zur
dramatiſchen Dynamis erheben , der Sandmann in
den Augen der Helden ſoll meine Kataſtrophen
bewirken . Meine Helden ſollen lieber ſterben , oder
ſonſt ein Unglück erleben , als daß ſie noch länger
meine Redensarten abhaspeln . Ich will Euch ein
Stück ſchreiben , Namens König Enzian , ein Stück ,
4*
deſſen Perſpective nicht der Stern der Hoffnung
über dem Grabe , nicht die Nacht des Tartarus
unter den Füßen des hinſinkenden Frevlers , nicht
die reinliche Entſagung der Wüſte oder des Klo-
ſters ſeyn ſoll , ſondern eine Chambre garnie im
Felſen bei Zwielicht , oben mit einem Deckel ver-
ſehen , worin der gähnende Miethsmann mit ſeiner
gähnenden Geliebten bei hinlänglichem Eſſen und
Trinken nichts zu thun hat , als Kinder zeugen ,
die bei der Geburt , anſtatt zu ſchrein , auch ſchon
gähnen . Wahrlich , wahrlich , ich ſage Euch , es
wird eine Krankheit über unſern Welttheil herauf-
ziehn , geheißen die Cholera . Hin und her werden
die Aerzte rathen , woher das Miasma gekommen ,
welches die Seuche fortleitete , und man ſoll nicht
errathen , daß es aus der Grube aufſtieg , in welche
ich den König Enzian verſpündete . Wehe über
dich Sand-Jeruſalem , die du die Juden begünſtigeſt ,
und kreuzigeſt immerdar die Propheten ; du ſollſt
zweimal die Cholera kriegen , weil du meinen En-
zian ſo oft wirſt haben ſpielen laſſen ! Ich will
Einundzwanzigmillionen dreihundertauſend und einen
halben Vers , folglich einen halben Vers mehr
machen als Lope de Vega ; Alle ſollen parallel
neben einander herlaufen , wie die Lombardiſchen
Pappeln zu beiden Seiten der Chauſſee von Halle
nach Magdeburg , und dieſes Wunder ſoll nur von
dem Wunder der Kühnheit übertroffen werden ,
womit ich verſichern will , daß ich nie einen un-
ſchönen Vers verfertiget habe . Nicht durch Fehler
und Ausſchweifungen will ich die Bretter reizen ;
nein , ich will das Theater nivelliren , entnerven
und abmergeln . Es ſoll aus meiner Feder Nichts
kommen , was ſelbſt der Cenſur von China ver-
dächtig werden könnte , ich will ein völlig etats-
mäßiger Poet werden , gleichwohl aber will ich von
mir behaupten , ich ſei durch große Geſchichtsepochen ,
die von keinem Etat etwas wußten , zu Thränen
der Rührung hingeriſſen worden , denn Klingeln
gehört zum Handwerk . Wahrlich , wahrlich , ich
ſage Euch , es wird die Zeit kommen , da die
Schauſpieler meine Rollen im Schlaf abſpielen ,
das Auditorium ſchläft , und der Kritiker Gottſched
am folgenden Tage während ſeines Nachmittags-
ſchläfchens eine Recenſion in die velinpapiernen
Blätter ſtiftet , worin er ſagt , das neuſte geniale
Werk aus meiner unermüdlichen Feder habe das
Publicum zum Enthuſiasmus hingeriſſen . Mit
einem Worte : Ich will Ich ſeyn , und nur mir
ſelber gleich !
Wie Iſidor Wort gehalten hat , das wiſſen die
blaſirten Hofräthe , Juſtizräthe , Geheimen-Secre-
tarien und Papierjuden von Sand-Jeruſalem , aus
welchen gegenwärtig das dortige Theaterpublicum
allein noch beſteht . Kein Mädchen ſchleicht ſich
mit einem Bande ſeiner dramatiſchen Werke „ ernſter
oder komiſcher Gattung “ ( ich weiß nicht , warum
er den bezeichnenden Ausdruck : Sorte , verſchmäht
hat ? ) frühmorgens oder gegen Abend in die duf-
tende Fliederlaube hinten im Garten , wo das
gelbe Naſturtium blüht , und der Convolvulus auf
ſeinen Ranken den Falter wiegt und den goldgrün-
glänzenden Käfer , und lieſ’t ſich an ſeinen Sachen
heimlich-glühend in die Bekanntſchaft mit ihrem
pochenden Herzchen hinein ; kein Student , der dro-
ben auf dem Weinberge am Fluſſe von ſeinem
Jugendbruder Abſchied nimmt , und mit ihm das
Stammbuchblatt wechſelt , ſchreibt einen Vers von
Iſidor hinein , keinen Künſtler haben ſeine ſogenann-
ten Geſtalten zu einem Bilde entzündet . Wer um
ſechs Uhr Abends noch eine Spur von Stimmung
in ſeiner Seele fühlt , ja , wer auch nur die Aus-
ſicht auf einen Robber Whiſt hat , der meidet das
Haus , worin Iſidor ſeine dramatiſche Suppenanſtalt
für Arme errichtet hat , und den Gottſched befrie-
digt , und die Blaſirten von Jeruſalem abfüttert .
Es iſt ihm gelungen , ſeine dämoniſche Drohung
in Erfüllung zu ſetzen . Ja , ſie dreſchen nunmehr
das dreimal gedroſchne leere Stroh und worfeln
die Spreu , die nicht einmal der Gaſtwirth Angely
ſeinen vierfüßigen Gäſten vorgeſetzt hätte . Die
Bühne kam nach dem etwas derben Ausdrucke der
Jugend durch Iſidor auf den Hund . Er , er
hat es verſtanden , wie man die Deutſchen be-
handeln ſoll . Denn nicht durch Blitze des Genius
iſt dieſe ſogenannte Nation zu entzünden — wie
kann man naſſe Wolle in Brand ſtecken ? — ſondern
man muß immerfort daſſelbe thun , es mag aus-
fallen , wie es will ; dann ſagen ſie : Der muß es
doch verſtehn . Es iſt ihnen überhaupt nur daran
gelegen , daß das Inventarium in allen literariſchen
Wirthſchaftsrubriken vollſtändig ſei ; denn ſie ſind
gute Haushälter . Sie würden , wenn Hirſewenzel
ſich nicht gefunden hätte , auch einen zweiten Cro-
negk , oder Gellert oder Weiße wieder aufgenom-
men haben . Iſidor , hundertmal Abends kritiſch
todtgeſchlagen , feierte am andern Morgen ſeine
Auferſtehung mit drei neuen mittelmäßigen Stücken ,
die wie ein Echo die ihm vorgerückten Albernhei-
ten wiederholten . Die Leute aber ſagten : Der
verſteht es , ſo muß man es machen . Selbſt der
Heroismus erlahmte endlich an dieſer Beharrlich-
keit der Induſtrie ; man ließ die Fabrik zuletzt
ſpulen und ſchnurren , ohne ferner Eingriffe in ihre
thranduftigen Räder zu verſuchen . — Aber in die
Walhalla kommt er doch nicht , wenn ſie fertig
wird und ihre Beſtimmung behält , und nicht mit
der Zeit vielleicht in ein Bräuhaus verwandelt
wird . Der Graf von Platen kommt hinein , und
der gehört auch hinein , trotz aller ſeiner Thorheiten
und Mißgriffe , aber Hirſewenzel kommt nicht hin-
ein und ſchriebe er auch noch Einundzwanzigmil-
lionen Verſe mehr . Doch iſt es freilich noch un-
gewiß , ob er überhaupt ſterben , und ob nicht
vielmehr der Tod jedesmal einnicken wird , ſo oft
er ihn ſieht .
Nun , Gott beßre das deutſche Theater !
Melpomene ſitzt , von der Scene verſcheucht ,
unten im Keller , da wo die Arbeitsleute an den
Verſenkungen und Verwandlungen handthieren , der
Dolch iſt ihrer entkräfteten Hand entfallen und
roſtet im Moder , im Moder liegt die Maske , welche
die gemeinen menſchlichen Züge verſchönernd be-
decken ſoll ; Schimmel überzieht dieſelbe , und Einer
der Theaterarbeiter hat ihr die Naſe platt getreten .
Droben aber über ihrem Haupte , auf dem Po-
dium , ſcharrwerkt der lärmende Emporkömmling
mit ſeinen breitgerührten und doch hölzern geblie-
benen Jamben . Ach , die Arme ! Nicht einmal
weinen kann ſie mehr . Iſidor hat ſie mit dem
Stockſchnupfen angeſteckt , und verlangt nun grauſam
ſpottend von ihr , ſie ſolle Macuba ſchnupfen lernen ,
dadurch helfe er ſich in allen Nöthen .
Das Alles iſt weltbekannt . Nicht ſo bekannt
iſt aber der Umſtand , daß der Tragöde alle die
Stücke , die ſeitdem wie ein nie verſiegender Spü-
licht zwiſchen den Couliſſen hervorgebrodelt ſind ,
bereits während ſeiner Beſchäftigung mit Zöpfen
und Friſuren in müßigen Nebenſtunden verfertigte .
Ja , meine Freunde , er hat ſie ſämmtlich auf den
Vorrath gearbeitet ; die Manuſcripte lagen in ſeinem
Haaratellier geordnet zwiſchen den übrigen Fabri-
caten und Sachen , ungefähr ſo : Ein Zopf ; die
Erdennacht , eine Perücke ; Genoveva , Pomade ;
Rafa ë le , der Puderbeutel ; die Schule des Lebens ,
und ſo weiter . Daher es ihm leicht war , her-
nachmals den Markt von Sand-Jeruſalem mit
ſeiner Waare zu überführen .
Doch meine Farben reichen bei dieſem Bilde
nicht aus und mein Pinſel iſt zu ſtumpf ; ich fühle
das wohl . Solche tiefſinnige aeſthetiſch-poetiſche
Seelenentwickelungsgemälde abzuwickeln , daß ſie
Jedem ſo klar werden , wie baumwollnes Garn ,
müßte ich Hotho ſeyn , der in den „ Vorſtudien des
Lebens und der Kunſt “ an ſeiner eignen Geſchichte
„aufgewieſen “ hat , daß man den Don Ramiro
ſchreiben , an den aeſthetiſchen Artikeln der Jahr-
bücher für wiſſenſchaftliche Kritik , herausgegeben
von der Societät für wiſſenſchaftliche Kritik , mit-
arbeiten , und dennoch ſich wichtig vorkommen kann .
Man ſang vor Zeiten , als Don Ramiro
zur Welt gebracht wurde :
Don Ramiro , Don Ramiro !
Langes Leben ſpinn ’ dir Clotho ;
Rühmen werden dich die Weiſen ,
Und dich leſen wird Herr Hotho .
Ich ahme dieſem Volksliede nach und ſinge :
Don Ramiro , Grand zu Hotho ,
Du allein , du könnteſt ſchildern
Hirſewenzels trag’ſches Werden
Dir gemäß mit Hegels Bildern .
Iſidor näherte ſich den ſechs Gebrüdern Piep-
meyer mit Kamm und Nadel bewaffnet . Er kniete
nieder , löſete die Bänder , welche die ſechs Haar-
wüchſe feſſelten , ſo daß ſie in ſechs Fluthen von
ſechs Nacken herniederwallten , und nachdem er
mit ſeinem Geräthe in dieſem Sechsgelock Ordnung
geſtiftet hatte , ging er daran , zu ſtrählen und
zu flechten .
In dieſem Augenblicke empfing er in ſeiner
melancholiſch-humoriſtiſchen Weltanſchauung die
Geſtalt des Till .
Sie erinnern ſich gewiß dieſer wunderſamen
Figur , mit welcher unſer damaliger Wachtfriſeur ,
nunmehriger Dichter , ſo vielen genialen Spaß aus-
zurichten ſich bemüht hat . Meiſtens hat der Till
es mit einem Barbierer , Namens Schelle , er ver-
ſchmäht aber auch Räthinnen und Polizeidirectoren
nicht , nein ! es iſt zum Todtlachen , was für
Späße der Till angiebt , der durchtriebne Vogel ,
der Till … und wenn ich an den Till denke , und
an Till und Schelle , und Schelle und Till …
und an Tell und Schille … und an alle die
Späße von dem Till , ſo — — ſo — —
Der Freiherr brach bei der lebhaften Erinne-
rung an Tills Späße in ein convulſiviſches Lachen
aus , welches ſo klang , als wenn hölzerne Klötz-
chen in einer Büchſe von Blech hin und herge-
ſchüttelt werden . Der alte Baron klopfte ihm
den Nacken , Münchhauſen erholte ſich wieder und
fuhr fort :
… ſo kann ich nur bedauern , daß die „ Meer-
rettiche , “ die der Dichter auch in ſechs Paar Tri-
logien auf ſeinem Krautfelde ziehen wollte , nicht fertig
geworden ſind . Doch vielleicht kommen ſie noch nach ,
denn bei Hirſewenzel iſt nichts unmöglich . Bis nun
der Meerrettich zum Rindfleiſch abgeſotten ſeyn wird ,
müſſen wir uns mit dem Till behelfen , dem ich
wohl eine Peterſilie wünſchen möchte , das gäbe
eine Mariage von Küchenkräutern , worüber jeder
Köchin das Herz im Leibe poppern würde .
Ich habe immer , wenn ich die Tille ſah , an
einen Menſchen denken müſſen , den ich einmal in einem
Dorfe zwiſchen Jüterbogk und Treuenbrietzen , mich
dünkt , es hieß Knippelsdorf , oder ſo ungefähr ,
kennen lernte . Die Gegend um Knippelsdorf iſt
etwas unfruchtbar , nur bei großen Ueberſchwem-
mungen werden die Felder grün , dann giebt es
große Feſtlichkeiten , wobei ſich die Leute in Grütze
ſatt eſſen . Aber hübſche Kiefern haben ſie da ,
und Windhafer , ſo viel ihr Herz begehrt . Die
Achſe war mir am Wagen gebrochen ; ich mußte
ein Paar Stunden im Kruge ſitzen , bis der
Stellmacher ſie , nämlich die Achſe , reparirt hatte .
Dieſer Aufenthalt zeigte mir „ Knippelsdorfer Zu-
ſtände . “ Es war Neun Uhr Morgens , und ein
ſchöner heißer Julius , indeſſen ſchien der Tag
durch die runden Fenſter der Krugſtube nicht
abſonderlich hell , ſie waren gar zu verſchmaucht .
In der Stube gingen die Hühner ſpazieren , unei-
gennützig , denn zu eſſen gab es da nichts , wie ich
erfuhr , als ich nachfragte . Zu trinken konnte ich
bekommen , wenn ich bis zum folgenden Tage blei-
ben wollte , da würden ſie Dünnbier von Zahne
holen , ſagten ſie . Es roch abſcheulich in der
Stube , aber auf Reinlichkeit hielten ſie doch , denn
eine Magd im Neglig è mit fliegendem Haar wiſchte
gehörig den langen Tiſch ab , und nachher mit
demſelben Tuche die irdenen Teller . Eine Anzahl
von Fliegen ſummte in der Stube , und die ſchlug
ein höhniſcher , blaſſer , verdroſſen-ſchläfriger Menſch
todt , derſelbe eben , an den ich mich nachmals
immer bei den Tillen erinnerte . Er trug eine
Nachtmütze ſchief über ’m Ohr , den thönernen Stum-
mel hatte er im Munde , in herabgetretnen Pan-
toffeln ſchlorrte er auf und nieder . So oft er
eine Fliege mit der Klatſche erlegt hatte , verzog
er die ſchlaffen Lippen zu einem unangenehmen
Lächeln und machte einen Spaß über die todte
Fliege . Man konnte ſich darauf verlaſſen , auf
jede todte Fliege kam ein Spaß ; ich habe ſie
aber ſämmtlich vergeſſen . Die Magd lachte nicht
darüber , ich konnte auch nicht darüber lachen .
Sie ſagte mir , als ich mich nach ihm erkundigte ,
er ſei der jüngere Bruder des Krugwirthes und
habe nicht gut thun wollen , deßhalb müſſe er
jetzt das Gnadenbrod eſſen . Seine einzige Beſchäf-
tigung ſei , ſich über die Fliegen aufzuhalten , die
er todtgeſchlagen habe .
Der Till alſo ging dem Hirſewenzel , wie
geſagt , auf , als er die ſechs Zöpfe der Gebrüder
Piepmeyer einflechten wollte . Halt , dachte er , hier
kannſt du ſofort für dieſen komiſchen Heros die
Studien nach dem Leben machen . Laß uns eine
Verwickelung bilden , die an grenzenloſer Luſtigkeit
und kühner Laune Alles hinter ſich läßt , was Sha-
kespeare , Holberg und Moliere erſonnen haben .
Ich werde die Zöpfe der Piepmeyers unentwirrbar
zuſammenflechten , und wenn ſie dann aufſtehn , und
nicht von einander können , und bei dem Ziehen
und Zerren unter Schmerzen Geſichter ſchneiden ,
o welche Fülle von komiſchen Anſchauungen werde
ich dann haben , ich ſehe ſchon ganze Dutzende
von Tilliaden fertig . Geſagt , gethan ; er flocht
Peter mit Romeo , Romeo mit Chriſtian , Chriſtian
mit Guido , Guido mit Ferdinand , Ferdinand
mit Heinrich , Heinrich mit Karl zuſammen , ſo
daß vier Piepmeyers , ein Jeder doppelſeitig , linker
und rechter Flügel aber einſeitig gefeſſelt waren .
Als Iſidor ſein Werk vollbracht hatte , ſteckte er
ſich hinter den Wachtofen , um die Wirkung dieſer
Intrigue zu beobachten .
Ruhig ſchliefen die Opfer Hirſewenzelſcher Ko-
mik , träumten von Brod und Fleiſch und doppel-
tem Tractament und hatten kein Arg . Als nun
der Tag höher zu ſteigen begann , und die Strah-
len der Sonne den Ordensſtern an der Bildſäule
Landgraf Friedrichs des Zweiten auf dem Platze
vor dem Schloſſe vergoldeten , mit einem Worte ,
als es Sechs geſchlagen hatte , trat der Feldwebel
zu der Piepmeyerſchen Pritſchabtheilung , um die
Farbenſtriche über den Naſen der Brüder aus
ſeinem Vorrathe zu erneuen , denn die ganze
Strenge des Dienſtes ſollte nun bald wieder
beginnen . Als er indeſſen einen Blick über die
Pritſche hinaus in ihr Jenſeits that , und die ſelt-
ſame Verflechtung der brüderlichen Hinterhaupt-
haare wahrnahm , da entſank ihm vor Erſtaunen
der aufgehobene Malerpinſel und er ſtarrte die
Erſcheinung einige Secunden lang lautlos an .
In der That war dieſe auch verwunderlich genug
anzuſchaun ; Piepmeyers ſahen von hinten aus wie
ein Kurheſſiſcher Garderattenkönig .
Indeſſen kommt ein Feldwebel immer bald
wieder zu ſich ſelber . Auch der unſrige gewann
nach kurzer Rathloſigkeit ſeine ganze Faſſung ſich
zurück , und fuhr die Verbündeten mit den wackern
Worten an : Kerls ! Euch ſoll ja ein Kreuzſtern-
ſchockmillion-Donnerwetter ſechstauſend Klafter tief
unter den Winterkaſten in die Erde ſchlagen !
Von dieſem biedern Zurufe des tüchtigen
Manns fuhren Piepmeyers gleichzeitig aus dem
Schlummer auf , und wollten ſich gleichzeitig erhe-
ben . Da ihnen aber dies Schmerzen verurſachte ,
ſo ſanken ſie zurück , taſteten gleichzeitig nach ihren
Zöpfen , entdeckten die Urſache der Schmerzen und
ſagten gleichzeitig wie aus einem Munde , kalten
Blutes : Herr Feldwebel , es muß ſich , derweil
wir ſchliefen , ein dummer Junge in die Wacht
geſchlichen und einen Jux mit uns verübt haben . —
Auf Ehre , ſo iſt es , ſprach der Fähnrich von
Zinzerling , der herzugetreten war . Feldwebel ,
machen Sie den einen Mann los , und der kann
wieder ſeinen Brüdern helfen . Wo bleibt der
Schelm , der Hirſewenzel ? —
Der Feldwebel löſ’te Karl Piepmeyer von
Heinrich Piepmeyer ab , Karl trennte demnächſt
Heinrich von Ferdinand , Heinrich ſchied Ferdinand
von Guido , Ferdinand dismembrirte Guido und
Chriſtian , Guido ſetzte Chriſtian mit Romeo aus-
einander , Chriſtian endlich ſtellte den Dualismus
zwiſchen Romeo und Peter her . Nachdem die
ſechs Brüder ſolchergeſtalt wieder in das Fürſich-
ſeyn getreten waren , vollendeten ſie ihre reale
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 5
Exiſtenz durch wechſelſeitige Herſtellung von ſechs
ſchlechthin geſonderten Zopfindividualitäten . Hie-
mit hatte das Ereigniß ſeinen Kreis abſolut mit
Inhalt erfüllt , war der Begriff des Vorfalls zum
Von- Sich-Wiſſen gekommen , oder deutlicher zu
reden , das Ding hatte nun ein Ende . Denn
dem Feldwebel , welcher ſich an den Fähnrich mit
der Frage , ob der Vorfall gemeldet werden ſolle ?
wendete , erwiederte von Zinzerling gedankenvoll :
Nein ! Wir leben in bewegten Zeiten , und wollen
die Gährung nicht fortleiten . Der dient den
Königen nicht , der ihrem Argwohne dient . Die
Sache bleibt ungemeldet , und ich nehme die Ver-
antwortung auf mich .
Wie Hirſewenzel unbemerkt hinter dem Ofen
entkommen , iſt Wachtgeheimniß geblieben .
Fuͤnfzehntes Capitel .
Zwei Zuhörer ſind in ihren Erwartungen
ſo getäuſcht , wie die Leſer , der dritte
Zuhörer fühlt ſich dagegen höchſt befrie-
digt . Der Freiherr theilt einige dürftige
Familiennachrichten mit .
Der Schulmeiſter Ageſilaus hatte ſchon während
des letzten Theils dieſer Erzählung deutliche Zeichen
hergeſtellter Zufriedenheit von ſich gegeben . Ver-
gnügt hatte er ſeine Hände gerieben , ſich auf dem
Stuhle hin und hergewiegt , ein Hm ! Hm ! Ja !
Ja ! So ! So ! Ei ! Ei ! dazwiſchen geworfen , und
den Freiherrn mit einer Schalkhaftigkeit angeſehen ,
welche eine Schattirung von Tiefſinn durchſchimmern
ließ . Nachdem nun Münchhauſen zu Ende gekom-
men war , ſprang der Schulmeiſter auf , lief zu dem
Erzähler , ſchüttelte ihm die Hand , und rief : Ver-
zeihung , mein hochzuverehrender Gönner , daß ich
die Standesunterſchiede nicht achte , und Ihnen ſo
5*
geradezu mich nähere , aber wie Noth kein Gebot
hat , ſo achtet die Begeiſterung keiner Schranke .
Erlauben Sie mir , Ihnen auszuſprechen , wie mich
Ihre dießmalige Diatribe , in die Form einer
hiſtoriſchen Novelle gegoſſen , erquickt hat . So fah-
ren Sie fort , dann ſind Sie des Dankes aller
Edeln gewiß . Endlich doch einmal Nahrung für
Geiſt und Herz !
Ich verſtehe Sie nicht , verſetzte ernſthaft der
Freiherr .
O ! O ! O ! aber ich verſtehe Sie , mein Hoch-
geſchätzter , rief der Schulmeiſter . Ja , Ja , Erleuch-
teter , das kommt bei den Uebertreibungen heraus !
Das haben wir davon , daß wir Alles auf die
Spitze ſtellen , von Allem und Jeglichem das
Höchſte , Ueberſchwänglichſte begehren ! Nicht wahr ,
mein Verehrteſter , Sie wollten mit Ihrer anſchein-
lichen Ironie gegen jenen ſo oft verkannten und
angefeindeten Mann ſagen : Seht , zu ſolchen maaß-
loſen Extravaganzen gelangt man , ſo überſpringt
der Spott ſich ſelbſt , ſo fallen die ſtärkſten Hiebe ,
wenn Leidenſchaft ſie führt , immer über den zu
Hauenden hinaus in das Leere , und darum lernt
Euch begnügen , Ihr Leute , mit dem Vorhandenen ,
geht zwiſchen Haß und Enthuſiasmus die Mittel-
ſtraße , die von den Weiſen aller Zeiten immer
die goldne genannt wurde ! Dieſe und ähnliche
Lehren wollten Sie durch Ihren ausſchweifenden
Angriff einſchärfen , wenn ich ſonſt , nicht oberflächlich
an der Oberfläche Ihrer Reden haftend , deren
inneren Sinn richtig aufgefaßt habe .
Auf dieſe Anrede erwartete der Schulmeiſter
etwas Schmeichelhaftes . Der Freiherr ſah ihn
jedoch nur mit weitgeöffneten Augen ſtarr an ,
und ſagte nach einem langen Schweigen nichts , als :
Herr Profeſſor , Sie ſollten uns doch auch noch einen
Commentar über den Fauſt ſchreiben . — Dann
wandte er ihm den Rücken und ſuchte die Blicke
des Fräuleins auf , die ihn aber mieden .
Dieſe liebte eigentlich im Stillen den Helden der
Novelle , weßhalb ihr auch der Vorſchlag , ſeiner uner-
ſchrocknen Wirkſamkeit ein Ziel zu ſetzen , nicht vom
Herzen gekommen war . Sie pflegte ſich in ihren erreg-
teſten Stunden ſeine lombardiſchen Chauſſeepappel-
verſe zu ihrer Aufrichtung laut vorzuſagen . Nun hatte
ſie jedoch auch , wie alle Damen , eine unglaubliche
Furcht vor dem Lächerlichen , und da ſie denn doch wäh-
rend Münchhauſen’s Erzählung ſich mit ihrem Lieb-
linge in dieſer Beleuchtung zu einer Gruppe
vereinigt ſah , ſo fühlte ſie ſich in ihrem Bewußt-
ſeyn völlig vernichtet , und rang vergebens nach
einem Anker für ihre rathloſe Seele . Zugleich
aber ängſtigte ſie das Schweigen , welches nach den
Verhandlungen zwiſchen dem Freiherrn und dem
Schulmeiſter in der Geſellſchaft entſtanden war ,
und nicht weichen wollte . Denn ihr Vater ſchnitzte ,
wie er zu thun pflegte , wenn er gänzlich verſtimmt
war , mit ſeinem Federmeſſer Einkerbungen in den
ſchlechten hölzernen Tiſch , um welchen Alle ſaßen ,
und murrte nur halblaut vor ſich hin : Der Schul-
meiſter ſchnappt noch gar über ! Es war ja die
pure , blanke Gottes-Satire auf den Hirſeſchwenzel ,
oder Schmirſehenzel , oder wie der Menſch ſonſt heißen
mag ! Denn Dichterei und Romanenweſen iſt meine
Sache nicht , ſondern Natur- und Völkerkunde .
Der Schulmeiſter aber ſaß ſchweigend und
zornroth da . Er hatte zwar Münchhauſen’s Ant-
wort nicht eben ganz verſtanden , fühlte jedoch , daß
darin ein Stich liegen müſſe . In dieſem Punkte
war nun nicht mit ihm zu ſcherzen , denn ſeine
Eitelkeit war nur ſeiner unbegrenzten Vorliebe für
die Sitten der alten Sparter gleich .
Wer hat nicht einmal die Laſt ſolcher Wind-
ſtillen in der Geſellſchaft erfahren ? Die geſammte
Societät ſitzt wie eine Flotte , die ſich auf dem
unbewegten Meeresſpiegel nicht zu rühren vermag .
Schlaff hangen die Segel herab , verzweiflungsvoll
ſchaun alle Blicke nach ihnen hinauf , ob nicht ein
friſches Lüftchen ſie endlich ſchwellen wolle . Um-
ſonſt ! Das iſt , als ob ein Rad in der Schöpfung
gebrochen , und die ganze Maſchine mit Sonne ,
Mond und Fixſternen in Stockung gerathen ſei .
So ſucht eine in Windſtille verſetzte Geſellſchaft
auch verzweiflungsvoll nach einem Gedanken , nach
einer Vorſtellung , ja nur nach einer Redensart ,
um ſie in die Segel der Converſation zu hauchen ;
vergebens ! Nichts will über die Lippen , Nichts
hörbaren Laut gewinnen . Der Mythus ſagt , in
ſolchen Zeiten fliege ein Engel durch das Zimmer ,
aber nach der Länge derartiger Pauſen zu urtheilen ,
müſſen zuweilen auch Engel dieſe Flugübungen
anſtellen , deren Gefieder aus der Uebung gekommen
iſt . Endlich pflegt Einer ſich zum Opfer für das
Gemeinweſen darzubringen , er fährt mit einer un-
geheuren Dummheit heraus , und damit iſt der
Zauber gelöſet , das Band der Zungen entfeſſelt ;
die Ruder klatſchen , die Segel ſauſen , der Kiel
ſchwirrt luſtig durch das Meer von Kunſt , Stadt-
neuigkeiten , Politik , Krankheits- und Geſundheits-
umſtänden , Religion und Carnevalsbällen .
Nachdem das Schweigen in der Geſellſchaft , von
welcher hier die Rede iſt , etliche Minuten gedauert
hatte , und die verſchiednen Affecte der Schweigen-
den in die heiße Sehnſucht , ein menſchliches Wort
zu vernehmen , übergegangen waren , ſagte das Fräu-
lein zu Münchhauſen plötzlich , wie von einem
guten Geiſte erleuchtet : Es pflegt doch immer im
Sommer ſchöneres Wetter zu ſeyn , als im Winter .
Nach dieſer Exploſion athmeten Alle frei auf
und fühlten ſich von dem Zauber erlöſet , der
über ihnen gelaſtet zu haben ſchien , nachdem
von unſrem Nationaltragöden ſo viel die Rede
geweſen war . Münchhauſen aber küßte dem Fräu-
lein die Hand und verſetzte : Sie haben da eine
tiefſinnige Wahrheit ausgeſprochen , meine Gnädigſte ,
und ich kenne außer Ihnen nur noch eine Dame ,
welche dieſe großartige Naturbetrachtung feſt im
ſchönen Gemüthe ergriffen hat , und ſie einem Dichter
zu äußern pflegt , jederzeit , wo er das Glück hat ,
ihr zu nahn . Vergebens , daß der Dichter Manches
ausgehen ließ , was der Welt nicht unbekannt blieb ,
daß man überhaupt mit ihm von Allem und Jedem
ſprechen kann , weil er ſo ziemlich für Alles und
Jedes ſich intereſſirt , und über die Dinge , von
denen er nichts verſteht , gern Belehrung empfängt
— vergebens alles dieſes , ſage ich — die Dame
äußert , ſo oft er das Glück hat , ihr zu nahen ,
nur ihre Ueberzeugung , daß im Sommer das
Wetter ſchöner zu ſeyn pflege , als im Winter .
Unmöglich ! rief der alte Baron .
Vielleicht unmöglich , aber gewiß wahr , verſetzte
Münchhauſen . Der Dichter iſt mein Freund und
hat mir die Thatſache bei ſeinem Ehrenworte
betheuert . — Münchhauſen fuhr heiter fort : Ich
wollte Ihnen einige kurze Nachrichten über meine
Familie geben ; hier ſind ſie . Der ſogenannte
Lügenmünchhauſen iſt mein Großvater , wenn unſer
Stammbaum in Bodenwerder Recht hat . Adolph
Schrötter in Düſſeldorf hat ihn jüngſt gemalt , wie
er unter Jägern und Pachtern ſein Pfeifchen
ſchmaucht , und dieſen Leuten ſeine Geſchichten
erzählt . Ein dicker Mann ſitzt ihm gegenüber und
hat den Rock ausgezogen , um beſſer zuhören zu
konnen , in ſeinem Geſichte ſpricht ſich die gläubigſte
Hingebung aus , und ſein großer Hund , der neben
ihm liegt , ſieht ihm ſehr ähnlich .
Adolph Schrötter hat meinen Großvater getrof-
fen , wie kein Anderer vor ihm . Das iſt aber auch
kein Wunder , denn mein Großvater iſt ihm im
Traume erſchienen , er hat eine Viſion von ihm
gehabt . Die frommen Maler haben nicht allein
Viſionen , nein ! die Andern haben die ihrigen auch .
Es malt Keiner ein Paar Kinder , die von zwei
ſchlechten Kerlen todtgemacht werden ſollen , oder
eine Kegelbahn , oder auch nur ein Portrait , ohne
daß er eine Viſion von dieſen Dingen gehabt
hätte . Und das iſt der Vortheil dieſer weltlichen
Geſichte : Man kann immer da die Vergleichung
anſtellen , und urtheilen , ob die Erſcheinungen richtig
geweſen ſind , denn überall giebt es unſchuldige
Kinder und ſchlechte Kerle und Kegelbahnen , und
Leute , die ſich portraitiren laſſen ; aber bei den
frommen Viſionen kann man das nie , und man weiß
daher auch nicht , ob die lieben Engelein und Heiligen
und die Mütter Gottes ſo ausgeſehen haben , wie die
Leute behaupten , daß ſie ihnen vorgekommen ſeien .
Daß Adolph Schrötter eine richtige Viſion
gehabt , beſtätigte noch letzthin ein alter eisgrauer
Jäger von Bodenwerder , der jetzt mit Ratten- und
Mäuſepulver handeln geht , und der denn endlich
auch an den Rhein gewandert war . Er kam auf
die Kunſtausſtellung , weil er glaubte , dort Geſchäfte
machen zu können und rief , als er das Bildchen
ſah : Das iſt der alte Herr , wie er leibte und
lebte , wenn er von den zwölf Enten erzählte ! —
Das Bildchen ſoll jetzt , Figuren über Lebensgröße ,
al fresco für * * * * * * * * ausgeführt werden .
Meinem Vater that die Abſtammung von dieſem
Manne Zeit ſeines Lebens den größten Schaden .
Wenn er Geld erborgen wollte und auf Cavalier-
parole die Rückzahlung verſprach , ſobald ſie ſich
thun laſſe , ſagten die Wucherer , mit denen er
unterhandelte : Wir bedauern ſehr , aber wir konnen
nicht dienen , denn Sie ſind der Herr von Münch-
hauſen . Er trat in Kriegsdienſte und machte als
Stabsrittmeiſter einſt einen allerdings unwahr-
ſcheinlich lautenden Rapport ; der General glaubte
ihm nicht , und davon war die Folge , daß eine
große Schlacht verloren ging . Cabale über Cabale
wurde gegen ihn geſpielt ; man drehte die Sache
ganz herum , er erhielt in Ungnaden ſeinen Abſchied .
Nun widmete er ſich dem Finanzfache , da entdeckte
er ein geheimes Mittel , die edeln Metalle zu
vervielfältigen , wollte es dem Staate verkaufen ,
aber der Staat wies ihn zurück und ſagte , es ſei
ſchon gut , man wiſſe , daß er Münchhauſen heiße .
Auch aus dem Finanzfache wurde er ungnädig
dimittirt , weil er ein Schwindler ſei , wie es in
dem Entlaſſungsreſcripte hieß . Was hat der Staat
von ſeiner Zurückweiſung gehabt ? Papiergeld
mußte er machen .
Mein Vater aber hatte von ſeinem Geheim-
mittel auch nichts ; er konnte es für ſich nicht in
Anwendung bringen , die Koſten der erſten Auslagen
waren für einen Privatmann zu bedeutend . Bei zwölf
Fräuleins hielt er nach einander um ihre Hand an , aber
Die Erſte ſagte ſcheu ,
Die Zweit’ — ein Leu —
Die Dritte ſpitzig ,
Die Vierte witzig ,
Die Fünfte hitzig ,
Die Sechſte Zornwinkend ,
Die Siebente Borntrinkend ,
Die Achte Stickeiferig ſehr ,
Die Neunte Blickſchweiferig mehr ,
Die Zehnte Rückſteiferig-hehr ,
Die Eilft’ , ein Bärbchen , ſchnipp’ſch , zwar
weichend , doch gütig ,
Die Zwölft’ , ein Körbchen hübſch darreichend ,
hochmüthig :
Herr von Münchhauſen , wir danken für die uns
zugedachte Ehre ; Sie führen uns doch nur an .
So ſchlugen alle meine zwölf projectirten
Mütter dem armen Manne ſein Begehr ab , bloß
wegen ſeines Namens und wegen der Erinnerung
an den Großvater . Ich wäre ohne Mutter geblie-
ben , wenn er nicht zuletzt noch bei einer Dreizehnten
Gehör gefunden hätte , bei einer Denkerin , die in
des Großvaters Lügenbuche einen geheimen Sinn
ahnete , und Alles allegoriſch und theoſophiſch aus-
legte . Sie gab meinem Vater ihr Jawort , nicht
aus Liebe zu ihm , wie ſie ihm bei der Verlobung
offen ſagte , ſondern aus Achtung für den Großvater .
Ueber dieſe Ehe darf ich mich nicht aus-
ſprechen . Sie birgt Geheimniſſe , die wieder tief
in andre Geheimniſſe meines tiefſten Seyns ver-
flochten ſind , und welche mit mir zu Grabe gehen
werden . Nur ſo viel mag ich Ihnen vertrauen :
Eine Ehe aus Achtung für den Vater des Gatten
iſt für dieſen die unglückſeligſte unter den unglück-
ſeligen Ehen . Die unglückliche Ehe aus Delicateſſe
von Schröder bedeutet gar nichts dagegen , und die
Heirath durch ein Wochenblatt gründet ein Para-
dies , mit der Achtungs-Ehe verglichen .
Theophilus , Freiherr von Münchhauſen , ( ſo
heißt der Mann , welcher vor der Welt mein
Vater heißt ; ) ergab ſich ganz den ernſteſten Stu-
dien , nachdem es ihm im Leben und in der Ehe
ſo äußerſt ſchlecht gegangen war . Er wurde ein
großer Waſſertrinker , und ich habe ihn , während ich
in Bodenwerder verweilte , nur dreimal lächeln ſehen .
Meine früheſte Jugend verlebte ich durch eine
ſeltſame Verkettung von Zufall , Schickung und
Leidenſchaft unter dem Vieh , und zwar bei einer
Ziegenheerde am Oeta . Was ich da erfahren ,
will ich Ihnen ſpäterhin erzählen , für jetzt nur ſo
viel , daß ich meine Knabenjahre , abermals durch
eine ſeltſame Verkettung von Zufall , Schickung
und Leidenſchaft im väterlichen Hauſe zubringen
durfte . Da trieb ich denn nun Alles und Jedes mit dem
Manne , dem ich , die Geheimniſſe mögen nun ſeyn ,
welche ſie wollen , doch immer meine Tage verdanke .
Vormittags : Philologie , Geographie , Alchymie ,
Technologie , Specialhiſtorie , Generalhiſtorie ,
Phyſik , Mathematik , Statik , Hydroſtatik ,
Aeroſtatik ;
Nachmittags : Literatur , Poeſie , Muſik , Plaſtik ,
Draſtik , Phelloplaſtik , gemeinnützige Kennt-
niſſe ;
Abends : Gymnaſtik , Hippiatrik , Medicin , inſon-
derheit Anatomie , Phyſiologie , Pathologie ,
Semiotik , Biotik , Materia medica ;
Nachts repetirten , experimentirten , disputir-
ten wir .
Bei dieſem Lehrplane konnte ich denn allerdings
Manches aufſchnappen .
Und wann ſchliefen Sie ? fragte das Fräulein .
Hin und wieder eine Viertelſtunde bei den
leichteren Doctrinen , verſetzte der Freiherr . Ich
war Schnellſchläfer , wie man Schnellläufer hat .
In wenige Minuten konnte ich den Gehalt von
Schlafſtunden gewöhnlicher Menſchen zuſammen
drängen . Von Schlaf kann überhaupt für Jemand ,
der ſich auf der Höhe des Jahrhunderts halten
will , nach der großen Ausdehnung , welche die
Wiſſenſchaft gewonnen hat , heut zu Tage wohl
nicht mehr viel die Rede ſeyn . — Neben dieſer
intellectuellen Bildung , die ich auf Bodenwerder
erhielt , wurde mein Charakter , mein Gemüth nicht
verabſäumt . Ganz beſonders brachte mir mein
ſogenannter Vater den heftigſten moraliſchen Wider-
willen gegen das Lügen bei , weil der Großvater
durch dieſes Laſter das ganze Familienglück zerſtört
hatte . Er folgte in manchen Dingen ſeinen eigenen
Grundſätzen , mein ſogenannter Vater , und hielt
erſtaunlich viel auf die Gewalt der erſten ſinnlichen
Eindrücke in der Jugend . Ich bekam daher alle
Sonn- und Feiertage eine allegoriſche Figur der
Wahrheit , aus Honigkuchenteig gebacken , zu verzeh-
ren , nämlich , eine unbekleidete Perſon , die Augen
zwei Roſinen , die Naſe eine Bamberger Pflaume ,
auf der Bruſt eine Sonne von Mandelkernen .
Hatte ich nun dieſe Allegorie mit Wolluſt ver-
ſpeiſet , ſo wurde mir dabei unaufhörlich wieder-
holt : Süß , wie der Honigkuchen , iſt die Wahrheit .
Wenn ich mir aber den Magen verdorben hatte ,
und Rhabarber einnehmen mußte , ſo hieß es im
einſchärfendſten Tone : Das iſt der bittre Trank
der Lüge .
Die Richtigkeit der Methode bewährte ſich an
mir . Ich bekam wirklich einen unbeſieglichen Ab-
ſcheu gegen das Lügen und kann wohl ſagen , daß
aus meinem Munde nie ein unwahres Wort gegan-
gen iſt , mit einer einzigen Ausnahme , die aber
ſofort ſich bitter an mir rächte . Lange Zeit konnte
ich der Wahrheit oder gewiſſer Wahrheiten nicht
denken , ohne daß mir Honigkuchen , Roſinen und
Mandelkerne und Bamberger Pflaumen einfielen ,
endlich erhob ich mich freilich zu gereinigteren
Vorſtellungen .
Was aber die einzige Lüge meines Lebens , und
ihre Folgen betrifft , ſo ging es damit folgender-
maßen zu . Ich ſitze eines Tages in meinem
Zimmer am Schreibepult und habe eine ſehr noth-
wendige Arbeit vor . Der Bediente meldet mir
einen Beſuch . Geh’ hinaus , ſage ich , ich wäre
nicht zu Hauſe . Der Herr wäre nicht zu Hauſe ,
ſagt er draußen . So wie der Menſch ſeine Bot-
ſchaft ausgerichtet hat , und ich höre , daß mein
Beſuch abzieht , ſpüre ich eine Unruhe , die mich
am Pult nicht weilen läßt ; ich muß aufſpringen ,
es wird mir heiß , es wird mir kalt , jetzt wird
mir ſo , dann wird mir ſo ; der Rhabarber fällt
mir ein aus meinen Jugendjahren und deſſen alle-
goriſche Deutung , die Phantaſie tritt in ihre unge-
heuren Rechte , die geheimen Bezüge zwiſchen Seele
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 6
und Leib fangen an zu ziehen , immer weſenhafter ,
creatürlicher wächſt die Idee des Rhabarbers in
mir , bald bin ich vom Kopf bis zur Fußzehe
jeder Zoll Rhabarber , die Natur folgt der Vor-
ſtellung , das Uebel bricht aus — — Sie errathen
das Uebrige ! —
Die Folgen meiner Lüge , durch Rhabarber-
Allegorie-Erinnerung bedingt , treten mit einer
Stärke auf , vor welcher die Wiſſenſchaft ſcheu
zurückweicht . Vierundzwanzig Aerzte gab es in
der Stadt ; Alle kommen nach und nach zu der
leidenden Creatur . Vierundzwanzig Anſichten
werden laut , vierundzwanzig verſchiedene und ent-
gegengeſetzte Mittel werden verordnet . Der Erſte
hält die Krankheit für eine Schwäche , der Zweite
für Hyperſthenie , der Dritte für eine neue Form
der Schwindſucht . Der Vierte verſchreibt Sina-
pismen , der Fünfte Cataplasmen , der Sechſte
Bähungen ; der Siebente Adſtringentia , der Achte
Mitigantia , der Neunte Corroborantia ; Ipecacu-
anha ! ruft der Zehnte , Nein , Hyosciamus ! ſchreit
der Eilfte ; keines von beiden , ſondern Meerzwiebel ,
ſagt ruhig der Zwölfte ; Dreizehn , Vierzehn , Fünf-
zehn , Sechszehn , Siebenzehn operiren , ſcarificiren ,
amputiren , evacuiren , trepaniren ; Nummer Acht-
zehn hat in der Diagnoſe Recht , Nummer Neunzehn
findet die Prognoſe ſchlecht ; der Zwanzigſte giebt
Borax , der Einundzwanzigſte Storax , der Zwei-
undzwanzigſte findet des Uebels Sitz im Thorax ;
der Dreiundzwanzigſte mir Frankenwein bot , der
Vierundzwanzigſte macht mich Kranken ſcheintodt .
Aus dieſem Zuſtande erweckt mich ein Homö-
opath mit Gran Arſenik . Herr Medi-
cinalrath , flüſtre ich ihm , entkräftet von vierund-
zwanzigfacher allopathiſcher Behandlung zu , Herr
Medicinalrath , ich hab’s vom Lügen ! — Vom Lügen ?
verſetzt er . Nichts leichteres dann , als die Hei-
lung . Similia similibus . Sie müſſen verläumden
d. h. lügen mit feindſeliger Abſicht , denn giebt
ſich die Krankheit ſofort .
Ein Blitz fährt durch meine Seele . Nach
Schwaben ! rufe ich ; nach Stuttgart ! Doctor
Nachtwächter iſt ein Menſchenfreund , er wird mir
die Liebe erzeigen , und mich zu meiner Herſtellung
einige Zeit lang am Literaturblatte mitarbeiten
laſſen . — Ich werde in Betten eingepackt , in den
Wagen geſetzt , erreiche Stuttgart halbſterbend .
Der Herausgeber des Literaturblattes kommt eben
6*
aus der Ständekammer , worin er von dem Drucke ,
unter dem die Kirche ſchmachte , redete , bei der
Berathung der Kammer über das Moſtſteuergeſetz .
Edler Mann , ſage ich , Sie , aus deſſen Antlitz
Güte und Redlichkeit leuchten , Nachtwächter Sie
Germaniens , der immer abtutet , wie hoch es an
der Zeit ſei , wenn die Stunde vorüber iſt , ſo und
ſo geht mir’s . Ich erzähle ihm den Caſus und
trage ihm mein Anliegen vor . Gern gewährt ,
verſetzt Nachtwächter , was ſchiert mich die Litera-
tur ? Er ertheilt mir ſeine Inſtructionen für
einen Artikel des Blattes , ich fange d n ach an
zu ſchreiben . Bei der erſten Seite verſpüre ich
ſchon Linderung , bei der zweiten Minderung , bei
der dritten ſammle ich Kräfte , bei der vierten
beſſern ſich meine Säfte , mit der fünften kommt
den abgemagerten Gliedern die vorige Rundheit ,
und die ſechſte ſchenkt mir die vollkommene Geſund-
heit , ſo daß ich nicht nöthig hatte , von Autoren
und Büchern , denen etwas verſetzt werden ſollte ,
weiter zu ſchreiben , und Nachtwächtern die Vollen-
dung des Artikes überließ .
So half mir das Stuttgarter Literaturblatt ho-
möopathiſch von den durchſchlagenden Wirkungen der
Lüge . Nachtwächter muß in ſeiner Jugend keinen
Rhabarber eingenommen haben , oder keine Imagi-
nation beſitzen , ſonſt wäre er an ſeinem Blatte
längſt verſchieden . Ich aber werde mich wohl
hüten , zum zweitenmale gegen das Geſetz der
Wahrhaftigkeit zu ſündigen , denn Nachtwächter
hilft mir nicht wieder , das weiß ich . Er ſchreit
über Undank ; ich hätte an ſeinem Heerde geſeſſen ,
er hätte mich aufgenommen , gaſtfrei , wie der
Capitain Rolando den Gil Blas in ſeiner Spe-
lunke aufnahm , und doch wäre ich ſo pflichtvergeſſen
geweſen , nicht weiter für ihn lügen zu wollen ,
als ich mich auscurirt hätte .
Auf dieſe und ähnliche Anklagen führt nun freilich
ein alter Vers die Vertheidigung , welche alſo lautet :
Die Wahrheit nur verknüpft , die Lüge hält nicht Stich ;
Betrügeſt du die Welt , betrügt der Lügner dich .
Eine Correſpondenz des Herausgebers
mit ſeinem Buchbinder .
I.
Der Herausgeber an den Buchbinder .
Aber , lieber Herr Buchbinder , was für Streiche
machen Sie in jüngſter Zeit ! Neulich ſchicke ich
Ihnen : Zur Philoſophie der Geſchichte . Von Karl
Gutzkow . Sie aber ſetzen hinten auf den Titel :
Zur Philoſophie der Geſchichte von Karl Gutzkow ,
ſo , als ob dieſes Buch eine innere Geſchichte des
Autors enthalte , ungeachtet er doch darin von
den todten Kräften und den natürlichen Voraus-
ſetzungen in der Geſchichte , vom abſtracten und
concreten Menſchen , von Mann und Weib , von der
Leidenſchaft , vom Staat , von Krieg und Frieden ,
von den Uebergangszeiten , von Revolutionen , und
endlich vom Gott in der Geſchichte handelt ; mithin
das ganze Gebiet des hiſtoriſchen Nachdenkens in
ſeinem Werke durchwandert . Heute aber bekomme
ich von Ihnen das erſte Buch meiner Münchhau-
ſenſchen Denkwürdigkeiten zurück , und da ſehe ich ,
daß Sie die zehn erſten Capitel gänzlich verheftet ,
ſie hinter die Capitel Eilf bis Fünfzehn gebracht
haben . Ich erſuche Sie unter Rückgabe des
Buches eine Umheftung vorzunehmen .
Der ich übrigens mit Achtung u. ſ. w .
II.
Der Buchbinder an den Herausgeber .
Ew. Wohlgeboren haben mir ſchmerzliche Vor-
würfe gemacht , die ich ſo nicht auf mir ſitzen
laſſen kann . Ich bin lange genug im Geſchäft ,
und weiß , was es damit auf ſich hat . Heut zu
Tage muß , wenn der Autor ſich verpudelt hat ,
ein ordentlicher Buchbinder ein bischen auf das
Verſtändniß wirken , durch Winke auf den Rücken-
titeln , oder , wo ſie ſonſt ſich anbringen laſſen .
Die Schriftſteller ſind etwas confuſe geworden .
Die jungen Leute leſen und lernen zu wenig , aber
Unſereins , dem ſo zu ſagen , die ganze Literatur
unter das Beſchneidemeſſer kommt , und der alle
die Nachrichten „ für den Buchbinder “ durchſtudiren
muß , deshalb aber genöthigt iſt , noch rechts und
links von den Nachrichten ſich umzuſchauen , o der
gewinnt ganz andre Ueberſichten . Da muß man
denn helfen , ſo gut man kann , und oft läßt ſich
der rechte Geſichtspunct für ein Buch feſtſtellen ,
blos dadurch , daß man einen Punct oder ein
Comma wegläßt , oder zuſetzt , wie denn gerade die
Sachen ſich verhalten .
Bei dem Buche von Karl Gutzkow that es die
Weglaſſung des Punctes hinter „ Geſchichte . “
Ew. Wohlgeboren ! Ich habe Spittler eingebunden
und Schlözer , und Herders Ideen zur Philoſophie
der Geſchichte der Menſchheit ſind mir wenigſtens
hundertmal unter ’m Falzbein geweſen , und jetzt
binde ich Ranke viel ein — ich ſage Ihnen , die
Männer ſchrieben ſo ſchöne dicke Bücher , und ſo
viele Noten und Citate ſtehen in den Büchern ,
daß man ſieht , wie die Verfaſſer ſich ’s haben ſauer
werden laſſen mit der Philoſophie und der
Geſchichte — ich ſage Ihnen , es iſt rein unmöglich ,
daß man auf 305 Seiten , wie Karl Gutzkow
gethan , den Gott , und die Revolutionen und den
Teufel und ſeine Großmutter in der Geſchichte
abhandeln kann . Aber das iſt auch gar nicht
ſeine Abſicht geweſen , wie ſich aus dem Vorworte
ergiebt , welches ich leſen mußte , weil ich einen
Carton einzulegen hatte . Denn darin ſagt der
Autor , er habe keine anderen Quellen zur „ Philo-
ſophie der Geſchichte “ benutzen können , als höchſtens
einige an die Wand gekritzelte Verwünſchungen der
Langenweile , oder einige in die Fenſterſcheiben
geſchnittne Wahlſprüche zahlloſer unbekannter Na-
mensinſchriften . Wenn er nun das Buch , was
er vermuthlich auch nur ſchrieb , um ſich die Lange-
weile zu vertreiben , dennoch herausgab , ſo konnte
das nur in der einzigen Abſicht geſchehen , Memoiren
über ſeine ſchlechten und mangelhaftigen Studien
zu liefern , und der Titel , wie ich ihn mit goldenen
Lettern ſetzte , iſt ganz richtig , nämlich : Zur Phi-
loſophie der Geſchichte von Karl Gutzkow .
Warum ich aber die letzten Capitel Ihres
Buches zu den erſten machte , das ſollen Sie auch
gleich vernehmen . Sie hatten die Münchhauſenſchen
Geſchichten wieder ſo ſchlicht angefangen , wie Ihre
Manier iſt : „ In der deutſchen Landſchaft , worin
ehemals das mächtige Fürſtenthum Hechelkram lag ,
erhebt ſich eine Hochebne “ u. ſ. w. hatten dann von
dem Schloſſe und ſeinen Bewohnern berichtet , und
waren endlich nach und nach auf den Helden dieſer
Erzählungen gekommen .
Ew. Wohlgeboren , dieſer Stylus mochte zu
Cervantes Zeiten gut und erſprießlich ſeyn , wo
die Leſer ſo ſacht und gelind in eine Erzählung
hinein kommen wollten , wie in eine Zaubergrotte ,
von der die Mährlein ſingen , daß eine ſchöne Elfe
davor ſitzt , und den Ritter mit wunderleiſen
Klängen in die karfunkelleuchtenden Klüfte lockt .
Sie ſtößt auch nicht in die Trompete , oder bläſ’t
die Baßpoſaune , oder macht Pizzicato , ſondern ſie
hat eine kleine goldne Laute im Arm ; aus deren
Saiten quellen unſchuldige , naive Töne , wie harm-
loſe Kinder , die um den Ritter Blumenfeſſeln
ſchlingen , und eh er ſich’s verſieht , iſt er umſpon-
nen und durch den Grotten-Eingang gezogen , und
ſteht mitten in dem Reiche der Wunder , bevor er
nur gemerkt hat , daß er aus der Welt da draußen
hinweggegangen iſt .
Aber heut zu Tage paßt die Magie eines ſol-
chen ſüßfeſſelnden Styls gar nicht mehr .
Ew. Wohlgeboren , heut zu Tage müſſen Sie
noch mehr thun , als die Baßpoſaune blaſen , Sie
müſſen den Tam-Tam ſchlagen , und die Ratſchen
in Bewegung ſetzen , womit man in den Schlacht-
muſiken das Klein-Gewehrfeuer macht , oder falſche
Quinten greifen , oder vor die Diſſonanz die Con-
ſonanz ſchieben , wenn Sie die Leute „ packen “
wollen , wie es genannt wird .
Ew. Wohlgeboren , die ordentliche Schreibart
iſt aus der Mode . Ein Jeder Autor , der etwas
vor ſich bringen will , muß ſich auf die unordentliche
verlegen , dann entſteht die Spannung , die den
Leſer nicht zu Athem kommen läßt , und ihn par
force bis zur letzten Seite jagt . Alſo nur Alles
wild durcheinander geſtopft und geſchoben , wie die
Schollen beim Eisgange , Himmel und Erde weg-
geläugnet , Charaktere im Ofen gebacken , die nicht
zu den Begebenheiten ſtimmen , und Begebenheiten
ausgeheckt , die ohne Charaktere umherlaufen , wie
Hunde , die den Herrn verloren haben ! Mit einem
Worte : Confuſion ! Confuſion ! — Ew. Wohlge-
boren , glauben Sie mir , ohne Confuſion richten
Sie heut zu Tage nichts mehr aus .
Ich habe , ſoweit ich vermochte , in dieſem
Stücke bei den Münchhauſianis für Sie geſorgt ,
und ein bischen Confuſion geſtiftet , ſo viel es ſich
thun ließ , damit die benöthigte Spannung entſtehe .
Sehen Sie , ſo wie jetzt das Heft gebunden iſt ,
ann kein Menſch bisher errathen , woran er iſt ,
wer der alte Baron iſt , und das Fräulein und
der Schulmeiſter , und wo ſich die Sache zuträgt ?
Hat ſich aber ein tüchtiger Leſer erſt durch einige
Capitel hindurchgewürgt , dann würgt er ſich auch
weiter , denn es geht den Leſeleuten ſo , wie man-
chem Zuſchauer in der Comödie . Er ärgert ſich
über das ſchlechte Stück , er gähnt , er möchte vor
Ungeduld aus der Haut fahren , aber dennoch
bleibt er ſitzen , weil er einmal ſein Entree-Geld
gegeben hat , und dafür auch ſeine drei Stunden
abſitzen will .
Alſo , Ew. Wohlgeboren , ich dächte , Sie ſtänden
von dem Verlangen nach Umheftung ab . Der ich
übrigens u. ſ. w .
III.
Der Herausgeber an den Buchbinder .
Lieber Herr Buchbinder , Sie haben mich über-
zeugt . Ach , ich laſſe mir jetzt von Jedermann
rathen in meinem Metier , ſelbſt von Ihrem Jungen ,
wenn er mir etwa Vorſchläge über das neue Buch
machen kann . Es hat mir ſchon ſo mancher Junge
Zurechtweiſungen ertheilt , und ich habe ſie nicht
befolgt und ſchwer darob büßen müſſen .
Es ſoll alſo bei der Verheftung bleiben , und
wenn Sie oder Ihr Junge in der Folge merken , daß
ich wieder gegen die Spannung , oder die unordent-
liche Schreibart geſündigt habe , dann heften Sie
nur nach Gutdünken die Capitel durcheinander ,
und verbeſſern auf ſolche Weiſe das Buch . Ich
glaube ſogar , daß ich nicht der Erſte in ſolchem
Verfahren bin ; Herr Steffens hat gewiß bei ſeinen
Novellen von Walſeth und Leith und den vier
Norwegern und Malcolm dem Buchbinder eine
gleiche Vergünſtigung eingeräumt .
Vor ein ſieben , acht Jahren hätte mir noch
Keiner ſo etwas bieten dürfen , aber ich bin — —
— — müde geworden , hatte ich geſchrieben ,
lieber Herr Buchbinder , und recht im Vertrauen
auseinandergeſetzt , warum man in der Welt jetzt
ſo müde werden kann .
Zwei Damen aber , denen ich den Brief vorlas ,
ſagten , das dürfe durchaus nicht ſtehen bleiben ;
der müde und weinerliche Ton zieme ſich platter-
dings nicht für mich .
Sie haben Recht. Mag die Welt uns Alles
verſagen , die Geſchichte und die Natur kann ſie
uns nicht verſperren . Ich will die Buben heulen
und greinen laſſen über das Elend , welches ſie
doch eben hauptſächlich machen helfen .
Nein , Herr Buchbinder , unſere Augen ſollen
wacker bleiben , und die Wunden ſollen uns
ſchön ſtehen .
Aber was halten Sie von dem Münchhauſen ,
und was meinen Sie , das aus ihm werden wird ?
IV.
Der Buchbinder an den Herausgeber .
Ew. Wohlgeboren , aus dem Münchhauſen wird
nichts ; da Sie denn doch meine Meinung wiſſen
wollen . Dieſes thut indeſſen nichts . Ein Buch ,
aus dem nichts wird , mehr oder weniger in der
Welt , verſchlägt nichts . Und dann können wir
den einzelnen Abſchnitten doch noch in etwa nach-
helfen . Für dieſen erſten habe ich ſchon ſo ein
Hausmittelchen in Gedanken . Der ich übrigens u. ſ. w .
V.
Der Herausgeber an den Buchbinder .
Welches Hausmittelchen , lieber Herr Buch-
binder ? Ich bin äußerſt geſpannt auf Ihre ferneren
Mittheilungen . Mit Achtung u. ſ. w .
VI.
Der Buchbinder an den Herausgeber .
Ew. Wohlgeboren , Briefwechſel ſind jetzt beliebt ,
wenn ſie auch nur Nachrichten von Schnupfen- und
Huſtenanfällen der Correspondenten enthalten .
Laſſen Sie unſern Briefwechſel im erſten Buche
mit abdrucken ; der hilft ihm auf .
VII.
Der Herausgeber an den Buchbinder .
Auch unſre letzten Zettel ?
VIII .
Der Buchbinder an den Herausgeber .
Ja wohl .
IX.
Der Herausgeber an den Buchbinder .
Wohl !
X.
Der Buchbinder an den Herausgeber .
( Couvert um die Briefe des Herausgebers . )
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 7
Erſtes Capitel .
Von dem Schloſſe Schnick-Schnack-Schnurr
und ſeinen Bewohnern .
In der deutſchen Landſchaft , in welcher ehemals
das mächtige Fürſtenthum Hechelkram lag , erhebt
ſich eine Hochebne , von braunem Haidekraute
überwachſen . Hin und wieder ſticht aus dieſer
dunkeln Fläche ein ſpitziges Geſtein hervor , mit
weißſtämmigen Birken oder dunkeln Tannen umſäumt .
Nach Mitternacht rücken die Steinlager ſo nahe
aneinander , daß ſie für eine kleine Gebirgskette
gelten können . Verſchiedne Fußpfade laufen durch
die Ebne , vereinigen ſich aber in der Nähe der bei-
den höchſten Felſen zu einem breiteren Wege , der
zwiſchen dieſen Felſen ſacht bergan führt . Nach
einigen Windungen fällt derſelbe in eine Straße ,
welche ehemals bepflaſtert geweſen ſeyn mag ,
nun aber durch ausgeriſſene Steine und grundloſe
Geleiſe mehr das Anſehen eines gefährlichen Klippen-
weges erhalten hat . Nichts deſto weniger iſt dieſem
holprichten und halsbrechenden Wege bis auf die
neuſten Zeiten der Name der Schloßſtraße verblieben .
Denn man ſieht oder ſah , kurz nachdem man ſie
betreten , das Schloß , welches die Ueberſchrift
dieſes Capitels nennt , auf einem ziemlich kahlen
Hügel liegen .
Je näher man demſelben kommt , oder kam ,
denn am heutigen Tage iſt davon nur noch ein
Trümmerhaufen übrig , deſto deutlicher ſpringt , oder
ſprang die ungemeine Baufälligkeit des Schloſſes
in das Auge . Was zuvörderſt die Pforte betrifft ,
oder betraf , ſo ſtanden zwar deren beide ſteinerne
Pfeiler noch , und auf dem rechten hatte ſich ſogar
der ſtatuariſche Löwe als Wappenhalter zu behaup-
ten gewußt , während ſein Partner von dem linken
Pfeiler hinab in das hohe Gras geſunken war , allein
das eiſerne Pfortengegitter ſelbſt war längſt wegge-
brochen und zu andern Zwecken verwendet worden .
Die Gefahr , welche hieraus für das Gebäude von
räuberiſchen Ueberfällen zu beſorgen ſtand , war
aber nur bei trocknem Wetter vorhanden . Wenn
7*
es regnete , ( und es pflegt oft in jener Gegend zu
regnen ; ) ſo verwandelte ſich bald der Burghof
in einen undurchwatbaren Sumpf , auf welchem ,
wenn die Geſchichte nicht Lügen berichtet , zuweilen
ſelbſt Schnepfen ſich hatten betreten laſſen .
Völlig entſprechend dieſem Zugange war das
Aeußere und Innere des Schloßgebäudes ſelbſt .
Die Wände hatten ihre Tünche , ja zum Theil
ihren Bewurf verloren . Nach einer Seite hin
war die Giebelwand bedeutend ausgewichen und
durch einen Balken geſtützt worden , der aber am
unteren Ende auch ſchon zu morſchen begann , und
daher nur eine geringe Zuverſicht gewährte . Ließ
man ſich nun durch dieſen Anblick nicht abſchrecken ,
in das Gebäude eintreten zu wollen , ſo bot die
Thüre immer noch ein großes Hinderniß dar .
Denn die Feder war in dem alten verroſteten
Schloſſe längſt unthätig geworden , und die Klinke
gab nur wiederholtem und gewaltſamem Drücken
nach , bei welchem ſie aber nicht ſelten aus ihrer
Mutter fuhr und dem Klinkenden in der Hand
ſitzen blieb . Die Bewohner pflegten ſich daher auch
mehr eines nach und nach ſehr erweiterten Loches
in der Wand zum Ein- und Ausgange zu bedienen ,
und dieſes nur für die Nachtzeit durch vorgeſetzte
Tonnen und Kaſten zu verſperren .
Wenn man die Fenſter die Augen eines Hauſes
nennen darf , ſo konnte man dieſes ſogenannte
Schloß mit gutem Rechte zum Theil erblindet
heißen . Denn nur vor wenigen und den noth-
wendigſten Zimmern waren jene Augen noch
erſichtlich , viele andere Gelaſſe waren für immer
durch die zugemachten Läden in Dunkelheit verſetzt
worden , weil ſich die Scheiben nach und nach aus
den Rahmen verloren hatten .
Zwiſchen ſo morſch gewordnen vier Pfählen
und in kahlen , vernutzten Zimmern hauſte noch vor
wenigen Jahren ein bejahrter Edelmann , den ſie
in der ganzen Gegend nur den alten Baron nannten ,
mit ſeiner gleichfalls verblühten nachgerade vierzig-
jährigen Tochter Emerentia . Er gehörte zu dem
weitläuftigen Geſchlechte derer von Schnuck , welches
weit umher in dieſen Landſchaften ſeine Beſitzungen
hatte , und ſich in folgende Linien , Zweige , Aeſte
und Nebenäſte ſpaltete , nämlich in die
I. Aeltere , oder graumelirte Linie — Linie
Schnuck-Muckelig ; geſtiftet von Paridam , Herrn
auf und zu Schnuck-Muckelig .
1. Aelterer oder aſchgraumelirter Zweig—Zweig
Schnuck-Muckelig-Pumpel .
2. Jüngerer oder ſilbergraumelirter Zweig —
Zweig Schnuck-Muckelig-Pimpel .
II. Jüngere oder violette Linie — Linie
Schnuck-Puckelig , geſtiftet von Geyſer , Burgman-
nen auf und zu Schnuck-Puckelig .
1. Aelterer oder violetter Zweig mit Schütt-
gelb . Zweig Schnuck-Puckelig-Schimmel-
ſumpf .
a . Aſt Schnuck-Puckelig-Schimmelſumpf-
Mottenfraß .
b . Aſt Schnuck-Puckelig-Schimmelſumpf ,
genannt aus der Rumpelkammer .
( NB . Stand nur auf vier Augen. )
2. Jüngerer oder violetter Zweig , genannt im
Grützfelde . Zweig Schnuck-Puckelig-Erb-
ſenſcheucher .
a . Aſt Schnuck-Puckelig-Erbſenſcheucher von
Donnerton .
b . Aſt Schnuck-Puckelig-Erbſenſcheucher in
der Boccage .
Davon der Nebenaſt : Schnuck-Puckelig-Erb-
ſenſcheucher in der Boccage zum Warzentroſt .
Von dieſem Nebenaſte war unſer alter Baron
entſproſſen .
Die vielfältige Theilung des Geſchlechts derer
von Schnuck hatte eine bedeutende Theilung des
Stamm-Erbes zur Folge gehabt , und namentlich
in der jüngeren Linie , welche von jeher durch
große Fruchtbarkeit ausgezeichnet war , die Güter
in eines jeden Erbherrn Händen merklich gemindert .
Man war daher zu der Erfindung überzugehen
genöthigt geweſen , daß denen von Schnuck alle
Kirchenpfründen und alle Kriegsämter im Fürſten-
thume von Rechtswegen gehören ; eine Erfindung ,
die um ſo eher bei den Fürſten von Hechelkram
Glauben fand , als die Schnucks , wie geſagt , über
das ganze Land verbreitet waren , und Vetter Botho
ſagte , es ſei ſo , Vetter Günther behauptete , es
ſei ſo am beſten , Vetter Achaz einfließen ließ , die
Schnucks und ihr Anhang bildeten die eherne
Mauer um den Thron , Vetter Vartholomäus fol-
gerte , weil es nothwendig ſei , daß die Schnucks
exiſtirten , ſo müßten ſie auch die Mittel zu ihrer
Exiſtenz , d. h. Pfründen und Aemter haben , ſechs-
unddreißig andre Schnucks aber noch ſechsunddreißig
andre Gründe für die Richtigkeit der Erfindung
zum Vorſchein brachten . Die Fürſten , welche nur von
Schnucks umgeben waren , und von dieſen nichts
Anderes hörten , als vorgedachte Reden , mußten wohl
endlich an die Richtigkeit der Erfindung glauben .
Bedeutend wirkte auch auf die Stärkung dieſes Glau-
bens der Umſtand ein , daß nach der Verfaſſung von
Hechelkram der jedesmalige Fürſt ſeine jedesmalige
Geliebte aus dem Geſchlechte derer von Schnuck zu
beziehen hatte . Dieſe Damen waren aber , wie ſich
von ſelbſt verſteht , im agnatiſchen Intereſſe thätig .
Die Erfindung war daher bald feſtbegründet ,
und gelangte als Anhang in den Landes-Catechis-
mus . Nun konnten die von Schnuck unbeſorgt
hinleben und ihren Saamen mehren , wie Sand
am Meere . Wenn ſie das Ihrige verzehrt hatten ,
ſo zehrten ſie als Generale auf Regiments-Unkoſten
weiter , und die Söhne , außer Einem , ließen ſie
Prälaten oder Geheime-Räthe im höchſten Collegio
werden . Denn ich habe die Erfindung nicht ganz
vollſtändig vorgetragen : Nach derſelben war jeder
Schnuck , wenn er den Civildienſt wählte , geborner
Geheimer-Rath im höchſten Collegio . — —
„ Sie ſtocken … Sie ſeufzen … Herr Heraus-
geber ? “
Ach , meine Gnädige , iſt es nicht ein Unglück
für einen armen Erzähler , daß er immerfort die
alten Geſchichten wieder aufwärmen muß ? Die
Sachen , die ich da berichte , ſchienen ſchon vor
fünfzig Jahren durch die Romanenſchreiber jener
Zeiten ſo verbraucht zu ſeyn ! Und ich muß den
längſtgekochten Kohl doch wieder zum Feuer rücken !
„ Sie erzählen ja von der Vergangenheit , Herr
Herausgeber , und dahinein gehören allerdings ſolche
alte Geſchichten . “
Ich danke Ihnen tauſendmal für dieſe Erinne-
rung , meine Gnädige . Ja wohl , ich erzähle von
der Vergangenheit , von Dingen , die ab und todt
ſind , wie die weiland in der Schmiede geweſene
Adelskette . Meine Phantaſie riß mich nur hin ,
daß ich mir die Erfindung derer von Schnuck als
der Gegenwart oder nächſten Zukunft angehörig
vorſtellen mußte . Nein , ſie wird nicht wieder
aufkommen , dieſe Erfindung ; gegen ſie ſpricht
wirklich eine ungeheure Majorität , die Majorität
aller rechtlichen Leute , die es ſich haben ſauer
werden laſſen in der Welt . Alſo nur ohne
Stocken und Seufzen weiter in dieſen Sagen der
Vorzeit !
Unſer alter Baron hatte in ſeinen jungen Tagen
von dem Herrn Vater nur das Schloß Schnick-
Schnack-Schnurr ererbt , welches früherhin ein
Pachthof geweſen , und erſt ſpäterhin zu ſeinem
Ehrentitel gediehen war . Es warf jährlich etwa
zweitauſend Gulden ab , oder höchſtens zweitauſend-
fünfhundert . Der ſelige Vater hatte das Wohn-
haus wohl in Fach und unter Dach erhalten , die
Wappenlöwen ſtanden recht majeſtätiſch auf den bei-
den Pfeilern , zwiſchen denen ſich eine eiſerne Pforte
befand , wie ſie nur ſeyn mußte , der Hof war
damals auch noch gepflaſtert , und in den Zimmern
hingen ſchöne bunte Familienbilder , ſtanden röthlich-
lackirte Stühle und Commoden mit goldnen Leiſten .
Hinter dem Schloſſe aber hatte der Vater einen
Garten in ſtreng-franzöſiſchem Geſchmack anlegen
und Schäfer und Liebesgötter von Sandſtein hin-
einſetzen laſſen .
Zweitauſend oder zweitauſendfünfhundert Gulden
jährlich ſind zwar nur ein ſchmales Einkommen für
einen Edelmann , allein unſer alter Baron hätte
ſich damit in ſeiner ländlichen Abgeſchiedenheit doch
wohl aufrecht zu erhalten vermocht , wenn er nur
nicht mit dem Gedanken aufgewachſen wäre , er
ſei geborner Geheimer-Rath im höchſten Collegio .
Aber ſeit ſeinem vierzehnten Jahre legte er ſich
mit dieſer Vorſtellung nieder , und ſtand mit der-
ſelben Morgens wieder auf ; ſie gab ihm eine
Sicherheit des Bewußtſeyns , welche nichts zu
erſchüttern vermochte . Gelernt hatte er , die
Wahrheit zu ſagen , wenig oder nichts , ſein Herr
Vater war dagegen , und der Meinung geweſen , viel
wiſſen ſei für einen Cavalier unanſtändig .
Er hatte eine freie , ſorgloſe und gutmüthige
Sinnesart ; es vergnügte ihn , Andern mitzutheilen ,
und ſein eignes Vergnügen liebte er nicht minder .
Er gab gern Gaſtereien , ging gern mit einem
Dutzend guter Freunde auf die Rehjagd , und hielt
nach dieſer Anſtrengung ein , wo möglich hohes
Spielchen mit ſeinen Waidgenoſſen für die beſte
Erholung . Auch wenn er allein war , ſpeiſte er
nicht gern unter ſechs Schüſſeln , wozu , wie ſich
von ſelbſt verſteht , alter Rheinwein vom Beſten
gehörte . In Kleidern hielt er ſich ſauber , Diener
unterhielt er nicht übermäßig viele , etwa fünf oder
ſechs für ſich und ſeine Gemahlin , die aus der
älteren , oder graumelirten Linie , aus der Linie
Schnuck-Muckelig-Pumpel entſproſſen war ; nebſt
einer Kammerjungfer und einer Garderobiere für
dieſe ſeine Gemahlin . Letztere hatte nun wieder
ihr hauptſächliches Vergnügen an Brillanten , Perlen ,
Roben und Spitzen , und ihr Gemahl verſagte ihr
in Beziehung auf ſolche Gegenſtände keinen ihrer
Wünſche ; denn , ſagte er , wenn das Zeug auch viel
koſtet , ſo gehört es einmal zu unſerm Stande ,
und was ſtandesmäßig iſt , koſtet nie zu viel .
Ermüdete unſern alten Baron die häusliche
Einformigkeit , ſo machte er mit Gemahlin , Kam-
merjungfer , Garderobiere , mit den fünf oder ſechs
Dienern und dieſem oder jenem Hausfreunde ,
welcher auch der Erholung bedürftig war , und ihn
um Mitnahme anſprach , intereſſante Reiſen in die
benachbarten fremden Länder , von denen er dann
neugeſtärkt zu ſeinen Gaſtereien , Jagden und Spie-
len zurückkehrte . Dieſe ſtillen Familienfreuden
mundeten ihm nach ſolchen Ausflügen immer dop-
pelt wohl .
Der Himmel hatte ſeine Ehe mit einer einzigen
Tochter geſegnet , welche in der heiligen Taufe den
Namen : Emerentia erhielt . Dieſes Kind war von
jeher ausnehmend ſchwärmeriſcher Art , es verdrehte
ſchon als Säugling die Augen auf eine wunderbare
Weiſe . Als die kleine Emerentia größer wurde ,
hörte ſie ihre Mutter faſt von nichts Andrem er-
zählen , als von den Damen der Linien Schnuck-
Muckelig und Schnuck-Puckelig , welche die Geliebten
der Fürſten von Hechelkram geweſen waren . Die
Mutter zeigte auch dem Kinde dieſe Damen unter
den Familienbildniſſen ; lauter ſchöne Frauenzimmer
mit hohen Friſuren , gelben , grünen oder rothen
Adriennen , großen Blumenſträußen und entblößten
Schultern ! Da ſie nun immerfort von den Ge-
liebten hörte , und die Frauenzimmerbildniſſe ihr
gar zu wohl gefielen , ſo ſetzte ſie ſich in den
Kopf , daß ſie ebenfalls zu einem ſolchen Berufe
auserſehen ſei , ein Gedanke , der noch mehr be-
feſtigt wurde , als der Fürſt Xaverius Nicodemus
der Zweiundzwanzigſte von Hechelkram das Schloß
beſuchte . Er nahm die damals dreizehnjährige
Emerentia auf den Schooß , liebkoſte ihr zärtlich ,
und fragte ſie : Willſt du mein Bräutchen wer-
den ? Sie bedachte ſich nicht lange , ſondern ver-
ſetzte raſch : Ja , wie alle die Damen , die da
hangen . Der Fürſt hob die Kleine vom Schooße
und ſagte lächelnd zu ihrer Mutter : Ah , la petite
Ingenue !
Die Zeit verwiſchte zwar den Fürſten Xaverius
Nicodemus den Zweiundzwanzigſten , da ſie ihn
nicht wieder ſah , allgemach aus ihrem Herzen , da-
gegen ſetzte ſich in ihr die Standesvorſtellung , die
Vorſtellung an ſich , daß ſie beſtimmt ſei , mit einem
Hechelkramiſchen Fürſten in zärtliche Verhältniſſe
zu treten , immer feſter in ihr , wobei ſie ſich durch-
aus nichts Arges dachte , woran ſie aber mit ſolcher
Innigkeit hing , wie ihr Vater an ſeinen Geheimen-
raths-Gedanken . Weil nun das Herz nicht in das
Leere ſeinen Drang verſenden mag , ſondern gern
an liebevoll-gediegner Wirklichkeit ausruht , ſo hatte
ihre ſchwärmende Phantaſie nach einigem Umher-
ſchweifen im leeren Raume auch bald den ſichtbaren
Gegenſtand gefunden , der ihr den künftigen Lieb-
haber unter den Fürſten von Hechelkram vorbilden
mußte . In der That war dieſer Gegenſtand ganz
geeignet , die Einbildungskraft eines fühlenden
Mädchens zu entzünden . Von ſchöner , gedrungner ,
proportionirlicher Geſtalt , ſprach ſich in allen ſeinen
Gliedern männliche Kraft aus , aus ſeinem glän-
zenden , hellrothen Geſichte mit breiten , feſten
Kinnbacken leuchtete der Entſchluß , auch die härteſte ,
vom Geſchick ihm vorgelegte Nuß zu knacken , der
Mund wollte zwar ſeines Berufes wegen für die
Geſetze reiner Verhältniſſe etwas zu groß erſcheinen ,
aber ein ſchwarzer Schnurbart von wunderbarer
Fülle , welcher über den Lippen hing , machte dieſen
Uebelſtand wieder gut . Die großen , grellen , him-
melblauen Augen blickten ſanft und grade vor ſich
hin , und ließen auf eine Seele vermuthen , in
welcher die Milde bei der Stärke wohnte .
Bekleidet war dieſer idealiſch-ſchöne Nußknacker
mit einer rothlackirten Uniform und weißem Unter-
zeuge ; auf dem Haupte aber trug er einen impo-
nirenden Federhut . Emerentia hatte ihn zu ihrem
Namenstage geſchenkt bekommen . Sobald ſie ſeiner
anſichtig wurde , erzitterte ſie , erſeufzte ſie , erröthete
ſie . Niemand verſtand ihre Regung . Sie aber
trug den Nußknacker auf ihr einſames Zimmer ,
ſtellte ihn auf den Kamin , blickte ihn lange glühend
und weinend an , und rief endlich : Ja , ſo muß
der Mann ausſehen , dem ſich dieſes volle Herz
zu eigen ergeben ſoll ! Von der Zeit an war
der Nußknacker ihr vorläufiger Geliebter . Sie
hielt mit ihm die zärtlichſten Zwiegeſpräche , ſie
küßte ſeinen ſchwarzen Schnurbart , ſie hatte dem
ganzen Verhältniſſe eine ſo tiefe Beſeelung gegeben ,
daß ſie jederzeit des Abends , wenn ſie ſich zum
Schlafengehen entkleiden wollte , ſchamhaft zuvor
ihrem Freunde auf dem Kamin das Haupt mit
einem Tuche verhüllte . Nußknacker ließ ſich das
Alles gefallen , ſtand zuverſichtlich auf ſeinen Füßen ,
und blickte mit den großen , blaugemalten Augen
mildkräftig vor ſich hin .
Emerentien hatte dieſe ſchöne Liebe raſch gereift .
Von der Natur war ſie , wenn auch nicht mit
Reizen , doch mit blühenden Geſichtsfarben und
runden Armen ausgeſtattet worden ; es konnte
ihr daher an Verehrern unter den benachbar-
ten Landjunkern nicht fehlen . Aber ſie ſchlug
alle Bewerbungen von der Hand und ſagte , ſie
folge ihrem Ideal und gehöre der Zukunft an .
Unter dem Ideal verſtand ſie den auf dem Kamin
und unter der Zukunft einen Hechelkramiſchen
Fürſten .
Ihre Eltern ließen ihr ganz freie Hand . Sie
ſagten , in den Linien Schnuck-Muckelig und Schnuck-
Puckelig ſeien alle Gefühle ſeit Jahrhunderten der
heraldiſch-richtigen Bahn gefolgt . Es laſſe ſich
alſo nichts daran ändern und modeln , was ihre
Tochter empfinde .
Um die Zeit der vielfältigſten und heißeſten
Bewerbungen machte ihr Vater mit den Seinigen
eine der obengedachten Erholungsreiſen zur Stär-
kung auf die Beſchwerden der Jagd und des Spiels .
Der Ausflug war diesmal in die Bäder von Nizza
gerichtet . Die Familie reiſte unter fremdem Na-
men , denn ſechs feurige Landjunker hatten geſchworen ,
dem Fräulein nachzueilen bis an das Ende der
Welt , und ſie wollte allein ſeyn , allein mit ihrem
Nußknacker , dem heiligen Meer und den ewigen
Alpen gegenüber .
Die Familie hieß in Nizza die von Schnur-
renburg-Mixpickelſche . Eines Tages gehen Schnur-
renburg-Mixpickels am Strande ſpazieren ; das
Fräulein geht etwas voran , den Freund im Ridi-
cüle . Plötzlich ſehen die Eltern ſie wanken ; der
Vater ſpringt zu , und empfängt die Tochter in
ſeinen Armen . Bleich iſt ihr Antlitz , aber von
Entzücken ſtrahlen ihre Augen , ſie liegt wie eine
Selige am Buſen des Vaters . Ihre Blicke
dringen ſchüchtern in die Ferne , und kehren dann
wie mit goldnen Schätzen der Wonne beladen , in
ſich zurück . Auch die Eltern erſtaunen , als ſie
den Blicken der Tochter in die Ferne folgen .
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 8
Denn von der andern Seite des Strandes ſchreitet
ihnen eine Geſtalt entgegen , Nußknacker im Großen ,
weiße Unterkleider , rothe Uniform , Federhut , grell-
blaue , und doch milde Augen , hellroth-glänzendes
Geſicht , wie lackirt , breiter Mund , verborgen von
der wunderbaren Fülle des ſchwarzen Schnurbarts ,
eine ſchöne gedrungne Geſtalt , Kraft in allen Glie-
dern , kurz Nußknacker in jeder Miene , Form , Falte .
Beſorgt tritt er hinzu und fragt , was der
Dame fehle ? Der Vater fragt ihn ſeinerſeits :
Mit wem er die Ehre habe …? Ich bin , ver-
ſetzt der Fremde , indem er die Naſenflügel zit-
ternd bewegt , und mit den Augen zwinkert ,
Signor Rucciopuccio , von Geburt ein Saneſe , in
Kriegsdienſten Seiner Majeſtät , des Kaiſers aller
Birmanen , bei den Truppen auf Europäiſche Art ,
Commandeur der ſechſten Elephantencompagnie .
Ei der Tauſend , da ſind Sie wohl verteufelt
weit her ? fragte der alte Baron . Es geht noch ,
erwiederte der Fremde , indem er ſich in den Hüften
zurechtrückte , daß die Gelenke knackten .
Der Alte fragte ihn über die Birmanen aus ,
die Mutter muſterte die Stickerei an ſeinem Kra-
gen , Emerentia flüſterte , in einen Abgrund von
Glück verloren , nichts als : O Rucciopuccio ! …
So kamen ſie in das Hotel der Familie , wo
ſich der Fremde nach kurzem Verweilen beurlaubte
mit der Bitte , ſeine Beſuche wiederholen zu dürfen ,
und nachdem er die Augen nochmals bedeutend-
zwinkernd auf Emerentia geworfen hatte .
Laßt mich von ihr ſchweigen ! Der Traum iſt
Wahrheit geworden , das Herz hat ſich ſeinen
Wunſch verkörpert , und in die Sichtbarkeit ausge-
ſchaffen ! Am andern Tage läßt ſich der Comman-
deur der ſechſten Birmaniſchen Elephantencompag-
nie wieder anmelden . Wo das Schickſal geſprochen
hat , ſind die Menſchen über Worte hinweggehoben .
Er tritt in die eine Thüre , ſie tritt in die Andre ;
er zupft am Schnurbart , ſie zupft am Schnupf-
tuch ; heut wird er blaß , und ſie wird roth , er
breitet die Arme aus , ſie breitet die Arme aus ,
er neigt ſich zu ihr , ſie neigt ſich zu ihm , und :
Für einander geſchaffen ! iſt der erſte Laut , den
ihre glühenden Lippen nach der Wonne des erſten
Kuſſes finden . Für einander geſchaffen ! wiederholt
Rucciopuccio betheuernd , indem er abermals mit
den Augen zwinkert und die Naſenflügel zitternd
bewegt .
8*
Aber dieſem raſcherblühten Lenze der Liebe folgte
ein verheerender Sturm , der alle Roſen jäh-
lings zu knicken drohte . In Emerentien erwachte
nämlich die ganze Dialektik feinfühlender weiblicher
Herzen , wenn ſie nicht wiſſen , was ſie wollen .
Die Arme fühlte ſich durch einen ſcharfen Conflict
der Gefühle zerſpalten . Der Nußknacker war ihr
Ideal , ein Fürſt von Hechelkram ihre Zukunft , der
Birmane Rucciopuccio aus Siena die Gegenwart
und Wirklichkeit . Sollte ſie dem Ideale und der
Zukunft untreu werden um Gegenwart und Wirk-
lichkeit ? Sollte ſie Wirklichkeit und Gegenwart
opfern und bei Ideal und Zukunft vielleicht eine
alte Jungfer werden ? Böſe Wahl , ſchreckliche
Kämpfe , die alle Götter und Dämonen ihres
Buſens aus dem Schlummer weckten ! Eine weib-
liche Feder wird in einem Anhange zu den gegen-
wärtigen Erzählungen dieſen Theil von Emerentia’s
Geſchichte ausmalen . Nur eine Schriftſtellerin
verſteht ſich auf die Entzaſerung aller der gehei-
men Faſern und Zaſern , welche das Gewebe ſol-
cher Nöthe bilden .
Endlich ſiegten Gegenwart und Wirklichkeit
über Zukunft und Ideal . Das Schickſal räumte
nämlich zuvörderſt das Ideal hinweg , indem es
die Hand der Mutter leitete . Dieſe ergriff , als
ſie einmal ſich von der Tochter unbemerkt wußte ,
den Nußknacker , und ließ ihn auf den Kehricht
hinter dem Hotel werfen . Dahin gehörte er auch ,
nachdem er ſeine Miſſion erfüllt , und die Idee ,
deren hölzerner Träger er geweſen war , volles
geſchichtliches Leben in Rucciopuccio gewonnen hatte .
Rucciopuccio aber ſchwor , als er bei ſeiner Gelieb-
ten auf den Grund des Kummers gedrungen war ,
ihr mit heiligen Eiden bei dem Affen Hannemann :
Er ſei eigentlich ein Hechelkramiſcher Fürſt , ein
vertauſchter Knabe , durch teufliſche Cabale nach
Siena gebracht , und von dort zu den Birmanen
verſchlagen . Bald werde er nach Hechelkram zurück-
kehren , ſein väterliches Reich unter Vorlegung
authentiſcher Urkunden in Anſpruch zu nehmen .
Zweites Capitel .
Emerentia’s Liebe glaubte , was Rucciopuccio’s
Liebe beſchworen hatte , beſonders da der Eid auf
den Affen Hannemann abgelegt worden war , der
in Hindoſtan eines noch größeren Anſehens genießt ,
als je einem Affen in Europa , wo ſie doch auch
viel gelten , zu Theil geworden iſt . Alles hatte
ſich nun in den ſchönſten Einklang geſetzt ; die
Beſtimmung der Töchter aus dem Geſammthauſe
Schnuck , das Nußknacker-Ideal und der Fürſt
von Hechelkram unter der Hülle des Kaiſerlich
Birmaniſchen Kriegsbeamten aus Siena . Man
konnte in dieſem Falle ſagen , die Erfüllung habe
die Erwartung überflügelt .
War Emerentia in das tiefſte Geheimniß
ihres Rucciopuccio eingedrungen , ſo konnte ſie ſich
dagegen nicht entſchließen , ihm ihren wahren
Namen zu entdecken . Der Geliebte war arglos
und ſchwatzhaft ; das merkte ſie nach kurzer Bekannt-
ſchaft . Wie leicht war es möglich , daß er das Geheim-
niß ausplauderte , daß es über die Alpen zu den ſechs
feurigen Landjunkern drang , daß dieſe ihr Wort
löſ’ten , und nachgeſprengt kamen , und dann —
ade , du ſtilles Himmelsglück in Nizza ! Für Ruccio-
puccio blieb Emerentia daher die Freiin von Schnur-
renburg-Mixpickel , und hieß Marcebille , weil ihr die-
ſer Taufname beſonders ſüß und romantiſch klang .
Es waren nun für beide Liebende die herr-
lichen Tage angebrochen , in welchen die Leute ein-
ander beſtändig beim Kopfe haben , Lippen auf
Lippen preſſen , in welchen , wenn die Geliebte
nieſet , der Liebende Aeolsharfen und Engelsgeſang
zu vernehmen meint , und wenn der Geliebte ein
Gähnen verbirgt , die Liebende einen neuen himm-
liſchen Ausdruck in ſeinen theuren Zügen entdeckt ,
in welchen , luſtwandeln ſie mit einander , Sonne ,
Mond und Sterne beſchworen werden , auf ihr
Glück herabzuſchauen , wenn ſie ſonſt nichts zu
ſprechen wiſſen . Rucciopuccio und Emerentia
machten alle dieſe Kriſen der Liebe gründlich
durch ; beſonders gingen ſie viel mit einander ſpa-
zieren . Er führte ſie an das Meer , er führte
ſie auf die Alpen , er führte ſie in Gärten , er
führte ſie in Olivenwäldchen , er führte ſie bei
Tage , er führte ſie bei Nacht , und zärtlich rief ſie
oft , noch nie ſei ſie ſo anmuthig geführt worden .
Ein leichtes Wölkchen am Horizonte ihrer
Freuden war es , daß der Prätendent von Hechel-
kram nie Geld hatte . Er verſicherte ſie , er habe
ſo und ſo viel tauſend Lack Rupien vom Birmanen-
Kaiſer an rückſtändigem Solde zu beziehen , die
jeden Poſttag eintreffen könnten ; indeſſen bis
zum Eingange dieſer Zahlung mußte ſie ihm frei-
lich mit ihrer Sparbüchſe aushelfen . Als dieſe
erſchöpft war , ſagte er , es müſſe nun durchaus
ein Wechſel des Schickſals vor der Thür ſtehen ,
und um dieſem gleichſam ſymboliſch vorzuarbeiten ,
wolle er kleine Papierſtreifen beſchreiben , die in
der Welt auch Wechſel genannt würden , weil ſie
die wunderlichſten Abwechſelungen von Freiheit
und Nothwendigkeit hervorzubringen pflegten .
So floſſen abermals einige Wochen in Liebes-
glück und Wechſelverfertigung hin . Eines Abends
gingen ſie wieder in einer paradieſiſchen Gegend
ſpazieren , angeweht von jenen Lüften dort , welche
in die Bruſt des Kranken wie Balſam dringen ,
und der Wange des Geſunden gleich ſeidnen Händchen
ſchmeicheln . Sie hatten ſich ganz in hohe Ahnun-
gen über Gott und Unſterblichkeit verloren , ſie
ſprachen , daß es gleich in den Stunden der Andacht
hätte abgedruckt werden können , da ſtanden plötz-
lich acht Juden und ſechszehn Häſcher , denn jeder
Jude hatte ſich zwei Häſcher auf den Leib gemie-
thet , vor dem ſeligen Paare . Die Juden hielten
Rucciopuccio’n ganze Hände voll ſymboliſcher Pa-
pierſtreifen unter die Augen , und die Häſcher riefen
auf Italiäniſch : Marſch ! indem ſie ihre Spieße
wie Wegweiſend ausſtreckten .
Um alle Heiligen , Geliebter ! rief Emerentia ,
was iſt dieſes ? Nichts , meine Theuergeſchätzte ,
als eine hölliſche Cabale , Wechſelarreſt geheißen ,
verſetzte Rucciopuccio , der keinen Augenblick ſeine
Faſſung verlor . Der Kaiſer aller Birmanen iſt
ein Tyrann . Ein Tyrann , ſage ich ; ein ſchmäh-
licher Tyrann ! Er kann mich nicht entbehren , er
reclamirt mich ; ich ſoll ihm auch die ſiebente , achte
und neunte Elephantencompagnie , die er inzwiſchen
gebildet hat , organiſiren helfen . Auf gradem Wege
ſetzt er es nicht durch , da ſpielt er denn mit den
ruppigen Juden unter einer Decke , ( o wie klein
für einen Kaiſer ! ) die müſſen mich hier in Wech-
ſelarreſt ſetzen , und von da komme ich auf den
Schub von Gefängniß zu Gefängniß , bis nach
Hinterindien ; ich ſehe es voraus . O Fürſtendienſt !
Fürſtendienſt ! * * * * * * * * * * Verlaſſet
Euch nicht * * * * auf die Kinder der Menſchen ,
weil bei ihnen kein Heil zu hoffen iſt !
Rucciopuccio hob bei dieſen Worten die Augen
gen Himmel und legte die Hand auf ſein Herz ,
wie der Graf von Strafford , als man ihm ankün-
digte , daß Karl Stuart es ſich gefallen laſſen wolle ,
daß er , Strafford , ſich für den König köpfen laſſen
wolle .
Emerentia aber näherte ſich ihm zitternd , und
rief : Du verläſſeſt mich , da — — Sie flüſterte
ihm etwas in das Ohr . Ueber das hellrothglän-
zende Antlitz Rucciopuccio’s legte ſich eine Todten-
bläſſe , worauf ein Farbenſpiel in demſelben ſichtbar
ward , welches von allen ſonſt in menſchlichen
Geſichtern vorkommenden Färbungen ſo ſehr abwich ,
daß ſelbſt die Juden und Häſcher erſtaunt zurück-
traten , und Emerentia außer ſich hätte gerathen
müſſen , wäre ſie nicht mit ſich und ihrem Geſchick
zu ſehr beſchäftigt geweſen .
Rucciopuccio erholte ſich aber bald wieder , und
ſagte zu Emerentien mit ruhiger Freundlichkeit :
Dieſes ſind natürliche Folgen natürlicher Urſachen ,
die kein weiſer Mann beſtaunt . Verlaſſe dich auf
mich , Marcebille , ich ſprenge die Ketten des Tyran-
nen , ich komme wieder als Hechelkramiſcher Fürſt ,
und hole dich ab von dem Schloſſe deiner Väter zu
Schnurrenburg . Der Geiſt legt mir ein Troſtlied
auf die Lippen , bewahre es im tiefſten Schrein
des Herzens als heiliges Gemüthsgeheimniß ; daran
wollen wir uns einſt wiedererkennen :
Einſt liebteſt du den Nußknacker ,
Nach dem Nußknacker liebteſt du mich ;
Nun holet das Schickſal , der Racker ,
Erſt den Nußknacker , dann holt es mich !
Der Nußknacker ſank auf den Kehrich ,
Und mich rauben die wilden Birmanen ;
Nußknacker kehrt nicht , aber kehr’ ich ,
Hol’ ich ab dich vom Schloß deiner Ahnen !
Die Häſcher verhinderten die Fortſetzung dieſer Ode ,
indem ſie ihn abführten . Emerentia ſank in Ohn-
macht . Zwei Juden brachten ſie ihren beſtürzten
Eltern .
Drittes Capitel .
Weitere Nachrichten von dem alten Baron
und ſeinen Angehörigen .
Als die Eltern nach einer ziemlich trübſeligen
Reiſe mit Emerentien wieder auf dem Schloſſe
Schnick-Schnack-Schnurr angekommen waren , woll-
ten die feurigen Landjunker ihre unterbrochnen Wer-
bungen erneuern , aber das verſtimmte Fräulein
wies ſie jetzt noch entſchiedner zurück , als früher-
hin . Ihre Geſundheit hatte offenbar durch den
Kummer gelitten , die Züge des Geſichtes nahmen
oft einen ſeltſamen Ausdruck an , die Speiſen
machten ihr Widerwillen , ſie befand ſich hin und
wieder ſehr übel . Der alte Baron ließ einen Arzt
kommen ; der Arzt ſprach mit dem Fräulein unter
vier Augen , kam mit einem länglichten Geſichte
aus dem Zimmer und ſagte zu den Eltern : Die
Luft von Nizza iſt ihr zu nahrhaft geweſen , das
iſt eine Luft für Schwindſüchtige , aber nicht für
Vollblütige , es entſtand eine Ueberfüllung von
Säften in ihr , ſie muß in eine zehrende Luft , in
ein anderes Bad , da kommt Alles wieder in das
Gleichgewicht . Auch allein muß ſie reiſen , damit
ſie Trübſal hat und Sehnſucht , dann zehrt ſie um
ſo eher ab . Die Eltern glaubten dem guten ver-
ſtändigen Arzte , und ließen Emerentien in ein
anderes Bad , worin eine zehrende und abmagernde
Luft wehte , reiſen , ganz allein ließen ſie ſie reiſen ,
weil der Arzt es ſo haben wollte .
Die Kur mußte ſehr gründlich und nachhaltig
vorgenommen werden , wenn ſie anſchlagen ſollte ;
das Fräulein blieb deßhalb viele Monate lang im
Bade . Dann kam ſie zurück , geſünder und wohler ,
als ſie je zuvor geweſen war . Auch ihre Stimmung
hatte ſich ganz wieder erheitert ; ſie lebte in dem
feſten Vertrauen , daß Signor Rucciopuccio als glück-
licher Prätendent von Hechelkram eines Tages ankom-
men werde , ſie aus dem Schloſſe abzuholen . Die
Mutter ſagte : Wenn das iſt , ſo ſteht Alles wohl ,
dann haſt du in Nizza nur deine Beſtimmung erfüllt .
Viele Jahre verfloſſen ſeitdem . Der alte
Baron war nun wirklich ein alter Baron ,
Fräulein Emerentia eine alte Jungfer geworden ,
die alte Baroneſſe aber inzwiſchen an einem erbli-
chen Familienübel des Zweiges Schnuck-Muckelig-
Pumpel geſtorben . Die Jahre hatten das Alter
gemehrt und die Gelder gemindert , woraus ſich aber
der Baron wenig machte . Sagte ihm ſein Rentmei-
ſter : Herr Baron , die Pächte und die Zinſen reichen
nicht zu , ſo war die Erwiederung : Thut nichts ,
wenn Alles aufgezehrt iſt , gehe ich in das höchſte
Collegium , und lebe von meiner Beſoldung ; ich
bin geborner Geheimer-Rath . Geld muß ich haben ,
alſo verkauft nur einige liegende Gründe , lieber
Rentmeiſter .
Der Rentmeiſter achtete ſich nach dieſen Wor-
ten , und verzettelte nach und nach alle liegenden
Gründe , die zum Schloſſe gehörten , Felder , Wie-
ſen , Triften , Holzungen . Als er das letzte Stück
losgeſchlagen hatte , trat er wieder zu dem alten
Baron in das Zimmer und ſagte : Ew. Gnaden ,
mit den liegenden Gründen wären wir nun fertig ;
ich begehre meinen Abſchied , denn wo keine Renten
ſind , da iſt kein Rentmeiſter mehr vonnöthen .
Sehr wahr ! verſetzte der alte Baron , ſo wahr ,
als wie , daß zweimal zwei Vier thun ; ich will
Euch ein Atteſt ſchreiben über wohlgeführte Admi-
niſtration ; was mich betrifft , ſo gehe ich jetzt in
das höchſte Collegium und werde Geheimer-Rath .
Ach ! aber als er nach dem höchſten Collegio
fragte , ſo war ein ſolches nicht mehr vorhanden ,
und als er nach den Fürſten von Hechelkram
fragte , ſo ſagte man ihm , die hätten längſt aufge-
hört zu regieren , und als er ſich bei dem Reichs-
tage erkundigen wollte , wie er ſeine wohlherge-
brachten Anſprüche durchzuſetzen habe , ſo hörte er ,
das deutſche Reich wäre ſchon vor ſo und ſo vielen
Jahren einmal unverſehens dem Kaiſer unter den
Händen weggekommen . Sonderbar ! rief der alte
Baron , wie iſt das nur zugegangen ? Er verſank
in tiefes Nachdenken , und dachte mehrere Jahre
lang darüber nach , wie nur das deutſche Reich
habe wegkommen , der Hechelkramiſche Fürſtenſtamm
aufhören können , zu regieren , und wie es möglich
ſeyn ſollte , daß er nicht mehr geborner Geheimer
Rath im höchſten Collegio ſei ? Für die beiden
erſten Probleme fand er zuletzt noch eine Löſung ,
aber das Letzte , das Geheimeraths-Problem blieb
ihm unlösbar , und deßhalb kam er endlich auf den
Gedanken , die gegenwärtigen Verhältniſſe ſeien nur
ein kurzer Uebergang , die alte , gute Zeit ſtehe
ſchon wieder vor der Thüre , und werde bald anklo-
pfen . Mit dieſem Gedanken erhielt er ſeine ganze
Heiterkeit zurück . Er nahm ſich vor , in der dar-
aus entſpringenden Ueberzeugung zu leben und zu
ſterben .
Inzwiſchen waren die Brillanten , Perlen , Ro-
ben und Spitzen der ſeligen gnädigen Frau
vertrödelt worden , dann wurde das eiſerne Git-
terwerk von der Pforte abgebrochen und , benebſt
den Pflaſterſteinen des Hofplatzes , ſammt allen ent-
behrlichen Hausmobilien , nach und nach in Geld um-
geſetzt . Derweilen biß auch der Wappenlöwe in das
Gras , darauf bröckelte der Bewurf von den Wän-
den , und dann wich die Giebelmauer gefährlich
aus ihrer lothrechten Stellung , ohne daß eine
Reparatur verſucht werden konnte , weil die rohen
Handwerksleute nur , wenn ſie Geld ſehen , Hand
und Fuß regen .
Viertes Capitel .
Die blonde Lisbeth .
In dem nach und nach ſothanerweiſe herab-
gekommenen ſogenannten Schloſſe Schnick-Schnack-
Schnurr mußte ſich der alte Baron mit ſeiner
Tochter Emerentia , die ſeit dem Eintritte in die
ſtehenden Jahre ſo ſehr an Fülle zunahm , wie die
Mittel abnahmen , kümmerlich und einſam behelfen .
Die Jagd hatte natürlich aufgehört , weil die
Waldgründe verſchwunden waren , in denen dieſes
Vergnügen ſich betreiben läßt , und an Spiel war
auch nicht mehr zu denken ; man hätte um Rechen-
pfennige die Stiche machen müſſen . Allmählig
waren daher auch die Freunde ſeltener geworden ,
zuletzt blieben ſie ganz aus , waren auch wohl zum
Theil geſtorben . Vater und Tochter hätten ſich am
Ende den Kaffee und die ſpärlichen Mahlzeiten
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 9
ſelbſt bereiten müſſen , denn auch die Bedienten
und Mägde ſchlichen ſich allgemach aus Mangel
der Bezahlung weg , wäre dieſem dürftigen und
zuſammenſinkenden Haushalte nicht eine Stütze in
der blonden Lisbeth erwachſen , welche , ſobald ſie
die Hände zu Dienſtleiſtungen zu regen im Stan-
de war , dem alten Baron und dem Fräulein wie
die geringſte Magd aufwartete , kochte , wuſch , ſäu-
berte , dabei aber immer hold und freundlich aus-
ſah , und wenn ſie das Schwerſte verrichtet hatte ,
ſo that , als habe ſie nichts gethan .
Die blonde Lisbeth war ein Findelkind . Ein
altes Weib hatte einſt vor Jahren eine große
Schachtel , mit kleinen Löchern verſehen , auf das
Schloß gebracht , ſie einem Bedienten übergeben ,
und ihm geſagt , darin ſei ein Geſchenk für den
Herrn , welches ein guter Freund ſchicke . Indem
nun der Bediente die Schachtel zu dem gnädigen
Herrn hineintrug , fing das Geſchenk darin an , ſich
zu regen , und ein feines Geſchrei zu erheben .
Der Menſch hätte es bald vor Schreck zu Boden
fallen laſſen , beſann ſich indeſſen doch , und ſetzte
die Schachtel vorſichtig auf einen Tiſch in des gnä-
digen Herrn Zimmer . Der alte Baron öffnete
den Deckel , und ein kleines Mägdlein von höch-
ſtens ſechs Wochen ſtreckte ihm aus den Lümpchen ,
womit der arme Wurm kümmerlich bekleidet war ,
wie hülfeflehend die Aermchen entgegen , indem die
kleine Kehle ſich wacker in den erſten Lauten übte ,
welche die Menſchheit von ſich giebt .
Uebrigens lag das Kindlein weich in Baum-
wolle gebettet . Sonſt aber fanden ſich durchaus
keine Amulete , Kleinodien , Kreuze , verſiegelte Pa-
piere , welche auf den Urſprung des kleinen Weſens
hindeuteten , und ohne welche ein wohlconditionirter
Romanenfindling ſich eigentlich gar nicht ſehen laſ-
ſen darf . Kein Maal unter der linken Bruſt , kein
eingebranntes , oder eingeätztes Zeichen am rechten
Arme , von welchem ſich dermaleinſt im Schlafe
das Gewand verſchieben konnte , daß Jemand , der
zufällig die Schlafende ſieht , Soup ç on bekommt , und
weiter nachfragt , wie ? oder wann ? und ſo fort
— kurz nichts , gar nichts , ſo daß mir ſelbſt um
die Wiedererkennung bange wird .
Nur ein graues Blatt Papier lag in der
Schachtel , mit der Nachricht beſchrieben , daß das
kleine Mädchen chriſtlich getauft ſei und Eliſabeth
heiße . Die Worte waren kaum leſerlich ; der
9*
Schreiber hatte offenbar ſeine Hand verſtellt .
Rings umher in den Ecken des Blattes wimmelte
es von Buchſtaben , Krähen- und Krackelfüßen , die
aber trotz aller Bemühungen , ſie zuſammenzuſtellen ,
ſich denſelben eben ſo wenig fügten , als die Cha-
raktere , welche auf dem Papiergelde ſich zerſtreut
vorzufinden pflegen . Dieſes Blatt war um einen
Cylinder geſchlungen , welcher zwei optiſche Gläſer
einfaßte . Der alte Baron nahm den Cylinder ,
blickte durch das Ocularglas , richtete das Perſpec-
tiv gegen das Freie , um ſich die Erläuterung des
Fundes aus der Luft zu holen , aber ſo viel er
auch richtete und durchblickte , er bekam nichts , als
blaue Luft und verworrenſchwimmende Gegenſtände
zu ſehen .
Ueber dieſen vergeblichen Anſtrengungen , die
Krackelfüße zuſammenzuſtellen , und durch das op-
tiſche Glas die Wahrheit zu entdecken , war wohl
eine halbe Stunde vergangen , während welcher der
Baron noch gar nicht dazu gekommen war , ſich
nach dem Geber der vor ihm liegenden Gottesga-
be zu erkundigen . Auch der Bediente , der mit auf-
geſperrtem Munde bald das Kind , bald die An-
ſtrengungen ſeines Gebieters betrachtete , hatte
bisher verabſäumt von dem alten Weibe zu reden .
Endlich verfiel der alte Baron auf die unter den
obwaltenden Umſtänden ſo natürliche Frage , der
Bediente gab die Auskunft , die er ertheilen konnte ,
wurde der Spitzbübin nachgeſandt , rannte einen
halben Tag lang in allen Richtungen umher , kam
aber unverrichteter Sache zurück , denn er hatte
weder das alte Weib geſehen , noch Jemand ge-
troffen , der ſie geſehen hätte .
Inzwiſchen waren die Frauen , die alte Ba-
roneſſe , welche damals noch lebte , und Fräulein
Emerentia , in das Zimmer getreten , und der alte
Baron , der mit ſeiner eigenen Verwunderung noch
zu ſchaffen hatte , mußte jetzt dem Sturme von
Ausrufungen und Fragen Rede ſtehn , welcher
über die Lippen der Gemahlin und Tochter ſtrich .
Eine Dienerin war gefolgt und ſorgte , während
die Herrſchaften über die Exegeſe des Ereigniſſes
verhandelten , für die nothdürftige Fütterung und
Stillung des noch immer ſchreienden Kindes .
Als dieſes ſtill , lächelnd und ſchlummernd wie-
der in ſeiner Schachtel lag , ſetzte ſich die Familie
um den Tiſch , worauf letztere ſtand , zu einer Be-
rathung nieder , was mit dem Findlinge zu begin-
nen ſei . Der Haus- und Schloßherr , deſſen Thor-
heiten nur von ſeiner unverwüſtlichen Gutmüthig-
keit übertroffen wurden , war ſofort der Meinung ,
daß das Kind zu behalten , und wie ein eignes auf-
zuziehen ſei . Seine Gemahlin leiſtete ihm einigen
Widerſtand , bequemte ſich indeſſen doch bald zum
milderen Entſchluſſe , da ihr einfiel , daß der ältere
Zweig der graumelirten Linie , der Zweig Schnuck-
Muckelig-Pumpel ſelbſt mütterlicherſeits von
einem Findlinge abſtamme , in welchem eine Toch-
ter hoher Herkunft geſteckt habe . Den heftig-
ſten Einſpruch hatte er von Emerentien zu erlei-
den . Das Fräulein war nach ihrer zweiten Ba-
dereiſe ſo überaus tugendſam , zartſinnig und ver-
ſchämt geworden , daß auch die entfernteſte Be-
ziehung auf die Verhältniſſe , durch welche wir ent-
ſtehen und werden , ſie tief verletzen konnte . Sie
mochte die Blumen nicht mehr leiden , ſeitdem ihr
ein durchreiſender Profeſſor die Bedeutung der
Staubfäden auseinandergeſetzt hatte , ſie war vom
Tiſche aufgeſtanden , als man erzählte , daß die
braune Diane ſechs Junge geworfen habe , und
hatte vor ihrem Fenſter Scheuchanſtalten beſonde-
rer Art gegen die Sperlinge anbringen laſſen , um
die Schnäbeleien nicht mit anſehen zu dürfen , wo-
mit dieſe Thiere nach der Lebhaftigkeit ihres Na-
turells leider gegen einander nur zu freigebig ſind .
In dem Findlinge ahnete ſie nun , wie ſie ſagte ,
( und die Ahnung der Frauen iſt ſtäts ſicher und
wahr ) eine Frucht verbotener Liebe . Worte , die
ſie vor Schaam kaum hervorzubringen vermochte !
Sie erklärte , daß ſie eine ſolche nur mit Abſcheu
anzuſehen vermöge , daß ihr das Verbleiben der
Creatur unerträglich ſeyn werde . Sie beſchwor
ihren Vater , das Kind einer öffentlichen An-
ſtalt zu übergeben . Aber der alte Baron blieb feſt
bei ſeinem Vorſatze , und da die Mutter , wie ſchon
berichtet worden iſt , auch auf ſeine Seite getreten
war , ſo mußte ſich Emerentia endlich , wiewohl
mit großem Widerwillen , fügen .
Dieſen ließ ſie aber in der Folge auf jede
Weiſe an dem Kinde aus , und ſelbſt , als die blon-
de Eliſabeth , oder Lisbeth , wie ſie im Schloſſe ge-
nannt wurde , heranwuchs , und das beſte , zuthätig-
ſte Weſen wurde , mochte ſie ſich ſelten dazu ver-
ſtehen , ihr einen gütigen Blick zu gönnen . Lisbeth
dagegen war durch nichts in den ſonderbaren Nei-
gungen , die ihr die Natur vorgezeichnet zu haben
ſchien , irre zu machen . An dem Fräulein , die ihr
ſo übel begegnete , hing ſie mit einer unglaublichen
Zärtlichkeit , ſie verrichtete freudig das Schwerſte
für ſie , ließ ſich von ihr ſchelten , und lächelte da-
nach noch eins ſo freundlich , wogegen ſie dem al-
ten Baron , der doch eigentlich ihr alleiniger Be-
ſchützer und Wohlthäter war , nur eine Empfin-
dung widmete , welche die Gränzen der Dankbar-
keit nicht überſchritt .
Fuͤnftes Capitel .
Der alte Baron wird Mitglied eines
Journal-Leſecirkels .
In ihm war , als Jagd , Spiel und Gaſtereien
für ihn aufgehört hatten , und nur die Schwal-
ben oder Fledermäuſe , welche durch die Mauerlü-
cken ſchlüpften , in den unbewohnten Zimmern des
ſogenannten Schloſſes zu niſten , allenfalls noch für
Beſuche gelten konnten , eine große Langeweile ent-
ſtanden , die anfangs auf keine Weiſe ſich beſchwich-
tigen laſſen wollte . Zwar malte er ſich zur Un-
terhaltung ſeine Erwartung beſtens aus , wie er
bald als Geheimer-Rath im höchſten Collegio ſitzen
werde , neben ſich den Herrn von ſo und ſo und
den Herrn von da und da auf der Adelsbank , er
ſtellte ſich den Präſidenten lebhaft vor , und alle
Beſonderheiten des alterthümlichen Conferenzſaals ,
er entwarf das Bild des Seſſionstiſches mit den
großen Haufen von Schriften und Papieren dar-
auf , die er mit ſeinen Herrn Nachbarn nicht zu
leſen habe , ſondern welche von gelehrten und bür-
gerlichen Beiſitzern durchzuſtudiren ſeien ; aber als
dieſes Gemälde von ihm zum hundertſten und
aber hundertſten Male im Stillen vollendet und
ſeinen zwei Angehörigen beſchrieben worden war ,
wurde es ihm doch zu eintönig , und er ſehnte ſich
nach anderer Beſchäftigung . Dieſe verſuchte ihm
nun ſeine Tochter Emerentia zu gewähren , indem
ſie ihrerſeits eine Schilderung zu liefern begann ,
wie Fürſt Hechelkram , pſeudonym Rucciopuccio ge-
heißen , plötzlich eines Tages in einem rothlackirten
Wagen mit ſechs Iſabellen beſpannt , ankommen ,
einen ſchottiſchquarrirten Läufer mit Blumenhut
und ſeidenem goldbefranztem Schurz hereinſchicken
und anfragen laſſen werde , ob Marcebille oder
Emerentia , nach der er ſo lange das ganze Schnur-
renburg-Mixpickelſche Geſchlecht vergebens hindurch
gefragt habe , bis er endlich zufällig erfahren , ſie
ſei eine geborne Schnuck-Puckelig — ob ſie , Eme-
rentia , noch an die Stunde denke , die Stunde der
Andacht in Nizza ? Wie ſie ſich für dieſen Fall
ſchon ihre Antwort ausgedacht , alſo lautend : Gnä-
digſter Herr ! In den Blüthentagen der Jugend
opferten wir der Leidenſchaft auf dem Altare un-
ſerer Herzen ! Für dieſes Opfer iſt uns der Weih-
rauch ausgegangen . Aber der Altar blieb ſtehen ;
laſſen Sie uns auf demſelben der Freundſchaft ein
Opfer entzünden , für welches ich ewig , Ihnen ge-
genüber , Vorrath beſitzen werde ! — Wie ſie dann , mit
dem großen goldenen Stiftskreuze begnadiget , ein
Schloß in der Nähe ſeiner Reſidenz beziehen , nur
ſeine Freundin im reinſten platoniſchen Sinne ſeyn ,
ihn nie anders als vor Zeugen ſprechen , ihn mit ſeiner
Gemahlin verſohnen , überhaupt der ſegnende Genius
des Fürſtenhauſes und des Landes werden wolle .
Allein den alten Baron unterhielt dieſe Schil-
derung auch nicht ; er hielt ſie für ein „ Carmen “
wie er ſich ausdrückte , und womit er Gedicht ſa-
gen wollte . Von Gedichten war er aber nie ein
ſonderlicher Liebhaber geweſen . Endlich fiel er
auf den Gedanken , zu leſen , da er gehört hatte ,
daß damit ſo viele Menſchen ihre Zeit hinbrächten .
Indeſſen wollten auch die Bücher , deren eine klei-
ne Sammlung von ſeinem Vater her noch auf
dem Speicher ſtand , und unter denen er auf gut
Glück jetzt wählte , wenig Troſt gewähren . Die
Sachen wurden ihm darin alle zu lang und aus-
geſponnen abgehandelt ; der Autor ſagte oft erſt
auf der vierundzwanzigſten Seite , was er mit
der erſten gemeint hatte , pflegte überhaupt die
Forderung an den Leſer zu ſtellen , daß er ſeine
Gedanken zuſammenhalten ſolle , und dazu konnte
ſich der alte Baron in ſeinen vorgerückten Jahren
nicht mehr bequemen . Er wollte Abwechſelung ,
Zerſtreuung , Mancherlei , wie vorlängſt in ſeinen
grünen und luſtigen Tagen .
Alles dieſes fand er auf einmal , da ihm der
gute Einfall wurde , in einen Journalcirkel einzu-
treten , der alle Wißbegierige auf dem Flächen-
raume der umliegenden vier Quadratmeilen mit
Geiſtesnahrung verſorgte , und deſſen Reichhaltig-
keit ihm ſchon lange geprieſen worden war . Der
Unternehmer hatte , um die Nebenbuhler in der
erwähnten weiten Ausdehnung unrettbar danieder-
zuſchlagen , nicht weniger als ſämmtliche Zeitſchrif-
ten des deutſchen Vaterlandes in ſeinen Mappen
verſammelt . Es fanden ſich ſonach darin nicht
nur die Morgen- die Abend- die Nachmittags- und
Mitternachtblätter , ſondern auch die Boten für
Weſt , Oſt , Süd , Nord , Nordweſt und Südſüdoſt ;
der Geſellſchafter und der Eremit ; die groben und
die eleganten Journale ; die Leſefrüchte und die
Extracte aus den Leſefrüchten ; die liberalen , die
ſervilen , die rationaliſtiſchen , feudaliſtiſchen , ſupra-
naturaliſtiſchen , conſtitutionellen , ſuperſtitionellen ,
dogmatiſchen , kritiſchen Organe ; die Fabelweſen :
Phönix , Minerva , Hesperus , Iſis ; das Ausland ,
das Inland ; Europa , Aſien , Africa , America und
die Stimmen aus Hinterpommern ; der Komet ,
der Planet , das Weltall — kurz , im Ganzen vierund-
achtzig Hefte , ſo daß jeder Theilnehmer am Cirkel
die Woche hindurch in jeder der zwölf Tagesſtun-
den ein Journal zu leſen bekam .
Dieſe Unterhaltung war ganz nach dem Sinne
des alten Barons . Endlich , rief er fröhlich aus ,
als er ſich mit dem Umfange der ihm neu eröff-
neten Vorrathskammern bekannt gemacht hatte , end-
lich doch Gedrucktes , welches Einen belehrt , ohne
zu beſchweren ! In der That gewannen ſeine Vor-
ſtellungen durch das Leſen der Journale bald
eine außerordentliche Bereicherung . Hatte ihm das
eine Blatt eine kurze Notiz von dem großen Gift-
baume Boan Upas in Indien gegeben , der die
Atmosphäre auf tauſend Schritte hin anſteckt , ſo
lehrte ihn das folgende , wie die Kartoffeln im
Winter vor Froſt zu bewahren ſeien ; in dieſer
Minute las er von Friedrich dem Großen , in der
nächſten von der Gräfenberger Waſſercur , aber
nicht lange , denn gleich darnach erzählte Einer
die Geſchichte der neuen Entdeckungen im Monde .
Eine Viertelſtunde war er in Europa , dann ſpa-
zierte er wieder , wie von Fauſt’s Mantel entrückt ,
unter Palmen ; bald hatte er einen hiſtoriſchen
Chriſtus , bald einen mythiſchen , bald gar keinen ;
Vormittags fiel er mit der äußerſten Linken die
Miniſter an , Nachmittags war er abſolutiſtiſch geſinnt ,
Abends wußte er nicht , wo ihm der Kopf ſtand ,
und ging als Jüſte-Milieu zu Bette , um Nachts
vom Taſchenſpieler Janchen von Amſterdam zu
träumen .
Er hätte nie geglaubt , noch ſo glücklich werden
zu können . Daß ſeine Umſtände indeſſen immer-
mehr ſich verſchlimmerten , und daß er endlich nur
auf einen kleinen Lehnsſtamm , der ihn eben vor
dem äußerſten Mangel ſchützte und unangreifbar
war , beſchränkt ward , kümmerte ihn wenig . Sagte
ihm die blonde Lisbeth , das Haus bekomme nach
der Giebelwand zu Riſſe , und könne über Nacht
einmal einſtürzen , ſo pflegte er zu erwiedern : Laß
mich zufrieden . Ich habe noch ſechs Hefte durch-
zuſtudiren . Wurde ſie dringender , ſo rief er ärger-
lich : Ehe das Schloß einſtürzt , bin ich Geheimer-
Rath ! und ſie mußte unverrichteter Sache weichen .
Freilich entſtand durch das unendliche Material ,
welches er täglich zu verarbeiten hatte , in ſeinem
Kopfe eine große Verwirrung der Vorſtellungen ,
und er mußte zuweilen das Haupt in beide
Hände nehmen , um ſich zu beſinnen , ob er noch
in unſerem , oder in einem fremden Welttheile , oder
ob er überhaupt nur noch auf der Erde und nicht
ſchon längſt im Sirius ſei ? Auch begann er
von jetzt an , Alles zu glauben , was er hörte ,
und wenn man ihm geſagt hätte , die Vögel ſängen
nach Noten . Denn , pflegte er oft gegen die Sei-
nigen zu äußern , es kann heut zu Tage nichts
Dümmeres geben , als den Kopfſchüttler und Zwei-
felmüthigen zu machen ; man muß nur Mitglied
unſres Journal-Leſecirkels geworden ſeyn , um zu
erfahren , daß nichts ſo wunderbar iſt , was nicht
jetzo vorfällt ; die Menſchen und die Sachen und
die Erfindungen ſind in einem erſchrecklichen Fort-
ſchritte , und wenn er noch zunimmt , ſo erleben
wir , daß das Waſſer Balken bekommt , und daß
man mit Extrapoſt von hier direct nach London
fährt .
Konnte etwas ſeine Stimmung trüben , ſo war
es der Mangel eines Freundes , dem er ſich hätte
erſchließen , mit dem er ſeine Ideen hätte austau-
ſchen mögen . Die Sehnſucht nach einem Gleich-
geſtimmten , nach einem fördernden Umgange wurde
oft ſehr groß in ihm . Seine Tochter konnte die-
ſem Verlangen nicht genügen , ſie hing nur ihren
empfindſamen , ideellen Richtungen nach , und hegte
für Realkenntniſſe wenig Sinn ; Lisbeth aber hatte
ein für allemal , da er mit ihr von den Dingen ,
die ihn ſo mannigfach beſchäftigten , reden wollen ,
ablehnend erwiedert : Sie wolle ſich nichts in den
Kopf ſetzen laſſen .
Sechstes Capitel .
Wie der Dorfſchulmeiſter Ageſel durch
eine deutſche Sprachlehre um ſeinen Ver-
ſtand gebracht wurde , und ſich ſeitdem
Ageſilaus nannte .
Einigermaßen , wenn auch nicht genügend , wurde
die Sehnſucht des alten Barons befriedigt , ſie
erhielt ſo zu ſagen , wie das Sprichwort lautet ,
eine Birne für den Durſt , als der Schulmeiſter
Ageſilaus in ſeine Nähe kam . Dieſer Mann , wel-
cher früher Ageſel geheißen hatte , und ein alter
Bekannter des Barons war , bekleidete bis zu dem
Umſchwunge in ſeinem Schickſale das Amt , die
Jugend eines benachbarten Dörfchens im Leſen
und Schreiben zu unterrichten . Er wohnte in
einer Hütte von Lehmwänden , die außer der Schul-
ſtube nur ſein Schlafkämmerchen faßte , hatte drei-
ßig Gulden jährlichen Gehalt , außerdem das Schul-
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 10
geld ; zwölf Kreuzer für den Knaben und ſechs
für das Mädchen , einen Grasfleck für ein Rind
und das Recht , zwei Gänſe in die Gemeindeweide
mit einzutreiben . Er verſah ſeinen Dienſt ohne
Tadel , lehrte die Jugend nach der alten Manier ,
ſo wie ſie im Dorfe ſeit hundert und mehreren
Jahren gebräuchlich war , buchſtabiren : G-e- , Ge ,
ſ-u-n-d , ſund , h-e-i-t heit ; Geſundheit — B-e-t , Bet ,
t-e-l , tel , Bettel , ſ-a-ck , ſack ; Bettelſack u. ſ. w.
und brachte die fähigſten Köpfe nicht ſelten ſoweit ,
daß ſie Gedrucktes ohne ſonderliche Anſtrengung
leſen lernten . Was das Schreiben anlangte , ſo
ging auch aus ſeinen Händen Dieſer und Jener
hervor , der den eignen Namen zu Stande zu
bringen wußte , wenn man ihn nicht übereilte , ſon-
dern ihm die nöthige Zeit ließ .
In dieſem Syſteme war unſer Schulmeiſter
fünfzig Jahre alt geworden . Da ereignete es ſich ,
daß die allgemeinen Steigerungen des Zeitalters
auch einen neuen Lehrplan im Lande hervorriefen ,
der bis zu den Dorfſchulmeiſtern umbildend durch-
greifen ſollte . Seine Vorgeſetzten ſchickten ihm
ein Lehrbuch der deutſchen Sprache zu , eines von
denen , welche die A B C-Wiſſenſchaft tiefſinnig
und philoſophiſch begründen wollen , und ertheilten
ihm die Weiſung , ſeine bisherige rohe Empirie zu
rationaliſiren , ſich ſelbſt zuvörderſt aus dem Buche
zu unterrichten , und dann danach die veränderte
Belehrung der Jugend anzufangen .
Der Schulmeiſter las das Buch durch , er las
es noch einmal durch , er las es von hinten nach
vorn , er las es aus der Mitte , und er wußte nicht ,
was er geleſen hatte . Denn es war darin gehan-
delt von Stimmlauten und Mitlauten , von Auf-
In- und Umlauten ; er ſollte daraus die Laute
trüben und verdünnen lernen , er ſollte durch
Säuſeln , Ziſchen , Preſſen , durch Näſeln und Gur-
geln die Laute hervorbringen , er vernahm , daß
die Sprache Wurzeln treibe und Seitenwurzeln ,
er erfuhr endlich daraus , daß das J der reine
Urlaut ſei , und daß deſſen Erzeugung durch ſtar-
kes Zuſammendrücken des Kehlkopfes nach dem
Gaumen hin geſchehe .
Er bat Gott um Erleuchtung in dieſen Finſter-
niſſen , aber ſein Flehen prallte zurück von dem ehernen
Himmel . Er ſetzte ſich wieder vor das Buch , mit der
Brille auf der Naſe , um ſchärfer zu ſehen , wiewohl er
bei Tageslicht wohl noch ohne Gläſer fertig werden
10*
konnte . Ach , nur deutlicher traten ſeinen bewaffneten
Augen die furchtbaren Räthſel des Daſeyns , die Sau-
ſe- Ziſch- Preß- Naſen- und Gurgellaute entgegen !
Darauf legte er das Buch weg , fütterte ſeine
Gänſe und gab einem Jungen , der gerade dazukam
und ſagte , der Vater wolle das Schulgeld nicht
zahlen , zwei derbe Maulſchellen , um durch das
praktiſche Leben Aufſchluß für die Theorie zu ge-
winnen . Umſonſt . Er aß eine Knackwurſt , ſich
körperlich zu ſtärken . Vergebens . Er leerte einen
ganzen Senftopf , weil er gehört hatte , dieſes
Gewürz ſchärfe den Verſtand . Eitles Bemühen !
Er legte das Buch Abends vor dem Schlafen-
gehen unter ſein Kopfkiſſen . Leider fühlte er am
andern Morgen , daß weder die Wurzeln , noch die
Seitenwurzeln ihm in den Kopf gedrungen waren .
Gern hätte er das Buch , wie Johannes jenes vom
Engel getragne , auf die Gefahr der empfindlichſten
Leibſchmerzen hin , verſchlungen , wäre er dadurch
des Inhaltes Meiſter geworden ; aber welche Hoff-
nungen konnte er nach dem Bisherigen von einem
ſo gewagten Verſuche hegen ?
Die Schule ſtand ſtill , die Kinder fingen Mai-
käfer , oder jagten die Enten in den Teich . Die
Alten aber ſchüttelten den Kopf und ſagten : Mit
dem Schulmeiſter hat es ſeine Richtigkeit nicht .
Eines Tages , nachdem er ſich wieder in ſeinen
verzweiflungsvollen Bemühungen um den Sinn der
Dünnung und Trübung abgearbeitet hatte , rief er :
Wenn ich dieſer Beſtie von Buch nur erſt an
einem Flecke beigekommen bin , ſo giebt ſich
vielleicht das Uebrige von ſelbſt ! — Er nahm
ſich vor , zuvörderſt den reinen Urlaut J nach
der Anweiſung des Buchs zu erzeugen .
Er ſetzte ſich daher auf ſeinen Grasfleck zum
Rinde , welches dort , unbekümmert um rationelle
Lauterzeugung , empiriſch brummte , ſtemmte die
Arme in die Seite , drückte den Kehlkopf ſtark
nach dem Gaumen hin , und ſtieß nun die Töne
hervor , welche ſich auf ſolche Weiſe veranſtalten
laſſen wollten . Sie waren höchſt ſonderbar , und
ſo auffallend , daß ſelbſt das Rind vom Graſe
emporblickte und ſeinen Herrn mitleidig anſah .
Eine Menge Bauern hatte der Schall herbeigezo-
gen ; ſie ſtanden neugierig und verwundert um den
Schulmeiſter her . Gevattern ! rief dieſer und ruhte
einen Augenblick von ſeiner Anſtrengung aus ;
paßt einmal auf , ob es der reine Urlaut J wird ?
Darauf gab er ſich wieder an die Kehlkopf-Gau-
mendrückung . Gott behüte ! riefen die Bauern ,
und gingen nach Hauſe , der Schulmeiſter iſt über-
geſchnappt , er quiekt ſchon wie ein Ferkel .
Und wirklich ſtand der arme Schulmeiſter nahe
an der Grenze , über welche die Bauern ihn bereits
geſprungen glaubten . Die Friſt war abgelaufen ,
welche man ihm zum Selbſtunterrichte geſetzt hatte ,
er ſollte jetzt nach dem Buche leſen lernen laſſen ,
eine Viſitation ſeiner Schule durch den Herrn
Schulrath Thomaſius nahte heran , die Verzweif-
lung trat ihm zum Herzen , und ſeine Gedanken
begannen zu ſchwärmen . Andre ſind durch das
Brüten über der unbefleckten Empfängniß der Jung-
frau Maria , oder über dem Geheimniſſe der Trinität ,
oder von dem Gedanken an die Ewigkeit verrückt ge-
worden ; warum ſollte ein Dorfſchulmeiſterlein nicht
durch eine moderne Sprachlehre den Verſtand ver-
lieren können ? Genug , ich erzähle es , und wer
mir nicht glauben will , frage im Dorfe Hackel-
pfiffelsberg nach . Da hat ſich die Geſchichte zuge-
tragen , und jedes Kind weiß dort davon .
Ein reiſender Student kam in jenen Tagen
durch Hackelpfiffelsberg , der kehrte in der Schenke
ein , und vernahm von dem närriſchgewordenen , oder
närriſchwerdenden Schulmeiſter . Es war ein feiner ,
denkender Kopf , der ſich beſonders auf Pſycholo-
gie verlegt hatte , und der daher eine große Be-
gierde verſpürte , den Kranken kennen zu lernen .
Er fand ihn in leinenen Aermeln ſitzen , die behaarte
Bruſt offen , eine große weiße Nachtmütze auf dem
Kopfe . Wie geht es , Meiſter ? fragte der Stu-
dent . So , ſo , Fremdling , verſetzte der Schul-
meiſter . Nicht wahr , die alten Spartaner waren
Kerle ? Keine müßige Gelehrſamkeit , keine Quäle-
rei mit Umlauten , Inlauten , Bruſtlauten ! Alles
auf Thatkraft , auf das wirkliche Leben berechnet ,
den Körper abgehärtet , den Sinn zugeſpitzt zu
Apophtegmen ! Mich ſoll der Henker holen , wenn
ich mir nicht Alles in Zukunft Lacedämoniſch ein-
richte ! Meine wackern Vorfahren ! Denn was iſt
Ageſel ? Ageſel iſt nichts , verſtümmelt , verdorben
aus Ageſilaus , dem tapfern Könige von Sparta .
Die Türken vertrieben die Griechen , darunter
waren natürlich die Nachkommen des Königs Age-
ſilaus auch , und die haben ſich allmählig bis hieher
verzettelt , die Endſylbe iſt aber unterweges verlo-
ren gegangen . O , man müßte nicht von den Wur-
zeln und den Ableitungen die Zeit her die Kränk ’
gekriegt haben , wenn man ſo etwas unglaublich
finden wollte !
Hoho , dachte der Student , ſteht es dermaßen
hier ? Aber ein anziehender Fall ! Ich muß ihn
beobachten . Er blieb den ganzen Tag über bei
dem Schulmeiſter , und merkte durch viele Fragen
aus ſeinen krauſen Antworten endlich ſich ſoviel
ab , daß der Kranke in früheren Jahren eine alte
Schwarte über die Sitten und Gebräuche jenes
griechiſchen Freiſtaates geleſen hatte , ſchon damals
von denſelben höchlich entzückt geweſen war , daß nun
gegenwärtig die gleichſam in Schlummer gelegenen
Vorſtellungen erwachten und ein fieberhaftes Leben
in ihm gewannen . Abends trug der Student fol-
gendes Notizenſchema in ſeinem Tagebuche ein :
Paralyſirung des Denkvermögens in einem beſchränk-
ten Geiſte durch unverdaulichen Denkſtoff .
Allmähliges Denk- Nichts .
Eintreten einer prägnanten antiken Idee im
Vacuo .
Die Atome des aufgelöſten Denkvermögens
ſchießen an dieſer Idee an .
Zuſtand des Rappelns .
Conſolidation des Rappelns .
Fixe Idee .
Außerdem vernünftiger Menſch .
NB . Nach der Ferienreiſe weiter auszuführen .
Es mochte ohngefähr ein Vierteljahr nach die-
ſen Vorfällen verſtrichen ſeyn , als der Schulmeiſter ,
nur bekleidet mit einem braunen , groben Mantel ,
in der Hand eine junge Tanne , vor den alten
Baron trat , der in ſeinem verwilderten Franzoſi-
ſchen Garten hinter dem Schloſſe die freie Luft
genoß . Der Baron wußte im Allgemeinen ſchon
von den Dingen , die ſeinem Bekannten wieder-
fahren ſeyn ſollten , und trat daher drei Schritte
vor ihm zurück , befonders da er ihn mit dem nicht
gerade dünn zu nennenden Tannenſtamme gerüſtet
ſah . Aber der Schulmeiſter lächelte , und legte ,
als ob er die Gedanken des Andern erriethe , die
junge Tanne ab . Dann machte er dem Baron
eine höfliche Verbeugung , und ſprach die üblichen
Begrüßungsworte , ohne daß in Ton oder Wendung
etwas Excentriſches hervorgeſprungen wäre . Der
Baron faßte daher Muth , ging auf den Schulmei-
ſter zu , ergriff ſeine Hand und ſagte : Nun , wie
geht’s Euch , alter närriſcher Teufel ? Was für
Streiche habt ihr denn angefangen , Ageſel ?
Ageſilaus , wenn ich bitten darf , gnädiger Herr ,
erwiederte der Schulmeiſter ſanft und höflich . Ich
habe dieſen meinen guten , ehrlichen Stammnamen
wieder angenommen .
Der Baron entfernte ſich nun doch wieder
etwas von ſeinem Beſuche , und ſah ihn mit ſcheuen
Blicken von der Seite an . Der Schulmeiſter aber
fuhr geſetzten Weſens ſo fort : Ich weiß , was
Sie von mir denken , mein Gönner . Sie halten
mich für verrückt . Sie irren ſich , Herr Baron ;
ich bin nicht verrückt . Es ſollte mir Leid thun ,
wenn ich mich in dieſem Zuſtande befände , denn
dann könnten Sie mir mit Recht dasjenige verſa-
gen , um welches ich Sie dringend anſprechen muß .
Ich habe meine fünf Sinne vollkommen beiſammen ,
und weiß , daß ich ein Nachkomme des alten Königs
Ageſilaus bin , daß ich folglich die Verpflichtung
habe , ſpartaniſches Leben und Weſen in mir dar-
zuſtellen , welches wohl überhaupt ein herrliches
Correctivum für dieſe weichliche , abgeſchwächte ,
übergelahrte und ſophiſtiſche Zeit ſeyn möchte .
Der Baron fragte , um nur etwas zu ſagen :
Iſt es denn wahr , was ich gehört habe , daß Ihr
abgeſetzt ſeid , Herr … Herr … Ageſilaus … nicht ?
ſo nennt Ihr Euch ?
Abgeſetzt allerdings , fortgejagt , wenn Sie ſo
wollen , durch den Schulrath Thomaſius , erwiederte
Ageſilaus ruhig . Nachdem ich das grammatiſche
Fieber , in welches ich durch jene Höllen-Lautlehre
geſtürzt worden war , überwunden hatte , hielt ich
es für meine Schuldigkeit , die mir anvertraute
Dorfjugend Lacedämoniſch zu bilden . Ich wies
ſie daher an , zu ſtehlen und ſich nur nicht betreffen
zu laſſen , um ihre Liſt und Kühnheit zu üben , ich
erregte Streit und Schlägerei unter ihnen , um
ihre Herzhaftigkeit zu prüfen , und ich prügelte
ſie allwöchentlich dreimal ohne Grund ab nach
dem Muſter der Geißelung am Altare der Diana .
Herrlich ſchlug auch meine Methode an . Die Jun-
gen fanden , daß noch nie ſo luſtig Schule gehalten
worden ſei , rauften ſich , daß es eine Art war ,
ohne zu muckſen , ſtahlen ihren Eltern die Aepfel
vor der Naſe weg , und ließen ſich nicht erwiſchen ,
verſchmerzten ſelbſt die grundloſen Prügel wegen
der ſonſtigen Ergötzlichkeiten , die ſie jetzt unge-
ſtraft hatten . Aber die dummen Bauern konnten
meinen Plan nicht faſſen . Sie ſchrien , daß ich
ihre Brut von Grundaus verderbe , und verklagten
mich . Da hat mich nun der Schulrath — nun ,
er iſt auch keiner von den hellſten Köpfen — von
dannen getrieben , und alſo ereilte mich das Fatum .
Ich wundre mich nur , ſagte der Baron , der
ſich noch immer von ſeinem Erſtaunen nicht erho-
len konnte , über alle die gelehrten Anſpielungen ,
die Euch da ſo vom Munde ſtäuben , wie Federn
vom Kiſſen , wenn das Bett gemacht wird . Woher
habt ihr das Fatum und die ſophiſtiſche Zeit , und
was Ihr ſonſt noch vorbrachtet ?
Es kommt mir alles Dieſes und mehreres
dergleichen , wenn ich es gebrauche , wie durch innere
Eingebung und Erleuchtung , antwortete der Schul-
meiſter . Seit die Urerinnerung an meine tapferen
und unvergleichlichen Vorfahren in mir aufgewacht
iſt , ſtehen meinem Geiſte Dinge zu Gebote , welche
freilich vordem in meinem Dorfleben mir nicht
geläufig waren .
Er trug nun dem Baron ſein Anliegen vor ,
welches darin beſtand , ihm Obdach und nothdürf-
tige Leibesnahrung zu gewähren , da er nach ſeiner
Abſetzung von Allem entblößt ſei und nichts beſitze ,
als was er um und an ſich trage . Der Baron
nahm Anſtand , einen tollen Menſchen , ( denn dafür
hielt er den Schulmeiſter ) im Schloſſe zu beher-
bergen , gleichwohl litt es ſein gutes Herz nicht ,
einen Dürftigen hungern und frieren zu laſſen .
Er wies ihm daher ein kleines , verfallenes Gar-
tenhäuschen , welches in der entfernteſten Ecke des
franzöſiſchen Gartens auf einem Schneckenberge ſtand ,
und ehemals grün angeſtrichen geweſen war , zum
Quartier an . Damit war ſein Schutzbefohlner
vollkommen zufrieden . Er zog ein , nannte den
Schneckenberg das Gebirge Taygetus , und taufte ein
kleines Wäſſerchen , welches ziemlich träge unter
ſogenanntem Entenflott in der Nähe dahinſchlich ,
zum Eurotas um . Einmal des Tages kam er
auf das Schloß , mit den Bewohnern ihre kärg-
liche Mahlzeit zu theilen ; die zweite hielt er in
ſeiner Behauſung ab . Sie pflegte in der Regel
aus einer Art von Mehlbrei zu beſtehen , den er
auf dem Schneckenberge an Reiſigfeuer zurichtete ,
und ſeine ſchwarze Suppe nannte . Außer ſeinem
Mantel hatte er keine Kleidungsſtücke ; ſein Getränk
ſchöpfte er vom Brunnen mit einem alten irdenen
Topfe , der ihm den ſpartaniſchen Becher oder Ko-
thon bedeuten mußte , und von welchem er rühmte ,
daß er , wie jenes antike Schöpfgefäß , wegen ſeines
eingebognen Randes jegliches Trübe und Unreine
vom Munde abhalte ; alle Woche aber holte er
vom Schloſſe ſich friſches Stroh zur Lagerſtatt ,
und hieß dieß , ſich Schilf im Eurotos ſchneiden .
Nach einiger Zeit hatte der Baron alle Furcht
vor ſeinem Gaſte verloren . Denn er bemerkte ,
daß dieſer über jeden Gegenſtand ſo verſtändig
dachte und redete , wie der geſetzteſte Alltags-
menſch , und daß auch ſeine ſpartaniſchen Vor-
ſtellungen ſich zu einer ſogenannten unſchädlichen
Schrolle , oder zu dem , was man den Wurm bei
einem Menſchen nennt , gemildert hatten . In der
That mußte er geſtehen , daß unter den Ge-
ſetzen Schmalhanſens , des Küchenmeiſters , die
über Schloß und Gartenhäuschen herrſchten , die
lacedämoniſche Einfachheit vollkommen gerechtfer-
tigt war , und daß ihrem Anhänger daher die Zugabe
von der Ahnenſchaft des Königs Ageſilaus wohl
mit durchgehen konnte . Seine Geſellſchaft wurde
ihm nun ſehr lieb ; er hatte doch Jemand , mit
dem er in den langen Herbſt- und Winterabenden
plaudern konnte ; er durfte nicht mehr befürchten ,
an dem Ideenreichthume , den die Journale in ihm her-
vorbrachten , zu erſticken .
Freilich war , wie wir im Anfange dieſes Capi-
tels ſagten , der Schulmeiſter nur eine Birne für den
Durſt . Ueber Geſchichten und Anecdoten konnte ſein
Gönner mit ihm verhandeln , und des lebhafteſten
Geſpräches ſicher ſeyn , wenn er wichtige Punkte der
Hiſtorie zur Sprache brachte , wie zum Beiſpiel : Ob
Brutus Recht gehabt habe , Cäſar’n zu erſtechen , was
aus der Welt geworden ſeyn möchte , wenn die Fran-
zoſen die Revolution nicht zu Stande gebracht
hätten , oder wenn Friedrich der Große und Napo-
leon Zeitgenoſſen geweſen wären , und was der-
gleichen mehr war . Dagegen fehlte dem vermeint-
lichen Abkömmlinge des Königs von Lacedämon
aller Sinn für die Curioſitäten aus der Länder-
und Völkerkunde , und aus dem Gebiete der Erfin-
dungen , Handels- und Gewerbsverhältniſſe , denen
der Baron gerade am leidenſchaftlichſten ſich zuneigte .
Mit dem Fräulein hatte der Schulmeiſter man-
chen Streit und ſie duldete ihn eigentlich nur ihres
Vaters wegen . Er war ihr beſonders durch eine
feurige Rede verhaßt geworden , in welcher er die
Sitte der Spartaner , auch die Jungfrauen bei
den Feſten der Götter nackt tanzen zu laſſen , höch-
lich herausſtrich . Ein Nervenanfall hatte ſie nach
dieſer Rede ergriffen und mehrere Wochen lang
unpäßlich gemacht . Er nahm ſich daher auch ſpäter-
hin eine größere Vorſicht in ſeinen Lieblingsreden
zur Richtſchnur , um den Boden , auf dem er ſeine
Freiſtatt gefunden hatte , nicht zu unterwühlen .
Anderntheils wurde es nach und nach der allge-
gemeine Grundſatz der drei Academiker von Schnick-
Schnack-Schnurr , eine zarte Schonung der gegenſeiti-
gen Schooßneigungen walten zu laſſen .
In dieſen Verhältniſſen lebten der alte Baron ,
das Fräulein und der Schulmeiſter ihre ſeltſam-
abgeſchiedenen Tage hin . Eines Abends ſagte der
Schloßherr zu ſeinem Schützlinge : Ihr ſeid jetzt
weit ruhiger und gleichmüthiger , Herr Ageſilaus ,
als vor Zeiten , wo es Euch doch im Grunde
beſſer ging , als jetzunder . Damals konntet Ihr
Streckenlang ſehr mürriſch und verdrießlich ſeyn .
Mürriſch und verdrießlich nun woh nicht , mein
Gönner , verſetzte der Schulmeiſter , a er tiefſinnig
und melancholiſch . Wenn ich ſo meine ſchmutzigen
Jungen in einem fort buchſtabiren ließ , eine
Woche nach der Andern , einen Monat nach dem
Andern , und ſich das ohne Reſultate fortſetzte ,
diejenigen , welche leſen gelernt hatten , die Schule
verließen , und friſche Rangen , die noch nichts wuß-
ten , wieder hineinkamen , und immer , immerdar
wieder von vorn daſſelbe angefangen werden
mußte , da konnte mir das ganze Leben zuletzt völ-
lig dünn und unzuſammenhangend vorkommen , und
es gab Nächte , worin mir träumte , das menſchliche
Daſeyn ſei nur ein langes , leeres A B C , von
dem die Buchſtaben X Y Z in der Ewigkeit
ſtänden , und aus welchem nie ein verſtändiger
Satz , ja nur ein ſinnvolles Wort würde .
Wollte ich mir dann zu meinem Troſte ſagen , ich
ſei eben nur ein armer Dorfſchulmeiſter , die Trübe
dieſer Meinung entſpringe aus meiner gedrückten
Lage , und glücklichere Menſchen , wie hohe Obrig-
keiten oder gar durchlauchtige Potentaten ſeien
wohl in dem Falle , ihrer Exiſtenz einen Zuſam-
menhang zu geben , ſo war die Beſchwichtigung
doch nicht lange ſtichhaltend . Denn ich mußte
erwägen , daß das Regieren über Land und Leute
doch auch nur ſo ein ödes , langwieriges Buchſta-
biren ſei , und daß , wenn man es an irgend einem
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 11
Zipfel zum Leſenlernen gebracht habe , dieſer ver-
ſchwinde , und an der andern Seite ein neues
Fibelſchützenweſen zu ſtammeln beginne . Aber ſeit
ich meine Ahnen kenne , ſeit ich weiß , welche herr-
liche Erinnerungen in mir ſich fortſetzen , und durch
mich lebendig zu erhalten ſind , iſt Alles in mir
Ruhe und Freudigkeit , haben ſich die Beſtand-
theile des Lebens im Kreiſe um mich her geſtellt ,
kurz , bin ich zur Klarheit und zum Bewußtſeyn
durchgedrungen .
Sonderbar ! rief der alte Baron vor ſich hin ,
als der Schulmeiſter nach dieſer Aeußerung fort-
gegangen war . Wie es ſcheint , muß der Menſch
immer einen Sparren haben , um recht zuſammen-
zuhalten . Die Vernunft iſt wie reines Gold , zu
weich , um Fa ç on anzunehmen ; es muß ein tüch-
tig Stück Kupfer , ſo eine Portion Verrücktheit
darunter gethan werden , dann iſt dem Menſchen
erſt wohl , dann macht er Figur und ſteht ſeinen
Mann . Was für ein Gimpel war der Schul-
meiſter ſonſt , und wie geſcheidt ſpricht er jetzt ,
ſeitdem es bei ihm rappelt . Das Leben iſt doch
ein curioſes Ding , und wäre ich nicht geborner
Geheimer-Rath im höchſten Collegio , ſo könnte mir
auch vor mir bange werden . Aber da ich der
bin , ſo muß ich natürlich meinen vollen Verſtand
beſitzen .
11*
Siebentes Capitel .
Der Freiherr von Münchhauſen wird auf
den Boden dieſer Geſchichten geſchleu-
dert .
Die blonde Lisbeth war in das Gebirge gegan-
gen , Zinſenrückſtände von den Bauern einzutreiben .
Sie hatte dieſelben zufällig in einem alten ver-
geßnen Rentenregiſter , welches unter anderem Gerüll
in einer Polterkammer lag , verzeichnet gefunden .
Ihr Pflegevater war ängſtlich geweſen , das Kind
ſo allein in das Gebirge ziehen zu laſſen , ſie aber
hatte muthig geantwortet : Wer wird mir etwas
thun ? Ich ſchaff’ das Geld ! hatte ſich an des
Schulmeiſters Eurotas einen Weidenſtecken geſchnit-
ten , ein Reiſetäſchchen voll der nöthigſten Wäſche
umgehängt , Schnürſtiefelchen angezogen , einen Stroh-
hut verwegen auf das kecke Häuptlein geſetzt , und
war ſo fürbaß gewandert .
Während ihrer Abweſenheit gingen die drei
Zurückgelaſſenen , der Baron , das Fräulein und der
Schulmeiſter eines Nachmittags in dem verwilder-
ten franzöſiſchen Garten ſpazieren . Sie verkehrten
aber nicht mit einander , wie dieß meiſtens bei ſol-
chen Gartenwanderungen zu geſchehen pflegte , ſon-
dern hingen in verſchiedenen Wegen und Stegen
ihren eigenen Gedanken nach . Die Pfade um
das Schloß her waren faſt überall von Dor-
nen verſperrt , oder durch ſumpfiges Erdreich feucht ,
der trockne Sand , welcher die Gartenſtege noch
immer einigermaßen bedeckte , verdiente daher ohne
Zweifel den Vorzug , wenn man luſtwandeln wollte .
Damit aber dieſe gemeinſame Erholung einem
Jeden ſeine völlige Freiheit laſſe , und der Stoff
der Geſpräche nicht zu verſchwenderiſch eingezehrt
werde , hatte der alte Baron für die Gartenerho-
lung Aufhebung des geſelligen Verkehrs als Regel
feſtgeſetzt . Sollte eine Ausnahme eintreten , und
Geſpräch herrſchen , ſo war von ihm ein untrüglich
andeutendes Zeichen erfunden worden . Er ſchrieb
nämlich an ſolchen Tagen einem Genius von Sand-
ſtein , der , den Finger auf dem Munde , vor einer
kleinen düſteren Laube ſtand , und zu den noch am
beſten erhaltenen Kunſtwerken des Gartens gehörte ,
mit Kreide das Wort : Colloquium auf die Bruſt ;
eines von den wenigen lateiniſchen Wörtern , deren
er ſich noch aus ſeinem Jugendunterrichte erinnerte .
So wie daher Jemand von der täglichen Geſell-
ſchaft in den Garten trat , ſah er nur nach der
Bruſt des Genius , und ſchwieg oder redete , jenach-
dem die Meinung des Schloßherrn lautete , denn ,
in ſo großer Armuth er ſich befand , alle ſeine
Umgebungen waren gewohnt , ſich pünktlich nach
ſeinen Wünſchen zu richten .
Heute ſtand kein Colloquium auf der Bruſt
des Genius angekreidet . Der alte Baron war
ſchon ſeit einigen Wochen in einer trüben , ſehn-
ſüchtigen Stimmung , welche , gerade heute zu beſon-
derer Verdüſterung erwachſen , ähnlichen Launen bei
dem Schulmeiſter und Emerentien begegnete , ſo
daß Beide mit der ihnen auferlegten Trappiſten-
regel an dieſem Tage beſonders zufrieden waren .
Wie es wohl zu gehen pflegt ; lange Zeit bleiben
die eigentlichen Grundempfindungen eines Kreiſes
von Tagestäuſchungen überhüllt ; endlich aber drän-
gen ſie ſich doch wie Springfluthen unwiderſtehlich
an die Oberfläche hervor .
Die Gefühle der drei luſtwandelnden Perſonen
brachen , da letztere weit genug von einander gingen ,
um ſich für unbelauſchbar halten zu können , in
Selbſtgeſpräche aus . Der alte Baron ſchritt zwi-
ſchen zwei Taxuswänden auf und nieder , welche
ehemals auf ihrer oberen Fläche die zierlichſte
Abwechſelung von Kreuzen , Pfeilern und Urnen
dargeboten hatten , nun aber längſt aus aller Schur
gewichen waren , und nur noch unförmliche , mißge-
ſtaltete Klumpen grüner Blätter und Aeſte zeigten .
Sein Schritt war heftig , ſein Blick ſchwer . Ja ,
rief er aus , wenn ich einen Mann hätte , der mich
verſtände , mit dem ich laut denken könnte , der
Sinn für einen weiten Geſichtskreis beſäße , dann
ließe ſich herrlich und in Freuden leben ! Immer
Neues , Wunderbares muß ich haben , die Jour-
nale genügen mir ſchon nicht mehr , ſie fangen an ,
mir ſchaal vorzukommen ; Hypotheſen , Hypotheſen
begehre ich , eine gewaltiger als die Andre , denn
nur Hypotheſen löſchen den Wiſſensdruſt , wenn
er einmal entflammt worden iſt . Was hilft es
mir , daß ich heute von den Ungeheuern geleſen
habe , die in jedem Waſſertröpfchen leben , mit
Kugelleibern , oder tauſend Füßen , oder Rüſſeln
oder Sägezähnen ? Bin ich danach klüger , als
zuvor ? Nein . Dümmer im Gegentheil . Wie
entſtehen ſie ? Was treiben ſie ? Was freſſen ſie ?
Wie begatten ſie ſich ? Sind es Säugethiere , die
lebendige Junge zur Welt bringen , oder Eier-
legende Fiſche ? — O fände ich doch nur einen Mann ,
mit dem ich Alles ſo recht durchſprechen könnte ,
der eine Erklärung auch für das Dunkelſte gäbe ,
gleichviel welche ! Der Schulmeiſter iſt ein ehrlicher
Kauz , aber doch im Grunde ein dummer Teufel
mit ſeinen alten Spartaner-Flauſen . Ich habe
mir einen verrückten Menſchen unterhaltender ge-
dacht ; der Ageſel beginnt , mich zu langweilen . —
Er trat verſtimmt zu einem ſteinernen Schäfer ,
der an dem einen Ende der Taxuswände ſtand ,
und vor Zeiten Flöte geblaſen hatte , nun aber
nur noch vergeblich den Mund ſpitzte und die
Arme in der gezwungenen muſicaliſchen Haltung
leer vor ſich hinſtreckte , weil die Flöte ihnen
längſt von der Zeit entführt worden war . Der
alte Mann lehnte ſich düſter an den verſtümmelten
Schäfer ; vor ſeinem geiſtigen Geſichte wälzten ſich ,
ſchoſſen und kugelten rieſige Infuſionsthiere umher ,
bis ihm die Gedanken in das Formloſe zergingen .
Inzwiſchen umkreiſete Fräulein Emerentia ein
mit Muſcheln eingefaßtes Becken , welches freilich
ſchon ſeit geraumen Jahren ſo trocken lag , wie
das rothe Meer , als die Iſraeliten hindurchgingen .
Ein Delphin ſtreckte in der Mitte dieſes Beckens
ſeine aufgeſtülpte Naſe empor . Er hatte von Glück
zu ſagen , daß er aus Kupferblech beſtand ; ohne
dieſe Conſtitution hätte er in ſolcher Trockniß ret-
tungslos verſchmachten müſſen . Auch ein Unbe-
ſchäftigter ! Woher ſollte der Waſſerſtrahl ihm zu-
fließen , den er ſonſt aus den Nüſtern in die Höhe
geſendet hatte ? — Das Fräulein umſchritt , wie
geſagt , das Becken , und ſah bald auf deſſen Grund ,
bald auf den Delphin , bald auf die bunten Kieſel ,
welche in Sternen , Rauten und Blumen eingelegt ,
den Platz um das Becken zierten , ohne daß ſie
von einem dieſer Gegenſtände Troſt für ihre weh-
müthigen Empfindungen zugeſprochen bekommen
hätte . Hartes Loos , flüſterte ſie ſchwermuthsvoll
vor ſich hin , mit einem reichen Herzen , mit einem
zarten Gemüthe unter kalten , abſtoßenden Naturen
leben zu müſſen ! Wer verſteht hier die heilige Sehn-
ſucht , die mich ſo ganz nach Rucciopuccio erfüllt ,
dem Fürſten von Hechelkram im Geheimen ? Ich
weiß , das Schickſal , welches unſer Leben wendet ,
will ſtill erwartet ſeyn , und darum greift kein un-
geſtümes Verlangen im Buſen der Entwickelung der
Tage vor , nein , geduldig harrt der gläubige Sinn
des liebenden Weibes auf den ſeligen Augenblick ,
da der goldlackirte Wagen vor dem Schloſſe halten
und der Läufer mit Blumenhut und Schurz in die
Thüre ſpringen wird , fragend nach Emerentien ,
die in den Stunden der Andacht zu Nizza Marce-
bille hieß . Aber eine feinfühlende zweite Seele ,
ein ſympathetiſches Gemüth wünſcheſt du dir , und
darfſt du dir wünſchen , arme Emerentia , die Qual
des Harrens zu lindern ! Nun , wie ſteht es um
die Befriedigung dieſes Verlangens hier ? Welche
Perſonen umgeben dich ? Wirſt du in deinen Seuf-
zern von irgend Jemandem , mit dem dich dein
Loos verbunden hat , begriffen ? Der gute Vater
iſt gut , ſehr gut , aber lacht er nicht , wenn du ihm
die Geheimniſſe deiner Bruſt leiſe und ſchamhaft
enthüllſt ? O wie verderblich iſt die einſeitige Ver-
ſtandescultur , welche der Menſch von Journalen
empfängt ! Wie höhlt ſie das Herz aus ! Und
jener ſpartaniſche Pöbelnarr — — nein , denke
ihn nicht zu Ende , dieſen Narren , deſſen cyniſche
Reden ſchon in der Erinnerung meine keuſche Seele
aus tauſend Wunden bluten machen . O komm ,
Menſch , fühlender Mitmenſch , den ich nicht kenne ,
aber geſtaltet vor den Augen meines Geiſtes ſehe ,
der du mich verſtehen wirſt ohne Wort , wie der
heilige Mond , wenn ich zu ihm aufblicke , dem das
Unausſprechliche in mir klar ſeyn wird , wie ein
Spruch der Einfalt , komm , Tröſter , Paraclet , mir
meine ſüßen Ahnungen auszudeuten , und mich in
dem zu begreifen , worin ich mich ſelbſt nicht faſſe !
— Nach dieſer Rede , die Emerentien gewiß jeder
Leſerin von Gemüth theuer macht , ſetzte ſie ſich dem
Delphin gegenüber auf einen unformlichen Raſen-
hügel , der ehemals eine Bergere geweſen war , und
fuhr fort , herzbrechende Seufzer auszuſtoßen .
Auch der Schulmeiſter war nicht glücklich . Er
kauerte auf ſeinem Gebirge Taygetus , oder Schne-
ckenberge , vor einem Feuer , welches der Wind hin
und herwehte , und kochte ſchwarze Suppe . Denn
es hatte zum Mittagseſſen auf dem Schloſſe Spi-
nat gegeben , das einzige Gericht , welches er , ſonſt
nicht auf Leckerei geſtellt , zu genießen unvermögend
war , weil er behauptete , es ſchmecke nach Rauch-
tabak . Während ſeiner Beſchäftigung polterte und
brummte er folgende Reden heraus : Schlimm !
Schlimm , beim Kuckuk , wenn man mit Ignoranten
zu thun hat ! Das Fräulein iſt eine Mondſchein-
prinzeſſin , und der alte Baron , dem übrigens Gott
ſeine Güte an mir vergelten mag , ein Confuſio-
narius ! Ich kriege es nicht heraus ! Bis nach
Böhmen kann ich die Spuren meiner Vorfahren
verfolgen , als ſie ſich vor den Türken flüchteten ,
aber weiter geht ’s nicht , von da bis hieher Nacht ,
Finſterniß , unwegſame Wüſte ! Mein Aeltervater
war aus Buxtehude , alſo haben die Spartaner
einen Haken bis zur Nordſee geſchlagen . Wie
reim’ ich nun dieſen Haken mit der Niederlaſſung
der übrigen Ageſelſchen oder vielmehr Ageſilaus’ſchen
Familie in hieſigen Landen zuſammen ? Und doch ,
da die Sache ihre Richtigkeit hat , ſo muß ſie ſich
auch beweiſen laſſen . O , ein Gelahrter , ein For-
ſcher , der mir hülfe , die Vermuthungen zuſammen-
ſtellte , und ſelbſt Vermuthungen hätte , wo mir
alle Vermuthungen ausgehn ; o , ein ſolcher Mann
fehlt mir nur allzuſehr ! — Er rührte heftig in
der ſchwarzen Suppe und ſeine Reden gingen in
einzelne abgebrochne Ausrufungen über , die von
dem Verdruſſe ſeiner Seele zeugten .
Nach einigen Minuten erſeufzte das Fräulein
am trocknen Waſſerbecken ſo laut , daß ſelbſt ihr
Vater am Flötenbläſer ohne Flöte und der Schul-
meiſter auf dem Taygetus es vernahmen . Aus
Sympathie ſtimmten ſie ihrerſeits ein , ſo ſtark ſie
nur vermochten , und es ſtieg daher ein dreifacher ,
gewaltiger Seufzer der Sehnſucht im Garten des
Schloſſes Schnick-Schnack-Schnurr empor . Kaum
war er verklungen , ſo ertonte aus einer Ecke des
Gartens , zunächſt der einfaſſenden Hecke , ein lautes
Geräuſch , wie wenn Jemand von einer nicht unbe-
deutenden Höhe herabfalle , ein Hufſchlag , wie von
einem davoneilenden Pferde , und das Geſpräch
zweier Menſchen , von denen der Eine fragte : Wie
iſt es , mein gnädiger Herr ? Haben Sie ſich wehe
gethan ? der Andre aber antwortete : Durchaus
nicht , durchaus nicht , du weißt ja , daß mir kein
Sturz etwas thut , auch liegt hier , wie du ſiehſt ,
ein weicher Haufen Unkraut und Gras zuſammen-
getrieben , auf den bin ich geſunken , als ich aus
den Lüften herniederſchwebte . Soll ich dem Pferde
nachrennen ? fragte die eine Stimme . Nein , ver-
ſetzte die Andre , wir ſind am Ziel , welches das
Schickſal uns wies . Laß die Creatur auch ihrem
Ziele nachlaufen , welches ohne Zweifel in dem
Stalle des Verleihers ſeyn wird , aus dem ich den
Klepper im Städtchen entnahm .
Der alte Baron , das Fräulein und der Schul-
meiſter näherten ſich jetzt dem Orte , wo der Fall
und dieſes Geſpräch erſchollen war , und ſahen zwei
Männer , welche ſie in nicht geringes Erſtaunen
verſetzten . Der Eine war eine ſtämmige Figur ,
deren Eigenthümer ſeine vierzig und mehrere
Jahre zählen mochte , mit einem durchaus blaſſen ,
aber kräftig musculöſen Geſichte , aus dem zwei
große lebhafte Augen hervorſtrahlten . An ſeiner
Kleidung zeichnete ſich ſonſt nichts aus , dagegen
konnte ein übermäßig großer Strohhut mit fuß-
breiten Krempen auffallend erſcheinen , welcher einige
Schritte von dem Fremden im Sande lag . Dieſer
Strohhut war eigentlich kein Strohhut ; ſeine Form
ſchwankte zwiſchen Mütze und Casquett . In Zukunft
ſoll er , wo er noch vorkommt , der Strohhelm heißen .
Der Andere war noch unterſetzter und gedrun-
gener , als der Erſte , ſchien mit ihm in gleichen
Jahren zu ſeyn , hatte aber die gewöhnliche Geſichts-
farbe eines geſunden Menſchen . Seine Augen waren
wo möglich noch greller , als die des Herrn , denn
in dieſem Verhältniſſe mußte wohl der Erſte zu
dem Zweiten ſtehen , da Letzterer in einer eiergel-
ben Livree ſtak , einen lackirten Bedientenhut auf
dem Kopfe trug und ſich um den Erſten mit einer
Kleiderbürſte bemühte , allerhand Erd- und Gras-
ſpuren von dem lichtgrauen Ueberrocke deſſelben zu
tilgen .
Indem die Geſellſchaft vom Schloſſe ſich den
Fremden näherte , blickten dieſe auf , der Erſte
ſagte dem Zweiten etwas in das Ohr , worauf
der Diener den Strohhelm von der Erde erhob und
ſeinem Herrn darreichte . Letzterer trat den Dreien
entgegen und ſagte mit wunderbaren Muskelbewe-
gungen im Antlitz zum alten Baron einige höfliche
Worte der Entſchuldigung , daß er ſo unangemel-
det in ſeinen Garten gefallen ſei . Der Baron ver-
ſetzte , das habe gar nichts zu bedeuten , und der Schul-
meiſter machte dazu eine tiefe Verbeugung . Beide
muſterten erſtaunt die Zubehörungen des Fremdlings ,
wie man die Papierhefte , Rollen und Streifen
wohl nennen durfte , welche aus den Seiten-Rücken-
und Bruſttaſchen ſeines Rocks , ja ſogar aus den Oeff-
nungen eines ledernen Ranzens hervorſahen , den er
an einem Querriemen über die Schultern geworfen trug .
Die Aufmerkſamkeit des Fräuleins war dage-
gen in dieſen erſten Angenblicken Augenblicken weit mehr von
dem Bedienten gefeſſelt worden . In der That
zeigte der Aufzug dieſes Menſchen auch ſo manches
von einer gewöhnlichen Livree Abweichende . Denn
um von dem Strauße wilder Feldblumen zu ſchwei-
gen , der an ſeinem Hute duftete , ſo mußte gewiß
Jedem ſonderbar vorkommen , daß er einen großen
bunten Tuch wie einen Schurz ſich um die Hüften
geknüpft hatte .
Der Herr war indeſſen in die Mitte zwiſchen
den Baron und den Schulmeiſter getreten , durch
dieſe Bewegung war auch das Fräulein veranlaßt
worden , ihn achtſamer zu betrachten , und ſich zu
nähern ; ſo bildeten die Drei eine Gruppe von
Hörern um den Fremden , welche wie von ſelbſt
entſtanden war . Laſſen Sie uns , geſchätzte drei
Unbekannte , nicht zu lange in einem leeren Erſtau-
nen einander gegenüber ſtehen , hob er mit einer
gewiſſen Feierlichkeit an , welche jedoch die Wie-
derholung jener Muskelbewegungen im Antlitz , auf
die wir ſchon hingedeutet haben , nicht verhinderte .
Ich fühle etwas in mir , welches mir ſagen will ,
daß unſer Zuſammentreffen in dieſem verwilderten
franzöſiſchen Garten Folge einer ſideriſchen Con-
junction iſt , welcher die Signatur unſerer vier
Mikrokosmen entſpricht . Iſt dem alſo , ſo würde
alles gehaltloſe Verwundern , und der eitle Apparat
nichtsſagender Complimente , welcher die Vorhalle
unbedeutender Bekanntſchaften auszieren muß , nur
eine Verſchwendung köſtlicher Minuten ſeyn . Haſche
nach Minuten , denn auf ihren Fittichen ruht die
Ewigkeit ! ſagt uns ein weiſer Dichter . Die
tiefſte Ahnung meiner Seele ruft mit vernehmli-
cher Stimme : Es war vorbeſtimmt ; die Zeit war
dazu reif , daß mein Pferd an jener Hecke bocken ,
ſich bäumen und mich zuerſt auf jenen Unkrauthau-
fen ſchleudern , dem zu Folge aber in Ihren freund-
lichen und empfänglichen Kreis befördern mußte .
Sind Sie vom Pferde geſtürzt ? fragte der
alte Baron . Ja wohl , verſetzte der Fremde ; doch
eigentlicher zu reden , ich flog mehr und beſchrieb
in der Luft eine Curve , deren Berechnung wohl
die Elemente der Ellipſe ergeben möchte . Ich bin
auf einer gelehrten Fußwanderung begriffen , deren
Zweck es iſt , das Mineral zu entdecken , wodurch
man Luft — — — doch ſtill vor der Hand noch
von dieſen Dingen ! Weil ich mich aber ermüdet
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 12
fühlte , nahm ich in der Stadt , vier Meilen von
hier , ein Miethpferd zu dem Abſtecher in dieſe
Gegend . Hieher wieſen mich geheime Andeutun-
gen in manchen Schriften , welche die Menge nicht
beachtet , die aber Körner gediegenen Goldes ent-
halten . Auch eigne Combinationen machten es mir
wahrſcheinlich , daß hier ein Stock des Min — —
doch , wie geſagt , ſtill davon ! Ich hing auf meinem
Pferde verſchiednen Unterſuchungen nach , wie es
denn meine ziemlich ausgebreiteten Studien mit
ſich bringen , daß das Verſchiedenartigſte mir gleich-
zeitig durch den Kopf zu laufen pflegt . Ich fand ,
daß die Infuſionsthiere , deren Oeconomie mich
unter Andrem kürzlich beſchäftigt hat , eigentlich
unentwickelte Karpfen ſind , und Gedächtniß be-
ſitzen …
Können Sie mir mehr von den Infuſions-
thieren ſagen ? unterbrach der alte Baron mit
einem ſchwärmeriſchen Eifer den Redner .
So viel Sie begehren ; mit dieſen Geſchöpfen
habe ich in dem vertrauteſten Umgange geſtanden ,
erwiederte Jener .
Dazwiſchen ſann ich meinen Hypotheſen über
die Vertreibung und Verpflanzung der alten Natio-
nen durch die Völkerwanderung nach , bewies mir ,
daß viel griechiſches Blut unter uns rollt , worauf
auch ſchon in der Sprache ſo Manches hinweiſet ,
wie z. B. Kater , abſtammend von καϑείρω ; rei-
nigen , ſäubern , weil jenes Thier die Häuſer von
Mäuſen reiniget ; Katze , von der Präpoſition
κατά , herab , gegen , darauf hin , drüber hin , durch
hin , entlang ; denn ſind nicht die Katzen in ihrer
geſchmeidigen und ſtürmiſchen Beweglichkeit gewiſ-
ſermaßen die lebendig gewordene Präpoſition Kat à ?
Springen ſie nicht unaufhörlich von Dächern und
Bäumen herab ? Nicht gegen Mauern ? Nicht ,
wenn ein Vogel im Laube ſpielt , drauf hin ? Nicht ,
ſcheint der Mond auf den Söller , drüber hin ?
Nicht durch Dick und Dünn hin ? Nicht Kornfel-
der entlang ? Alſo , griechiſche Rudera , wohin wir
in Deutſchland treten …
Spartaniſche doch insbeſondere auch ? fragte der
Schulmeiſter mit funkelnden Augen .
Die werden ſich natürlich ebenfalls ſehr leicht
entdecken laſſen , erwiederte der Fremde .
Der Schulmeiſter drückte dem alten Baron
hinter dem Rücken des Fremden feurig die Hand ,
und der Schloßherr , der an die Infuſionsthiere
12*
dachte , und alle Standesunterſchiede vergeſſen hatte ,
erwiederte dieſes Zeichen der Begeiſterung mit Wärme .
Der Fremde fuhr fort : Dieſen und vielen andern
Gedanken hing ich auf dem Rücken meines Thieres
mit Bequemlichkeit nach , denn es gehörte zu denen-
welche aufgehört haben , Freunde von Leibesbewe-
gung zu ſeyn , und konnte nur durch die Gerte
meines nachwandelnden Dieners , womit derſelbe
die Schenkel des Läſſigen beſtrich , im nothdürftig-
ſten Gange erhalten werden . Ich erzähle dieſe
Umſtände ſo ausführlich , weil ſie dem nachfolgen-
den Vorfalle erſt ſeine volle Bedeutung geben .
Nämlich , als ich in den Weg einbiege , der ſich
dort entlängſt Ihrer Gartenhecke hinzieht , und
mein Miethroß im geſetzteſten Schritte einherſchleicht ,
ich aber an nichts weniger denke , als mit dem
Schloſſe und ſeinen Bewohnern anzuknüpfen , ſcheut
das Pferd , als ſähe es , gleich Bileams Eſelin
eine Erſcheinung , wirft den Kopf in die Höhe ,
hebt ſich auf die Vorderfüße , bockt mit einer
unglaublichen Schnellkraft , ſchlägt ſofort auch hin-
ten aus , ſpringt mit einem Seitenſatze in das
Dornengebüſche ; ich aber , bügellos geworden , ſchwebe
in der von mir ſchon beſchriebenen Curve , gemäß
dem Parallelogramm der zuſammenwirkenden Kräfte
des Bockens , des Ausſchlagens und des Seiten-
ſatzes über die Gartenhecke auf den Krauthaufen .
Während des Schwebens aber und bei dem Nie-
derprallen entſteht in mir blitzartig eine intel-
lectuelle Anſchauung , die mit ſinnlicher Stärke
vom Kreuze aufwärts durch das Rückenmark in
die Gehirnnerven ſteigt , und in Worte überſetzt ,
lautet : Dieß iſt ein großer hiſtoriſcher Moment ,
ein Ausgangspunct wichtiger Entwickelungen . Damit
Sie aber erfahren , wer ſo unvermuthet in die
Mitte aller Ihrer Beziehungen geſchleudert wurde ,
ſo vernehmen Sie meinen Namen , Stand und Cha-
rakter . Ich bin der Freiherr von Münchhauſen ,
Mitglied faſt aller gelehrten Geſellſchaften , in die
Academie der Arcadier zu Rom mit der Bezeich-
nung : Der nie Verwelkende , aufgenommen .
Achtes Capitel .
Handelt von dem Bedienten Karl Butter-
vogel , und von der freundlichen und
ehrenvollen Aufnahme , welche der Frei-
herr von Münchhauſen im Schloſſe Schnick-
Schnack-Schnurr fand .
Und ich , ſagte der Diener , dreiſt zu den Herr-
ſchaften herantretend , bin der Bediente Karl But-
tervogel , bürſte meinem Herrn die Kleider aus ,
und putze ſeine Stiefeln . Die gnädige Dame da
ſehen verwundert meinen Blumenſtrauß am Hute ,
und dieſes Tuch an , welches beinahe wie ein Lau-
ferſchurz läßt ; ja , ich wäre ſo ein Laufer , den
jede Schnecke einholen würde ; ich habe zu ſchwer
hier an meinem Torniſter zu ſchleppen , worin die
Inſtrumente des gnädigen Herrn ſtecken . Nein ,
ich pflückte mir die Blumen aus Langerweile , wäh-
rend mein Herr die Luft unterſuchte , und was
den Schurz betrifft , ſo habe ich mir den umge-
knüpft , meine Unterkleider vor den verdammten
Dornen in Acht zu nehmen , durch die der gnädige
Herr ſich abſolut hindurcharbeiten wollte . Ich
glaube nicht , daß die Schindmähre vor einem hiſto-
riſchen Momente geſcheut iſt , wie Sie ſagen , ſondern
die Dornen riſſen ſie , und davon wurde das Vieh
fuchstoll .
Der alte Baron und der Schulmeiſter hörten
mit Verwunderung dieſen überkecken Reden eines
Dieners zu . Münchhauſen ſuchte mit einem gewich-
tigen Blicke den Vorlauten in ſeine Schranken
zurückzuweiſen , da aber Jener den Blick ertrug ,
ohne ſich niederſchlagen zu laſſen , ſo ſenkte der
Herr die Augen , und die Züge ſeines Geſichtes
begannen , ein geheimes geiſtiges Leiden auszuſpre-
chen . In dem Fräulein aber war die heftigſte
Gemüthsbewegung entſtanden . Ihre Wangen hatten
ſich bei den Reden Karl Buttervogel’s in Purpur-
gluth gefärbt , ihre fliegenden Blicke ſchweiften
von dem Herrn zum Diener , und von dieſem zu
jenem , während die Lippen leiſe Fragen an das
Schickſal vor ſich hin flüſterten , welche wie : Lau-
ferſchurz ? Blumenhut ? lauteten .
Der alte Baron lud den Freiherrn von Münch-
hauſen auf das Freundlichſte ein , bei ihm ſo lange
vorlieb zu nehmen , als es ihm gefiele , was Münch-
hauſen dankbar annahm . Alle begaben ſich hierauf
aus dem Garten in das Haus , nachdem der
Schloßherr ſeinem Gaſte , der das zerſtörte Gebäude
einigermaßen ſtutzig anblickte , zuvor eröffnet hatte ,
die Wirthſchaft ſei in dieſem Augenblicke durch
allerhand Zufälligkeiten etwas in Unordnung gera-
then , auch ſolle gebaut werden . Auf der Treppe ,
die vom Hausflure zu dem Wohnzimmer führte ,
hätte der Freiherr beinahe wieder ein Unglück
gehabt . Denn eine von den morſchgewordnen
Stufen knackte , als er ſie betrat , und brach . Hier-
auf verlor er das Gleichgewicht , wollte ſich an
dem Geländer halten , faßte aber nur in die dünne
Luft , weil das Geländer vorlängſt zu Brennholz
verwendet worden war . Er wäre gefallen , wenn
ihn nicht der alte Baron am Rockzipfel gehalten
hätte . So aber kam er doch wieder glücklich auf
ſeinen Füßen zu ſtehen , und wurde vorläufig in
das Wohnzimmer geführt , bis ſeine Appartements
in Stand geſetzt waren . Dieſe Einrichtung beſorgte
der Schulmeiſter , da mit dem Fräulein nichts anzu-
fangen war . Sie ſaß verklärten Blicks in einer
Ecke des Zimmers , ſah vor ſich hin , und ihre
Gedanken ſchienen abweſend zu ſeyn . Als der
Vater zu ihr ſagte : Renzel , ( ſo nannte er ſie ,
wenn er beſonders guter Laune war ) wo kriegen
wir den Nachttiſch her für den Fremden ? ver-
ſetzte ſie : O Vater , es wird Tag ! und als er ſie
bat , die Bettung des Gaſtes zu beſorgen , blickte
ſie ihm ſtarr in das Antlitz und verſtand ihn
nicht . Der Schulmeiſter , welcher unter ſothanen
Umſtänden ſich zum Haushofmeiſter anerbot , bewies
dagegen eine nicht geringe Anſtelligkeit . Er war
während ſeines Dienſtes zu Hackelpfiffelsberg ſich
Knecht und Magd geweſen , und hatte dadurch die
genauſte Kenntniß aller kleinen häuslichen Geſchäfte
erworben . — Flink räumte er von der Vorraths-
kammer , die der Schloßherr zum Gaſtzimmer
beſtimmt hatte , weil ſie das einzige Gelaß war ,
welches noch Fenſtern hatte , die getrockneten Aepfel ,
die Bohnen und Erbſen hinweg , welche für den
Winterbedarf dort aufgeſchüttet lagen , ſorgte für
das Haupt des Fremden , indem er die loſe Gyps-
bekleidung der Decke mit einer Stange abſtieß ,
fegte den Eſtrich rein , verjagte die Spinnen aus
ihren luftigen Schlöſſern , nahm aus den Betten
der Schloßbewohner die noch einigermaßen ent-
behrlichen Stücke , ſtellte verſchiedene Holzfragmente
mittelſt Säge , Hammer und Nägel zu einer Art
von Sponde zuſammen , und wußte ſelbſt noch
einen erträglichen Tiſch und Stuhl für den Frei-
herrn aufzutreiben .
Nach vollbrachtem Werke ging er hinunter und
fand den alten Baron um zehn Jahre verjüngt .
Münchhauſen hatte ihm die Wirthſchaft der Infu-
ſionsthiere mit ſo reizenden Farben geſchildert ,
daß ſein Zuhörer in Entzückung gerathen war , er
hatte ihm ganze Idyllen , Epen und Tragödien
vorgetragen , die ſich in jedem Waſſertropfen ſeiner
Verſicherung nach ereigneten . Als der Schulmei-
ſter nun einige Augenblicke mit Münchhauſen allein
gelaſſen wurde , gab ihm dieſer auf Verlangen
ſein Wort , daß er unfern von Buxtehude in einem
Bauerndorfe die deutlichſten Spuren ſpartaniſcher
Sitte und Abkunft angetroffen habe , indem die
Leute dort nichts von den Wiſſenſchaften hielten und
von Schmutz ſtarrten . Der Schulmeiſter ging höchſt
befriedigt von dannen , um ſeine ſchwarze Suppe
zu verzehren , und überließ Emerentien den Freiherrn .
Nach einer Pauſe , die ſo feierlich war , als die-
jenige zu ſeyn pflegt , welche die Comödianten vor
der großen Scene machen , in welcher die Liebe
dadurch über die Cabale ſiegt , daß Ferdinand ſei-
ner Louiſe Rattenpulver in Limonade eingiebt , nach
einer Pauſe , lang und laſtend , wie die vorſtehende
Periode , ſagte das Fräulein ſchüchtern zum Frei-
herrn : Herr von Münchhauſen , Sie treten wie ein
mythiſches Product unſrer Zuſtände mit innerer
Nothwendigkeit in die Burg meiner Väter . Schon
haben Sie ſich ſelbſt in Ihrer Gartenrede als
einen durch beziehungsvolle Beziehungen mit unſern
Wünſchen und Ausſichten Verknüpften empfunden .
Verargen Sie es daher der ſchüchternen Jungfrau
nicht , wenn ſie , die Geſetze der Zurückhaltung ,
welche ſonſt meinem Geſchlechte eignen , brechend ,
Sie herzlich und dringend fragt : Giebt es noch
Laufer ?
Ja , meine Gnädige , erwiederte der Freiherr
mit ernſter Rührung ; es giebt allerdings noch
Laufer .
Pflegen ſich wohl Fürſten dergleichen Laufer
zu halten ? fragte das Fräulein , indem ſie eine
Thräne im rechten Auge zerdrückte .
Nur ein Fürſt iſt deſſen fähig ! rief Münch-
hauſen , und führte das Taſchentuch an ſein linkes
weinendes Auge .
Und nun die letzte Frage an Ihr ſchönes Herz ,
edler Mann , eine Frage , in der Sie meine Seele
empfangen : Trägt ein Laufer , wo er erſcheint ,
Blumenhut und Schurz ?
Blumenhut und Schurz bleiben die Zeichen
eines Laufers bis an das Ende der Tage , ſprach
der Freiherr erhaben , und ſtreckte , wie ſchwörend ,
den Daumen und die beiden erſten Finger der
rechten Hand empor .
Ich danke Ihnen für dieſe Stunde , ſagte das
Fräulein . Mein Leben beginnt wieder ſeine
Schwingen zu regen . Das Schickſal giebt mir
ein Zeichen ; auf die Lippen der Unſchuld , auf die
Lippen Ihres Karl legte es ſein bedeutendes
Wort , wunderſamen Tönen meines Tiefinnerſten
entſprechend , Schätzen des Buſens , die ſich eben
leuchtend dem Dunkel entrungen hatten . Sie aber ,
hoher Meiſter , legten zart und weiſe die ſüße
Fabel als ſchlichte , treue Wahrheit aus . O ich
wußte wohl , daß ich hier verſtanden werden
würde !
Durchaus verſtanden ! rief Münchhauſen .
In dieſem Augenblicke trat der alte Baron , der
inzwiſchen die Einrichtung der Gaſtſtube beſichtigt
hatte , wieder in das Zimmer , und lud Münchhauſen
ein , ihm dahin zu folgen , damit er es ſich vor
der Hand etwas bequem machen könne .
Emerentia ſagte , als ſie allein war : Er iſt
erſchienen , der mich ohne Wort verſteht ; der Him-
mel hält uns die Verheißungen , die er uns in der
Sehnſucht giebt ! Bald , bald wird nun auch Ruccio-
puccio kommen , der Fürſt von Hechelkram , ſeine
Freundin im reinſten Sinne des Worts abzuholen .
Neuntes Capitel .
Verſtändniſſe und Mißverſtändniſſe , Sehn-
ſucht , Orden , Geſinnungen und Ehrenſtel-
len ; Görres und Strauß ; die Pücelle
d’ Orleans , Zeichen , Wunder und neue
Geheimniſſe .
In den nächſten Tagen nach der Ankunft des
Fremden ging das ſchwärmende Entzücken der
Schloßbewohner über den wunderbaren Mann in
den ruhigeren , aber um ſo feſteren Glauben über ,
daß in ihm der vom Verhängniß beſtimmte Hei-
land ihrer Wünſche erſchienen ſei . Denn der alte
Baron merkte ſchon am erſten Abende , an welchem
er Münchhauſen’s Unterhaltung genoß , daß mit
den Kenntniſſen , Erfahrungen , Schickſalen , Blicken ,
Ideen und Hypotheſen ſeines Gaſtes Niemand
zwiſchen Himmel und Erde ſich zu meſſen vermöge .
Er war , ſeinen Erzählungen zu Folge , faſt in
allen bekannten und unbekannten Gegenden der
Erde geweſen , hatte ſämmtliche Künſte und Wiſ-
ſenſchaften getrieben , zu Weinsberg Blicke in das
Geiſterreich gethan , war durch alle Lagen des
Lebens abwechſelnd als Küchenjunge , Krieger ,
Staatsmann , Naturforſcher und Maſchinenbauer
gegangen . Selbſt in außermenſchliche Regionen
war ſein Lebensloos geworfen worden ; er ließ
nach den erſten Stunden der Bekanntſchaft merken ,
daß er einen Theil ſeiner Tage unter dem Vieh
zugebracht habe .
Der alte Baron hatte hauptſächlich die Abend-
ſtunden , in welchen die Geſellſchaft ſich im Wohn-
zimmer zu verſammeln pflegte , und bei dem Scheine
einer Kerze auf den hölzernen Schemeln um den
kiefernen Tiſch ſaß , ſich zu Mittheilungen erbeten .
Für die Gartenpromenaden war von ihm ein noch
ſtrengeres Silentium feſtgeſetzt worden , als früher-
hin , denn , ſagte er , man muß den Tag zum Nach-
denken frei behalten , darüber , was Münchhauſen am
Abend erzählt ; des Stoffes wird ſonſt zu viel ,
und wir werden Alle drehend , wie die Schafe ,
von der Weisheit dieſes Mannes . — Aus dem
Journalcirkel trat er nun wieder aus ; in ſeinem
Gaſte beſaß er jetzt mehr , als ihm eine Zeitſchrift
bieten konnte , der Geiſt aller Journale erſchien
in Münchhauſen verkörpert . Immer ging der
wunderbare Mann bei ſeinen Erzählungen von
etwas Bekanntem und Verbürgtem aus , erhob ſich
aber von dieſer Grundfläche zu den kühnſten und
abentheuerlichſten Schwüngen , ſo daß man wohl
ſagen konnte , er ſtelle recht eigentlich in ſeiner
Perſon den gewaltigen Fortſchritt unſerer Zeit dar .
Freilich blieb die Empfindung des Schloßherrn
nicht ganz ohne eine hin und wieder hervortre-
tende entgegengeſetzte Beimiſchung . Münchhauſen
redete auch viel von Literatur und Poeſie , und
konnte bei ſolchen Geſprächen leicht ſatiriſch wer-
den . Der alte Baron hatte aber an dieſen Gegen-
ſtänden kein Intereſſe , und haßte die Satire ;
weßhalb er denn auch derartigen Converſationen
ſich nur mit einem gewiſſen Unbehagen hingab .
Wirklich verletzt aber fühlte er ſich , wenn Münch-
hauſen , wie er nicht ſelten that , ſeine Meinung
äußerte , alle Menſchen ſeien gleich geboren , und
nur der Wahn , der aber für immer ab und todt
ſei , habe den Einen durch ſeine Geburt zu Vor-
zügen beſtimmt ausgeben können , die nicht auch
das Eigenthum aller ſeiner Mitbrüder geweſen
ſeien .
Mit dem Fräulein geſtaltete ſich das Verhält-
niß des Gaſtes bald gründlich und tief in das
zarte Verſtehen ohne Worte aus , welches unſere
ſinnigen und hochſtehenden Frauen ſo ſehr lieben .
Wenn ſie ihm zuflüſterte , ein unausſprechliches
Etwas durchwoge ſie , ſo verſicherte er , daß
er ſie vollkommen begreife ; und konnte ſie für
den Drang ihrer Empfindungen nur Vorderſätze
ohne Nachſätze finden , ſo ließ er ſie ahnen , daß
Letztere in ſeiner verſchwiegenen Seele ausgeſpro-
chen ruhten . Daneben erquickten ſie die glänzenden
Schilderungen , welche er von fremden Gegenden
gab , im Grunde ihres Herzens , und bis zur
Schwärmerei ſtieg ihre Regung , wenn er die vier-
undzwanzigſylbigen Namen , welche in Mexico ,
Peru oder Indien gebräuchlich ſind , ausſprach .
Zwar fühlte auch ſie ſich jezuweilen durch ihn
verwundet . In dem Glauben nämlich , ihr dadurch
nur noch um ſo mehr zu gefallen , ſprach er eini-
gemale ſeine Meinung aus , daß nur das Weib
ihren Empfindungen treu bleibe , bei dem Manne
aber der Spruch gelte : Aus den Augen , aus dem
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 13
Sinne ! weßhalb denn auf kein von dieſen unbe-
ſtändigen Weſen gegebnes Verſprechen jemals zu
rechnen ſei . Er konnte freilich nicht wiſſen , wie
ungeſtüm ſolche Ausſprüche ihren Erwartungen ent-
gegentraten . Sie pflegte darauf zu verſetzen : Herr
von Münchhauſen , Karls und Ihre Erſcheinung
widerlegt mir im Sinne höherer Ahnung zum Vor-
aus dieſen Satz . Wenn ſie nun das ſagte , ver-
ſtand er ſie wirklich nicht , und war auch nicht ſo
dreiſt , es ihr zu verſichern .
Indeſſen gingen dieſe einzelnen Mißſtimmungen
immer bald in dem Gefühle der Hingebung und
Begeiſterung unter , welches Vater und Tochter ihm
widmeten ; ja ſie dienten durch den Contraſt dazu ,
dieſem Gefühle nur noch größere Leidenſchaftlichkeit
zu geben . Dagegen war der Schulmeiſter dem
Freiherrn gegenüber in einer eignen Stimmung ,
die ſich nur mit den Scherzbildern vergleichen ließ ,
welche von der einen Seite angeſehen , ein lächeln-
des Geſicht , von der andern betrachtet , eine ver-
drießliche Fratze zeigen . Die Perſönlichkeit Münch-
hauſens nebſt ſeinen Reden hatte nicht verfehlen
können , auch auf den Schulmeiſter einen tiefen
Eindruck zu machen ; wir wiſſen , welche Ausſichten
für die Beſtätigung ſeiner theuerſten Ueberzeugun-
gen auch er an dieſen Mann des Schickſals knüpfte .
Nun aber konnte er ſich ſchon nicht mit der Dar-
ſtellungsweiſe Münchhauſens überall einverſtanden
erklären . Er war von ſeinem Elementarunterrichte
her an Einfachheit gewöhnt ; er hatte den Knaben
und Mädchen die Erſchaffung der Welt , den Sün-
denfall , die Opferung Iſaaks , und die Geſchichte
des keuſchen Joſeph , ohne Epiſoden einzumiſchen ,
immer ſchlicht heraberzählt . Der Freiherr aber ,
überwältigt von ſeinen Erinnerungen , überfüllt mit
Bezügen , Rückblicken und Seitenblicken , ſchachtelte
dermaßen Nebengeſchichten in ſeine Hauptgeſchichten
ein , und verſtieg ſich oft in ein ſolches Labyrinth
dabei , daß dem armen Schulmeiſter , welcher noth-
gedrungen den Theſeus in jenen Irrgängen ſpielen
mußte , der Faden der Ariadne häufig aus den
Händen ſchlüpfte . Außerdem hatte er zu bemerken ,
daß Münchhauſen , der ihn für einen untergeord-
neten Miteſſer anſah , wie er es denn in der That
auch war , ihm keinesweges mit der gefälligen Auf-
merkſamkeit begegnete , wie dem alten Baron und
dem Fräulein , ja ſich ſogar vergebens von ihm
anmahnen ließ , die Wanderung der vertriebenen
13*
Spartaner nach dem Fürſtenthume Hechelkram
urkundlich für ihn auseinander zu ſetzen .
Er war daher abwechſelnd böſe auf den Frei-
herrn , und hingeriſſen von ihm . So wahr iſt es ,
daß jeder Prophet ſchon in ſeiner erſten Gemeine
den Thomas findet , welcher ihm heute folgt , und
ihn morgen verläugnet .
An einem der Erzählabende ſagte der alte
Baron zu ſeinem Gaſte : Weiß Gott , daß ich nicht
gern an Wunder glaube , und im Grunde auch der
Meinung bin , die Natur ſei ein Haus , worin man
noch immer jeden Tag neue Zimmer und Kammern
entdeckt , aber wenn ich bedenke , wie Ihr , liebſter
Münchhauſen , uns dahergeſchleudert wurdet , juſt ,
als wir , wie ich nun von Emerentien und dem
Schulmeiſter herausgebracht habe , gleichzeitig nach
einem Manne , wie Ihr ſeid , das allerlebhafteſte
Verlangen empfanden , und auf einen Schuß
den dicken Sehnſuchtsſeufzer hervorſtießen — ſo
weiß ich wahrhaftig nicht , ob dergleichen mit rech-
ten Dingen zugehen kann .
Und was wäre denn daran ſo wunderbar , wenn
Sie , meine Freunde , mich herangeſeufzt hätten ?
rief Münchhauſen . Darüber ſind wir denn doch
nun wohl aufgeklärt , daß dem menſchlichen Geiſte ,
wenn er ſich recht in einem Punkte concentrirt ,
ein geſteigertes Vermögen beiwohnt , wie denn
z. B. Görres in einem überaus glaubwürdigen
Buche , in ſeiner chriſtlichen Myſtik , erzählt , die hei-
lige Catharina habe einmal wegen leichter Indis-
poſition nicht communiciren können , und deßhalb
während der Altarhandlung in einer entfernten
Ecke der Kirche gekniet ; das habe aber gar nichts
zu ſagen gehabt , denn die Hoſtie ſei über das
ganze Schiff der Kirche hinweg ihr in den Mund
geflogen .
Nun ſage ich immer : Was dem Einen recht
iſt , muß dem Andern billig ſeyn . Können die
Frommen ſich das Venerabile von hundert und
mehreren Schritten herbeibeten , ſo haben die Welt-
lichen , wenn ſie nur ihr Verlangen auch energiſch
auf einen Punkt richten , gewiß ebenfalls die Macht ,
dieſen Punkt , beſtehe er nun in Geld , Frauen , Ehre ,
herbeizuziehn ; und jede Parthei kriegt auf ſolche
Weiſe , was ſie wünſcht , die Frommen empfangen
das Eine , was Noth thut , die Weltlichen das
Andre , was hilft . Ich bin alſo überzeugt , daß
Ihre drei Sehnſuchten meinem Miethpferde magi-
ſche Schlingen um die Füße legten , die es in den
Dornenweg entlängſt der Gartenhecke zogen , und
daß es dann vor der myſtiſchen Gewalt Ihrer
Seufzer ſcheute , ſolchergeſtalt aber durch die nach-
folgenden Zwiſchenurſachen hindurch mich zu Ihnen
beförderte .
Ja , Münchhauſen , rief der alte Baron , Ihr
ſeid gleichſam aus der Luft wie ein Donnerkeil
unter uns geſchlagen !
Münchhauſen fuhr fort : Wie käme es denn ,
wenn eine ſolche Macht des menſchlichen Willens
nicht beſtände , daß ſo manches gute , ſchöne Mäd-
chen ſich mit den häßlichſten , einfältigſten Tropfe
vermählt ? Der Tropf hat es ſich einmal in den
Kopf geſetzt , eine ſchöne Frau zu bekommen ; er
richtet ſein ganzes Verlangen auf eine ſolche , und
ſie giebt ihm richtig ihre Hand , ohne ſelbſt zu
wiſſen , wie es zugegangen iſt . Wieder ein Andrer
hat mehr Liebhaberei an Ehrenſtellen und hohen
Poſten ; er weiß Nichts , gar Nichts , er kann
eigentlich keinem Schreiberdienſte vorſtehen , aber er
iſt ein Mann von „ Geſinnung “ d. h. nach der
Auslegung , die wir Eingeweihten unter uns dem
Worte geben ; er beſitzt die ſtärkſte Intenſivität
des Sinns , ſich und ſeinen Herrn Vettern alles
mögliche Gute und noch etwas mehr zu verſchaffen ,
überzeugt , daß , wenn es nur ihm und den Herrn
Vettern wohl gehe , es auch mit dem Glücke des
Landes wohl beſtellt ſei .
Louis quatorze ſagte : l’ Etat , c’est moi . Wir
haben nun gegenwärtig keinen Louis quatorze , aber
eine Clique haben wir , eine ſchöne , vollſtändig
organiſirte Clique , mit Ober- und Untercliquiers
von dauerhafter Geſinnung und die Clique ſagt :
l’ Etat , c’est la clique .
Mais , pour revenir à mes moutons : Ein
Geſinnungsmann ohne Kenntniſſe und Verſtand
wünſcht ſich in der Stille ſo lange mit ſolcher
Inbrunſt zum Statthalter oder Miniſter , bis er
eines Tages , alſo brevetirt , aufſteht . Die Welt
ſchreit von kleinen Intriguen , die geſpielt worden
ſeien ; ach , Poſſen ! ſie ſollte dafür ſich einen Blick
in große Naturgeheimniſſe anzueignen ſuchen . Die
myſtiſche Kraft der Sehnſucht hat gewirkt , daß dem
Geſinnungsmanne die Statthalterei in den Mund
flog , wie …
Eine gebratene Taube ! fiel der alte Baron
ein .
Die Hoſtie der heiligen Catharina , nach Gör-
res ; ſagte Münchhauſen . Ich habe mir im Her-
zogthume Dünkelblaſenheim einmal den Landesorden
erſehnt ; d. h. ich habe nicht ſehnſuchtsvoll , wiewohl
vergebens , danach geſeufzt , ſondern ihn realiter
an meinen Rock herbeigeſehnt . Der Herzog iſt
ein guter alter Mann , ſeine Bildung datirt noch
von Gellerts Fabeln , darüber iſt er nicht hinaus-
gekommen , und in heiterer Rückerinnerung an dieſes
kindliche Lehrmittel hat er den Orden vom grünen
Eſel geſtiftet , mit Comthuren , Großkreuzen und
Kleinkreuzen . Der Eſel frißt in einer Umkrän-
zung von Sternen Diſteln , und die Ordensdeviſe
lautet : l’ appetit vient en mangeant . Nun , nach
dieſem grünen Eſelorden verlangte ich heftig , denn
man war in Dünkelblaſenheim kaum noch bei’m
Wege angeſehen , wenn man nicht zu den Eſeln
gehörte ; ſo wurden die Ritter nach einer abkür-
zenden Redefigur benannt . Eines Morgens kommt
mein damaliger Stiefelputzer Kalinsky vor mein
Bette , hält mir den Frack , der in der Stube
gehangen hatte , ausgeſpreitet unter die Augen und
ruft : Herr von Münchhauſen , Sie ſind über
Nacht auch ein Eſel geworden . Ich ſehe hin und
erſtaune denn doch ein wenig , denn richtig ſitzt im
dritten Knopfloch das changeante Band , und daran
hängt das Kreuz mit dem Diſtelfreunde und der
Deviſe . Ich ſpringe aus dem Bette , erkundige
mich im Hauſe , ob Jemand ſich habe einſchleichen
und den Spaß verüben können ? Aber die Thüre
war die ganze Nacht über feſt verſchloſſen geweſen ,
Kalinsky war der Erſte , der von außen kam .
Der Orden iſt da , wo aber ſtecken deine Ver-
dienſte ? frage ich mich ſelbſt . Haſt du irgend
Verdienſte um Dünkelblaſenheim ? Ich prüfte auf
das Ernſteſte mein Gewiſſen ; ich löſ’ te die letzt-
gedachte Hauptfrage in ſechs Unterfragen auf :
Aber auf alle Fragen und Unterfragen mußte
ich mir mit Nein ! antworten . Ich hatte kein
Verdienſt , gar kein Verdienſt , nicht das geringſte
Verdienſt um jenen Staat . Um andere Staaten
habe ich mir Verdienſte erworben , aber nicht um
Dünkelblaſenheim . Ich lüge Ihnen nichts vor , mein
Wahlſpruch iſt : la verité , toute la verité , rien
que la verité .
Und der Orden war doch da . Alſo abermals
eine Erfahrung von der myſtiſchen Kraft der reinen
Sehnſucht . Das Wunderbare bei der Sache , und
was ich mir noch nicht habe erklären können , war ,
daß nicht allein das Kreuz von meinem Wunſche
herbeigezogen worden war , ſondern daß es auch
ſeinerſeits auf das changeante Band eingewirkt
hatte , ſo daß dieſes ſich von ſelbſt in das Knopf-
loch knüpfte . Ich verſuchte , den Knoten zu löſen ,
aber er war ſo feſt geſchlungen , daß mir dieſes
nur mit der größten Mühe gelang . Auch nachher
blieb das Band untrennbar haften , wie Johanna
Rodriguez nach Görres chriſtlicher Myſtik , Band 2
pagina 569 feſt am Kreuze haften blieb , auf wel-
ches ſie ſich locker gelegt hatte .
O wäre ich Johanna Rodriguez ! flötete das
Fräulein .
Dummes Zeug ! brummte der Schulmeiſter .
In dieſem Buche von Görres müſſen ja erſtaun-
liche Dinge ſtehen , ſagte der alte Baron .
O , rief Münchhauſen , ganz andere Dinge ſtehen
noch darin ! Dem heiligen Filippo Neri ſchwoll ,
nach Görres , das Herz vom Beten ſo an , daß es
ihm zwei falſche Rippen zerbrach , nämlich die
vierte und fünfte ; der heilige Petrus von Alcan-
tara brannte ſo in Liebesflammen , daß der Schnee
um ihn ſchmolz , und daß er einmal bei Winters-
zeit , um ſich abzulöſchen , in einen gefrornen Teich
ſpringen mußte , worauf das Eis um ihn ziſchte
und kochte , wie in einem Gefäße über großem
Feuer …
Hört auf , hört auf ! rief der alte Baron .
Mir ſchwindelt .
Feurig fuhr Münchhauſen fort : Görres ſagt
auch : Die Heiligen röchen ſehr ſchön , beſonders
wenn ſie den Ausſatz hätten . Was aber das Lieb-
lichſte iſt : Sie geben Oel von ſich . Die heilige
Lutgardis drückte ſich das Oel aus den Fingern ,
Chriſtina mirabilis hatte es in den Brüſten , und
von der Aebtiſſin Agnes von Monte Pulciano
füllten die Kloſterſchweſtern ganze Krüge ab . Gör-
res hat auch dieſen Oelbildungsproceß ſehr richtig
an den Körper vertheilt , wie er denn überhaupt
Nichts ſo roh und unzugerichtet hinſchreibt , ſondern
alle die Sachen , welche ſich an den Heiligen ereig-
nen , aus der höheren Phyſiologie ableitet . In den
unteren , beſchatteten Regionen des Leibes bilde ſich
das milde oder fette Oel , ſagt Görres …
Verſtehe , verſtehe , eine Art von Baumöl ,
Salatöl , rief der alte Baron dazwiſchen und
ſchwenkte ſeine Mütze ; wo aber rechte Heiligkeit
herrſcht , grünliches Provenceroel …
O gäbe ich auch Oel von mir ! ſchmachtete das
Fräulein .
… Oben jedoch , in den höheren Regionen , alſo
etwa vom Zwerchfelle aufwärts , komme es mehr
zur Production eines flüchtigen Oels , Aroma’s ,
ſagt Görres . Zuweilen nun , wenn gerade in der
Luft eine beſondere Beſchaffenheit obwaltet , ſchlägt
ſich dieſes Aroma als Manna in Form eines
Kreuzes nieder , was dann die Gläubigen vom Hei-
ligen abkratzen und aufeſſen . So hat es ſich
nach Görres bei der ſchon erwähnten Aebtiſſin
Agnes von Monte Pulciano zugetragen .
Münchhauſen ! Münchhauſen ! rief der alte Baron ,
blies die Backen auf , und ſtieß einen Strom Luft
aus denſelben hervor , wie er zu thun pflegte , wenn
ihm ein Gedanke zu mächtig wurde — wir leben
in einer großen Zeit . Ueberall , durch das ganze
Reich des Wiſſens hin , ſtiftet ſich Licht und
Zuſammenhang . Was dem Filippo Neri mit
ſeinem Herzen begegnete , iſt ja in einem höheren
Gebiete nur daſſelbe , was ſich tagtäglich in einer
niederen , animaliſchen Sphäre ereignet .
Wenn doch die Zeiten der Görres’ſchen Wun-
der ganz wiederkehrten , ſo könnte man ja faſt
alle Haushaltungsbedürfniſſe mit einem ſeiner Hei-
ligen beſtreiten , und erſparte hundert Auslagen ,
die das Leben jetzt ſo ſehr vertheuern ! Ein Gör-
res’ſcher Heiliger heizte uns das Zimmer durch ,
gäbe Oel , unten fettes , oben flüchtiges , ein Paar-
mal im Jahre auch eine Schüſſel Manna …
Guter , ſchuldloſer Vater ! ſagte Emerentia und
blickte ihren Vater mitleidig an . — Ob es je
dahin wieder kommen wird , weiß ich nicht , ſagte
Münchhauſen , aber mit dem Görres’ſchen Buche
habe ich ſelbſt mein dreifarbiges Wunder erlebt .
Der Schulmeiſter war hinausgegangen . Ihm
machten dieſe Erzählungen große Beſchwerlichkeit ,
denn er war entſchiedner Rationaliſt . Der Baron
und ſeine Tochter forderten den Freiherrn dringend
auf , das dreifarbige Wunder zu berichten , und
Münchhauſen hob wieder an :
Geſchätzte Freunde und Zuhörer , wiſſen Sie
hiemit , daß ich das vielbelobte chriſtlich-myſtiſche
Buch auf meinem Bücherbrette neben dem Leben
Jeſu von Strauß ſtehen hatte . Doctis pauca
sufficiunt ; Gelehrten iſt gut predigen , ich brauche
Ihnen , mein würdiger Altvater und Schloßherr ,
nicht des Breiteren den Inhalt der letzteren Schrift
auseinander zu ſetzen , denn es iſt Ihnen aus
Ihrer Journallectüre bekannt , daß , wie der chriſt-
liche Myſtiker noch bis auf die neueſte Zeit die
Nägelmaale ſich hat reproduciren laſſen , der Andere
dagegen dem Heilande nicht einmal ſein Daſeyn
in den Evangelien gönnt , ſondern behauptet , die
apoſtoliſche Kirche ſei eine Art von Actiengeſell-
ſchaft geweſen , die ſich den Erlöſer auf gemein-
ſchaftliche Koſten angeſchafft habe , weil ſie ihn
bedurft . — Es war unvorſichtig von mir , daß ich
zwei ſo widerhaarige Bücher zuſammengeſtellt hatte ;
ich mußte vorausſehen , daß ſie ſich nicht vertragen
würden . Und ſo kam es auch . Eines Nachts
wache ich von einem ſonderbaren Geräuſch auf ,
welches aus meiner Bibliothek tönt . Ich nehme
die Kerze , leuchte hin , und habe einen ſeltſamen
Anblick . Strauß und Görres ſind in wüthendem
Kampfe begriffen , nämlich ſo , daß die beiden ein-
ander zugekehrten Buchdeckel auf einander zu ſchlagen ,
wie die Flügel erboſter Truthähne . Der Kirchen-
rath Paulus , Stäudel , Marheineke , ſelbſt Tholuck ,
die rechts und links von dieſen beiden Werken
geſtanden hatten , waren ſcheu zur Seite gewichen ,
ſo daß die Gegner vollen Raum zur Entfaltung
ihrer Polemik in den Buchdeckeln gefunden hatten .
Dabei gaben ſie ſonderbare Töne zu vernehmen .
Im Leben Jeſu ließ ſich ein feines , nagendes Knis-
pern , wie von freſſenden Mäuſen hören , dagegen
grunzte und grölzte die dicke Myſtik in einer Art
von Strohbaß . Ich nahm meinen armen Görres ,
der auch ſchon ganz warm geworden war , wenn
gleich nicht glühend , wie der heilige Petrus von
Alcantara , vom Brette , ſtreichelte ihn , redete ihm
mit guten Worten zu , und brachte es denn endlich
auch dahin , daß ſich das Buch von ſeiner entſetz-
lichen inneren Aufregung beruhigte ; während das
Leben Jeſu noch immer mit dem einen Deckel in
die leere Luft hineinfocht , gegen einen Wunderglau-
ben , der ihm gar nicht mehr gegenüber ſtand .
Wie ich nun aber den Einband von Görres unter-
ſuchte , um zu ſehen , ob er in dieſem Strauße mit
Strauß nicht Schaden gelitten habe , da erſchien mir
das dreifarbige Wunder . Ich hatte nämlich den Gör-
res in Purpur binden laſſen , und , was ſagen Sie dazu ,
meine Freunde ? der Autor hatte vor Alteration
zwiſchen dem Purpur blaue und weiße Streifen
bekommen . In der That , meine Wertheſten , die
chriſtliche Myſtik hatte das alte , wohlbekannte , revo-
lutionaire Coblenzer Blau , Roth und Weiß von
Anno 1793 angelegt . Ein Farbenkundiger ſagte
mir nachmals , dieſe Tricolore ſei die eigentliche
Grundfarbe des Autors und trete bei jeder Erregung ,
auch bei der myſtiſchen , aus allen anderen Ueber-
pinſelungen immer wieder ſiegreich an ihm hervor .
Nun , dem ſei , wie ihm wolle . Ich ſtellte
meinen Gorres auf ein andres Brett , hatte ihm
jedoch in der Nachtmüdigkeit abermals einen unſchick-
lichen Platz gegeben , wie ich am folgenden Mor-
gen ſah . Nämlich , neben Voltaires Pucelle hatte
ich ihn geſtellt . Aber dieſem verſchollnen Spotte
gegenüber hat ſich die chriſtliche Myſtik ſehr mäch-
tig und überwältigend erwieſen . Denken Sie ſich ,
die Pucelle war in der Nacht von dem frommen
Buche bekehrt worden , wahrſcheinlich durch die ſich
in demſelben entwickelnde fette und aromatiſche
Oelbildung . Sie mögen es glauben , oder nicht ,
es liegt mir nichts daran , aber es iſt wahr . Das
frivole Gedicht war in ſich geſchlagen , der Text
verſchwunden , und ich hielt , als ich einen Blick
hineinthat , ein in Halbfranz gebundnes Buch voll
unſchuldigweißer Papierblätter in Händen , ſtatt der
gottesläſterlichen Späße von Charles ſept , Agnes
Sorel , Dünois , Jeanne und ihrem Eſel . Ja ,
was noch mehr ſagen will , das Papier ſchämt ſich
ſeiner früheren Sünden , es liegt ein leiſer rother
Schimmer darüber , dem Satze zum Trotz : litterae
non erubescunt . Ich will es doch gleich herbei-
holen , Sie durch den Augenſchein zu überzeugen .
Münchhauſen lief raſch , wie eine Bachſtelze
hinaus . Der alte Baron ging , mit den Händen
in der Luft fechtend , ſeine Mütze in die Höhe
werfend , und ſie , wie einen Ball wieder auffan-
gend , im Zimmer auf und nieder und rief : Ein
Teufelskerl , der Münchhauſen ! Man muß ihm
nach , man mag wollen oder nicht ! Im Anfang
ſtemme ich mich jederzeit gegen ſeine Geſchichten ,
aber ehe ich mich deſſen verſehe , haben ſie mir
die Schlinge über den Kopf geworfen und nehmen
mich mit fort . Was ſagſt du dazu , Renzel ?
Emerentia verſetzte : Ich hoffe , die beſondere
Luftbeſchaffenheit auch noch zu erleben , und aus
meinem Aroma Manna zu erzeugen .
Eine Närrin biſt du , polterte der alte Schloß-
herr , die immer nur an ſich denkt , und nie ihren
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 14
Geſichtskreis erweitern mag ! Wenn ich nun eben
ſo wäre , und nichts von heute Abend mir zur
Ausbeute gewänne , als den ſelbſtſüchtigen Wunſch ,
mir den grünen Eſel in das Knopfloch zu ſehnen ?
Denkſt du , daß dein alter Vater nicht auch noch
gern in ſeinen letzten Tagen einen Orden trüge ,
ohne irgend eins der ſechs Verdienſte um Dün-
kelblaſenheim ? Aber ich bin nicht ſo enggeſinnt ;
mir liegt meine Ausbildung am Herzen , und noch
heute Abend frage ich Münchhauſen über ſeine
zweifarbigen Augen und ſein Ergrünen aus , denn
wir ſtecken einmal mitten in den ſonderbaren und
außerordentlichen Dingen , zudem ſtört uns auch
der Schulmeiſter nicht mit ſeiner einfältigen höh-
niſchen Miene .
Zehntes Capitel .
Das kürzeſte Capitel dieſes Buches nebſt
einer Anmerkung des Herausgebers .
Die letzteren Reden zu verſtehen , muß geſagt
werden , bevor Münchhauſen wieder das Zimmer
betritt , daß unter den vielen wunderwürdigen Din-
gen , die den Schloßbewohnern an dem Gaſte auf-
fielen , zwei im vorzüglichſten Grade ihr Erſtaunen
erregten . Er hatte nämlich ein blaues und ein
braunes Auge , welcher Umſtand ſeinem Antlitze
einen ungemein charakteriſchen Ausdruck gab , um
ſo charakteriſtiſcher , als , wenn ſeine Seele voll
gemiſchter Empfindungen war , die verſchiedenen Ele-
mente ſolcher Stimmungen geſondert in den beiden
Augen hervortraten . Fühlte er z. B. eine freudige
Wehmuth , ſo leuchtete die Freude aus dem braunen
Auge , die Wehmuth dahingegen zitterte im blauen .
14*
Denn dieſem blieben die zarten , dem braunen die
ſtarken Gefühle zugewieſen .
Sein Geſicht war , wie ich es ſchon beſchrieben
habe , nämlich bleich , mit einem gelblichen Anfluge ,
etwa von der Farbe des Pentheliſchen Marmors ,
oder eines in Wachs geſottnen Meerſchaumpfeifen-
kopfes , der ſeinen Raucher noch nicht gefunden
hat . Stiegen in ihm Affecte auf , welche bei uns
Andern ein Erröthen hervorzubringen pflegen , ſo
lief über ſeine Geſichtsfläche ein grüner Farbenton .
Daher hatte der alte Baron auch ſehr richtig den
Ausdruck : Ergrünen , gebraucht , und wir werden
uns deſſelben ebenfalls bedienen müſſen , wenn
Münchhauſen im Verlaufe dieſer Geſchichten in
Affect gerathen und die Farben wechſeln ſollte .
Anfangs hatten die Schloßbewohner dieſe Phä-
nomene mit einem geheimen Schrecken betrachtet .
Bald indeſſen tilgten die großen Eigenſchaften des
Mannes und ſeine hinreißenden Darſtellungen den
Schrecken , und es blieb nur eine ſtarke Neugier
nach , was es mit jenem Farbenſpiele für eine
Bewandniß haben möge ? Dieſe Neugier war
begreiflicherweiſe in dem alten Baron am ſtärk-
ſten .
Aber ſie ſollte auch an dieſem Abende noch
nicht geſtillt werden . Denn nachdem er mit ſeiner
Tochter eine geraume Zeit auf die Rückkunft Münch-
hauſens gewartet hatte , trat ſtatt ſeiner der
Bediente Karl Buttervogel in das Zimmer und
ſagte : Mein Herr läßt ſich entſchuldigen ; er kann
das Buch nicht finden . Auch muß er — ſetzte
der Menſch geheimnißvoll und halbleiſe hinzu —
ſeine chemiſchen Mittel brauchen .
Mittel ? Chemiſche Mittel ? fragte der alte
Baron beſorgt . Iſt ſein Herr krank geworden ?
Das nicht , verſetzte Karl Buttervogel , aber
der Lebenspurzeß kam in Abnahme und die Gaſſen
müſſen angewendet werden .
Er will wohl ſagen : Lebensproceß , und : Gaſe ?
ſprach der alte Baron nach einigem Beſinnen .
Aber was ſoll denn das bedeuten ?
Ich weiß nicht , erwiederte der Bediente mit
einer wichtigen Miene . Es iſt noch nicht aller
Tage Abend und mit meinem Herrn ſteht es ſo ſo .
Ein geſcheidter Herr , ein gelahrter Herr , aber ,
aber , ich lobe mir Vater und Mutter !
Der Schloßherr drang vergebens in den Men-
ſchen , ſich näher zu erklären . Das neue Geheimniß
hatte indeſſen nicht Zeit , in den Seelen der
Schloßbewohner Wurzeln zu ſchlagen , denn Münch-
hauſens Reden waren gerade in den Tagen , welche
dieſem Abende folgten , beſonders gehaltreich , ſo
daß der alte Baron ſelbſt die Frage nach den
Urſachen des Farbenſpiels im Antlitze ſeines Gaſtes
eine Zeitlang vergaß .
Wir werden im Folgenden einige dieſer Reden
und Erzählungen zur Kunde der Leſewelt bringen .
Anmerkung .
Hier ſchließen ſich die Capitel Eilf bis Fünf-
zehn an , welche der wohlwollende Buchbinder der
Spannung halber vorgeheftet hat . Ich habe über
die Rathſchläge nachgedacht , welche mir von dieſem
Manne heimlicher Weiſe ertheilt worden ſind ,
werde ſie befolgen , und kann dem günſtigen Leſer
in den folgenden Büchern die allerherrlichſten und
koſtbarſten Dinge verſprechen . Der Münchhauſen
wird ein Buch , bei dem man nicht begreift , wie
Gott der Herr , ohne es geleſen zu haben , mit
der Schöpfung fertig geworden iſt .
Die deutſche Litteratur hebt erſt von meinem
Münchhauſen an . Der günſtige Leſer glaube die-
ſen Verheißungen ! Ich hätte mir zu denſelben
wohl eigentlich einen von den jungen Leuten in
Hamburg , Berlin oder Leipzig miethen müſſen , aber
ich dachte zuletzt , eigne oder fremde Fabrik gelte
gegenwärtig in dieſem Artikel gleich viel , und
darum erſparte ich mir den Heuerlohn und die
Complimente .
Sechszehntes Capitel .
Warum der Freiherr von Münchhauſen
grün anlief , wenn er ſich ſchämte oder in
Zorn gerieth .
Nach ſo manchen intereſſanten Abenden fiel
dem alten Baron wieder ſeine Frage ein , welche
er vorlängſt hatte thun wollen . Es war eine
ſchöne Stunde des Vertrauens ; Münchhauſen hatte
ſeit mehreren Tagen nur Dinge vorgetragen , die
den Schloßherrn und ſeine Tochter auf das Ange-
nehmſte berühren mußten ; ſelbſt der Schulmeiſter
ſchien von ſeiner Verſtimmung wieder etwas zurück-
gekommen zu ſeyn .
Der Wirth rückte daher dem Gaſte , nachdem
das ſpärliche Abendeſſen , beſtehend aus Salat und
Eiern , verzehrt worden war , freundlich näher , und
ſagte : Ihr wärt recht gefällig , lieber Münch-
hauſen , wenn Ihr uns heute eine ſtichhaltende
Hypotheſe über Eure zweifarbigen Augen und Euer
Ergrünen zum Beſten gäbet . Unmöglich können
Euch dieſe Naturwunder entgangen ſeyn ; nun ſeid
Ihr aber ein Mann , der über Alles nachdenkt , alſo
habt Ihr gewiß auch darüber eine Hypotheſe fertig .
Keine Hypotheſe habe ich darüber fertig , ſondern
ich weiß , wie es damit ſicherlich zuſammenhängt ,
verſetzte Münchhauſen und zog die Augenbraunen
in die Höhe , daß das blaue und das braune Auge
noch gewaltiger hervortrat , als gewöhnlich . —
Was die Zwiefarbigkeit meiner Sehorgane betrifft ,
ſo leiten ſich dieſe aus Geheimniſſen meiner Erzeu-
gung ab — werden Sie nicht roth , meine Gnädige ,
ich berühre dieſen Punkt nicht weiter — die leider
über ganze Regionen meines Daſeyns einen ſchwar-
zen Schatten werfen . Wie oft habe ich den Tage-
löhner beneidet , der im ſauren Schweiße ſeines
Antlitzes , bei dem harten Stücke Schwarzbrod ,
welches ſeine Kinnladen zermalmen , doch den ſüßen
Troſt nimmer entbehrt : Du biſt , wie jeder andre
Menſch entſtanden , und fähreſt dahin , wo deine
Väter ruhn . Aber ich … oh ! — — Doch den
Schleier über dieſe Abgründe ! Sie ſind tief und
ſchrecklich , armer Münchhauſen !
Meine Freunde , ich kann Ihnen über mein
blaues und braunes Auge nur Folgendes ſagen :
Die Säfte , oder Subſtanzen , oder Materien , oder
Species — — Himmel , wie ſoll ich es anfangen ,
Ihnen die Sache deutlich zu machen , ohne meinen
ſogenannten Vater bloßzuſtellen ? — —
Oder die Ingredienzien , oder die Simpla — —
Meine Theuren , kennen Sie Miſchungen ?
Lieber Meiſter , mühen Sie ſich nicht ferner ab ,
ſagte das Fräulein weich und herzlich ; ich verſtehe
Sie ganz .
O Gott , welches Glück , einander immer ohne
Wort zu verſtehen ! rief Münchhauſen und küßte
dem Fräulein , wie gewöhnlich , die Hand . Ich
brauche alſo von dieſem Gegenſtande nicht weiter
zu reden , und wende mich gleich zu der Erklärung
des Grünwerdens , um —
Ja , dabei verlieren wir aber ! riefen der alte
Baron und der Schulmeiſter wie aus einem Mun-
de ; denn wir haben Sie durchaus nicht verſtanden .
Münchhauſen räusperte ſich , antwortete und ſprach :
Römiſche I. 0,208 Glycerin + 0,558 Waſſer +
1,010 Kohlenſäure bei 110 ° getrock-
net = Blau .
Römiſche II. 0,035 kohlenſaures Natron + 0,312
Chlorwaſſerſtoffſäure + 0,695 Gly-
cerin bei 108 ° getrocknet = Blau ,
zum Nachdunkeln geneigt .
Verſtanden ?
Ja , das läßt ſich eher hören ! riefen der Baron
und der Schulmeiſter . Dabei kann man doch etwas
denken .
Nun alſo genug von dem blauen und braunen
Auge , ſagte Münchhauſen . Was mein Grünwerden
betrifft , wenn andere Leute erröthen , ſo habe ich
das von einem furchtbartragiſchen Schickſale in der
Liebe wegbekommen . Wenn es Sie nicht ermüdet ,
ſo will ich Ihnen einen kurzen Abriß meiner Lie-
besſchickſale liefern .
Münchhauſen , Sie in der Liebe , es muß etwas
Großes geweſen ſeyn ! rief das Fräulein mit leuch-
tenden Augen .
Ja , mein Fräulein , es war ein außerordent-
liches Schauſpiel , erwiederte Münchhauſen . Und
beſonders deßhalb war es außerordentlich , weil ich
die Liebe nicht ſo auf das Gerathewohl , wie andere
junge Leute , ſondern nach einem gewiſſen Plane
trieb . Ich bin , ſo lange ich denken kann , immer
klares Bewußtſeyn geweſen ; alle Seelenkräfte lagen
geſondert in mir , wie die Species in den Büchſen
einer Apotheke , ich habe Tage erlebt , an welchen
ich zugleich mit dem Verſtande Schlußfolgerungen
machte , mir von der Phantaſie goldene Luftſchlöſſer
vormalen ließ , und in unbeſtimmten Gefühlen
ſchwelgte . So gelang es mir denn auch , den
mächtigſten Affect , der den Menſchen ſonſt überfällt ,
wie ein Feuer bei Nacht , aus ſeinen Beſtandtheilen
in mir aufzuerbauen , und mich auf die eigentliche
Hauptleidenſchaft meines Lebens förmlich vorzu-
bereiten . Ich war in die Entwickelungsjahre ge-
treten , und hatte mir klar gemacht , daß die Liebe
aus Sinnlichkeit , Geiſt , Empfindung und Phantaſie ,
Selbſtſucht und Hingebung beſtehe . Alſo ſechs
Elemente , die ich nach und nach in mir durchzu-
arbeiten verſuchen mußte .
Ich hielt mich damals , in dieſem Theile meiner
wunderlich umhergeworfenen Jugend im Pallaſte
eines fränkiſchen Prälaten auf , der bei der gewalt-
ſamen Umkehrung der dortigen Verhältniſſe die
Prälatur verloren , die Einkünfte derſelben jedoch
zum größeren Theile behalten hatte , und daher
noch immer ſeine Tage in Wohlleben hinbringen
konnte . Hauptſächlich hielt der alte Herr auf eine
leckere Tafel , und dieſen Genuß ihm vorbereiten zu
helfen war auch ich beſtimmt . Ich entzündete das
Feuer des Heerdes , ich nahm die herkömmlichen
Abwaſchungen der dem Dienſte geweihten Gefäße
vor , ich ſetzte die Maſchine in Gang , mit welcher
der Spieß zuſammenhing , des Bratens Halter ;
kurz , denn wozu Umſchreibungen ? ich war Küchen-
junge bei dem Prälaten , aber ich war ein denken-
der Küchenjunge .
Der Prälat ging von dem Grundſatze aus , daß
eine jede Köchin nur die ſechs erſten Monate ihres
Dienſtes hindurch gut koche , nachher aber ſich zu
vernachläſſigen pflege . Er ſchaffte daher auch alle
Semeſter eine neue Kochmagd an , und ich erkannte
bald , daß , wenn ich bei ihm nur drei Jahre lang
aushielte , ich alle ſechs Elementarſtudien der Liebe
mit den Köchinnen der ſechs Semeſter werde
durchmachen können . Denn es war in dieſer
Küche hergebracht , daß die Köchin den Küchenjun-
gen lieben mußte . Die Sache hatte alſo keine
Schwierigkeit .
Das erſte Vorſtudium mußte , wie ſich von ſelbſt
verſteht , die Sinnlichkeit ſeyn .
Das Fräulein wollte ſich erheben . Münchhau-
ſen hielt ſie zurück und ſagte : Fürchten Sie auch
jetzt nichts , meine Verehrte , von der Sinnlichkeit ,
ich habe von dieſem Zeitabſchnitte nur zu berichten ,
was ſelbſt in einer Mädchenpenſion mit angehört
werden könnte . Es diente damals in der Küche
die alte Wally ; wie man ſagte , eine natürliche
Tochter von Lucinde Schlegel . Sie hieß bei dem
Geſinde die Zweiflerin , weil ſie in ihrer Häßlich-
keit und Welkheit daran verzweifelte , noch einen
Mann zu bekommen .
Wenn man ſie reden hörte , ſo hätte man frei-
lich glauben ſollen , daß ſie ein ziemlich freies Leben
geführt habe , denn ihre Aeußerungen klangen frech
und unanſtändig genug . Aber der Kutſcher , der
auf ſeine Weiſe ein Spötter war , behauptete , er
habe ſie von jeher gekannt ; ſie ſei alle ihre Lebtage
über eine garſtige Perſon geweſen und ſchon deßhalb
von Sünde frei geblieben . Ihre Zoten ſeien nur
wie die Krankheit der Hühner , wenn ſie anfangen ,
zu krähen , ohne gleichwohl durch ſolche Stimmübun-
gen jemals die rechte Hahnenhaftigkeitzu erringen .
Wir hatten bloß ein Titularverhältniß der Küchen-
ordnung gemäß zuſammen ; ich glaube , daß wir uns
kaum einmal die Hand gegeben haben . Dennoch
lernte ich von ihr , was Sinnlichkeit ſei , nämlich
der gerade Gegenſatz von Allem , was die alte
Zweiflerin von ſich ſehen und hören ließ . Nachher
hat ſie freilich in der Welt ausgebreitet , wir wären
ſehr zärtlich geweſen ; ich hätte , da mein Taufname
zu proſaiſch geklungen , ihr Cäſar geheißen , und
was dergleichen Schnurren noch mehr ſind , woran
kein wahres Wort iſt .
Die Sinnlichkeit hatte ich alſo nun theoretiſch
kennen gelernt , die Wally kam fort , und Seraphine
wurde Köchin . Sie ſchimpfte gewaltig auf ihre
Vorgängerin und ſagte , in ihr erſcheine das wahre
ächte weibliche Weſen , wovon Wally nur ein Zerr-
bild geweſen ſei . Sie trug einen graugelben Um-
ſchlagetuch und befand ſich leider auch im ehernen
Zeitalter , obgleich ſie aus Jung-Deutſchland ſtammte .
Es war ein ſonderbares ächt weibliches Weſen ,
dieſer Seraph Seraphine ! Ich ſchlug aber mit ihr ,
oder mit einer Klappe zwei Fliegen , kriegte näm-
lich bei ihr zugleich den Geiſt und die Empfindung
in der Liebe weg , hatte ſonach großen Profit von
ihr , denn ich ſparte durch ſie ein Semeſter . Unſer
Bündniß kam folgendermaßen zu Stande . Ich
ſpickte juſt einen Haſen auf der einen Seite , und
ſie that es auf der andern Seite . Da ſah ſie ver-
ſchämt auf , warf mir einen ſeelenvollen Blick zu ,
daß ſich mir das Herz im Leibe umdrehte , und
fragte : Will Er mich , mit Erlaubniß zu ſagen ,
lieben , Musje ? Ich verſetzte : Ja , wenn Sie ſo
befehlen , Jungfer Seraphine . Darauf gaben wir
uns über dem Haſen einen Schmatz und ſpickten
den Haſen , trunken von Entzücken , fertig . Wie
ich ſie beſchrieben , ſo war die Form der Bund-
ſchließung in der Prälatenküche . Die Köchin mußte
obſervanzmäßig anfangen , der Küchenjunge durfte
es beileibe nicht , er hätte , wenn er ſich unterſtan-
den , zuerſt den Liebesantrag zu machen , von der
Geliebten die ſchönſten Ohrfeigen gekriegt .
Die Seraphine war auf zwei Tage mit ihren
Gaben eingerichtet . Den einen Tag war ſie näm-
lich voll Geiſt , und den Andern voll Empfindung
und ſo immer regelmäßig einen um den andern
Tag abwechſelnd . Ich bekam alſo von ihr den
Geiſt und die Empfindung in der Liebe . Damit
war es aber folgendermaßen beſtellt . Sie liebte
eine Herzſtärkung in der Stille zu nehmen , konnte
jedoch nicht viel vertragen und wurde leicht duſelig .
In dieſem Zuſtande hatte ſie Geiſt , das heißt , ſie
ſprach Zeug , was kein Menſch verſtand . Den andern
Tag hatte ſie den Katzenjammer , da war ſie voll
Empfindung . Ich machte ihr nun alles Dieſes
nach , um das Verhältniß im Schwunge zu erhal-
ten . Aber unglücklicherweiſe war es gleich in der
Anlage verſehen worden . Ich hatte nämlich an
dem Tage , wo ſie den Katzenjammer ausſtand , der
Flaſche zugeſprochen und war geiſtvoll geworden .
Den folgenden Tag , wo ſie wieder Geiſt bekam ,
befand ich mich im Katzenjammer und in der
Empfindung , und ſo ging nun das Verfehlen immer
fort , wir paßten nie auf einander , mein Katzen-
jammer traf auf ihren Geiſt , und mein Geiſt
auf ihre Empfindung . Daraus entſtanden natür-
lich heftige Zänkereien , unter denen die Küchenan-
gelegenheiten litten , ſo daß auch der Prälat ſich
genöthigt ſah , ſie noch vor Ablauf ihres Semeſters
fortzuſchicken . Es war ein Glück . Ich bin nie
der Stärkſte geweſen , und kann wohl ſagen , daß
ich auf dieſer Liebesſtation jämmerlich herunterge-
kommen war .
Die folgende Köchin hieß das Kind , weil ſie
ſich ſelbſt ſo nannte . Warum ? weiß ich nicht ,
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 15
denn ich glaube ſchwerlich , daß ſie zu denen gehörte ,
von denen geſagt worden iſt : So Ihr nicht werdet ,
wie dieſe u. ſ. w. Die konnte Einem was zu
rathen aufgeben . Zuweilen war ſie Stundenlang
verſchwunden , und wenn wir ſie ſuchen gingen , fan-
den wir ſie auf dem Dache ſitzen , oder ſie kam
auch wohl ſchäkernd auf einem Beſen den Rauch-
fang herabgefahren . Es kann kein Menſchenwitz
erfinden , was für Zeug das Kind zuſammen zu
flunkern verſtand . Ihr Hauptkunſtſtück aber war —
Ach , gnädiges Fräulein , wenn ich nicht irre , wur-
den Sie draußen gerufen .
Das Fräulein verſtand dieſen zarten Wink und
ging hinaus , mit dem dankbarſten Blicke auf Münch-
hauſen . Er fuhr fort : Das Kind konnte nämlich
Rad ſchlagen , oder Purzelbäume ſchießen , ohne die
Schamhaftigkeit zu verletzen . Wie ſie es möglich
gemacht , weiß ich nicht , aber die Sache iſt richtig ;
ſie kehrte ihr Unterſtes zu oberſt , und alle Ken-
ner und Stimmführer , die zuſahen , verſicherten
einſtimmig , ſie habe die weibliche Schamhaftigkeit
dadurch nicht verletzt , vielmehr ſeien ihre Purzel-
bäume eine wahre Bereicherung der höheren Ge-
müthswelt .
Bei ihr ſtudirte ich die Phantaſie der Liebe .
Unſre Liebe war nämlich pure , klare Phantaſie , wir
konnten einander leiden , wie Hund und Katze ;
aber die hochtrabendſten Sachen ſchrieb ſie darü-
ber , wahre Hymnen ; und hinterher wußte ſie mir
doch immer ſo einen recht tüchtigen Kniff abzuge-
ben , daß ich hätte aufſchreien mögen . Die gemeine
Sage bleibt wahr , die von den * s , wozu ſie
gehörte , behauptet , dieſe fingen in der Schalkheit
da an , wo andere Schälke aufhörten . Es iſt ein
Buch über das Kind verfaßt worden , worin es
das perſonificirte Mittelalter genannt wird . Nun ,
es hatte denn freilich auch ſchon ein mittleres
Alter erreicht , und die Schönheit drückte es eben-
falls nicht ſonderlich mehr , als es ſich auf kindi-
ſche Weiſe der Phantaſie in der Liebe ergab . Ich
war recht vergnügt , als ich des Kindes quitt war ,
denn Sie glauben nicht , wie ſehr ſolche Einzelſtu-
dien der Liebe angreifen .
Die folgenden beiden Köchinnen , Jule und
Jette , waren die Beſten von Allen , ſie waren
reine Köchinnen , ohne Geiſt , Empfindung , Phantaſie .
Bei dieſen lernte ich die Selbſtſucht und die Hin-
gebung der Liebe . Nämlich Julen , die den Herrn
15*
betrog , wo ſie konnte , übrigens aber das rechtſchaf-
fenſte , gutherzigſte Ding von der Welt war , nahm
ich alle ihre Schwänzelpfennige , die ſie ſich bei
den Markteinkäufen machte , ab . Sie ſchnellte bloß
für mich ; wahrhaftig , ſo that ſie . Ich aber brauchte
Geld , ich wollte mir gern einen neuen Rock kau-
fen und Rumohrs Geiſt der Kochkunſt , um mich
in meinem Fache auszubilden . Ich ſagte immer
zu ihr : Gebe Sie nur her , Geliebte ; Geben iſt
ſeliger als Nehmen ; ich gönne Ihr die Seligkeit ,
und bin mit dem Geringeren , mit dem Gelde
zufrieden . Was hatte ich davon ? Meine fünfte
Probegeliebte , die Jette , ein durchtriebener Vogel ,
hat mir die ganze Summe wieder gemauſt , als
wir unter Schwüren der Zärtlichkeit ſchieden .
Nun , Hingebung muß auch ſeyn ; ich habe es ihr
nicht nachgetragen .
Münchhauſen machte eine Panſe , um ſich zu erho-
len . Das Fräulein war wieder eingetreten . Nach
einigem Schweigen , während deſſen er einen Blick ,
in dem die ganze Schwärmerei der Jugend leuchtete ,
zum Himmel emporgeſchickt hatte , fuhr er alſo fort :
O , was iſt die gewöhnliche , unbewußte , roh-zu-
täppiſche Liebe gegen die bewußte Liebe , gegen die
Liebe , die nach Principien liebt ? Jahre waren
verfloſſen , die Küche lag weit hinter mir . Das
Spiel des Lebens ſah mich heiter an vom grünen
Tiſch , wenn ſtark pointirt wurde , und die Kugel
für die Bank ſprang . Münchhauſen war ein Mann
geworden , ein Mann im vollen Sinne des Worts .
Dennoch trafen auch ihn die Zweideutigkeiten des
Glücks . Ich hatte eine kleine Verdrießlichkeit gehabt ,
die mich zwang , incognito zu leben , weit , weit von hier .
Nun muß ich Sie , meine Freunde , mit einer
Eigenſchaft bekannt machen , die mit den Geheim-
niſſen meiner Erzeugung zuſammenhängt . Je rei-
fer ich wurde , deſto mehr entwickelten ſich in mir
gewiſſe mineraliſche , oder genauer zu reden , metal-
liſche Bezüge , ſo daß ich von Geld nicht reden hören
konnte , ohne in ein Zittern der Ekſtaſe zu gera-
then . Da ſah ich in meinem Incognito , welches
ſo ſtreng war , daß ich nur verſtohlen ausgehen
durfte , Die , welche alle ſechs Beſtandtheile der
Liebe zu einem großen Ganzen in mir combinirte .
Sie war nicht ſchön , ſie hatte wenig Verſtand und
keine Eigenſchaften , dennoch — — aber mein gnä-
diges Fräulein , mich dünkt , Sie werden ſchon
wieder draußen gerufen .
Emerentia ſtand abermals auf , warf von Neuem
einen dankenden Blick auf den Erzähler , und ſagte :
Münchhauſen , ich habe Sie immer verehrt , aber
von heute bete ich Sie an . Darauf ging ſie wie-
der hinaus .
Zum Geier ! rief der alte Baron , warum ſchickt
Ihr denn heute meine Tochter immer fort ?
Ihr Zartgefühl zu ſchonen , verſetzte der Frei-
herr . O könnten wir ſo alle Frauen zur Literatur
hinausſchicken , die Getauften und die Egyptiſchen
Marquiſen , dann ſollten Sie einmal ſehen , wie bald
Alles kräftig wieder in Witz , Laune und Ironie
aufblühen würde !
Meine Geliebte war alſo nicht ſchön , nicht klug ,
nicht angenehm , aber ſie ſagte mir , daß ſie eine
außerordentlich reiche Erbin ſei . Und ſo wie die-
ſes Wort erklungen war , regten ſich in mir die
metalliſchen Bezüge , und , Sie mögen es glauben
oder nicht , es liegt mir nichts daran , aber es iſt
wahr ; es that in mir einen Ruck , daß mir die
Rippen krachten , wie dem Filippo Neri , als ihm
das Herz ſchwoll , und auf einen Schuß , wie
ſechs Roſen von Damascus an einem Stengel ,
brachen in mir auf
1. die Sinnlichkeit
2. der Geiſt
3. die Empfindung
4. die Phantaſie
5. die Selbſtſucht
6. die Hingebung
in der Liebe .
Mich ſoll der Teufel holen — denn ich werde
allemal lyriſch , wenn die ſelige Rückerinnerung an
dieſe Tage über mich kommt — habe ich meine angeb-
liche reiche Erbin nicht geliebt , wie noch nie eine
Frauensperſon geliebt worden iſt ! Ich war ſinn-
lich , aber nie ohne Empfindung , denn ich weinte
immerfort , ſo daß ich mir eine Thränenfiſtel zuzog .
Geiſt ſpendirte ich , daß es nur ſo eine Art hatte ;
wie oft rief ich : Arm in Arm mit dir fühle ich
eine Armee in meiner Fauſt ! Ich habe Heroen-
muth , den alten Sauerteig des Jahrhunderts weg
zu fegen , und die Käuzlein aus den Höhlen zu
treiben , worin ſie noch immer blinzelnd über ihren
verlegnen faulen Eiern brüten , denen nie eine
lebendige Wirklichkeit entkriechen wird !
Münchhauſen ! fuhr der Schloßherr auf ; die
Geſchichte nimmt eine unangenehme Wendung . Das
Alte iſt gut , und man muß wohlerworbene Rechte
achten . Auch er ging hinaus .
Meine Geſchichte muß zu Ende , und da Nie-
mand ſonſt mehr hier iſt , ſo will ich ſie Ihnen
auserzählen , Herr Schulmeiſter , ſagte der Gaſt
des Schloſſes Schnick-Schnack-Schnurr . Hinge-
bung und Selbſtſucht flutheten wie zwei Ströme
durch unſer Verhältniß . Ich gab ihr mein Herz ,
mehr werth , als eine Million , und bekam von ihr
manchen Louisd’or . Schöne , freundliche Taille des
Lebens , in welcher Beide einſetzten , gewinnend zu
verlieren ! Daß die Phantaſie nicht leer ausginge ,
erſann ich ein freundlich Mährchen , ich ſtamme von
Fürſtenblut ab , ſagte ich ihr , ſagte es ihr ſo oft ,
daß ich es endlich ſelbſt glaubte .
Der Schulmeiſter warf das Haupt in den Nacken ,
als habe er einen Schlag vor die Stirne bekom-
men . Seine Lippen krämpelten ſich zu einer Art
von Wulſt zuſammen ; er ſah ſehr verdrießlich aus .
Münchhauſen aber achtete in ſeinem Feuer die-
ſes Umſtandes nicht . Herrlicher Traum ! warum
mußte ich aus dir erwachen ? rief er . Ich hätte
ja Alles gern dulden wollen , das Erkalten der
Geliebten , die Entdeckung , daß ſie ſchon Andre vor
mir geliebt , und was ſonſt noch Widerwärtiges an
und von ihr ? Warum aber mußteſt du mich ſo
hart prüfen , Schickſal ? Warum berührteſt du
die Stelle , wo ich ſterblich war , da du doch meine
inneren metalliſchen Bezüge kannteſt ?
Es kam der Tag —
o laßt von ihm
Sich Höllengeiſter nächtlich unterreden !
— es kam der Tag , an welchem unheimliche
Geſtalten in mein Leben traten , bedrohliche Gewal-
ten mich umſpannen mit geiſterhaftem Netz und
die grauſe Trennung befahlen . In den Schaudern
jenes Augenblicks ſagte ſie mir unter andern Klei-
nigkeiten , zu denen unſer Verhältniß geführt hatte ,
das entſetzliche Wort : Mit der reichen Erbſchaft
werde es kläglich genug ausfallen , denn ſie habe
erfahren , daß ihr Vater arm , wie eine Kirchen-
maus ſei . — Das traf ! Ich fühlte meine Säfte
gerinnen , ich fühlte , daß ſie ſich nach neuen chemi-
ſchen Geſetzen miſchten und entmiſchten . Meine
Gebeine ſchlotterten , und obſchon ich bald meine
äußere Faſſung wiedergewann , ſo merkte ich doch ,
daß über meine Wangen ein fremdes Etwas lief ,
als ich erröthen wollte . Die Elemente in mir
waren in Aufruhr , und aus dieſem Chaos haben
ſich denn ganz neue Humoralgruppen in mir geſtaltet .
Seit jenem Tage ſah ich immer bleich aus ,
und wenn mir nachmals Zorn , Schreck , Freude ,
Scham das Blut in das Geſicht trieb , ſo lief ich
grün an . Dieſes Ergrünen kam daher , daß ich
durch die furchtbare Entdeckung meiner ſechſten oder
Hauptgeliebten alle Verwandtſchaft mit edlen Metal-
len einbüßte , und daß daher eines der unedlen ,
nämlich cuprum oder Kupfer , mir in das Blut
trat . Kupfer ſteckt in jedem menſchlichen Körper
nach den neueſten Unterſuchungen ; bei meiner Ent-
ſtehung aber war etwas zuviel davon verwendet
worden , und der Ueberſchuß ging mir ins Blut .
Wenn ich mir zur Ader laſſe , kriegt der Cruor eine
ganz grüne Haut . Alle mögliche Mittel habe ich
gebraucht , um die Sache wieder in das Geſchick
zu bringen , jedoch vergebens . Es iſt immer ange-
nehmer , roth zu werden , als grün . Ich bin durch
die Cuproſität meines Blutes in ſo manchen unſchul-
digen Freuden gehemmt . So darf ich nichts Sau-
res genießen , keine Gabelſpitze Sallat , denn , habe
ich mich einmal in dieſer Beziehung vergeſſen , gleich
ſchlägt der Grünſpan mir an allen Gliedern aus ,
wie das Manna an der Aebtiſſin Agnes von Monte
Pulciano . Es iſt ſehr läſtig . Berzelius in Stock-
holm , der mich vielfach analyſirt hat , warnte mich
vor Zinn- und Zinkgruben , weil Zinn und Kupfer
Glockenſpeiſe , Zink aber damit vermiſcht , Tombach
giebt , und die Ausdünſtungen in jenen Gruben
mir leicht eine abermalige metalliſche Compoſition
zuziehen könnten . Sie ermeſſen , wie unange-
nehm mir bei meiner Wißbegierde und Reiſeluſt
ſolche Beſchränkungen vorkommen mußten , und noch
dazu , da ich gerade den Rammelsberg bei Goslar ,
wo ſie auf Zink bauen , beſuchen , und von da nach
den Zinnbergwerken von Cornwall reiſen wollte .
Ich ſchlug nachher die Warnung in den Wind
und befuhr dennoch die Zinkgrube am Rammels-
berge bei Goslar . Es waren böſe Wetter darin ,
mir wurde heiß und ſchwül . Als ich mit mei-
nem Steiger wieder an das Tageslicht gekom-
men war , ſah er mich verwundert an , und ſagte :
Mein Herr , Sie müſſen an Mennige gekommen
ſeyn , denn Sie ſind orangegelb im Geſicht gewor-
den . Er wollte mich abwiſchen ; mir aber fiel
die Warnung ein , ich ließ mir einen kleinen Hand-
ſpiegel reichen , und ſiehe da ! ich war wirklich im
Antlitz hochgelb , wie eine reife Pomeranze . Mein
Blut war in der Zinkgrube tombachen geworden .
Ich ſchämte mich vor dem Steiger , ſagte ihm , ich
wiſſe nicht , was es ſei , aber abwiſchen helfe nichts .
Recht beſchämt ging ich von dem Grubenhäuschen
fort , aus dem mir der Steiger mit allen alten
und jungen Burſchen , Zimmerheuern und Pochjun-
gen , die gerade zu Tage waren , verwundert und
lächelnd nachſah .
Das Bischen Zink wurde ich zwar glücklicher-
weiſe wieder los durch eine Schmelzcur , aber die
Reiſe nach Cornwall mußte ich zu meinem größten
Leidweſen aufgeben . Was wäre daraus geworden ,
wenn mich die Zinndämpfe noch gar in Glocken-
ſpeiſe umgeſetzt , und wenn ich angefangen hätte ,
ohne Privilegium zu läuten ?
Solche metalliſche Naturſpiele im Menſchen
bleiben alſo immer höchſt verdrießlich . Kupfer im
Blute iſt ſo ſchlimm , als Kupfergeld in der Taſche .
Nicht leicht ward ein Sterblicher gleich mir in
der Liebe gezüchtigt . Ich habe aber auch durch
dieſes Schickſal einen ſolchen Widerwillen gegen
die Leidenſchaft bekommen , daß ich mich nachher nie
wieder dazu verſtehen wollte , obgleich ich Gräfin-
nen , Fürſtinnen und Prinzeſſinnen die Hülle und
die Fülle haben konnte . Vornehme Damen haben
häufig den ſeltſamſten Geſchmack in der Liebe .
Daher mochte es rühren , daß die ganze vornehme
weibliche Welt hinter mir her war , wo ich erſchien .
Sie wandten den ſchönſten Adoniſſen in Dolman ,
Uhlanencollet und Legationsfrack den Rücken , wenn
ich , der ſchlichte Particulier , der unſcheinbare Pri-
vatgelehrte , dahertrat mit dem Pentheliſchen Mar-
morcolorit und grün anlief . Was für Erklärungen
habe ich anhören , was für Winke überhören müſ-
ſen , welches Unheil habe ich geſtiftet ! In Dün-
kelblaſenheim machte ich grüne Schminke Mode ,
weil die regierende Herzogin geſagt hatte , in mir
ſei der ewiggrüne Gott der Jugend erſchienen ,
und die ganze höhere Welt die Andeutung ver-
ſtand . Sie waren eben einmal wieder ganz aſch-
grau geworden in Dünkelblaſenheim ; nun ſtrichen
ſie ſich grün an und meinten , ſie hätten die Jugend
damit . — An einem andern Orte fiel mir die
Prinzeſſin von Mezzo Cammino da Napoli di Roma-
nia zu Füßen und bat mich um Gotteswillen , ihr
nur wenigſtens eine Exſpectanz auf mein Herz zu
geben . Sie that mir in der Seele weh — ſie war
eine ſchöne Perſon — aber gebrannte Kinder ſcheuen
das Feuer ! Ich hob ſie höflich auf , führte ſie zum
Sopha und ſagte : Durchlaucht , es geht nicht . Ich
habe einmal Unglück in der Liebe und wer weiß ,
was durch Sie bei mir in Confuſion gebracht
würde . Sie dauern mich , liebe Durchlaucht , aber
jeder Menſch iſt ſich ſelbſt der Nächſte .
Den höchſten Abſcheu empfinde ich vor meiner
ehemaligen ſechsten oder Hauptgeliebten . Ich habe
mir tauſendmal geſagt : Sie konnte ja nichts dafür ,
daß ſie keine reiche Erbin war , aber — die Natur
läßt ſich nicht zwingen . Immer und immer durch
Grünſpan an die Enttäuſchung über ſeine ſchönſten
Hoffnungen erinnert zu werden , iſt am Ende auch
keine Kleinigkeit ! Der Menſch bleibt Menſch . Ich
glaube , daß , wenn ich die Hauptgeliebte wieder-
ſähe , ich mich nicht würde faſſen können , ich , der
ich doch ſonſt ſo ziemlich mich zu beherrſchen weiß .
Siebenzehntes Capitel .
Die drei Schloßbewohner ertheilen dem
Freiherrn von Münchhauſen vernünftigen
Rath ; er aber bleibt auch für den Bedien-
ten Karl Buttervogel theilweiſe ein
Räthſel .
Nachdem Münchhauſen ſeine Erzählung vollen-
det hatte , fragte er den Schulmeiſter , warum der
alte Baron fortgegangen ſei , und noch immer nicht
wiederkomme ?
Herr von Münchhauſen , verſetzte Ageſilaus ,
Sie haben zwar auf eine eben nicht freundliche
Weiſe in Ihrer Liebesgeſchichte meiner theuerſten
Ueberzeugungen geſpottet , indeſſen iſt meine Sin-
nesart nicht ſo beſchaffen , Andern etwas nachzu-
tragen , und ich kann ganz gerne Unrecht leiden ,
ohne mich dafür zu rächen . Ich will Ihnen , trotz
Ihrer ſatiriſchen Anſpielungen auf mich , in Betreff
unſres alten Herrn einen wohlgemeinten Rath
ertheilen .
Welche ſatiriſche Anſpielungen auf Sie , Herr
Schulmeiſter ?
Sie beliebten zu ſagen , daß Sie jenem Frauen-
zimmer eine fürſtliche Abſtammung vorgelogen hätten .
Ich aber erlaube mir , Ihnen zu verſichern , daß ,
wenn ich eine ähnliche Abſtammung von mir aus-
ſage , damit keinesweges Lügen vorbringe , welche
ich überhaupt herzlich verabſcheue .
Ich betheure , Herr Schulmeiſter , daß meine
Seele nicht an Sie gedacht hat . Großer Gott ,
kann denn ein Erzähler nicht einmal in dieſer Ein-
öde den Deutungen entgehen ?
Wohl , dieſe Angelegenheit bleibe , wie manches
Andere , vor der Hand auf ſich beruhen , ſagte der
Schulmeiſter . Der Rath , den ich Ihnen ertheilen
wollte , iſt folgender . Unſer alter Herr hat ſich
die Rückkehr früherer Verhältniſſe , und die Hoff-
nung auf das Amt , welches er ſein angebornes
nennt , ſteif und feſt in den Kopf geſetzt . In die-
ſer Beziehung iſt er toll , und ſchon lange quält
mich die Beſorgniß , daß aus der Geheimeraths-
Idee , wenn wir ſie nicht ſo ſehr ſchonten , einmal
plötzlich der völlig ausgewachſene Wahnſinn her-
vorſpringen wird . Sie aber rühren unvorſichtig
— verzeihen Sie meine Freimüthigkeit , Herr von
Münchhauſen — nur zu oft daran , wie es denn
heute Abend auch noch geſchehen iſt . Und es wäre
doch ſchlimm , wenn der ſonſt ſo vortreffliche und
geiſtesgeſunde Mann muthwilligerweiſe von uns
andern Vernünftigen um ſeine Beſinnung gebracht
würde .
Die menſchliche Seele hat , wie der Körper ,
nur ein beſtimmtes Maaß von Kräften des Wachs-
thums , fuhr der Schulmeiſter fort . Ward dieſes
erſchöpft , ſo bleibt der Menſch geiſtig ſtehen ,
wie er nach dem zwanzigſten Jahre nicht mehr
leiblich wächſt . Deßhalb begreift das Alter die
Jugend nicht , und ungewöhnliche Ereigniſſe finden
darum immer nur bei Denen Anklang , die noch
im geiſtigen Wachsthum ſtehen . Kann ſich nun der
Menſch mit allen ſeinen Seelenkräften vollſtändig
in die von der Natur ihm beſtimmte Länge und
Breite legen , ſo wird er nicht verrückt , ſondern
er bleibt an einem Ziele ſtehen , andernfalls aber
geht es ihm wie Einem , der in der Entwickelungs-
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 16
zeit eine ſtarke Hemmung erleiden muß ; der Ueber-
ſchuß von Kräften ſchlägt ihm als Krankheit nach
Innen und er bekommt einen Stich . Unſer alter
Herr war durchaus beſtimmt , Geheimerrath auf
der Adelsbank zu werden , da wäre er ſtehen , oder
vielmehr ſitzen geblieben , und als vollig vernünf-
tiger Mann zu ſeinen Vätern verſammelt worden .
Weil er aber bis dahin nicht vordringen konnte ,
ſo ſetzte ſich ihm der Geheimerath gewiſſermaßen
als Knoten in die Seele , der , nicht gereizt , viel-
leicht ein ruhiges Lebensende herankommen läßt ,
gerieben und entzündet aber , einen unheilbaren
Brand auch über die noch geſunden Theile des
Geiſtes verbreiten möchte .
Der Freiherr wunderte ſich über die Weisheit
des Schulmeiſters und gelobte , ſeinem Rathe Folge
zu leiſten . Darauf zündete Ageſilaus ſeine Hand-
laterne an und ging nach dem Gebirge Taygetus ,
überzeugt , ein gutes Werk gethan zu haben .
Münchhauſen ſuchte den alten Baron auf und
fand ihn draußen im Mondſchein hinter dem Schloſſe
wandeln . Er wollte ihn um Entſchuldigung bitten ,
der Andere fiel ihm aber in die Rede und ſagte :
Laßt doch die Narrenpoſſen ; ich habe Euch den
Hieb lange vergeben , da ich weiß , daß Ihr mich
nicht abſichtlich beleidigen wolltet . Zudem könnt
Ihr Andern auch gar nicht faſſen , was es bedeutet ,
durch die Geburt zu einer Ehre , oder einem Vor-
zuge , oder einem Amte , wie der Geheimerathspo-
ſten iſt , beſtimmt zu ſeyn . Ihr redet alſo über
ſolche Sachen , wie der Blinde von der Farbe , und
man muß Euch Euer Geſchwätz darüber nicht ſo
übel nehmen . Nein , ich blieb nur hier draußen ,
weil ich , aufrichtig geſagt , an Liebesſachen keinen
ſonderlichen Antheil nehme und dachte , Ihr würdet
wohl ſo gütig ſeyn , mir einmal unter vier Augen
ohne Umſchweif das Ergrünen zu erklären . Ueber-
haupt wünſchte ich , beſter Münchhauſen , meiner
Tochter wegen , Ihr ſprächet von Romanenangele-
genheiten wenig oder gar nicht mehr .
Meine Tochter hat in dieſem Puncte einen
Sparren , fuhr der Alte mit leiſerer Stimme fort ,
indem er dicht zu Münchhauſen trat . Es iſt immer
ſchlimm , wenn die Frauenzimmer nicht heirathen ,
oder keine Kinder bekommen , denn auf Zärtlichkeit
ſind denn doch nun einmal die armen Dinger durch-
aus geſtellt , und die verſetzt ſich ihnen dann leicht ,
daß ſie entweder langweilige , empfindſame Bücher
16*
ſchreiben , oder mit Papagaien und Schooßhunden
quängeln , unerträglich für Andere . Meine Tochter
hält ſich nun weder Schooßhund noch Papagai ,
dagegen einen Gedanken- und Erinnerungsliebha-
ber , mit dem ſie verkehrt , wie mit einer lebendigen
Mannsperſon . Beſonders im Mondſchein , wie jetzo ,
iſt ſie immer ſehr aufgeregt , und deßhalb hütet
Euch , Freund , dieſen Zuſtand zu ſteigern ; bedenkt ,
was für ein Elend für mich alten Mann es wäre ,
wenn ihre Krankheit aus dieſem ſtillen und ſonſt
unſchädlichen Faſeln in einen lauten Raptus über-
ginge !
Münchhauſen fehlte die Zeit , dem Vater beru-
higende Verſicherungen zu geben , denn in der Taxus-
laube hinter dem Genius des Schweigens entſtand
ein Geräuſch und hervor trat Fräulein Emerentia ,
die in der Laube der ganzen Rede zugehört hatte .
Zum Henker , rief der alte Baron , das habe ich
ſauber gemacht ! Er entfernte ſich eilig in das
Schloß .
Emerentia näherte ſich Münchhauſen und ſprach
mit ſanfter Stimme : Es iſt eine zu alte Erfah-
rung , daß die höherſtehende Natur von ihren Umge-
bungen für wahnwitzig gehalten wird , als daß mich
die Worte des Vaters verletzen könnten . Verge-
bung daher ihm , und ferne ſei es von mir , das
Recht der Wiedervergeltung zu üben und Sie auf
ſeine Einbildungen aufmerkſam zu machen .
Aber Dank bin ich Ihnen ſchuldig , theurer
Meiſter , für die unvergleichliche Zartheit , mit wel-
cher Sie mich heute zweimal aus dem Zimmer
ſendeten . Eine ſo rückſichtsvolle Behandlung thut
unendlich wohl . Ich muß Ihnen meinen Dank
durch eine Warnung bethätigen . Hüten Sie ſich
vor dem Schulmeiſter , reizen Sie ſeine Ihnen
bekannte Verrücktheit nicht durch hingeworfene
Aeußerungen , welche er auf ſich und ſeine fixe Idee
beziehen kann . Ich habe Urſache , zu glauben , daß
die Krankheit dieſes Mannes im Steigen iſt ; denn
er kocht ſchon die ſogenannte ſchwarze Suppe , ohne
ihrer benöthigt zu ſeyn und ſchläft zuweilen im
Freien auf dem lächerlichen Gebirge Taygetus —
Zeichen gewiß einer innerlichen Gährung . Wel-
ches Unglück , wenn er plötzlich wüthend würde ,
den Vater , wie leicht möglich , anſteckte , und Beide
die Rieſenkraft der Raſerei entfalteten ! Wir
Vernünftigen wären ſchwerlich im Stande , ſie zu
bewältigen , ja nur uns vor ihnen zu retten .
Das Fräulein fuhr fort : In den Stunden ,
in welchen ich der Empfindung nicht nachhing , habe
ich viel über den Wahnſinn nachgedacht und bin
auf folgendes Reſultat gekommen . Aller Wahn-
ſinn iſt eigentlich eine krankhafte Richtung der
Natur , das Individuum in das Maaßloſe zu erwei-
tern , und über die Schranken hinaus , welche die
Selbſtverläugnung und eine edle Ergebung in die
Beſchlüſſe des Schickſals ihm ſetzt , ihm Güter ,
Gefühle und Genüſſe anzueignen . Deßhalb iſt die
geiſtige Krankheit auch verhältnißmäßig häufiger bei
Perſonen aus den geringen Ständen , die ſo vieles
entbehren müſſen , und ſchafft bei ihnen die Einbil-
dung , daß ſie Könige , Kaiſer , ja Gott ſeien , oder
daß ſie große Schätze beſitzen . Auch die Furcht vor
Feinden und Verfolgern , welche nicht ſelten als Aeu-
ßerung des Wahnſinns auftritt , und auf den erſten
Anblick meiner Erklärung zu widerſprechen ſcheint ,
beſtätigt ſie doch nur . Solche arme und unange-
ſehene Leute haben nicht ſelten das geheime , nagende
Gefühl ihrer Unbedeutendheit ; nun kann nur ein
Zufall , ein Mißgeſchick ihre Seele erſchüttern , ſo
fangen ſie an , eine erträumte Wichtigkeit in der
Menge von geheimen Feinden , welche ihnen die
ſchwärmende Phantaſie vergaukelt , zu genießen . Da-
her kommt es denn auch im Gegentheil , daß Für-
ſten und vornehme Perſonen , wenn ſie ihren Ver-
ſtand verlieren , in Stumpfſinn und Hinbrüten zu
verfallen , oder ſich ganz alberne Ideen einzubilden
pflegen , wie z. B. daß ſie von Glas ſeien , einen
Sperling im Kopfe tragen und was dergleichen
mehr iſt . Natürlich ; ſie haben ſchon Alles , was das
menſchliche Herz begehrt , deßhalb muß die kranke
Seele entweder über dem Ungeſtalteten brüten ,
oder ſich mit den abentheuerlichſten , von Wunſch
und Begehren ganz fernen Vorſtellungen nähren .
Die Anwendung dieſer allgemeinen Bemerkun-
gen auf den Schulmeiſter zu machen , iſt ſehr leicht .
Die Natur hatte ihm eine Beimiſchung von Selbſt-
gefühl gegeben , welche mit ſeinem geringen Amts-
berufe nicht in Einklang ſtand , und dieſen Einklang
hat er ſich nun durch ſeine ſtolze Träumerei von
der ſpartaniſchen Abkunft luftſchloßartig geſtiftet
und erbaut .
Münchhauſen erſtaunte noch mehr über dieſe
Rede , als über die der andern Perſonen , welche
er heute Abend hatte ſprechen hören . Er ging
auf ſein Zimmer , roch in die Luft hinaus , wie er
oft zu thun pflegte , um die Beſchaffenheit derſel-
ben für ſeine Zwecke zu erkunden , ſetzte ſich auf
ſein Bett , und ließ ſich vom Bedienten Karl But-
tervogel , welcher inzwiſchen mit dem Waſchwaſſer
hereingekommen war und ſeinem Herrn die Nacht-
mütze aufgeſetzt hatte , die Stiefeln ausziehen .
Karl , ſagte Münchhauſen , wir ſind hier in
einem Tollhauſe . Der alte Baron , das Fräulein ,
der Schulmeiſter ſind ſämmtlich verrückt . Jeder
von ihnen hat merkwürdigerweiſe einen klaren Blick
in den Zuſtand des Andern , und was noch merk-
würdiger iſt , ſie reflectiren äußerſt geſcheidt über
den Wahnſinn . Aber nimm dich doch in Acht ;
denn ſolche Zuſtände können durch die geringſte
Veranlaſſung geſteigert werden .
Ich werd’ ſchon , verſetzte Karl Buttervogel ,
indem er ſeinem Herrn die Beinkleider abſtreifte .
Dem Fräulein hab’ ich lang’ was angeſehen , ſie
ſchießt zuweilen ſo verzwickte Blicke auf mich .
Aber gnädiger Herr , warum ſind wir denn ſo fort-
gegangen , wo uns die drei Herren ſo reichlich in
Allem unterhielten , und Sie nichts zu thun hatten ,
als ſich ein Paar Stunden von ihnen ſtudiren zu
laſſen ? Und warum kriechen wir hieher in dieſes
verwunſchene Schloß , wo ſich wahrhaftig keine Maus
ſatt freſſen kann ? Ich liege in einem dunkeln
Loche , weder von Sonne noch Mond beſchienen ,
und will ein Hallunke ſeyn , wenn ich ſeit drei
Tagen Fleiſch gerochen habe ! Dazu ſind die Wan-
zen in meiner Spelunk’ , jeden Morgen bin ich zerbiſ-
ſen , als hätte ich mich mit ſechs Jagdhunden her-
umgebalgt ! Laſſen Sie uns je eher , je lieber fort ,
gnädiger Herr , denn ſo gern ich Ihnen diene ,
hier halte ich es nicht lange aus .
Hier bleibe ich , ſo lange die Urſache dauert ,
welche mich hergeführt hat ; erwiederte der Freiherr
mit Anſehn .
Die Urſache , welche hergeführt hat , ſagte Karl
Buttervogel , iſt doch nur , daß Sie vom Pferde
fielen , und dieſe hat aufgehört .
O du Thor und Kurzſichtiger , rief Münchhau-
ſen zornig , der du immer nur den Sturz vom
Pferde erkennſt und nicht wahrnimmſt — —
Was , mein gnädiger Herr ?
Nichts ! verſetzte Münchhauſen barſch , warf ſich
auf ſein Bette , daß die Noth- und Hülfsſponde ,
welche der Schulmeiſter roh zuſammengefügt , knackte ,
und ſchlief ſogleich ein .
Karl Buttervogel ſtand mitten im Zimmer , die
Kleidungsſtücke ſeines Herrn auf dem Arme , und
ſagte , als er ihn ſchnarchen hörte : Es iſt wahr-
haftig recht ſchlecht von meinem Herrn , daß er
mir nicht ſagen will , warum wir hier in dem ver-
maledeiten Neſte bleiben ? Keinen Lohn kriegt man
von ihm , ſondern wird ewig vertröſtet auf die
Zeit , wo er die Luft wird feſtmachen können , wie
ſie ’s in Paris thun , und dennoch kein ganzes
Zutrauen ! Ich weiß doch , daß er nicht mit rech-
ten Dingen in die Welt gekommen iſt , warum
ſagt er mir denn nicht , was er hier vorhat ?
Zweites Buch .
Der wilde Jaͤger .
Erſtes Capitel .
Der Hofſchulze .
Im Hofe zwiſchen den Scheuren und Wirth-
ſchaftsgebäuden ſtand mir aufgekrämpten Hemd-
ärmeln der alte Hofſchulze und ſchaute achtſam in
ein Feuer , welches zwiſchen Steinen und Kloben
am Boden entzündet , luſtig flackerte . Er rückte
einen kleinen Amboß , der daneben ſtand , zurecht ,
legte ſich Hammer und Zange zum Griffe bereit ,
prüfte die Spitzen einiger großen Radnägel , die er
aus dem Bruſtſtücke des vorgebundenen Schurzfells
zog , legte die Nägel auf das Bodenbrett des Lei-
terwagens , deſſen Rad er ausbeſſern wollte , und
drehte die Stelle des Rades , von welcher ein Stück
Schiene abgebrochen war , achtſam nach oben , wor-
auf er durch untergeſchobene Steine das Rad in
ſeiner Stellung feſtigte .
Nachdem er wieder ein Paar Augenblicke in
das Feuer geſehen hatte , ohne daß ſeine hellen
und ſcharfen Augen davon zu blinzeln begannen ,
fuhr er raſch mit der Zange hinein , hob das roth-
glühende Stück Eiſen heraus , legte es auf den
Amboß , ſchwang den Hammer darüber , daß die
Funken ſprühten , ſchlug das noch immer Gluth-
röthliche um das Rad , da wo die Schiene fehlte ,
ſchlug und ſchweißte es mit zwei gewaltigen Schlä-
gen feſt , und trieb dann die Nägel , welche es in
ſeiner weichen Dehnbarkeit noch immer leicht hin-
durchließ , an ihre Plätze .
Einige der ſtärkſten und heftigſten Schläge gaben
dem eingefügten Stücke das letzte Geſchick . Der
Schulze ſtieß mit dem Fuße die vor das Rad
gelegten Steine hinweg , faßte den Wagen bei der
Stange , um das geflickte Rad zu prüfen , und zog
ihn ungeachtet ſeiner Schwere ohne Anſtrengung quer
über den Hof , ſo daß die Hühner , Gänſe und
Enten , welche ſich ruhig geſonnt hatten , mit gro-
ßem Geſchrei vor dem raſſelnden Wagen entflohen ,
und ein Paar Schweine aus ihrem eingewühlten
Lager grunzend auffuhren .
Zwei Männer , von denen der Eine ein Pfer-
dehändler , der Andre ein Rendant oder Receptor
war , hatten , unter der großen Linde am Tiſche vor
dem Wohnhauſe ſitzend und ihren Trunk verzeh-
rend , der Arbeit des alten , rüſtigen Mannes zuge-
ſehen . Das muß wahr ſeyn , rief jetzt der Eine ,
der Pferdehändler , Ihr hättet einen tüchtigen Schmidt
abgegeben , Hofſchulze !
Der Hofſchulze wuſch in einem Stalleimer voll
Waſſer , welcher neben dem kleinen Amboße ſtand ,
ſich Hände und Geſicht , goß dann das Feuer aus ,
und ſagte : Ein Narr , der dem Schmidt giebt ,
was er ſelbſt verdienen kann . Er nahm den Am-
boß , als ſei er eine Feder , auf , und trug ihn
nebſt Hammer und Zange unter einen kleinen
Schoppen zwiſchen Wohnhaus und Scheure , in wel-
chem Hobelbank , Säge , Stemmeiſen , und was ſonſt
zu Zimmer- und Schreinergewerk gehört , bei
Holz und Brettern mancher Art ſtand , lag oder
hing .
Indem der Alte ſich unter dem Schoppen noch
zu ſchaffen machte , ſagte der Pferdehändler zu dem
Receptor : Wollen Sie glauben , daß der auch alle
Pfoſten , Thüren und Schwellen , die Kiſten und
Kaſten im Hauſe mit eigner Hand flickt , oder , wenn
das Glück gut iſt , auch neu zuſchneidet ? Ich
meine , wenn er wollte , könnte er auch einen Kunſt-
ſchreiner vorſtellen und würde einen richtigen Schrank
zu Wege bringen .
Da ſeid ihr im Irrthum , ſprach der Hofſchulze ,
der das Letzte gehört hatte und , das Schurzfell
jetzt abgethan , im weißleinenen Kittel aus dem
Schoppen trat . Er ſetzte ſich zu den beiden Män-
nern an den Tiſch , eine Magd brachte ihm auch
ein Glas , er that ſeinen Gäſten Beſcheid und fuhr
dann fort : Zu einem Pfoſten , zu einer Thüre
und Schwelle gehören nur ein Paar geſunde
Augen und eine firme Fauſt , aber ein Schreiner
braucht mehr . Ich habe mich einmal vom Hoch-
muth verleiten laſſen , und wollte , wie Ihr es nennt ,
einen richtigen Schrank zu Wege bringen , weil mir
Hobel und Meißel und Reißſchiene auch bei dem
Zimmerwerk durch die Hände gegangen waren .
Ich maaß und zeichnete und ſchnitt die Hölzer zu ,
auf Fuß und Zoll hatte ich Alles abgepaßt ; ja ,
als es nun an das Zuſammenfügen und Leimen
gehen ſollte , war Alles verkehrt . Die Wände
ſtanden windſchief und klafften , die Klappe vorne
war zu groß , und die Kaſten für die Oeffnungen
zu klein . Ihr könnt das Gemächt noch ſehen , ich
habe es auf dem Sill ſtehen laſſen , mich vor Ver-
ſuchung künftig zu wahren , denn es thut dem
Menſchen immer gut , wenn er eine Erinnerung an
ſeine Schwachheit vor Augen hat .
In dieſem Augenblicke ließ ſich ein luſtiges
Wiehern aus dem Pferdeſtalle gegenüber verneh-
men . Der Pferdehändler räusperte ſich , ſpuckte
aus , ſchlug ſich Feuer an , blies dem Receptor eine
ſtarke Dampfwolke in das Geſicht , ſah ſehnſüchtig
nach dem Stalle und dann gedankenvoll vor ſich
nieder . Hierauf ſpuckte er nochmals aus , nahm
den lackirten Hut vom Kopfe , ſtrich mit dem
Arme über die Stirn und ſagte : Noch immer
eine ſchwüle Witterung . — Dann ſchnallte er ſeine
lederne Geldkatze vom Leibe , warf ſie mit Getöſe
auf den Tiſch , daß der Inhalt klang und klirrte ,
löſete die Riemen und zählte zwanzig blanke Gold-
ſtücke hin , bei deren Anblicke die Augen des Recep-
tors zu funkeln anfingen , und nach denen der alte
Hofſchulze gar nicht hinſah . Hier iſt das Geld !
rief der Pferdehändler , die Fauſt geballt auf den
Tiſch ſtemmend , krieg’ ich die braune Stute dafür ?
Sie iſt , weiß Gott , nicht einen Heller mehr werth .
Dann behaltet Euer Geld , damit Ihr nicht
zu Schaden kommt , verſetzte der Hofſchulze kalt-
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 17
blütig . Sechsundzwanzig , wie ich geſagt habe , und
keinen Stüber darunter . Ihr kennt mich nun die
Jahre her , Herr Marx , und ſolltet daher wiſſen ,
daß das Dringen und Feilſchen bei mir nicht
verſchlägt , weil ich nie von meiner Sprache abgehe .
Ich begehre , was mir eine Sache werth iſt und
thue niemalen vorſchlagen , und ſo könnte ein Poſau-
nenengel vom Himmel dahergefahren kommen , er
kriegte die Braune nicht unter Sechsundzwanzig .
Aber Gott’s Sackerlot , ſchrie der Pferdehänd-
ler erboſ’t , aus Fordern und Bieten beſteht doch
der Handel , und meinen eignen Bruder überfrage
ich , und wenn kein Vorſchlagen mehr in der Welt
iſt , ſo hört alles Geſchäft auf !
Im Gegentheil , erwiederte der Hofſchulze , das
Geſchäft koſtet dann weit weniger Zeit und iſt
ſchon um deßhalb profitlicher , aber auch außerdem
haben beide Theile von einem Handel ohne Vor-
ſchlagen vielen Nutzen . Ich habe es immer erlebt ,
daß , wenn vorgeſchlagen wird , ſich die Natur erhitzt ,
und zuletzt Niemand mehr recht weiß , was er
redet oder thut . Da läßt denn der Verkäufer , um
nur dem Gehader ein Ende zu machen , die Waare
oft unter dem Preiſe , den er im Stillen bei ſich
feſtſetzte , und der Käufer ſeinerſeits in der Begierde
und Brunſt des Bietens verthut ſich eben ſo oft-
mals . Iſt aber gar keine Rede von Ablaſſen ,
dann bleiben Beide ſchön ruhig , und wahren ſich
vor Schaden .
Da Ihr ſo vernünftig redet , ſo werdet Ihr meinen
Antrag jetzt beſſer erwogen haben , hob der Recep-
tor an . Wie geſagt , die Regierung will alle Korn-
gefälle der Höfe in hieſiger Gegend in Geld
umwandeln . Sie hat allein den Schaden davon ,
denn Korn bleibt Korn , aber Geld iſt heute ſo
viel und morgen ſo viel werth , indeſſen iſt es nun
einmal ihr Wille , um der Laſt des Aufſpeicherns
quitt zu werden . Ihr thut mir alſo den Gefallen ,
und unterſchreibt dieſe neue , auf Geld lautende
Urkunde , die ich da zu dieſem Behufe ſchon mitge-
bracht habe .
Durchaus nicht , antwortete der Hofſchulze eifrig .
Es iſt ein alter Glaube hier zu Lande , daß wer
ſeinem Hofe eine Laſt auflegt , dafür zur Strafe
nach ſeinem Tode auf dem Hofe umgehen muß .
Ich weiß nicht , wie es damit beſchaffen iſt , aber
das weiß ich : Vom Oberhofe ſind ſeit vielen hun-
dert Jahren nur Körner an die Gotteszelle gegeben
17*
worden , und damit wolle ſich alſo das Rentamt
begnügen , wie das Stift ſich damit begnügt hat .
Wächſt Geld auf meinem Acker ? Nein . Korn wächſt
darauf . Woher wollen Sie alſo das Geld nehmen ?
Ihr ſollt ja nicht übervortheilt werden ! rief
der Receptor .
Es muß Alles bei’m Alten bleiben , ſagte der
Hofſchulze feierlich . Das war noch eine gute Zeit ,
als die Tafeln mit den Verzeichniſſen der Laſten
und Abgaben der Bauerſchaft in der Kirche hingen .
Dazumalen ſtand Alles feſt , und kein Gezänk hat
ſich nimmer darüber begeben , wie neuerdings nur
gar zu oft . Hernacher hieß es , die Tafeln mit
den Hühnern und Eiern und Maltern und Süm-
mern ſchadeten der Andacht , und ſie wurden hin-
weggethan . Im Gegentheil , ſie hatten immer zu
Predigt und Geſang gehört , wie Amen und Segen ;
ich für mein Theil , wenn ich ſie anſah , beſonders
beim dritten Theile oder der Nutzanwendung , hatte
die erbaulichſten Gedanken bekommen , zum Exempel :
Ueberhebe dich nicht , denn da ſteht geſchrieben ,
wie viel Zinsroggen und Schloßhafer du geben mußt ,
oder auch ſo : Wenn du draußen Laſten zu tragen
haſt , hier im Gotteshauſe biſt du frei , und was
dergleichen mehr war . Nun aber , als man auf
die leeren Stellen ſah , gingen die Gedanken immer
wandern und ſuchen nach den Tafeln , und es
dauerte geraume Zeit , ehe und bevor die Menſch-
heit wieder recht nach dem Paſtor hinhörte .
Er ging in ſein Haus . — Das iſt ein alter
Racker ! rief der Pferdehändler , als er ſeinen
Handelsfreund nicht mehr ſah , indem er den lackir-
ten Hut verdrießlich wieder auf den Kopf ſtülpte .
Wenn der nicht will , ſo bringt ihn der Teufel
nicht herum . Das Schlimmſte iſt , daß der Kerl
die beſten Pferde in der Gegend zieht , und ſie im
Grunde ſo zu ſagen billig genug losſchlägt .
Ein ſtarres , widerhaariges Volk hier zu Lande ,
ſagte der Receptor . Ich bin erſt vor Kurzem aus
Sachſen herverſetzt , und merke den Abſtand . Dort
wohnen die Leute beiſammen und deßhalb müſſen ſie
ſchon höflich und nachgiebig und bethulich mit einan-
der ſeyn . Aber hier ſitzt ein Jeder auf ſeinem Kampe ,
hat ſein Holz , ſein Feld , ſeinen Wieſewachs um
ſich , als gäbe es ſonſt nichts in der Welt . Darum
halten ſie auch auf ihre alten Schnurren und
Faxen ſo ſteif , die anderwärts überall abgekom-
men ſind . Was für Mühe habe ich ſchon mit
den andern Bauern wegen der dummen Um-
ſchreibereien gehabt , aber dieſer hier iſt doch der
Schlimmſte .
Das kommt daher , Herr Receptor , weil er ſo
reich iſt , bemerkte der Pferdehändler . Mich wun-
dert , daß Sie es mit den Andern in der Bauerſchaft
ohne ihn durchgeſetzt haben , denn der hier iſt
ihr General und Advocat und Alles , ſie richten
ſich in jeglicher Sache nach ihm . Er bückt ſich
vor Keinem . Vor ’m Jahre kam ein Prinz hier
durch ; wie er den Hut vor dem abnahm , war es
wahrhaftig , als wollte er ſagen : Du biſt der
und ich bin der . Der Miſtfink ! Für die Stute
ſechsundzwanzig Piſtolen haben zu wollen ! Aber
das iſt das Unglück , wenn der Bauer zu viel Ver-
mögen kriegt . Wenn Sie dort durch das Eich-
holz hindurch ſind , gehen Sie eine geſchlagene halbe
Glockenſtunde durch ſeine Felder . Und Alles beſtellt ,
daß es nur ſo eine Art hat . Ich bin mit mei-
ner Koppel vorgeſtern durch den Roggen und
Waizen geritten , und Gott ſtrafe mich , wenn was
Anderes als die Köpfe von den Pferden über die
Aehren hinüberſahen . Ich dachte , ich würde er-
ſaufen .
Woher hat er ’s denn ? fragte der Receptor .
O ! rief der Pferdehändler , da liegen hier meh-
rere ſolcher Höfe herum , man heißt ſie Oberhöfe ;
wenn die nicht manchen Edelmann ausſtechen , ſo
will ich nicht Marx heißen . Das Erdreich iſt von
uralter Zeit zuſammengeblieben . Und ſparſam
und fleißig iſt der Nichtsnutz von jeher geweſen ,
das muß man ihm laſſen . Sie ſahen ja , wie er
ſich abäſcherte , nur um dem Schmidt die paar
Groſchen Verdienſt zu nehmen . Jetzt freit ſeine
Tochter einen andern jungen Geldſchlingel ; die
kriegt mit ! Ich bin an der Leinwandkammer durch-
gegangen , der Flachs und das Garn , das Gebild ,
die Wäſche und alle mögliche Kramerei iſt bis
unter die Decke geſtopft . Und dazu giebt ihr der
alte Schabhals noch baare ſechstauſend Thaler mit .
Blicken Sie nur um ſich ; iſt es nicht hier , als ob
man bei einem Grafen wäre ?
Während der letzten Reden hatte der verdrieß-
liche Pferdehändler ſacht in die Geldkatze gegriffen
und den zwanzig Goldſtücken , gleichſam gleichgül-
tig thuend , noch ſechs hinzugefügt . Der Hof-
ſchulze trat wieder in die Thüre , und der Andre
ſagte brummend , ohne ihn anzuſehen : Da lie-
gen die Sechsundzwanzig , weil es einmal nicht
anders ſeyn ſoll .
Der alte Bauer lächelte ſchalkhaft und ſprach :
Ich wußte wohl , daß Ihr das Pferd kaufen wür-
det , Herr Marx , denn Ihr ſucht für den Rittmeiſter
in Unna eins zu dreißig Piſtolen , und mein Bräun-
chen paßt Euch dazu , wie beſtellt . Ich ging auch
nur in das Haus , um die Goldwage zu holen ,
und konnte vorher ſehen , daß Ihr Euch unterdeſſen
beſonnen haben würdet .
Der Alte , welcher in ſeinen Bewegungen bald
etwas ungemein Raſches , bald wieder die größte
Bedächtigkeit zeigte , jenachdem das Geſchäft war ,
was er trieb , ſetzte ſich an den Tiſch , wiſchte lang-
ſam und ſorgfältig ſeine Brille ab , ſpannte ſie über
die Naſe und fing nun an , die Goldſtücke genau
zu wägen . Zwei oder drei muſterte er als zu leicht
aus , worüber der Pferdehändler ein heftiges Ge-
zeter erhob , welchem der Hofſchulze ſchweigend und
kaltblütig , die Wage in der Hand behaltend ,
zuhörte , bis der Andre ſtatt der verworfenen voll-
wichtige hervorholte . Endlich war die Sache been-
digt , der Verkäufer packte bedächtig das Geld
in ein Papier und ging mit dem Pferdehänd-
Pferdehändler nach dem Stalle , um ihm das Pferd
zu überliefern .
Der Receptor wartete die Rückkunft der Beiden
nicht ab . Mit ſolchem Klotz iſt nichts anzufangen ,
ſagte er , aber wenn du uns nur nicht ſo ordentlich
auf die Termine bezahlteſt , wir wollten dich — Er
fühlte nach ſeinen urkundlichen Papieren in der
Taſche , merkte an ihrem Knittern , daß ſie noch
darin ſeien , und ſchlich vom Hofe .
Aus dem Stalle traten der Roßkamm , der
Schulze und ein Knecht , welcher zwei Pferde , das
des Roßkammes und die erkaufte braune Stute
hinter ſich herführte . Der alte Schulze ſagte , indem
er die Letztere zum Abſchiede ſtreichelte : Es thut
Einem immer Leid , wenn man eine Creatur , die
man aufzog , losſchlägt , aber wer kann dawider ?
— Nun , halte dich brav , Bräunchen ! rief er und
gab dem Thiere einen herzhaften Schlag auf die
runden , glänzenden Schenkel .
Der Pferdehändler war indeſſen aufgeſtiegen
und ſah mit ſeiner langen Figur und der kurzen
Schooßjacke unter dem breitkrämpigen lackirten Hute ,
mit ſeinen erbſengelben Hoſen über den dürren
Lenden und den hochhinaufreichenden ledernen Kama-
ſchen , mit ſeinen Pfundſpornen und mit ſeiner
Peitſche wie ein Wegelagerer aus . Er ritt ,
ohne Lebewohl zu ſagen , fluchend und wetternd
davon , die Braune am Leitzaum nachziehend . Kei-
nen Blick wandte er nach dem Gehöfte zurück ,
die Braune dahingegen drehte mehreremale den
Hals um und wieherte wehmüthig , als wollte
ſie klagen , daß ihre gute Zeit nun vorüber ſei .
Der Hofſchulze blieb , die Arme in die Seite
geſtemmt , mit dem Knechte ſtehen , bis der
Zug durch den Baumgarten verſchwunden war .
Dann ſagte der Knecht : Das Vieh grämt ſich .
Warum ſollte es nicht ? erwiederte der Hofſchulze ,
grämen wir uns doch auch . Komm auf den Fut-
terboden , wir wollen Hafer meſſen .
Zweites Capitel .
Rath und Antheil .
Indem er ſich mit dem Knechte dem Hauſe
zuwandte , ſah er , daß der Platz unter den Linden
ſchon wieder von neuen Gäſten eingenommen war .
Dieſe hatten aber ein ſehr verſchiedenartiges Anſe-
hen . Denn es ſaßen da drei bis vier Bauern ,
ſeine nächſten Nachbarn , und neben ihnen ſaß ein
bildſchönes Mädchen . Dieſes bildſchöne Mädchen
war die blonde Lisbeth , welche im Oberhofe genächti-
get hatte .
Ich werde mich nicht vermeſſen , ihre Schönheit
zu beſchreiben ; es käme dabei doch nur auf rothe
Wangen und blaue Augen hinaus , und dieſe aller-
liebſten Dinge , ſo friſch ſie ſich in der Wirklichkeit
halten , ſind ſchwarz auf weiß etwas abgeſtanden .
Es denke ſich daher jeder Leſer ſeine jetzige oder
ehemalige Geliebte , und jede Leſerin blicke in den
Spiegel , oder erinnere ſich , wie ſie an ihrem Braut-
tage ausgeſehen hat , ſo wird die Lisbeth vor allen
Leuten daſtehen , wie ſie leibt und lebt .
Der Hofſchulze ging , ohne ſich vorläufig um
die langhaarigen , bekittelten Nachbarn zu kümmern ,
auf ſeinen blühenden Gaſt zu und ſagte : Nun ?
Gut geſchlafen , Mamſellchen ?
Prächtig , verſetzte Lisbeth .
Was haben Sie denn am Finger ? Sie tragen
ihn ja verbunden ? fragte der Alte .
Nichts , antwortete das junge Mädchen und
errothete . Sie wollte eine andere Unterredung
anfangen . Der Hofſchulze ließ ſich aber nicht irren ,
ergriff ihre Hand , an welcher ſie den Finger ver-
bunden trug und rief : Es iſt doch nicht ſchlimm ?
Nicht der Rede werth , verſetzte Lisbeth . Als
ich Eurer Tochter geſtern Abend nähen half , fuhr
mir die Nadel in den Finger , und da hat er
geblutet , das iſt Alles .
Ei ! Ei ! ſagte der Hofſchulze ſchmunzelnd ,
und wie ich ſehe , iſt es ſogar der Ringfinger ; das
bedeutet was Gutes . Wiſſen Sie wohl , daß wenn
eine Jungfer einer Braut hilft am Brautlinnen
nähen und verwundet ſich am Ringfinger , ſie
noch im nämlichen Jahre auch Braut wird ? Nun , ich
gratulir ’ ſchönſtens zum ſchmucken Freiersmann .
Die Bauern lachten ; die blonde Lisbeth ließ
ſich nicht aus der Faſſung bringen , ſondern rief
frohlich : Und wißt Ihr auch meinen Spruch , den
ich von der Spröden gelernt habe ? Er lautet :
So weit der Herr die Lilien kleidet ,
Und auch die jungen Raben weidet ,
Geht mein Hab’ und Gut ;
Drum , wer nach mir fragen thut ,
Der ſoll thun nach mir fragen
Mit vier Pferden vor’m Wagen !
Und — fiel der Hofſchulze ein —
Er ſoll mich fangen , wie die Maus
Und angeln , wie einen Fiſch ,
Und ſchießen , wie ein Reh —
Ein Schuß fiel in der Nähe . Sehen Sie , Mam-
ſellchen , das trifft zu , rief der Alte .
Laßt jetzt Eure loſen Reden , Hofſchulze , ſagte
das junge Mädchen . Ich bin darum bei Euch
eingekehrt , um von Euch Rath wegen der Gülten
zu bekommen , und den gebt mir alſo nun auch
ohne Scherz und Poſſen .
Der Hofſchulze ſetzte ſich , um zu hören und
zu reden , in Poſitur , die Lisbeth zog ein Schreib-
täflein heraus und las die Namen der Bauern
ab , bei welchen ſie in den Tagen zuvor umherge-
wandert war , um die Rückſtände der Zinſen für
ihren Pflegevater einzutreiben . Sie erzählte dabei
dem Hofſchulzen , daß und unter welchen Vorwän-
den ſie ſich geweigert hätten , ihre Schuld abzuſto-
ßen . Der Eine wollte längſt bezahlt haben , der
Andere hatte geſagt , er ſei neu auf dem Hofe ,
der Dritte wußte von gar nichts , der Vierte hatte
gethan , als höre er nicht gut , und ſo fort , ſo daß
das arme Mädchen , wie ein Vöglein , das bei Win-
terszeit nach Futter fliegt und kein Körnlein aufzu-
picken findet , von Thür zu Thür leer abgewieſen
worden war . Wer aber glaubt , daß dieſe vergeb-
liche Mühe ſie in Kümmerniß geſtürzt habe , der irrt ;
ihr konnte nichts etwas anhaben , ſie erzählte ihre
beſchwerlichen Wanderungen mit heitrem Munde .
Der Hofſchulze ſchrieb mehrere der ihm genann-
ten Namen mit Kreide auf den Tiſch und ſagte ,
als ſie ihre Liſte geſchloſſen hatte : Was die Andern
betrifft , ſo wohnen die nicht bei uns , über die
habe ich keine Macht , und wenn ſie ſo ſchlecht ſind ,
ihre Pflicht und Schuldigkeit zu verläugnen , ſo
ſtreichen Sie die Schelme nur aus , denn mit Pro-
zeſſen kriegt man nichts vom Bauer . Aber die in
unſerer Gemarke wohnen , gegen die werde ich Ihnen
zu Ihrem Rechte helfen , dazu haben wir noch Mittel .
Oho ! ſagte einer der Bauern halb laut zu ihm ;
thut Ihr doch , Schulte , als hättet Ihr immer
das Strop So heißt in manchen Gegenden ein Strick . im Rockärmel bei Euch . Wann ſoll die
Heimlichkeit vor ſich gehen ?
Schweigt , Baumſchulte , denn ſolche ſpöttliche
Worte möchten Euch zu Schaden werden , verſetzte
der Alte mit Ernſt .
Der Angeredete wurde betreten , ſchlug die
Augen nieder und erwiederte kein Wort . Lisbeth
dankte dem Alten für die zugeſagte Hülfe und
fragte nach den Wegen und Stegen zu den Andern ,
die ſie noch in der Schreibtafel hatte . Der Hof-
ſchulze bezeichnete ihr den Pfad zu dem nächſten
Hofe über die Pfaffenwieſe , an den drei Mühlen
vorbei , durch die Hollenberge . Als ſie ihren Stroh-
hut aufgeſetzt , ihren Stecken genommen , für gute Be-
wirthung gedankt , und ſich ſolchergeſtalt zum Gehen
gerüſtet hatte , bat er ſie , bei der Wiederkehr ſich
ſo einzurichten , daß ſie die Hochzeit über und bis
zum zweiten Tage nach derſelben im Hofe bleibe ,
dann hoffe er ihr die Verſicherung über die Zinſen
oder dieſe ſogar vielleicht ſelbſt zugleich nach Hauſe
mitgeben zu können .
Als die ſchlanke und edle Geſtalt des jungen
Mädchens hinter den letzten Wallnußbäumen des
Baumgartens verſchwunden war , ſagte einer der
Bauern : Wenn der alte Herr Baron die früher
zur Schaffnerin gehabt hätte , ſo wäre er nicht ſo
heruntergekommen und hätte nicht zu beſorgen , daß
ihm das Haus einmal über dem Kopfe zuſammen-
ſtürzt . — Uebrigens iſt es unrecht , daß ſie das
Kind allein im Lande herumlaufen laſſen .
Daran ſehe ich eben kein Unrecht , erwiederte
der Hofſchulze . Ich habe noch nicht erlebt , daß
einem ordentlichen Mädchen Schlechtigkeiten wider-
fahren wären . Eine reine Jungfer kann unter Räu-
ber und Mörder gehen , unter Geſindel und Be-
trunkne , ſie thun ihr ſo leicht nichts . Vorigen Herbſt ,
als hier nebenan das Volk auf der Haide im Lager
ſtand , hatte ſich meine Tochter bei einem Gange
über Feld unter einen marſchirenden Trupp verlo-
ren . Ja , von Niemand war ſie angetaſtet worden ;
ſie hatten ſie , weil ſie müde geworden war , ganz
ſauber auf einen von ihren Vorſpannwagen gehoben ,
und ſo wurde ſie hier am Hofe richtig abgeſetzt .
Ein Frauenzimmer , was die Mannsleute angreifen ,
pflegt von Hauſe aus angreifiſche Waare zu ſeyn .
Die Bauern ſprachen jetzt von dem Gegenſtande ,
welcher ſie zu dem Hofſchulzen geführt hatte . Eine
neue Straßenanlage , die mit der großen Chauſſee
Verbindung ſtiften ſollte , bedrohte ſie mit dem Ver-
luſte einiger kleinen Wieſenſtücke , über welche der
Weg nothwendig zu legen war , wenn er zu Stande
kommen ſollte . Gegen dieſen Verluſt ſuchten ſie
ſich nun , obgleich die Anlage zum Vortheil aller
umliegenden Bauerſchaften gereichte , auf jede Weiſe
zu ſchützen , und wie er abzuwenden ſeyn möchte ,
darüber wollten ſie ſich bei dem Beſitzer des Ober-
hofes Raths erholen . Wirklich zeigte ſich auch der
Hofſchulze in dieſer Angelegenheit ſehr eifrig und
gab ihnen die beſten Mittel und Wege an die Hand ,
wie ſie der Forderung des Staates unter dem
Schutze buchſtäblicher Vorſchriften der Geſetze ent-
gehen , oder doch wenigſtens das Nachgeben hinzö-
gern könnten . Sie möchten nur ſagen , die Stücke
ſeien ihnen ganz nothwendig , wenn ſie nicht zu
Grunde gehen ſollten , möchten einen übermäßigen
Preis auf ſie ſetzen , den und den angehen , welcher
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 18
in der Sache abzuſprechen habe und welcher , wenn
ſie ihn recht zu behandeln wüßten , ſchon ein Zeug-
niß ausſtellen werde , daß die Straße auch anders
gelegt werden könne , und was dergleichen mehr
war , welches freilich auf eine ganz andere Sinnes-
weiſe hinauszulaufen ſchien , als die mir ſchon von
dem Hofſchulzen in ſeinem Verkehre mit Menſchen
kennen gelernt haben .
Indeſſen wurde aus ſeinem Geſpräche mit den
Nachbarn klar , daß dieſe Bauern ſich den Heiſchun-
gen des Staats zum öffentlichen Nutzen gegenüber
im Zuſtande des Krieges glaubten , welcher bekannt-
lich alle Mittel , die zum Zweck führen , gutheißt .
Wir werden ſchon unſre Frucht einfahren und zu
Markte führen können , wie bisher , ohne große Stra-
ßen nöthig zu haben , und was geht uns alles
Uebrige an ? ſagte der Hofſchulze im Verlaufe der
Unterredung . Mogen ſie bauen und graben , was
ſie wollen , ſie ſollen uns aber ungeſchoren laſſen .
Wenn es nach denen ginge , ſo wären wir bald vom
Erb von wegen des gemeinen Nutzens , wie es
heißen würde , fügte er hinzu .
Guten Tag , wie geht’s ? rief eine hier wohl-
bekannte Stimme . Ein Fußwanderer , ein Mann
in anſtändiger Kleidung , aber von den grauen Kama-
ſchen bis zur grünen Schirmkappe beſtaubt , war durch
den Thorweg eingetreten und hatte ſich dem Tiſche
genähert , ohne von den Redenden anfänglich bemerkt
zu werden . Ei , Herr Schmitz , ſieht man Sie auch ein-
mal wieder ? ſagte der alte Bauer ſehr freundlich
und ließ für den Ermüdeten durch den Knecht das
Beſte , was ſich im Keller befand , herbeiholen .
Die Bauern rückten vor dem neuen Ankömm-
linge höflich zuſammen . Er wurde zum Sitzen
genöthigt und bewerkſtelligte dieſe ſeine Niederlaſ-
ſung mit bedachtſamer Vorſichtigkeit , um nicht , was
er bei ſich trug , zu zerbrechen . In der That war
ein ſolches Verhalten auch nothwendig , denn der
Mann war bepackt wie ein Laſtwagen , und die
Umriſſe ſeiner Geſtalt glichen einem Conglomerate
zuſammengeſchnürter Ballen . Nicht allein , daß die
Rocktaſchen , mit manchem Runden , Viereckten , Läng-
lichten befrachtet , in ſonderbarer Bauſchung weit
vom Leibe abſtanden , auch Bruſt- und Seitenbehäl-
ter , zu gleichen Zwecken verwendet , bildeten man-
nigfach geformte Wülſte und Erhöhungen , die um
ſo ſchärfer hervortraten , als der Sammler , um
nichts von ſeinen Schätzen zu verlieren , den Rock ,
18*
ungeachtet der herrſchenden Sommerwärme , feſt zu-
geknöpft trug . Selbſt das Innere der Kappe hatte
zur Aufbewahrung kleinerer Gegenſtände dienen
müſſen und erhielt von dieſem Inhalte ein kürbiß-
artiges Anſehen . Er ſchlürfte den ihm vorgeſetzten
guten Wein mit ſichtbarem Behagen , das ältliche ,
von Wandern und Hitze aufgedunſene und gerö-
thete Antlitz gewann allmählich ſeine ihm natür-
liche Farbe und Form wieder . Gute Geſchäfte
gemacht , Herr Schmitz ? fragte der Hofſchulze
lächelnd . Dem Anſcheine nach ſollte man es glauben .
Es geht noch , verſetzte der Sammler . In der
lieben Erde ſteckt ein rechter Segen . Nicht allein
Korn und Gewächſe bringt ſie immerdar hervor
und wird nicht müde ; auch Alterthümer erndtet ein
aufmerkſamer Forſcher ihr fortwährend ab , ſoviel
auch danach ſchon geſcharrt und gegraben worden
iſt . Ich habe denn einmal wieder ſo mein Gän-
gelchen durch das Land gehalten , kam dieſes-
mal bis an die Grenze vom Siegenſchen . Nun
bin ich auf dem Rückmarſch , will heute noch
zur Stadt , mußte aber unterweges bei Euch ,
Schulze , mich etwas ausruhen , denn müde ward ich
freilich .
Was bringen Sie denn mit ? fragte der Hof-
ſchulze .
Der Sammler klopfte ſacht und freundlich auf
alle Erhöhungen und Wülſte ſeiner verſchiedenen
Taſchen und ſagte : Ei nun , Liebes und Gutes ,
allerhand Siebenſachen . Eine Streitaxt , ein Paar
Donnerkeile , Kattenringe , prächtig mit grünem Roſt
überzogen , Aſchenkrüglein , Thränenflaſchen , drei
Götzen und ein Paar koſtbare Lampen . Dann ſchlug
er mit der umgewandten Hand an ſeinen Nacken
und fuhr fort : Und ein ganz complett erhaltenes
Stück korinthiſchen Erzes habe ich mir hier , weil
ich ſonſt keinen andern Platz mehr hatte , hier im
Rücken unter dem Rocke feſtgebunden . Nun , es
wird ſich denn wohl leidlich machen , wenn es Alles
erſt geſäubert iſt und in Reihe und Glied ſteht .
Die Bauern bezeugten ihre Neugier nach eini-
gen der Sachen ; der alte Schmitz erklärte ſich aber
unfähig , dieſelbe zu befriedigen , weil die Alter-
thümer ſo ſorgfältig verpackt und mit ſo ausgeklü-
gelter Benutzung jedes Räumchen’s eingeſenkt ſeien ,
daß es ſchwer halte , die ganze Befrachtung , wenn
ſie gelöſet worden , wieder zu Stande zu bringen .
Der Hofſchulze ſagte ſeinem Knechte etwas in das
Ohr ; dieſer ging in das Haus . Inzwiſchen erzählte
der Sammler ausführlich von dem Fundorte der
verſchiedenen Erwerbungen , rückte dann ſeinem Gaſt-
freunde näher und ſagte vertraulich : Was aber die
allerwichtigſte Entdeckung dieſer Reiſe iſt ; ich habe
nun wahr und wahrhaftig den Ort gefunden , wo
Hermann den Varus ſchlug .
Ei , Ei , Ei , verſetzte der Hofſchulze und ſchob
ſeine Mütze hin und her .
Alle ſind ſie auf dem falſchen Wege geweſen ,
Cloſtermeier , Schmid , und wie ſie heißen mögen ,
die darüber geſchrieben haben ! rief der Sammler
feurig . Immer wollten ſie den Varus in der Rich-
tung auf Aliſo , wovon doch auch noch kein Menſch
ausgeforſcht hat , wo es eigentlich gelegen — genug
aber Mitternachtwärts — ſich zurückziehen laſſen ,
und demnach ſollte die Schlacht zwiſchen den Quel-
len der Lippe und Ems , bei Detmold , Lippſpringe ,
Paderborn und Gott weiß wo noch ? vorgefallen
ſeyn —
Der Hofſchulze ſagte : Ich glaube , der Varus
mußte aus allen Kräften ſuchen , nach dem Rhein
zu kommen , und das konnte er nur , wenn er ins
offene Land gelangte . Drei Tage ſoll die Bataille
gedauert haben , darin läßt ſich ſchon ein Stück
marſchieren , und ſo bin ich vielmehr der Meinung ,
daß die Attaque in den Bergen , die unſre Börde
einſchließen , alſo gar nicht weit von hier vorge-
fallen iſt .
Falſch ! Falſch , Hofſchulze ! rief der Sammler .
Hier unterwärts war Alles beſetzt und verſtopft von
Cheruskern , Katten und Sicambrern . Nein , weit
mehr nach Mittag iſt die Schlacht geweſen , der
Ruhrgegend nahe , nicht weit von Arnsberg . Varus
mußte ſich durch das Gebirg hindurchworgen , er hatte
nirgends einen Ausweg , und ſeine Gedanken ſtanden
auf den Mittelrhein , wohin der Weg quer durch das
Sauerland geht . So dachte ich es mir immer , ſo ,
und jetzt habe ich die untrüglichſten Beſtätigungs-
zeichen entdeckt . Dicht an der Ruhr fand ich das
korinthiſche Erz und kaufte die drei Gotzen , und
da ſagte mir ein Mann aus dem Dorfe , daß kaum
eine Stunde davon im Walde zwiſchen den Bergen
eine Stelle liege , wo Knochen in ungeheurer Anzahl
zwiſchen dem Sand und Kies aufgeſchichtet ſeien .
Hui ! rief ich , es wird Tag . Ging mit einigen
Bauern hinaus , ließ nachgraben , und ſiehe da ,
wir fanden Knochen , wie ich ſie nur wünſchte .
Das iſt alſo der Platz , wo Germanicus ſechs
Jahre nach der Teutoburger Schlacht die Ueber-
reſte der römiſchen Legionen beſtatten ließ , als er
ſeine letzten Züge wider Hermann machte , und
folglich habe ich dort das richtige Schlachtfeld ent-
deckt .
An die tauſend und mehrere Jahre pflegen ſich
Knochen nicht zu erhalten , ſagte der Schulze und
bewegte zweifelmüthig das Haupt .
Sie haben ſich verſteinert in den Mineralien
dort , ſprach der Sammler zorneifrig . Ich muß
Euch nur den Glauben in die Hand geben , da iſt
Einer , den ich mitgebracht habe .
Er zog einen großen Knochen aus dem Buſen
und hielt denſelben ſeinem Widerpart unter die
Augen . He , was iſt das ? fragte er triumphirend .
Die Bauern ſtarrten den Knochen verdutzt an .
Der Hofſchulze antwortete , nachdem er ihn prüfend
betrachtet hatte : Ein Kuhknochen , Herr Schmitz .
Sie ſind auf einen Schindanger geſtoßen und nicht
auf das teutoburger Schlachtfeld .
Grimmig ſteckte der Sammler das beſcholtene
Alterthum wieder an ſeinen Platz und ſtieß einige
heftige Reden aus , denen der alte Bauer in der-
ben Weiſe zu begegnen wußte . Es ſah daher nach
einem Zanke zwiſchen beiden Männern aus ; indeſſen
hatte es damit nicht viel zu bedeuten . Denn es
war ſchon hergebracht , daß ſie über ſolche und ähn-
liche Dinge aneinander geriethen , wenn ſie zuſam-
menkamen . Immer aber blieben ſie trotz dieſer
Streitigkeiten gute Freunde . Der Sammler , der
ſich das Brod am Munde abſparte , um ſeine Lieb-
haberei zu befriedigen , pflegte ſich das Jahr hin-
durch wochenlang bei den gefüllten Fleiſchtöpfen
des Oberhofes auszufüttern und half wieder ſei-
nerſeits dem Gaſtfreunde mit allerhand Schreibe-
reien in deſſen Geſchäften ; denn er war ſeines
Zeichens ein ehemaliger Kaiſerlicher geſchworner
und immatriculirter Notarius .
Endlich ſagte der Hofſchulze nach vielem nutz-
loſen Hin- und Herreden von beiden Seiten : Ich
will mit Ihnen über den Wahlplatz nicht ſtreiten ,
obgleich ich dabei verbleibe , daß Hermann den Va-
rus hier herum geſchlagen hat . Es liegt mir aber
überhaupt nicht viel daran , die Sache iſt mehr für
die Herrn Gelehrten , denn wenn der andere römi-
ſche General ſechs Jahre darauf , wie Sie mir oft-
malen erzählt haben , ſchon wieder mit einer Armee
in hieſigen Gegenden ſtand , ſo hat die ganze Ba-
taille wenig zu bedeuten gehabt .
Davon verſteht Ihr nichts , Hofſchulze ! fuhr
der Sammler auf . Auf der Hermannsſchlacht
beruht das geſammte deutſche Weſen . Wenn Her-
mann der Befreier nicht geweſen wäre , ſo ſäßet
Ihr nicht ſo breit hier zwiſchen Euren Hecken und
Pfählen . Aber Ihr Leute lebt nur von einem Tage
zum Andern und Geſchichte und Alterthümer ſind
Euch nichts nütze .
Oho , Herr Schmitz , da thun Sie mir doch groß
Unrecht ! verſetzte der alte Bauer ſtolz . Weiß
Gott , was für Plaiſir es mir macht , bei Win-
terszeit die Chroniken und Hiſtorienbücher zu le-
ſen , und Sie ſelbſt wiſſen , daß ich mit dem
Schwerte von Carolus Magnus , ( der Alte ſprach
die zweite Sylbe lang aus ; ) welches nun ſeit tau-
ſend und mehreren Jahren im Oberhofe aufbe-
wahrt wird , umgehe , wie mit meinem Augapfel ,
folglich …
Das Schwert Karls des Großen ! ſagte der
Sammler höhniſch . Freund , iſt es denn nicht mög-
lich , Euch dieſe Grillen aus dem Kopfe zu bringen ?
Hört doch nur —
Und ich ſage und behaupte , daß es das ächte
und aufrichtige Schwert Caroli Magni iſt , womit
er hier auf dem Oberhofe den Freiſtuhl geſetzet
und eingerichtet hat . Und das Schwert wirket und
vollbringet noch heut zu Tage ſein Amt , obgleich
davon nicht weiter geredet werden darf . Der Alte
ſprach dieſe Worte mit einem Ausdrucke in den
Mienen und mit einer Gebärde , die etwas Erha-
benes hatten .
Und ich ſage und behaupte , daß das eitel Thor-
heiten ſind , eiferte der Sammler . Ich habe den
alten Flederwiſch an die hundertmale unterſucht ,
er hat kein halb Jahrtauſend erlebt und rührt viel-
leicht aus der Soeſter Fehde her , wo ihn ein
Reiſiger des Erzbiſchofs , der ſich hier in den Bü-
ſchen verkrochen , mag haben ſtehen laſſen .
Daß dich ! rief der Hofſchulze und ſchlug mit
der Fauſt auf den Tiſch . Dann murmelte er vor
ſich hin : Nun warte ! Dafür ſollſt du heute deine
Strafe kriegen .
Der Knecht trat aus der Thüre . Er trug ein
Gefäß aus gebrannter Erde , von bedeutendem Um-
fange und fremdartigem Anſehen , es ſteif und acht-
ſam mit beiden Händen an den Henkeln gefaßt .
Ei Gott ! rief der Sammler , als es ihm näher
zu Geſichte kam , das iſt ja eine prächtige große
Amphora ! Woher ſtammt denn die ?
Ich habe , verſetzte der Hofſchulze gleichgültig ,
den alten Topf vor acht Tagen in meiner Kies-
grube gefunden , als Grand ausgeſtochen wurde .
Es ſtand noch mehr des Zeuges umher , was aber
die Leute mit den Grabſcheiten zerſchlagen haben .
Der Topf allein iſt erhalten worden . Ich wollte
doch , daß Sie ihn ſähen , da Sie einmal hier ſind .
Mit feuchten Blicken betrachtete der Sammler
das große , wohlerhaltene Gefäß . Endlich ſtammelte
er : Iſt darüber kein Handel zu machen ?
Nein , verſetzte der alte Bauer kalt , ich will den
Topf mir ſelber aufheben . Er gab dem Knechte
einen Wink , dieſer wollte die Amphora in das Haus
zurücktragen , wurde aber daran von dem Sammler
gehindert , welcher , die Augen nicht von dem Gefäße
wendend , den Eigenthümer mit den mannigfaltig-
ſten und beweglichſten Wendungen anging , ihm den
erſehnten Weinkrug abzuſtehen . Es war indeſſen
Alles vergebens ; der Hofſchulze verblieb den ein-
dringlichſten Bittworten gegenüber in unerſchütter-
licher Seelenruhe und machte auf dieſe Weiſe den
unbewegten Mittelpunkt der Gruppe , um welchen
die Bauern , die dem Handel mit aufgeſperrten
Mäulern zuhorchten , der Knecht , der das Gefäß an
den Henkeln gefaßt , dem Hauſe zuſtrebte , und der
Alterthümler , welcher daſſelbe am untern Ende
feſthielt , die aufgeregten Seiten- und Nebenfiguren
bildeten . Zuletzt ſagte der Hofſchulze , daß er in
Willens geweſen ſei , ſeinem Gaſte den Topf , wie
ſo manches früher aufgefundene Stück zu ſchenken ,
weil er ſelbſt ſeine Freude daran habe , die alten
Sachen auf den Brettern der Sammlung an den
Wänden ringsherum in Ordnung geſtellt , zu ſehen ,
daß ihm aber die beſtändigen Angriffe auf das
Schwert Caroli Magni verdrießlich ſeien , und daß
er deßhalb auch mit dem Topfe ſeinen Willen behal-
ten wolle .
Kleinlauten Tons verſetzte hierauf der Sammler
nach einer Pauſe , daß Irren menſchlich wäre , daß
die Waffen des Mittelalters ſich nach den Zeital-
tern oft nicht genau unterſcheiden ließen , daß er
auf dieſe Ueberbleibſel ſich weniger , als auf Romer-
ſachen verſtände , und daß allerdings Manches an
dem Schwerte auf ein höheres , über die Soeſter
Fehde hinausreichendes Alter zu deuten ſchiene .
Worauf der Hofſchulze entgegnete , daß ihm der-
gleichen allgemeine Redensarten nichts frommen könn-
ten , daß er den Zwiſt und den Zweifel an ſeinem
Schwerte einfürallemal abgethan wiſſen wollte , und
daß es nur ein Mittel gäbe , in den Beſitz des
alten Topfes zu kommen , nämlich , wenn der Herr
Schmitz auf der Stelle eine Schrift von ſich gäbe ,
worin das im Oberhofe aufbewahrte Schwert förm-
lich für das wahre Schwert Caroli Magni aner-
kannt würde .
Nach dieſer Eröffnung hatte der Alterthümler
freilich einen harten Kampf zwiſchen ſeinem anti-
quariſchen Gewiſſen und ſeiner antiquariſchen Be-
gierde zu kämpfen . Er warf die Lippe auf und
trommelte mit den Fingern auf der Stelle umher ,
wo er den Knochen vom teutoburger Schlachtfelde
ſtecken hatte . Sichtlich war ſein Beſtreben , über
die Anmahnungen des ihn zur Unwahrheit verlocken-
den Geluſtes Herr zu werden . Endlich aber erhielt
dennoch die Leidenſchaft , wie dieſes immer zu geſche-
hen pflegt , die Oberhand . Haſtig forderte er Feder
und Papier und ſtellte mit fliegender Eile , zuwei-
len ſeitwärts nach der Amphora ſchielend , ein
unumwundenes Bekenntniß aus , daß er nach oft-
maliger Beſichtigung des Schwertes im Oberhofe
ſolches für das des Kaiſers Karls des Großen
erkannt und befunden habe .
Dieſe Urkunde ließ der Hofſchulze von den bei-
den Bauern als Zeugen mit unterſchreiben , und
ſteckte dann das Papier , mehrmals zuſammenge-
ſchlagen , zu ſich . Der alte Schmitz aber faßte hef-
tig nach der auf Koſten ſeines beſſeren Bewußtſeyns
erkauften Amphora . Der Hofſchulze ſagte , er wolle
ihm den Topf andern Tages nach der Stadt ſchicken ;
wie hätte aber ein Sammler wohl jemals auch nur
einen Augenblick lang die körperliche Innehabung
eines theuer erworbenen Beſitzſtückes entbehrt ?
Entſchieden lehnte der Unſrige jeden Verzug ab ,
ließ ſich eine Schnur geben , zog dieſe durch die
Henkel , und hing ſich daran das große Weinge-
fäß über die Schulter . Sie ſchieden demnächſt
im beſten Einvernehmen , nachdem der Samm-
ler noch zur Hochzeit gebeten worden war . Er
gewährte mit ſeinen Winkeln , mit den bau-
ſchig abſtehenden Rockſchößen und der hin und
her wackelnden Amphora an der linken Seite ei-
nen abentheuerlichen Anblick , als er von dannen
zog .
Die Bauern boten ihrem Rathgeber die Zeit , ver-
ſprachen , ſich ſeinen Rath merken zu wollen und
gingen dann , ein Jeder zu ſeinem Gehöfte . Der
Hofſchulze , dem im Laufe einer Stunde mit allen
Menſchen , die ſich bei ihm zuſammengefunden hatten ,
jegliches Vornehmen geglückt war , trug erſt die
erwonnene Anerkennungsurkunde auf die Kammer ,
worin er das Schwert Caroli Magni verwahrte ,
dann ging er mit dem Knechte auf den Futterbo-
den , um den Hafer für die Pferde ihm zuzumeſſen .
Drittes Capitel .
Der Oberhof .
„ Weſtphalen beſtund aus einzelnen Höfen , deren
jeder ſeinen eigenthümlichen und freien Beſitzer
hatte . Mehrere ſolcher Höfe machten eine Bauer-
ſchaft aus , die gewöhnlich den Namen des älteſten
und vornehmſten Hofes führte . Es gründet ſich
in der erſten Anlage der Bauerſchaften , daß der
älteſte Hof auch der erſte im Range bleiben und
der vornehmere werden mußte , wo von Zeit zu Zeit
die davon ausgegangenen Kinder , Enkel , Hausge-
noſſen zuſammenkamen und einige Tage feuerten
und zechten . Der Anfang , oder das Ende des
Sommers war die gewöhnliche Zeit dazu , wo jeder
Hofbeſitzer etwas von ſeinen gezogenen Früchten
und auch wohl ein junges Stück Vieh zum Bauer-
mahl mitbrachte . Man beſprach ſich über man-
nichfaltige Gegenſtände und nahm Rückſprache , Hei-
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 19
rathen wurden da geſchloſſen , Todesfälle angezeigt ,
und der Sohn als eingetretenes Haupt ſeines väter-
lichen Erbes erſchien dann gewiß mit volleren Hän-
den und ausgeſuchterem Viehe bei ſeinem erſten
Eintritt in die Verſammlung . An Zwiſten konnte
es bei ſolchen Freudentagen nicht fehlen , dann trat
der Vater als Haupt des älteſten Hofes in die
Mitte und legte mit Einſtimmung der Uebrigen
den Zank bei . Wurden einige Hofbeſitzer während
der andern Jahrszeit irgend einer Urſache halber
uneins , ſo brachten Beide bei der nächſten Ver-
ſammlung ihre Beſchwerde vor , und Beide waren
damit zufrieden , was ihre Mitgenoſſen für gut oder
recht fanden . War Alles aufgezehrt , der zur Feier
beſtimmte Baum ausgebrannt , ſo hatte das Feſt ,
die Verſammlung ein Ende . Jeder kehrte dann
zurücke , erzählte ſeinen zu Hauſe ſchon wartenden
Hausgenoſſen die Begebenheiten des Feſtes und
ward mit ihnen lebendige und ſtäts fortdauernde
Urkunde aller Vorfälle ihrer Bauerſchaft .
Dergleichen Zuſammenkünfte hießen Sprachen ,
Bauerſprachen , weil ſämmtliche Hofbeſitzer einer
Bauerſchaft , um ſich zu beſprechen , zuſammenkamen ,
und Bauergerichte , weil hier die Irrungen der
ſchon ſtillſchweigend in einen Verein getretenen
Männer beigelegt oder zurückgewieſen wurden . Da
die Bauerſprachen und Bauergerichte bei’m älteſten
oder vornehmſten Hofe gehalten wurden , ſo hieß
ſolcher Hof auch Richthof , und die Bauergerichte
und Bauerſprachen auch Hofſprachen und Hofge-
richte , welche bis auf heutigen Tag noch nicht
ganz verſchwunden ſind . Der älteſte Hof , der Richt-
hof ward nun im vorzüglicheren Sinne Hof genannt ,
womit man den Haupthof oder Oberhof in der
Bauerſchaft und deſſen Beſitzer als das Haupt oder
den Hauptmann der Uebrigen bezeichnete .
So hätten wir ungefähr die Entſtehung von
dem erſten Vereine und den erſten Gerichtsanſtalten
der Weſtphäliſchen Höfe oder Bauerſchaften . Sie
kann uns um deſto weniger befremden , wenn man
bedenket , daß Weſtphalens ehemalige Geſtalt nur
eine langſame Bevölkerung und allmähligen Anbau
verſtattete , und dieſes allmählige Fortſchreiten ge-
rade ſo zu den ſimpeln und einförmigen Einrich-
tungen , als zu der gleichen Bildung , Sitte und
Gewohnheit führte , die wir bei Weſtphalens alten
Bewohnern antreffen . “
19*
Dieſe Stelle aus Kindlinger’s Münſteriſchen
Beiträgen führt uns auf den Schauplatz der Hand-
lung . Sie verdeutlicht uns den Helden der Letz-
teren , den Hofſchulzen . Er war der Beſitzer eines
der größten und reichſten Haupt- oder Oberhöfe ,
welche in den dortigen Gegenden , freilich jetzt bis
zu geringer Anzahl zuſammengeſchmolzen , liegen .
Ueber dieſe uralten Wehren freier Männer iſt
der Athem der Zeiten Markenverrückend und Rech-
tetilgend hingefahren . Die anfängliche germaniſche
Genoſſenſchaft , in welche Jeder nur eintrat , Leibes
und Lebens ſicher zu werden , nicht , Leib und Leben
zu verlieren , iſt längſt zerſtört ; der Vaſallendienſt
hat an der Freiheit gerüttelt , die Miniſterialität
hat daran gerüttelt , und endlich ſind die Trümmer
eigenartiger Selbſtſtändigkeit in den großen Noth-
und Bergehafen des modernen Staats getrieben
worden . In dieſem ſchwimmen ſie , ( um dem
Gleichniſſe treu zu bleiben , ) ſtoßen und prallen an
einander an , oder ſind auch wohl , ſeitwärts auf
das Trockne geworfen . Dort verwittern ſie , mit
Tang , Flechten und Schneckenhäuſern beſetzt , nach
und nach , während jener Ueberzug den Schein eines
neuen Gebildes fortſetzt .
Aber es iſt etwas Merkwürdiges um die erſten
Stammerinnerungen , und die Völker haben ein ſo
langes Gedächtniß , wie die einzelnen Menſchen ,
denen ja auch die Eindrücke der früheſten Kinder-
zeit bis in das höchſte Alter hinauf getreu zu blei-
ben pflegen . Erwägt man nun , daß eines Menſchen
Leben Neunzig währen kann und darüber , daß der
Völker Jahre aber Jahrhunderte ſind , ſo iſt es
weiter nicht zu verwundern , daß in den Gegenden ,
in welche ſich unſere Geſchichte nunmehr begeben
hat , Manches noch hin und wieder aufſtößt , welches
nach der Zeit zurückweiſ’t , in welcher der große
Frankenkaiſer die eigenſinnigen Saſſen mit Feuer
und Schwert zu bekehren wußte .
Weckt alſo die Natur da , wo ſonſt der oberſte Rich-
ter und Erbe der Gegend wohnte , wieder einmal beſon-
dere Eigenſchaften in einem Menſchen auf , ſo kann an
den Jahrtauſendalten Erinnerungen und zwiſchen den
Grenzen und Gräben , die doch noch erkennbar ſind , eine
Geſtalt erwachſen , wie unſer Hofſchulze , eine Geſtalt ,
deren Geltung zwar von den Mächten der Gegen-
wart nicht anerkannt wird , welche aber für ſich ſelbſt
und bei ihres Gleichen einen längſtverſchwundenen
Zuſtand auf einige Zeit wiederherſtellt .
Doch das klingt für dieſe Arabeskengeſchichte
zu ernſthaft . Sehen wir uns lieber im Oberhofe
ſelbſt um ! Wenn das Lob der Freunde immer ein ſehr
zweideutiges bleibt , ſo darf man dagegen dem Neide
der Feinde vertrauen , und am glaubwürdigſten iſt ein
Pferdehändler , der die guten Umſtände eines Bauern
herausſtreicht , mit welchem er nicht des Handels
einig werden konnte . Zwar ließ ſich von dem Hofe
nicht , wie der Roßkamm Marx ſagte , behaupten , es
ſei darin , als ob man ſich bei einem Grafen befinde ,
dagegen nahm man , wohin man blickte , bäuriſchen
Wohlſtand und einen Segen wahr , welcher dem
hungrigſten Menſchen zurufen mußte : Hier kannſt
du dich mit ſatt eſſen , die Schüſſel iſt immerdar voll .
Der Hof lag ganz allein an der Grenze der
fruchtbaren Börde , da wo ſie in das Hügel- und
Waldland übergeht . Die letzten Felder des Hof-
ſchulzen ſtiegen ſchon ſacht die Anhöhen hinauf , und
eine Meile von dort war Gebirg . Der nächſte
Nachbar der Bauerſchaft wohnte eine Viertelſtunde
vom Hofe . Um dieſen breitete ſich alles Beſitz-
thum , welches eine große ländliche Wirthſchaft
nöthig hat , aus ; Feld , Wald , Wieſe , unzerſtückelt ,
in geſchloſſenem Zuſammenhange .
Von der Anhöhe herab liefen die Felder durch
die Ebene , beſtens beſtellt . Es war aber um die
Zeit der Roggenblüthe ; der Rauch ging von den
Aehren und wallte in den warmen Sommerlüften ,
ein Opfer der Scholle . Einzelne Reihen hoch-
ſtämmiger Eſchen oder knorrichter Rüſtern , zu bei-
den Seiten der alten Grenzgräben gepflanzt , faßten
einen Theil der Kornfelder ein und bezeichneten ,
von Weitem her kenntlich , die Marken des Erbes ,
beſtimmter als Steine und Pfähle vermögen . Ein
tiefer Weg zwiſchen aufgeworfenen Erdwällen führte
quer durch die Felder , mündete rechts und links
an verſchiedenen Orten in Seitenpfade aus und
führte , wo das Getraide aufhörte , in ein kräftig
beſtandenes Eichenwäldchen , unter welchem ſich erd-
gelagerte Säue gütlich thaten , deſſen Schatten aber
auch für den Menſchen erquicklich waren . Dieſer
Kamp , welcher dem Schulzen ſein Holz lieferte ,
drang bis wenige Schritte vom Gehöfte vor , um-
faßte es von beiden Seiten und gab ſo zugleich
gegen die Oſt- und Nordwinde Schutz .
Nur mit Stroh war das Wohnhaus , welches
ſich in ſeinen weiß und gelb angeſtrichenen Wänden
von Fachwerk zweiſtöckig erhob , gedeckt , aber da
dieſe Bedeckung immer ſehr wohl in Stand erhal-
ten ward , ſo hatte ſie nichts Dürftiges , verſtärkte
im Gegentheil den behaglichen Eindruck , den das
Gehöft machte . Das Innere lernen wir ſchon
bei Gelegenheit kennen ; jetzt ſei nur geſagt , daß
auf der andern Seite des Hauſes um einen geräu-
migen Hof Ställe und Scheunen liefen , an denen
auch das ſchärfſte Auge keine ſchadhafte Stelle
an Mauer und Bewurf erſpähen konnte . Große
Linden ſtanden vor der Hofthüre , und dort , nicht
nach der Waldſeite zu waren auch , wie wir ſchon
erfahren haben , die Ruheſitze angebracht . Denn
der Hofſchulze wollte , ſelbſt wenn er raſtete , ſeine
Wirthſchaft im Auge behalten .
Gerade dem Wohnhauſe gegenüber ſah man durch
ein Gitterthor in den Baumgarten . Dort breite-
ten ſtarke und geſunde Obſtſtämme ihre belaubten
Zweige über friſchem Graswuchs , Gemüſe- und Sal-
latſtücken aus ; hier und da ernährte ein ſchmales Beet
dazwiſchen rothe Roſen und gelbe Feuerlilien . Doch
waren ſolcher Beete nur wenige . In einer äch-
ten Bauerwirthſchaft bleibt der Boden dem Bedürf-
niſſe gewidmet , ſelbſt wenn dem Eigenthümer
ſeine Umſtände Luxus mit der Natur verſtatten .
Deßhalb haben wir in ſolchen Höfen eine Empfin-
dung froher Ruhe aller Sinne , wie ſie Prachtgär-
ten , Parks und Villen nicht zu erregen vermögen .
Denn das aeſthetiſche Landſchaftsgefühl iſt ſchon
ein Product der Ueberfeinerung , weßhalb es denn
auch nie in eigentlich robuſten Zeiten auftritt .
Dieſe halten vielmehr die Stimmung zur Mutter
Erde , als zu der Allernährerin feſt , wollen und
verlangen nichts von ihr , als die Gabe des Feldes ,
der Viehweide , des Fiſchteiches , des Wildforſtes .
So weit das Auge über den Baumgarten hin-
ausblickte , ſah es auch nur Grün . Denn jenſeits
des Gartens lagen die großen Wieſen des Ober-
hofes , auf welchen der Schulze Raum und Futter
für ſeine Pferde beſaß . Ihre Zucht , mit Fleiß
betrieben , gehörte zu den einträglichſten Nahrungs-
quellen des Erbes . Auch dieſe grünen Grasflächen
waren von Hecken und Gräben umſchloſſen ; eine
derſelben faßte einen Weiher ein , in welchem aus-
gefütterte Karpfen zugweiſe umherſchwammen .
Auf dieſem reichen Hofe zwiſchen vollen
Scheuern , vollen Böden und Ställen handthierte
der alte , weit und breit angeſehene Hofſchulze .
Beſtieg man aber den höchſten Hügel , zu dem ſich
ſeine Felder hinauf erſtreckten , ſo erblickte man von dort
die Thürme dreier der älteſten Städte Weſtphalens .
Es ging zu der Zeit , von welcher ich rede ,
auf Eilf Uhr Vormittags , und der ganze weit-
läufige Hof war ſo ſtill , daß ſich faſt nur das
Rauſchen der Lüfte in den Baumwipfeln des Kamps
vernehmen ließ . Der Schulze maaß dem Knechte
Hafer zu , womit dieſer , den Sack über der Schul-
ter , langſamen Schrittes nach dem Pferdeſtalle ging ,
die Tochter zählte in der Linnen- und Garnkam-
mer ihre Ausſtattung nach , eine Magd beſorgte die
Küche . Was ſonſt von Menſchen im Hofe lebte ,
lag und ſchlief , denn es ging gegen die Ernte , in
welcher Zeit es bei den Bauern am wenigſten zu
thun giebt , und die Arbeiter jede Minute zu benut-
zen pflegen , um gewiſſermaßen auf Rechnung der
herannahenden ſchweiß- und mühevollen Tage in
voraus zu ſchlafen . Ueberhaupt können die Land-
leute , wie die Hunde , zu allen Stunden bei Tage
und bei Nacht ſchlafen , wann ſie wollen .
Viertes Capitel .
Worin der Jäger einem Menſchen , Na-
mens Schrimbs oder Peppel ſeinen Be-
gleiter nachſendet , und ſelbſt auf den
Oberhof kommt .
Aus den Hügeln , welche die Felder des Hof-
ſchulzen begrenzten , traten zwei Männer von ver-
ſchiedenem Anſehen und Alter . Der Eine , im
grünen Jagdcollet , die kleine Mütze über das locki-
ge Haupt geworfen , die leichte Lütticher Flinte
im Arme , war ein blühendſchöner Jüngling , der
Andere , in ſtillere Farben gekleidet , ein ältlicher
Mann von treuherziger Miene . Der Jüngere
ſchritt raſch wie ein Edelhirſch dem Aelteren voran ,
der ſeines Orts mehr den langſamen Gang eines
ausgedienten , aber dem Herrn noch ſtäts anhänglich
nachſchleichenden Jagdhundes hatte . Als ſie auf
einen freien Platz vor den Hügeln getreten waren ,
ſetzten ſie ſich auf einen großen Stein , der dort
nebſt mehreren Andern lag , im Schatten einer
mächtigen Linde . Der Jüngere gab dem Alten
Geld und Schriften , deutete ihm die Richtung an ,
in welcher er nun ſeinen Weg fortſetzen müſſe ,
und ſagte zu ihm : Jetzt Jochem , geh und ſei
geſcheidt , daß wir des vermaledeiten Schrimbs oder
Peppel habhaft werden , der ſolche abſcheuliche Lügen
ausgedacht hat . Und ſobald du ihn entdeckt haſt ,
gieb mir Nachricht .
Ich werd’ g’ſcheidt ſeyn , erwiederte der alte
Jochem . Ich frage immer ſo ſacht und unter der
Hand in den Flecken und Städten nach Einem , der
ſich Schrimbs oder Peppel ſchreibt , und es müßte
mit dem Henker zugehen , wenn ich den Gauch
nicht ausfindig machen wollte . Sie halten ſich der-
weile incognito-verborgen , bis Sie von mir ein
Weiteres vernehmen .
Wohl , ſagte der junge Mann , und nur immer
äußerſt vorſichtig und bedachtſam gehandelt , Jochem ,
denn wir ſind nicht mehr im lieben Schwabenland ,
ſondern dahaußen unter Sachſen und Franken .
Die wüſten Kerl ’ ! verſetzte der alte Jochem . Sie
haben halt lang von Schwabenſtreichen geſprochen ,
ſie ſollen verſpüren , daß der Schwab auch ein fei-
ner Vogel ſeyn kann , wann’s Noth thut .
Immer rechts dich gehalten , mein Jochem , denn
dahin weiſen die letzten Spuren von dem Schrimbs
oder Peppel , ſagte der junge Mann , indem er auf-
ſtand , und dem Alten zum Abſchiede herzlich die Hand
ſchüttelte . Immer rechts , verſteht ſich , erwiederte
Dieſer , gab dem Andern die vollgeſtopfte Waidtaſche ,
die er bis jetzt getragen hatte , lupfte den Hut ,
und ging dann zwiſchen den Kornfeldern einen
Seitenpfad rechts nach der Gegend zu hinab , wo
man in der Ferne eine der im vorigen Capitel
angedeuteten Thurmſpitzen ragen ſah .
Der junge Mann mit der Jagdflinte ging dage-
gen gerade gegen den Oberhof hinunter . Er mochte
etwa hundert Schritte weit gegangen ſeyn , als er
etwas keuchend hinter ſich herkommen hörte und
ſich umdrehend ſah , daß ſein alter Begleiter ihm
folgte . Ich wollte Sie noch um Eins gebeten
und erſucht haben , rief Dieſer , thun Sie , da Sie
nun allein und ſich ſelbſt überlaſſen ſind , das Schieß-
gewehr von ſich , denn Sie treffen doch nichts und
richten , weiß Gott , noch einmal ein Unglück an ,
wie neulich ſchon beinahe geſchehen wäre , da Sie
nach dem Haſen zielten und beinahe das Kind
niedergeſchoſſen hätten .
Ja , es iſt verwünſcht , immer zu zielen und
nimmer zu treffen ! rief der junge Mann . Ich
will mich auch wahrhaftig überwinden , ſo ſchwer
es mir fallen wird , denn du weißt ja , daß es mir
von meiner ſeligen Mutter her anklebt , allein ich
will mich , wie geſagt , überwinden , und es ſoll kein
Schrotkorn aus dieſen Läufen fliegen , ſo lange ich
von dir entfernt bin .
Der Alte bat ihn um das Gewehr . Dem aber
weigerte ſich der junge Mann , indem er ſagte , daß
es ohne Gewehr ja gar keine Ueberwindung koſte ,
das Schießen zu laſſen , und ſeine Handlungsweiſe
dann alles Verdienſt einbüße . Das iſt auch wahr ,
erwiederte der Alte und ging nun getroſt , ohne
einen zweiten Abſchied zu nehmen , da der Erſte
noch vorhielt , ſeine ihm angewieſene Straße zurück .
Der junge Mann blieb ſtehen , ſetzte das Gewehr
auf den Boden , ſtieß den Ladeſtock in den Lauf
und ſagte : Es wird hart halten , den Schuß her-
auszubringen , und er darf doch nicht darin bleiben .
Dann warf er es wieder über die Schulter und
ſchritt auf den Eichenkamp des Hofſchulzen zu .
Dicht vor demſelben von einem ſchmalen Raine
ging eine Kette Feldhühner mit ſchmetterndem Flü-
gelſchlage und Geſchrei auf . Jauchzend riß der
junge Mann das Gewehr von der Schulter , rief :
Da werde ich ja gleich der Schüſſe quitt ! ſchlug
an , es knallte zweimal aus dem Doppelgewehre ,
die Vogel flogen unverſehrt davon , der Jäger ſah
betroffen ihnen nach , ſagte : Dießmal , meinte ich ,
müßte ich was getroffen haben , nun will ich mich
aber auch gewiß überwinden ; und ſetzte ſeinen
Weg durch das Eichenwäldchen nach dem Hofe fort .
Als er zur Thüre eintrat , ſah er in einem
geräumigen , hohen Flure , welcher den ganzen mitt-
leren Theil des Hauſes einnahm , den Hofſchulzen
mit Tochter , Knechten und Mägden bei dem Mit-
tagseſſen ſitzen . Er bot mit ſeiner ſonoren , wohl-
klingenden Stimme freundlichen Gruß ; der Hof-
ſchulze ſah ihn achtſam , die Tochter verwundert an ,
was die Knechte und Mägde betrifft , ſo ſahen ihn
dieſe gar nicht an , ſondern aßen , ohne ſeiner zu
achten , weiter . Der Jäger trat zu dem Hofwirthe
und erkundigte ſich nach der Entfernung der näch-
ſten Stadt und dem Wege dahin . Anfangs ver-
ſtand der Schulze dieſe ihm fremdklingende Sprache
nicht , die Tochter aber , welche kein Auge von dem
ſchönen Jäger verwandte , half ihm den Sinn ent-
decken , und er gab darauf richtigen Beſcheid . Dieſen
verſtand wieder der Jäger ſeinerſeits erſt nach
dreimaligem Fragen , brachte aber endlich doch her-
aus , daß die Stadt auf dem ſchwer zu findenden
Fußwege unter zwei ſtarken Stunden nicht zu
erreichen ſei .
Die Mittagshitze , der Anblick des vor ihm
ſtehenden reinlichen Mahls und ſein eigner Hunger
riefen in dem Jäger die Frage auf : Ob er nicht
hier für Geld und gute Worte Eſſen und Trinken
und bis zur Abendkühle Obdach erhalten könne ? —
Für Geld nicht , verſetzte der Hofſchulze , für ein
gutes Wort aber Mittagseſſen und Abendbrod dazu
und Raſt , ſo lange es dem Herrn beliebt ; ließ
einen ſpiegelblanken zinnernen Teller , Meſſer , Gabel
und Löffel , eben ſo blank wie der Teller , aufſetzen
und nöthigte den Gaſt zum Sitzen . Dieſer ſprach
dem kräftigen gekochten Schinken , den großen Boh-
nen , den Eiern und Würſten , woraus die Mahlzeit
beſtand , mit allem Appetite der Jugend zu , und
fand , daß die weit und breit als böotiſch ver-
ſchrieene Landeskoſt gar ſo übel nicht ſei .
Geredet wurde von den Wirthen wenig , denn
der Bauer ſpricht während des Eſſens nicht gern ,
doch erfuhr der Jäger von dem Hofſchulzen auf
Befragen , daß hier herum in der ganzen Gegend
kein Menſch , Namens Schrimbs oder Peppel , bekannt
geworden ſei . Die Knechte und Mägde , welche
geſondert von den Herrenplätzen am andern Ende
der langen Tafel ſaßen , waren ganz ſtumm und
blickten nur auf die Schüſſel , aus welcher ſie mit
ihren Löffeln die Speiſe zum Munde führten .
Nachdem ſie aber abgegeſſen und ſich die Mäu-
ler gewiſcht hatten , trat Eines nach dem Andern
vor den Herrn und ſagte : Baas , Ausdruck für Brodherr . meinen
Spruch . — Der Hofſchulze theilte hierauf Jedem
eine ſprichwörtliche Redensart oder eine Bibelſtelle
mit . So ſagte er zum erſten Knechte , einem roth-
haarigen Kerl : Jach ſeyn zum Hader , zündet
Feuer an , und jach ſeyn zu zanken , vergießt Blut ;
zum Zweiten , einem dicken , langſamen Menſchen :
Gehe hin zur Ameiſe , du Fauler , ſieh ihre Weiſe
an und lerne ; zum Dritten , einem kleinen ſchwarz-
äugichten verwogen blickenden Geſellen : Beſſer ein
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 20
Sperling in der Hand , als ein Reiher auf dem
Dache . — Die erſte Magd empfing den Spruch :
Haſt du Vieh , ſo warte ſein , und trägt dir’s Nutzen ,
ſo behalte es ; und zur Zweiten ſagte er : Es iſt
nichts ſo fein geſponnen , es kommt endlich an die
Sonnen .
Nachdem Jeder auf ſolche Weiſe bedacht worden
war , gingen Alle zu ihren Arbeiten , der Eine gleich-
gültig , der Andere betroffen ausſehend . Die zweite
Magd war von ihrem Spruche blutroth geworden .
Der Jäger , welcher allgemach den ortsüblichen
Dialect verſtehen lernte , hatte dieſem Unterrichte
mit Erſtaunen zugehört und fragte nach deſſen
Beendigung , was er bezwecke ?
Daß ſie darüber nachdenken , ſagte der Hof-
ſchulze . Wenn ſie heute Abend hier wieder zuſam-
menkommen , ſo ſagen ſie mir , was ſie ſich bei den
Sprüchen gedacht haben . Die meiſte Arbeit auf
dem Lande iſt der Art , daß die Leute nebenbei
noch allerhand Gedanken haben können , und da
fallen ihnen denn alle die ſchlechten Sachen ein ,
die hernachmals in Liederlichkeit , Lug und Trug aus-
brechen . Bei ’m Pferdefüttern denken ſie , wie ſie
Hafer auf die Seite bringen können , und wenn
die Magd die Kuh melkt , ſo ſteht ihr immer der
Liebſte vor Augen . Kriegt aber der Menſch ſo
einen Spruch auf zu rathen , ſo ruht er nicht ehen-
der , als bis er die Moral davon heraus hat , und
derweile iſt die Zeit vergangen , ohne daß ihm
etwas Uebles in den Sinn kam .
Ihr ſeid ja ein wahrer Weltweiſer und Prieſter !
rief der Jäger , deſſen Verwunderung hier mit
jedem Augenblicke zunahm .
Es läßt ſich viel mit dem Menſchen ausrichten ,
wenn man ihm die Moral beibringt , ſagte der
Hofſchulze bedächtig . Die Moral ſteckt aber in
kurzen Sprüchen beſſer , als in langen Reden und
Predigten . Meine Leute halten ſich viel länger ,
ſeitdem ich auf die Moral verfallen bin . Freilich
das ganze Jahr hindurch geht es mit den Sprüchen
nicht ; während der Beſtellzeit und in der Ernte
hört alles Nachdenken auf . Dann thut es aber
auch nicht Noth , denn ſie haben zu Schlechtigkeiten
keine Zeit .
Ihr macht alſo förmliche Abſchnitte in Eurem
Unterrichte ? fragte der Jäger .
Bei Winterszeit gehen die Sprüche gemeiniglich
nach dem Dreſchen an und dauern bis zum Säen ,
20*
verſetzte der Hofſchulze . Im Sommer aber wer-
den ſie von Walpurgis bis gegen die Hundstage
zugetheilt . Das ſind die Zeiten , wo es bei dem
Bauer am wenigſten zu verrichten giebt .
Der Jäger erkundigte ſich , was für eine Be-
wandniß es mit dem Rothwerden des einen Mäd-
chens gehabt habe , und erhielt darauf folgende
Antwort : Die hat etwas auf dem Gewiſſen ,
und in ſolchen Fällen iſt es meine Manier , einen
Spruch anzubringen , woraus das räudige Schaf
ſieht , daß ich um den Fehler weiß . Wir wollen
abwarten , ob er bis heute Abend gewirkt haben
wird .
Er ließ den jungen Mann allein , und dieſer
ſah ſich in Haus , Hof , Baumgarten und Wieſen
um . Mehrere Stunden brachte er in dieſer Be-
ſchauung zu , da jedes Einzelne ihn anzog . Die
ländliche Stille , das Wieſengrün , die Wohlhaben-
heit , die aus dem ganzen Hofe ihm entgegenſtrotzte ,
machte den angenehmſten Eindruck auf ihn und
regte in ihm den Wunſch an , lieber in ſo weiter
Naturfreiheit , als in den engen Gaſſen einer klei-
nen Stadt die acht oder vierzehn Tage zuzubringen ,
welche bis zum Empfange der Nachrichten vom
alten Jochem verſtreichen konnten . Da er ſein
Herz auf der Zunge trug , ſo ging er auf der
Stelle zu dem Hofſchulzen , der im Eichenkampe
ein Paar Bäume zum Fällen anſchlug , und ſprach
ſein Begehr aus . Er erbot ſich dagegen zu Allem ,
worin er ſeinem Wirthe nützlich werden könne .
Die Schönheit iſt eine gar gute Mitgift . Sie
iſt ein Schlüſſel , der wie jener kleine goldne , ſie-
ben Schlöſſer , von denen keins dem Andern ähnlich
ſah , zauberiſch öffnet . Ein Paß iſt ſie , auf den
der Träger , ohne daß in den Nachtquartieren Viſa’s
genommen zu werden brauchen , frei durch alle
Welt geht ; in Romanen und Novellen ſpannt ſich
die Schönheit über alle Klüfte und Abgründe der
Unwahrſcheinlichkeit hinweg , wie die ſiebenfarbige
Brücke der Iris .
Wäre der Jäger nicht ſo ſchön geweſen , was
für weitläuftige Motive hätte ich erſinnen und
erſpinnen müſſen , um den Hofſchulzen zur Gewäh-
rung des Quartiers an ihn willig zu machen ! So
jedoch brauche ich nur zu ſagen , daß der Alte die
ſchlanke und doch kräftige Geſtalt , das ehrliche und
dabei vornehmprächtige Antlitz des Jünglings eine
Zeit lang betrachtete , erſt zwar nachhaltig den Kopf
ſchüttelte , dann aber freundlich werdend nickte und
zuletzt ihm ſeine Bitte erfüllte . Er wies dem
Jäger ein Eckſtübchen im obern Stocke des Hauſes
an , von wo man nach der einen Seite über den
Eichenkamp nach den Hügeln und Bergen , nach
der Andern über weite Wieſenflächen und Kornfel-
der ſah .
Freilich mußte der Gaſt anſtatt des Miethzin-
ſes die Erfüllung einer ſonderbaren Bedingung
verſprechen . Denn der Hofſchulze ließ auch der
Schönheit nicht gern etwas ganz unentgeltlich
zufließen .
Fuͤnftes Capitel .
Der Jäger verdingt ſich zum Wildſchützen ,
und des Abends erzählen Knechte und
Mägde die Ergebniſſe ihres Nachdenkens
über die moraliſchen Sprüche .
Er fragte nämlich den jungen Mann , ehe und
bevor er ihm Quartier zuſagte , ob er , wie ſein
grüner Anzug , das Gewehr und die Waidtaſche zu
lehren ſcheine , ein Liebhaber von der Jagd ſei ?
Jener erwiederte darauf , daß , ſo lange er denken
könne , er mit Leidenſchaft , ja mit einer wahren
Raſerei gepirſcht habe , wobei er denn freilich ver-
ſchwieg , daß durch ſein Pulver und Blei außer
einem Sperlinge , einer Krähe und einer Katze noch
kein Gottesgeſchöpf vom Leben zum Tode gebracht
worden war . Wirklich verhielt es ſich ſo . Er
konnte nicht leben , ohne nicht des Tages einige-
male geknallt zu haben , ſchoß aber regelmäßig vor-
bei und hatte nur in ſeinem achtzehnten Jahre
einen Sperling , in ſeinem Zwanzigſten eine Krähe ,
in ſeinem Vierundzwanzigſten eine Katze erlegt ; das
war Alles . Ein ſonderbares Ereigniß vor ſeiner
Geburt mochte ihm die bei ſo wenigen Erfolgen
ſonſt unbegreifliche Neigung , wie ein Maal , aufge-
drückt haben . Wenigſtens hielt er ſelbſt dafür ,
daß aus dieſer Signatur der Hang abzuleiten ſei ,
über den er in beſonnenen Stunden höchſt ver-
drießlich werden konnte .
Nachdem der Hofſchulze die bejahende Antwort des
Gaſtes empfangen hatte , rückte er mit ſeinem Antrage
hervor , welcher dahin ging , daß der Jäger täglich
ein Paar Stunden gegen das Wild im Felde lie-
gen ſolle , welches ſeinen Kornbreiten , beſonders den
die Hügel hinanſteigenden manchen Schaden zufüge .
Dort in den Bergen , ſagte der alte Bauer , ſind die
großen Jagden der Edelleute ; die Creaturen haben
mir ſchon in den vergangenen Jahren Saat genug
abgeatzt und daniedergewälzt , aber in dieſem iſt
es erſt recht ſchlimm geworden , denn der junge
Graf drüben iſt auch ein ſcharfer Jäger und hat
ſeinen Wildſtand vermehrt , ſo daß die Hirſche und
Rehe wie die Schafe aus dem Walde treten und
mein’ Mühe und Schweiß verruiniren . Ich ver-
ſtehe mich nicht auf die Sache und den Knechten
mag ich es nicht gerne erlauben , weil ſie unter
dem Vorwande , ſich auf den Anſtand zu ſtellen ,
mir leicht unordentlich werden können , darum haben
die Beſtien mitunter gewirthſchaftet , daß ſich Einem
das Herz im Leibe umwenden mußte . Nun kommen
Sie mir gerade zu Paß , und wenn Sie mir dieſe
vierzehn Tage bis zur Ernte die Höllenteufel aus
dem Korne halten , ſo ſollen Sie damit Ihr Quartier
bezahlt haben .
Was ? Ich ein Wildſchütz ? Ich ein Wilddieb ?
rief der junge Mann und lachte ſo herzlich und
ſchallend auf , daß er den Hofſchulzen anſteckte .
Noch lachend ſtrich dieſer über das feine Tuch , aus
welchem die Kleidung ſeines Gaſtes gemacht war ,
und ſagte : Eben darum , weil es bei Ihnen wohl
keine ſonderliche Gefahr haben wird , wenn Sie
auch attrapirt werden . Sie werden ſich ſchon eher
loszumachen wiſſen , als ſo ein armer Knecht . Die
Fliegen fangen ſich in den Spinnweben , die Wes-
pen ſchlüpfen durch . Doch was iſt das überhaupt
ein Verbrechen , ſein Eigenthum gegen die Unge-
thüme , die es freſſen und zu Grunde richten , zu
verdefendiren ! rief er , indem plötzlich der lachende
Ausdruck ſeines Geſichts in den des loderndſten
Zornes überging . Die Stirnadern ſchwollen ihm
an , das Blut trat dunkelroth in ſeine Wangen ,
die Augäpfel verloren ihr Weißes und wurden röth-
lich ; man hätte vor dem Alten erſchrecken können .
Ihr habt Recht , Vater , es giebt nichts Unvernünf-
tigeres , als die ſogenannten Jagdgerechtſame , ſagte
der Jäger , um ihn zu beruhigen . Deßhalb will
ich die Sünde über mich nehmen , zum Frommen
Eures Gutes am Wildbann der hieſigen Edelleute
zu freveln , obgleich ich eigentlich dadurch — —
Er wollte etwas hinzuſetzen , brach aber ſchnell
ab und ging auf andere gleichgültige Gegenſtände
über .
Wer aber glaubt , daß die Unterhaltung dieſes
weſtphäliſchen Hofſchulzen und ſchwäbiſchen Jägers
ſo flüſſig von Statten gegangen ſei , wie meine
Autorfeder ſie niedergeſchrieben hat , der irrt ſich .
Vielmehr waren noch oft mehrmalige Wiederho-
lungen nöthig , ehe und bevor ein nothdürftiges
Verſtändniß zwiſchen ihnen eintrat . Hin und wie-
der mußte ſelbſt die Finger- und Zeichenſprache zu
Hülfe genommen werden . Denn der Hofſchulze
hatte in ſeinem Leben nichts von einem : ch hinter
dem : ſ gehört , auch brachte er alle Töne hinten
aus der Gurgel , oder wenn man will , aus dem
Rachen hervor . Dagegen war dem Jäger das gött-
liche Geſchenk , welches uns von den Thieren unter-
ſcheidet , ganz zwiſchen die Lippen und Vorderzähne
gelegt worden , von wo denn die Laute mit wun-
derſamer ſchwerträchtiger Fülle und ſauſendem Zi-
ſchen ausbrachen . Aber durch dieſe fremden Schaa-
len hindurch hatten der alte und der junge Mann
bald an einander Behagen gefunden . Da ſie Beide
vom ächteſten Schrot und gewichtigſten Korn waren ,
ſo mußten ſie wohl Einer des Andern Kern erkennen .
Auf ſeiner Eckſtube hatte jedoch der Jäger
auch Schaalen entdeckt , die ihn nach ihrem Kerne
verlangen machten . Er ſah nämlich , als er ſeine
leichten Habſeligkeiten und ſchweren Goldrollen aus
der Jagdtaſche nahm , um ſich häuslich einzurichten ,
in der Ecke des Zimmers ein Nachthäubchen , ein
Tüchlein und ein Röckchen ſauber über die Lehne
eines Stuhles gehängt . Alle dieſe Stücke waren ,
wie der Augenſchein lehrte , getragen , dennoch leuch-
teten ſie von Schneeweiße . Ei ! rief der Jäger ,
hat hier vor mir ein hübſches Maidel gehauſt ?
Da werde ich ſchon Glück haben . Er wollte in
einer Laune , die ihn plötzlich anſtieß , ſich das Nacht-
häubchen aufſetzen , es war aber viel zu klein für
ſein Haupt . Er maaß an der Zerknitterung der
Bänder das Oval des Geſichtes ab und fand dieſes
ohne Tadel . Das Röckchen deutete auf den zier-
lichſten Leib und das Tüchlein ließ nach den Fal-
ten und nach der Beugung , die es behalten , ver-
muthen , daß unter ihm ein junger , runder Buſen
geſchlagen habe . Plötzlich aber erröthete er unter
dieſen Spielereien bis hoch hinauf zu den Schläfen ,
er ſchämte ſich ihrer , die ihn freventlich bedünken
wollten , er ſtellte den Stuhl mit den Kleidungs-
ſtücken hinter einen Schirm , um ſie nicht ferner
zu ſehen , und ſetzte ſich zum Schreiben nieder , die
ſchweifenden Gedanken in Ordnung zu bringen .
Als er Abends in den Flur hinunter zum
Eſſen gerufen wurde , fand er die Knechte und
Mägde , die ihr Abendbrod ſchon früher genoſſen
hatten , im vollen Erzählen um den Hofſchulzen .
Dieſer hatte auch bereits ſeinen Sallat verzehrt ,
hörte zu , und beſtätigte oder beſtritt , was ſeine
Moralſchüler vorbrachten . Der rothhaarige Knecht ,
welcher die Warnung vor dem Zanken erhalten
hatte , ſagte : Das iſt ein rechtes Glück , Baas ,
daß Ihr mir gerade heute die Lehre gegeben habt ,
denn ich begegnete , wie ich die Pferde in die Nacht-
weide trieb , dem Pitter vom Bandkotten , auf den
ich ſchon längſt fuchsfalſch bin , und da habe ich ihm
die Naſe braun und blau geſchlagen .
Dieſes ging ja aber ſchnurſtraks gegen die Ver-
mahnung ! rief der Hofſchulze .
Behüte Gott , verſetzte der Rothhaarige . Als
zum Beiſpiel , ſo führte ich einen Zaunpfahl bei mir ,
um damit die Pferde einzutreiben , und wie ich nun
den Pitter anſichtig wurde und ihn niedergeſchmiſſen
hatte , ſo dachte ich , du willſt dem Hund mit dem
Pfahl Eins verſetzen , daß er auf Lebenszeit genug
hat , weil er nämlich an allen Mädchen herumca-
reſſirt , ſo daß man gar nicht mehr ankommen kann .
Aber da dachte ich auch , daß ich ſo viel darüber
nachgedacht hatte : „ Jach ſeyn zum Hader , zündet
Feuer an , und jach ſeyn zum Zanken , vergießt
Blut , “ und gab ihm bloß einen Puff auf die Naſe
und damit gut , und dann noch einen Tritt in’s
Kreuz und ließ ihn laufen .
Nun inſofern mag es gut ſeyn , aber künftig
kannſt du auch das Puffen und Treten unterlaſſen ,
wenn du über den Spruch nachgedacht haſt , erwie-
derte der Hofſchulze .
Der kleine Schwarzäugige , Verwegne ſagte :
Meiner Treu , es iſt und bleibt wahr , daß ein
Sperling in der Hand beſſer iſt , als ein Reiher auf
dem Dache . Darum habe ich die Gedanken auf die
Gertrud drüben eingeſtellt , weil ſie gar zu hoffähr-
tig iſt , und auf Michael einen Verſpruch mit dem
Wicht Provincialismus für : Mädchen . von Hölſcher’s gethan , die ich kriegen konnte .
Magſt du ſie denn leiden ? fragte der Hofſchulze .
Ne , erwiederte der Kleine , es wird aber doch
ſchon gehen .
Der dicke Langſame , welcher zur Ameiſe geſchickt
worden war , ihre Weiſe anzuſehen , erklärte , dabei
nichts gelernt zu haben , denn , ſagte er , ich bin
auf keine Ameiſe geſtoßen . Dagegen ſagte die
erſte Magd : Euer Spruch , Baas , trifft nicht zu .
„ Haſt du Vieh , ſo warte ſein , und trägt dir’s
Nutzen , ſo behalte es . “ Denn ich habe die Kühe
zu Abend gehörig gemelkt und abgewartet , und
Nutzen würden ſie mir auch tragen , aber behalten
darf ich ſie darum doch nicht .
Der Spruch geht auf eine eigene Wirthſchaft ,
und wenn du eine bekommſt , ſo wird er eintreffen ,
antwortete der Hofſchulze . Ja ſo , ſagte das Mäd-
chen . — Aber Ihr habt eine eigene Wirthſchaft ,
Baas , und das Vieh trägt Euch Nutzen und Ihr
behaltet es , und doch wartet Ihr nicht ſein .
Es iſt ein Spruch für Frauenzimmer , nicht
für Mannsleute , antwortete der Hofſchulze etwas
barſch . Und nun laß dein Fragen und ſchließ die
Milchkammer zu .
Das Mädchen , welches am Mittage von dem
Spruche : „ Es iſt nichts ſo fein geſponnen , es
kommt endlich an die Sonnen , “ roth geworden war ,
hatte bisher ſeitwärts und in ſich gekehrt geſeſſen ,
an ihrer Schürze gezupft und ſcheu vor ſich nieder
geblickt .
Als nun die übrigen Knechte und Mägde gegan-
gen waren , ſchlich ſie ſich zu ihrem Herrn , zupfte
ihn verſtohlen am Rock und ging mit ihm vor die
Thüre in’s Freie . Nach einiger Zeit kam der
Hofſchulze allein zurück und ſagte zu ſeiner Tochter :
Es iſt richtig , die Gitta Abgekürzt für : Brigitta . hat mir ’s eben geſtan-
den , ſie hat ſich mit dem Matthies vergangen .
Sprich du weiter mit ihr und ſag ihr , wenn ſie
ſich ſonſt ordentlich halte , wolle ich ſorgen , daß der
Matthies an ihr ſeine Schuldigkeit thue .
Ich habe mir’s gleich gedacht , antwortete die
Tochter , ohne über die Entdeckung und den ihr
ertheilten Auftrag verlegen zu werden .
Nach ihrer Entfernung ſprach der Jäger ſeine
Verwunderung über die Gewalt aus , welche er
ſeinen Wirth in dieſem Falle hatte üben ſehen . Das
iſt ganz leicht , verſetzte der Hofſchulze . Ein Jeder
weiß , daß er nicht bei mir in Dienſt bleibt , wenn
ich auf ihn einen Argwohn habe , und er nicht
bekennt und zu Kreuz kriecht . Thut er das aber ,
ſo vergebe ich ihm oder nehme mich ſeiner an .
Da es mir meine Umſtände zulaſſen , bei allem Lohn
einen Thaler mehr zu geben , als meine Nachbaren ,
ſo mag Keiner vom Oberhof herunter . Kriege ich
nun von etwas Wind , ſo ziele ich darauf mit einem
Spruche hin , und gemeiniglich wird dann gebeichtet ,
weil nämlich der Sünder weiß , daß außerdem ihm
der Dienſt aufgeſagt iſt .
Sie wünſchten einander gute Nacht , und der
Jäger ging auf ſein Zimmer . Er entkleidete ſich ,
ſchlug die Decke des Bettes zurück und ſah an
kleinen Fältchen der übrigens blendend weißen
Leintücher , daß die Leute nicht für nöthig gefunden
hatten , dieſelben nach dem letzten Beſuche , welcher
auf dieſer Stube geherbergt , zu wechſeln . Eine
wunderbare Empfindung durchrieſelte ihn ; er hatte
das Mädchen , welches hier geruht , ſchon ganz ver-
geſſen gehabt , nun fiel ihm das Nachthäubchen wie-
der ein , er nahm es vom Stuhl , maaß abermals
an der Zerknitterung das Oval des Geſichtes ab ,
drückte es an ſeine Wange , wie um ſie zu kühlen ,
und brach plötzlich in heftige Thränen aus . Denn
in dieſer jungen , ſaftſchwangern Natur lagen noch
alle Widerſprüche des Ernſten und Närriſchen ,
welche das Leben ſpäter bis zur Gleichgültigkeit
abdämpft , chaotiſch neben einander .
Seine Unruhe , als er ſich zwiſchen den Decken
ausgeſtreckt hatte , wurde vermehrt , als er ſich auf
einmal erinnerte , daß er bei dem Abſchiede von
dem alten Jochem dieſem ja gar nicht geſagt habe ,
wo er während deſſen Spürfahrt verweilen wolle .
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 21
Sechstes Capitel .
Der Jäger ſchreibt an ſeinen Freund Ernſt
im Schwarzwalde .
„ Mentor , mein Mentor , dem leider der ver-
ſtändige Jüngling Telemachos fehlt , was wirſt du
ſagen , wenn du meine Hand und die Ueberſchrift
des Briefs zu ſchauen bekommſt ? Du , unter deinen
Tannen und Uhrmachern , wirſt mich nach Reiſen
und Fahrten aller Art endlich weich und ſtill auf
meiner Alm im Schloſſe meiner in Gott ruhenden
Väter wiſſen und ausrufen , nachdem du Gegen-
wärtiges geleſen : Unſer Wiſſen iſt eitel Stückwerk !
Du wirſt dir einbilden und wohlgefällig ( du Treuer ! )
dir ſagen , wenn du Abends in der Schreibtafel
die Agenda durchſtreichſt , weil ſie Nummer für
Nummer Acta geworden ſind : Endlich wird er
nun ſich zur Decke geſtreckt haben , des Feldbau’s
warten , oder eine nützliche Anlage , etwa eine Papier-
mühle , machen , und das heiße Blut höchſtens an
den Sauen und Hirſchen ſeines Wildbanns aus-
laſſen , und iſt von allem dem nicht ein Tüttelchen
wahr , obgleich ich auch hier , Gott ſei es geklagt ,
auf die Jagd gehe , aber im Dienſte eines Weſtphä-
liſchen Bauern als Wilddieb gegen meine Herrn
Standesgenoſſen .
Ich bitte dich , verliere die Geduld nicht ;
denn wenn ſeltſame Dinge von der Seele her-
untergebeichtet werden ſollen , ſo darf der Sün-
der ſchon etwas ſtocken und zaudern , und der
Beichtvater muß es ſich gefallen laſſen , das Tüchel
lange vor dem Antlitz zu halten . In der Ohren-
beicht aber fühle ich mich trotz meines guten Tübin-
ger Proteſtantismus immer dir gegenüber , wenn
ich etwas habe auslaufen laſſen , was nicht inner-
halb der Schnur war . Die Sünde kann ich nicht
verſchwören , aber , iſt ſie begangen , ſo verſpüre
ich wie ein Glaubiger der allgemeinen Kirche ein
wahres Reinigungsbedürfniß in der Seele , und
mein moraliſcher Reiniger biſt du . Du haſt mich
in hundert Nöthen der Art ſchon losgeſprochen —
— ach nein ! das haſt du nicht , du haſt immer
bitter gezankt und geſcholten , aber es iſt nun ein-
mal mein Schickſal ; ich kann die Laſt nicht bei
21*
mir verſchließen , ich lege ſie an die Schwelle des
Tempels der Athene , heißt des wohlbekannten Ober-
amtmannshauſes unfern der Hölle ( bei Donaue-
ſchingen ) nieder , und habe dann neue Kraft und
friſchen Muth zu Gutem und Böſem . — Alſo :
Iterum confiteor ohne auf’s absolvo zu rechnen .
Confiteor … aber was ?
Seit vierzehn Tagen aus Schwaben , liege ich
ſeit Acht hier in einem ſogenannten Oberhofe
unweit — —
Ich mußte geſtern abbrechen , denn nachdem ich
geſchrieben , wo ich ſei , fehlte mir auf einmal die
Brücke zu der Eröffnung , warum und weßwegen
ich hergekommen ? Ich muß alſo die Sache auf
eine andere Weiſe einleiten . Trotz der bunten
Schreibart , die vielleicht noch mit unterlaufen wird ,
bin ich ernſt , klar und in mir gefaßt . Daher ſollen
dir Dinge entdeckt werden , die du wenigſtens in
dieſer beſtimmten Geſtalt noch nicht von mir ver-
nommen haſt .
Die Geſchichtſchreiber pflegen an die Spitze
ihrer Werke zuweilen allgemeine Sätze zu ſtellen ,
in denen ſich der innerſte Sinn der Begebenheiten ,
welche ſie ſchildern wollen , ausprägen ſoll . Einige
ſolcher Betrachtungen werde ich jetzt meiner Ge-
ſchichtserzählung voranſchicken , weil ſie dir dadurch
vielleicht faßlicher wird .
Nach der ſcharfſinnigen und fruchtbaren Hypo-
theſe eines tiefblickenden Naturlehrers entſpringen
die Inſtincte der Thiere aus traumartigen Vorſtel-
lungen von den Dingen , welche der Inſtinct
erſtrebt . Der Zugvogel träumt von den fernen
Gegenden , in welche er wandert , in traumartigen
Umriſſen ſieht die ſibiriſche Waldſchnepfe die deut-
ſchen Sumpfſtrecken , die Schwalbe den Küſten-
ſaum Africa’s . Traumartig ſchweben der Spinne
die Umriſſe und Radien ihres Netzes , der Biene
die Sechsecke ihres Stockes vor . Es iſt eine
Hyotheſe , aber ich nannte ſie ſinnreich und frucht-
bar , weil ſie die Creatur gerade in dem , was ihre
bedeutendſte Thätigkeit iſt , aus der Region des
Maſchinenmäßigen in ein Gottdurchleuchteteres Ge-
biet hebt .
Wir armen bewußten Menſchen ſcheinen nun von
dieſer göttlichen Sicherheit des Angreifens und Faſſens
alles Stoffes entblößt zu ſeyn . Aber es iſt nur ſchein-
bar . Alles Genie und Talent iſt nichts weiter als
Inſtinct . Nenne mir den Künſtler , den Dichter ,
der beides nicht aus ſogenanntem dunklem Drange
geworden wäre ! Wir Andern haben freilich ſo
beſtimmte Fingerzeige nicht in uns , indeſſen ſind faſt
jedem Menſchen — vielleicht jedem — auch ganz feſte
Richtungen , unverrückbare Puncte eingeboren , welche
außen oft als Launen , Grillen , Seltſamkeiten , Lieb-
habereien erſcheinen , dennoch aber vielleicht auf das
allerfeſteſte Geſetz der Seele hindeuten . Es ſind die-
ſes nicht die ſogenannten Grundſätze , Maximen , Le-
bensweiſen , Gewöhnungen — das Alles kann angebil-
det und angelernt werden — nein , was ich meine , iſt
etwas ganz Anderes , aber freilich ſchwer zu beſchreiben .
Dieſe Lichter des innern Menſchen ſind Halb-
träume des Inſtincts . Von dem nüchternen Tages-
ſcheine des Verſtandes entſcheucht , von der wühlenden
Hand der Selbſtbeſchauung zerſchlagen , wirken ſie
nicht ſo ſiegreich , wie bei dem Wandervogel und
bei der Biene das unwiderſtehliche Muß , glücklich
iſt aber derjenige , der die Stimme jener Träume
hört und ihr folgt .
Das Genie wird geboren , ſagt man , und dar-
über iſt Jeder einverſtanden Ich füge hinzu :
Nicht Alle werden als Genies , aber dazu wird
Jeder geboren , ſich ſein Schickſal zu machen . Selbſt
die willkührlichſcheinenden Grillen ſind zuweilen
feſte Wegweiſer zum Glück . Erinnerſt du dich
noch des armen Tagelöhners in Ludwigsburg , wel-
cher , ſonſt verſtändig und fleißig , ſich ſteif und feſt
einbildete , im Park lägen Granaten , und der zu
jeder Freiſtunde in den Alleen danach ſuchte , Kieſel
und Quarz aufhob und betrachtete ? Die Leute
hielten ihn für verrückt , und eines Abends fand
er in einem der dunkelſten Gänge , eifrigſt auf Gra-
naten erpicht , eine vollgeſpickte Brieftaſche , die er
ehrlich genug war , dem Verlierer einzuhändigen .
Dieſer belohnte ihn mit einem Geſchenke , welches
ſeine Umſtände auf Lebenszeit verbeſſerte . Das
Sonderbarſte war , daß , ſobald jener Fund gethan
war , ſein Suchetrieb in ihm verſiegte .
Ich habe nun auch in mir ganz beſtimmte
Inſtincte , denn ich will ſie nur geradezu ſo bei mir
nennen . Meine Jagdluſt mag ich nicht anführen ,
denn es bleibt mit der abentheuerlichen Seite der
Region , welche ich dir bezeichnete , allerdings immer
etwas Mißliches , obgleich ich nicht berge , daß ich
des Gedankens nicht Meiſter werden kann , mein
beſtändiges Schießen und Fehlen müſſe doch irgend
einen , mir freilich nicht begreiflichen Zweck haben .
Aber laſſen wir dieſen waidmänniſchen Inſtinct ,
der mir den Spitznamen ; der wilde Jäger , bei
Euch zugezogen hat , vor der Hand auf ſich beruhen !
Aber ein Zweites in mir iſt etwas Ernſteres ,
und doch kein Vorſatz , keine Ueberzeugung , keine
Leidenſchaft — ſondern ein wahrer Inſtinct . Es
iſt ein unbeſchreibliches Gefühl für die Frauen .
So lange ich denken kann , wohnt es mir bei . Ich
kann es dir eigentlich nicht ſchildern . Mich durch-
ſäuſelt die Ahnung einer unendlich milden Löſung
aller Schmerzen , das Vorempfinden des überſchwäng-
lichſten Erfüllens und Ergänzens , ſehe ich eine
Frau . Und nicht bloß Jugend und Schönheit ,
Reiz und Anmuth bewegen meine Seele in einem
Bade ſo erquickender Fluthen , ſondern in der Un-
ſcheinbarſten gewahre ich etwas Göttliches , wenn
ſie mir begegnet . Oft hat mich ein ſolches zufäl-
liches und gleichgültiges Treffen von trüben leiden-
ſchaftlichen Aufregungen wie mit einem Zauberſchlage
geheilt ; oft habe ich mich auch ſcheu vor allen
weiblichen Cirkeln zurückgehalten , weil in mir etwas
vorgegangen war , was ich unter Frauen zu bringen
für unerlaubt hielt . Seit einiger Zeit habe ich
angefangen , meine Blicke auf die Verwickelungen
der Welt und Zeit zu richten . Da muß ich dir
nun geſtehen , daß unter allen den Dingen , nach
deren Rückkehr die Menſchen ſeufzen , mir die
Herſtellung des wahren und beſeligenden Verhält-
niſſes zwiſchen den beiden Geſchlechtern als das
ſehnenswertheſte erſchienen iſt . Aber freilich mag
dieſer Friede wohl der Lohn ſeyn , welcher andern ,
erſt in den übrigen Puncten zum Frieden gelangten
Zeiten aufbewahrt wird .
Dich werden dieſe Bekenntniſſe überraſchen ,
denn du haſt mich nicht gar zu ſelten rauh und
tölpiſch im Umgange mit Frauen geſehen , auch
war ich noch nie verliebt . Vielleicht werd’ ich es
auch nie . Das ſchlimmſte Unrecht thäteſt du mir ,
wenn du glaubteſt , daß aus mir noch gar ein Süß-
ling werden könnte . Nein , dazu paſſen wir über-
haupt bei uns zu Lande nicht . Nimm meine Worte ,
wie ſie geſchrieben ſind — ſie ſtammeln von einem
Naturgeheimniß .
Nun genug der Reflexion und jetzt eine ſchlichte
Hiſtorie . Als ich eben nach den Gütern zurückge-
kehrt war , lernte ich in der Nachbarſchaft meine
Verwandte , Baroneß Clelia kennen , die ſich früher
in Wien aufgehalten hatte . Ich benahm mich gegen
ſie , wie es einem ſchwäbiſchen Vetter geziemte , ſie
deßgleichen , wie meinem Mühmchen zukam . Keines
von Beiden dachte an eine Verbindung , wohl aber
mochte der Verwandtſchaft eine ſolche gar paßlich
vorgekommen ſeyn , denn aus freundlichen Blicken ,
geſelligen Aufmerkſamkeiten und zwei oder drei
Händedrücken , wie ſie ein unbefangenes Wohlwollen
giebt und nimmt , war bald für uns ein Netz zuſam-
mengeſtrickt worden , aus welchem wir ſchlechterdings
als Braut und Bräutigam hervorgucken ſollten ;
und der alte Oheim fragte mich eines Tages ganz
naiv , wann denn die öffentliche Erklärung vor ſich
gehen werde .
Wir waren gewaltig betroffen , und wie zwei
Leute ſonſt alles Mögliche anwenden , um einander
habhaft zu werden , ſo ließen wir nichts unverſucht ,
in der Meinung der Sippſchaft von einander zu
kommen , was in der freundlichſten Einigkeit von
beiden Seiten geſchah . Mühmchen Clelia hatte bei
dieſen Lockerungsbeſtrebungen ein noch größeres
Intereſſe , als ich , denn es ließ ſich bald vermerken ,
daß ihr Herz ihr nach Schwaben nur an einem Faden
gefolgt war , den ein ſchöner Cavalier in den oeſter-
reichiſchen Erblanden hielt .
Bei den Anſtrengungen , die wir ſolcherweiſe
machten , fielen die lächerlichſten Scenen vor , ins-
beſondere von meiner Seite , der ich für dieſe ſpitz-
findigen Combinationen der Verhältniſſe gar nicht
zugerichtet bin . Ich wollte alle Schuld , daß ein
Schein von Neigung entſtanden war , auf mich neh-
men , verwickelte mich darüber in die unſinnigſten Erklä-
rungen , bekannte mich endlich für ſchon anderweit im
Auslande verlobt , widerrief dieſe Lüge im nächſten
Augenblicke — kurz , ich ſtellte bei der ganzen Sache
den Helden einer ziemlich luſtigen Novelle dar .
Indeſſen würde dieſe nur im Kreiſe der näch-
ſten Bekanntſchaft angeklungen und verklungen ſeyn ,
wenn ſich nicht ein fremder Störenfried herbeige-
macht und ſie zur Befriedigung ſeines ſchlechten
Witzes gemißbraucht hätte .
Es hielt ſich nämlich damals ſeit einiger Zeit
bei uns ein Menſch auf , Namens Schrimbs , oder
Peppel , wie er anderer Orten geheißen hat . Der
Himmel weiß , wie viel Namen er überhaupt in
der Welt geführt haben mag und noch führt !
Schon das Aeußere dieſes Menſchen war höchſt
auffallend , er ſah im Geſichte ganz verwittert aus ,
und dennoch konnte man kein rechtes Alter an ihm
abnehmen , denn trotz der Runzeln auf Wangen
und Stirn war unter ſeinen Haaren kein weißes
zu entdecken , und ſeine Haltung ungebeugt , ſein
Muskelfleiſch ſtraff , ſein Benehmen jugendlich-petu-
lant . Ich weiß nicht , wie ich dir dieſen Schrimbs
oder Peppel beſchreiben ſoll ; er war Alles und
Jedes . Wie der Aal entſchlüpfte ſein Geiſt jegli-
chem Bemühen , ihn in einer beſtimmten Lage feſt-
zuhalten , wie Queckſilber zerrann dieſes kalte , ſchwere ,
und doch unendlich flüchtige und trennbare Weſen
unter der leiſeſten Berührung in lauter perlende
Kügelchen , die denn doch immer wieder zu einer
größeren coagulirten . Du mußt von ihm gehört
haben , denn er war nach und nach in vielen Städ-
ten unter den verſchiedenſten Geſtalten . Vielleicht
iſt er ſogar in deine Nähe gekommen . In Tübin-
gen machte er den Magiſter und focht ſich theolo-
giſch herum , in Stuttgart abwechſelnd den Politiker
und lyriſchen Dichter , in Weinsberg half er unſerem
alten Juſtinus noch mehr Geiſter ſehen , als dieſer
ſchon mit ſeinen zwei Augen erblickt .
Dieſer Menſch hatte eine Gabe zu fabuliren
und zu ſchwadroniren , wie ich ſie noch nimmer bei
Jemand wahrgenommen habe . Er beſaß einen
ariſtophaniſchen Witz , eine gaukelnde Einbildungs-
kraft und eine unerſchöpfliche Laune , vor allem aber
eine Luſt und Freude am Lügen , die wirklich auch
genial war . Keiner achtete ihn und doch war er
überall eingeführt ; unſre geſchloſſenen Geſellſchaften
thaten ihre Thüren vor ihm auf , unſre Familien-
Wein- und ſonſtigen Kränzchen flochten ihn ſich
als Blume ein , denn du weißt wohl , daß , ſo
ſchwerfällig und abgeſondert wir uns halten , es
doch noch von je alle Charlatane bei uns mit uns
durchgeſetzt haben . Man hielt ihn für nichts Beſ-
ſeres , als für ein Stück honnetten Gauners und
doch blickte man ſehnſüchtig nach ihm aus , ließ er
einmal auf ſich warten . Obgleich ich überzeugt bin ,
daß er eigentlich ſchlechte Streiche nirgends begangen
hat , denn ſonſt würde er leiſer , verſteckter , künſtlicher
aufgetreten ſeyn . Eine gewiſſe theoretiſche Unwahr-
haftigkeit war in ihm zur andern Natur geworden ;
gegen die Geſetze wird er ſich nicht verfehlt haben .
Du fragſt : Wodurch feſſelte er Euch denn ?
Ja , wodurch ? Durch tolle Mährchen , die er uns
erzählte , durch Sarcasmen , Luftſprünge . In ſeinen
Mährchen griff er mit unerhörter Dreiſtigkeit das
Nächſte auf , oder eine öffentliche Perſon , und drehte
und wendete und drillte ſie ſo lange , bis ſie unter
ſeinen Händen ein phantaſtiſcher Popanz wurde ,
der dann , wenn man ihm näher in das Geſicht
ſah , in Blaſen auseinanderplatzte . Mir war oft
bei ſeinen Geſchichten zu Muthe , als ſehe ich eine
Waſſerhoſe entſtehen , wandeln , ſich auflöſen . Eine
ſchwache Wolke ſchwebt über dem Meere , dieſe
faßt mit einem langen , feinen Finger in den unend-
lichen Ocean , aufwärts kocht , wirbelt und tanzt
das emporgeſtörte Waſſer , es pfeift und ziſcht ;
Nebel und Schaum rings umher , und Blitz ohne
Donner ! ſo rückt das Phantom , welches nicht Dunſt
und nicht Woge mehr iſt , ſprungweiſe vor , bis es
plätſchernd zerbricht .
Ich ſagte zuweilen für mich : In dieſem Erzwind-
beutel hat Gott der Herr einmal alle Winde des Zeit-
alters , den Spott ohne Geſinnung , die kalte Iro-
nie , die gemüthloſe Phantaſterei , den ſchwärmenden
Verſtand einfangen wollen , um ſie , wenn der Kerl
crepirt , auf eine Zeitlang für ſeine Welt ſtille
gemacht zu haben . Dieſer Schrimbs oder Peppel ,
dieſer geiſtreiche Satiricus , Lügenhans und humo-
riſtiſch-complicirte Allerwelts-Haſelant iſt der Zeit-
geiſt in persona ; nicht der Geiſt der Zeit , oder
richtiger geſagt ; der Ewigkeit , der in ſtillen Klüf-
ten tief unten ſein geheimes Werk treibt , ſondern
der bunte Pickelhäring , den der ſchlaue Alte unter die
unruhige Menge emporgeſchickt hat , auf daß ſie , abge-
zogen durch Faſtnachtspoſſen und Sycophanten-Decla-
mation von ihm und ſeiner unergründlichen Arbeit ,
nicht die Geburt der Zukunft durch ihr dummdrei-
ſtes Zugucken und Zupatſchen ſtöre . Denn zweier-
lei war das Merkwürdigſte an dem Vagabunden :
Erſtens , er trug nicht reine Mährchenpoeſie vor ,
ſondern die grotesken Erfindungen und Geſtalten
wurden von ihm mit ſolcher Ruhe , Ueberzeugung
und Ernſthaftigkeit hingeſtellt , ſie ſaßen ihm ſo in
Fell und Fleiſch feſt , daß man in währender Er-
zählung zu keinem dichteriſchen Behagen gelangte ,
man mußte ihn entweder für verrückt halten , oder
an ſeinen Sachen , wie unſinnig ſich das ausnahm ,
auf eine Stunde glauben . Zweitens , wenn er
auch meiſtens in ſeinen mileſiſchen Fabeln die Tho-
ren und Schächer der Zeit durchnahm , ſo fühlte
man bald — wenigſtens ich hatte die Empfindung
nach kurzer Bekanntſchaft — daß der Hohn nicht
aus einer tugendhaft-erzürnten Seele quoll , ſondern
aus einem Sinne , dem eigentlich das Verkehrte
lieb , nothwendig , Bedürfniß und Stoff des Daſeyns
war . Und darin kennſt du nun meine Grundſätze .
Ich halt’ mich an’s Poſitive . Begeiſterung und
Liebe iſt die einzigwürdige Speiſe edler Seelen .
Einen Schwank mag ich wohl leiden . Aber das
Spötteln , Nergeln und Grinſeln um den Kehricht
her , dem ſchon viel zu viel Ehre geſchieht , wenn
er nur genannt wird , iſt mir im innerſten Muthe
zuwider .
Als ich zurückkam , fand ich ihn in unſerm gan-
zen Kreiſe eingebürgert . Die alten Oehme und
Vettern wollten ſich ausſchütten über ſeine Einfälle
oder ſperrten den Mund ſo weit auf , als die Mus-
keln es vertragen wollten , wenn er ihnen ihre eige-
nen hausbackenen Perſonen , in wunderbaren Capric-
cio’s dieſe zurückſpiegelnd , zeigte . Ich hörte mit
zu , war wechſelsweiſe von ſeinen Reden berauſcht
und unangenehm ernüchtert . Es kann ſelbſt ſeyn ,
daß ich mich Clelien nicht ſo genähert haben würde ,
hätte ich nicht bei den verzwickten Schnurren ein
doppeltes Bedürfniß nach einer einfachen , wahren
Geſelligkeit empfunden . — Zu den Abentheuerlich-
keiten des Schrimbs oder Peppel gehörte auch ,
daß er ſich regelmäßig des Tages drei Stunden
über mit drei jungen Leuten einſchloß , die kurz
nach ihm eingelaufen waren und die Unbefriedig-
ten hießen . Sie ſprachen nämlich nie ein anderes
Wort , als ; ſie fühlten ſich unbefriedigt , und ſahen
immer ſtarr und ſonderbar vor ſich hin . Woher
die gekommen waren , wußte auch Niemand , da ſie
aber ſtill und nüchtern lebten , ſo konnten ſie nicht
verdächtig erſcheinen . Mit den drei Unbefriedigten
ſchloß ſich alſo Schrimbs , wie geſagt , täglich drei
Stunden lang ein . Was ſie zuſammen trieben ,
erfuhr Keiner . Aber weder ein Geſchäft , noch
eine Einladung , noch ein Spaziergang mit andäch-
tigen Zuhörern , noch ſonſt etwas , konnte ihn abhal-
ten , wenn die Stunde des Einſchließens kam , Alles
aufzugeben , und in das Haus zu gehen , worin
die geheimnißvollen Zuſammenkünfte Statt fanden .
Wollte man ihn darüber ausforſchen , ſo pflegte er
mit ſeiner abſcheulichen Ruhe und Würde zu ſagen ,
die Unbefriedigten ſtudirten ihn ; wollte man den
Sinn dieſes räthſelhaften Ausdrucks kennen lernen ,
ſo verſetzte er gemeiniglich , es ſei ihrer Studien
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 22
wegen , daß ſie ihn ſtudirten , und fragte man ihn ,
was für Studien dieſe ſeien , ſo war die Aus-
kunft ; diejenigen , weßwegen ihn die Unbefriedigten
ſtudirten .
Nun zum Schluß der Geſchichte . Unſere ganze
Nicht-Liebesnovelle , Clelia’s und meine , hatte er
mit durchgelebt , ſchien indeſſen nicht ſehr darauf
geachtet zu haben . Als die Sache aber allmählig
wieder in das Gleiche kam , bringt mir , wie ich mich
zum Beſuch in der Stadt aufhalte , Freund Pfleide-
rer beſtürzt ein lithographirtes Blatt , worauf unſer
ganzes Verhältniß , alle unſere Wendungen und
Schritte , um ohne Aufſehen in eine gleichgültige
Ferne auseinanderzurücken , zur wildeſten Bamboc-
ciade verſtellt zu leſen ſind . Sie hieß : Geſchichte
von Gänſerich und Gänschen , die ſich in ihren
Herzen irrten .
Er ſagte mir , daß das Ding vom Abentheurer
herrühre , was auch nach den erſten Sätzen zu
erkennen war . Der habe es in einer Geſellſchaft
erzählt , es ſei allerliebſt befunden worden , ein
ſchnellfaſſender und ſchreibender Kopf habe es auf-
gezeichnet und auf allgemeines Begehren der lieben
Schadenfreude zum Frommen für die Mitglieder
der Geſellſchaft lithographiren laſſen . Jeder theile
es im Vertrauen ſeinen nächſten Bekannten mit ,
und ſo mache es ſchon die Runde durch die halbe
Stadt .
Ich las und las , und was mich darin betraf ,
hätte ich verſchmerzen können , ja ich geſtehe , daß
ich über Manches lachen mußte . Aber auch Cle-
lia war natürlich nicht darin verſchont .
Und das verſetzte mich in einen Zorn , der
mich taub und blind und raſend machte . Ich ſchwor
dem Schelme die ſchrecklichſte Rache . Nun hätte
ich , um dieſe zu kühlen , mich in ſeiner Wohnung
auf Lauer legen ſollen . Aber da ſiehſt du den
dummen Streich , der ſich immer meinem Han-
deln beizumiſchen pflegt ! Einſiegelte ich das litho-
graphirte Blatt und ſchrieb dem Urheber , ich
werde dann und dann mich bei ihm melden und
Genugthuung fordern , kurz , eine formliche Kriege-
erklärung . Als ich zur beſtimmten Stunde nach
ſeiner Wohnung ging , fand ich das leere Neſt ;
Hals über Kopf war er abgereiſt . Ich hielt es
für eine Finte , ſtürzte nach dem Hauſe , worin die
geheimnißvollen Zuſammenkünſte gefeiert wurden ,
weil ich ihn dort vermuthete , aber da ſaßen die
22*
drei Unbefriedigten und jammerten , daß ihnen der
Meiſter , wie ſie den Gauch nannten , entſchwunden
ſei . Vielfältige Nachfragen zeigten mir endlich
eine Spur des Flüchtigen . Sie wies hieher , nach
Rorden , nach Niederland . In den Wagen geſetzt ,
mit dem alten Jochem , der noch verwirrter iſt , als
ich , und von Stadt zu Stadt nachgeſprengt , bis
ich denn hier vorläufig vor Anker gegangen bin .
Ich habe nämlich den Jochem allein weiter ſpüren
laſſen , denn vor allen Dingen iſt Incognito nöthig ,
wenn wir ihn entdecken wollen , und mich erkannten
die Leute überall für das , was ich war . Weiß
Gott , wie es zuging , da ich mir doch alle Mühe
gab , mich zu verſtellen . Des Incognito’s wegen
iſt auch der Wagen in Coblenz ſtehen gelaſſen wor-
den . Von da fuhren wir per Poſt , oder gingen
auch Streckenweiſe .
Ich freue mich , wie ein Kind , daß ich die
Geſchichte vom Herzen heruntergebeichtet habe , denn
nun darf ich von Dingen ſchreiben , die angenehmer
ſind . Nicht ſagen kann ich dir , wie wohl mir hier
zu Muthe geworden iſt in der Einſamkeit der
weſtphäliſchen Hügelebene , wo ich bei Menſchen
und Vieh ſeit acht Tagen einquartirt bin . Und
zwar recht eigentlich bei Menſchen und Vieh , denn
die Kühe ſtehen mit im Hauſe zu beiden Seiten
des großen Flurs , was aber gar nichts Unange-
nehmes oder Unreinliches hat , vielmehr den Ein-
druck patriarchaliſcher Wirthſchaft vermehren hilft .
Vor meinem Fenſter rauſchen Eichenwipfel , und
neben denen hin ſehe ich auf lange , lange Wieſen
und wallende Kornfelder , zwiſchen denen ſich dann
wieder jezuweilen ein Eichenkamp mit einem einzel-
nen Gehöfte erhebt . Denn hier geht es noch zu , wie
zu Tacitus Zeiten . „ Colunt discreti ac diversi ,
ut fons , ut campus , ut nemus placuit . “ Darum
iſt denn auch ſo ein einzelner Hof ein kleiner Staat
für ſich , rund abgeſchloſſen , und der Herr darin ſo
gut König , als der König auf dem Throne .
Mein Wirth iſt ein alter prächtiger Kerl . Er
heißt Hofſchulze , obgleich er gewiß noch einen andern
Namen führt , denn jener bezieht ſich ja nur auf
den Beſitz ſeines Eigenthums . Ich höre aber , daß
dieß überall hier ſo gehalten wird . Nur der Hof
hat meiſtentheils einen Namen , der Name des
Beſitzers geht in dem der Scholle unter . Daher
das Erdgeborne , Erdzähe und Dauerbare des hie-
ſigen Geſchlechtes . Mein Hofſchulze mag ein Mann
von etlichen ſechszig Jahren ſeyn , doch trägt er
den ſtarken großen knochichten Körper noch ganz
ungebeugt . In dem rothgelben Geſichte iſt der
Sonnenbrand der fünfzig Ernten , die er gemacht
hat , abgelagert , die große Naſe ſteht wie ein Thurm
in dieſem Geſichte , und über den blitzenden blauen
Augen hangen ihm weiße ſtruppige Brauen , wie
ein Strohdach . Er gemahnt mich , wie ein Erz-
vater , der dem Gotte ſeiner Väter von unbehaue-
nen Steinen ein Mal aufrichtet und Trankopfer
darauf gießt und Oel , und ſeine Füllen erzieht ,
ſein Korn ſchneidet , und dabei über die Seinigen
unumſchränkt herrſcht und richtet . Nie iſt mir eine
compactere Miſchung von Ehrwürdigem und Ver-
ſchmitztem , von Vernunft und Eigenſinn vorgekom-
men . Er iſt ein rechter uralter freier Bauer im
ganzen Sinne des Worts ; ich glaube , daß man
dieſe Art Menſchen nur noch hier finden kann , wo
eben das zerſtreute Wohnen und die altſaſſiſche
Hartnäckigkeit , nebſt dem Mangel großer Städte
den primitiven Charakter Germania’s aufrecht erhal-
ten hat . Alle Regierungen und Gewalten ſind
darüber hingeſtrichen , haben wohl die Spitzen des
Gewächſes abbrechen , aber die Wurzeln nicht aus-
rotten können , denen dann immer wieder friſche
Schößlinge entſproſſen , wenn gleich ſich dieſe nicht
mehr zu Kronen und Wipfeln zuſammenſchließen
dürfen .
Die Gegend iſt durchaus nicht , was man eine
ſchöne nennt , denn ſie beſteht lediglich aus wellen-
den Hebungen und Senkungen des Erdreichs , und
das Gebirge ſieht man nur in der Ferne ; ’s iſt
dieſes auch mehr eine finſtre Berglehne , als eine
ſchönliniirte Kette . Aber eben ihre Anſpruchs-
loſigkeit , daß ſie ſich nicht aufgeputzt Einem gegen-
über ſtellt , fragend : Wie gefall’ ich dir ? ſondern
bis in die kleinſten Partikeln als fromme Schaffnerin
dem Aubau durch menſchliche Hände dient , macht ſie
mir doch ſehr werth , und ich habe gute Stunden auf
meinen einſamen Streifereien genoſſen . Vielleicht
thut der Umſtand auch das ſeinige , daß mein Herz ein-
mal wieder ganz ungeſtört ſeine Pendelſchwingungen
ausſchwingen darf , ohne daß vernünftige Leute am
Uhrwerke rücken und drehen .
Poetiſch bin ich ſogar geworden , was ſagſt du dazu ,
mein alter Ernſt ? Hab’ etwas hingeworfen , wozu
mich ein göttlichſchöner Sonnentag , den ich vor
Zeiten in den Waldgründen des Speſſart ver-
lebte , zuerſt anſpornte . Ich glaube , es wird dir
gefallen . Es heißt : Die Wunder des Speſ-
ſart .
Am liebſten ſitze ich droben auf dem Hügel
an einem ſtillen Platze zwiſchen den Kornfeldern
des Hofſchulzen , die dort zu Ende gehen . Man
hat eine geräumige mit Kraut und Brombeerge-
büſch bewachſene Einſenkung des Bodens vor ſich ;
rings im Kreiſe um ſie her liegen große Steine ,
einer , gerade dem Felde gegenüber , iſt der größte ,
über dem ſpannen drei alte Linden ihre Zweige
aus . Dahinter rauſcht der Wald . Die Stelle
iſt unendlich einſam und beſchloſſen und heimlich ,
beſonders jetzt , wo man im Rücken das manns-
hohe Korn hat . Da droben bin ich viel . Freilich
nicht immer in ſentimentaler Naturbetrachtung , es
iſt auch mein gewöhnlicher abendlicher Anſtandsort ,
von wo ich dem Schulzen die Reh’ und Hirſch’
aus dem Korn ſchieße .
Sie nennen den Platz den Freiſtuhl . Vermuth-
lich hat alſo dort vor Alters das Vehmgericht im
Schrecken der Nacht ſeine Verdicte ausgebrütet .
Als ich meinem Schulzen ihn lobte , ging eine
Freundlichkeit über ſein Geſicht . Er verſetzte nichts ,
nahm mich aber nach einiger Zeit ohne Veranlaſ-
ſung mit auf eine Kammer im obern Stock des
Hauſes , öffnete dort einen eiſenbeſchlagenen Koffer
und zeigte mir in demſelben ein altes roſtiges
Schwert liegend . Mit Feierlichkeit ſagte er : Das
iſt eine große Rarität ; es iſt das Schwert Caroli
Magni , ſeit tauſend und mehreren Jahren bei’m
Oberhofe aufbewahrt , und noch in voller Kraft
und Gewalt . Ohne weitere Erklärungen hinzuzu-
fügen , klappte er den Deckel wieder zu . Ich hätte
um Alles ſeinen Glauben an dieſes Heiligthum
nicht zerſtören mögen , obgleich mich mein flüchtiger
Blick lehrte , daß der Flamberg kaum ein paar
hundert Jahre alt ſein könne . Er zeigte mir
aber ein förmliches Atteſt über die Aechtheit der
Waffe , von einem gefälligen Provincialgelehrten
ihm ausgeſtellt .
Hier will ich denn nun unter den Bauern blei-
ben , bis mir der alte Jochem Nachricht von dem
Schrimbs oder Peppel giebt . Es iſt zwar die
achtzig Meilen her kühler in mir geworden , denn
gar viel thut’s , wenn vierzehn Tage zwiſchen dem
Vorſatz und der Ausführung liegen , auch ſteht
nun die Frage , welche Rache ich eigentlich an ihm
nehmen ſoll ? aber das wird ſich ſchon Alles finden .
Dieſer Brief , wie ich ihn überleſe , kommt mir
ganz poſſirlich vor . Vorn ſtehen recht hübſche
Bemerkungen , hinten dergleichen , ich brauche mich
ihrer gar nicht zu ſchämen , und in der Mitte iſt’s ,
als ob ein dummer Bub ’ ſeine Eulenſpiegelei
erzählt .
Nun , ich werd ’ ja endlich auch klug werden . —
Wenn Einen die Leut’ nur verſtänden in der
Fremde ! Alles muß man dreimal ſagen , bevor’s
gefaßt wird . Und wenn man nicht gar ein Stock-
ſchwab iſt , ſondern im Gegentheil in der Welt
umhergekommen , und Andere vielfältig hat reden
hören , ſo kann man ſich ſelbſt durch unſer Ziſchen
und Praſſeln hin und wieder beſchwert fühlen . Wir
haben doch Geiſt , ſo viel wie die Uebrigen , warum
können wir denn das Wort nicht gelind , ſanft und
zart von uns geben , ſondern ſprechen immer :
Keeſcht ? Aber ich denke , aus : Keeſcht kann
allezeit durch Abſchwächen und Filtriren : Geiſt
werden , nicht aber umgekehrt aus Geiſt , Keeſcht .
Und ſo wird’s der Herr in dieſem Punct , wie
in allen Andern wohl mit uns brav gemeint ha-
ben .
Mentor , hoffentlich hörſt du bald mehr von
deinem Nicht-Telemach .
Schilt ihn aber tüchtig aus , darum bitt’ ich dich .
Siebentes Capitel .
Worin der Jäger dem Hofſchulzen eine
alte Geſchichte von ſeinen Eltern er-
zählt .
Mehrere Tage gingen im Oberhofe auf die
gewohnte ſtille und einförmige Weiſe hin . Der alte
Jochem ließ noch immer weder von ſich noch von dem
entwichenen Abentheurer hören , und ſeinen jungen
Gebieter wollte doch nach gerade eine ſtille Unruhe
beſchleichen . Denn ſo umſpinnt uns Alle die jetzige
geregelte Zeit , daß Niemand , und ſei er noch ſo
ungebunden , lange ausdauern kann ohne den Rücken
an ein Geſchäft , oder an ein Verhältniß zu lehnen .
Mit dem Hofſchulzen verkehrte er zwar , ſo oft
er konnte , und die originelle Eigenthümlichkeit des
Mannes behielt für ihn ihre ganze Anziehungskraft ,
welche ſie am erſten Tage der Bekanntſchaft über
ihn ausgeübt hatte , aber theils war der Alte mei-
ſtens in ſeiner Wirthſchaft ſehr beſchäftigt , theils
hatte er viel mit Andern abzureden , da täglich
Menſchen im Hofe einſprachen , die ihn um Rath
oder Hülfe angingen . Bei dieſen Gelegenheiten
bemerkte der Jäger , daß der Hofſchulze im eigent-
lichen Sinne des Worts nie etwas umſonſt that .
Er war gegen Nachbarn , Gevattern und Freunde
zu Allem bereit , aber ſie mußten ihm immer etwas
dagegen leiſten , und wäre es nur die unentgelt-
liche Ausrichtung eines Auftrags nach einer in der
Nähe belegenen Bauerſchaft , oder eines andern klei-
nen Dienſtes dieſer Art geweſen .
Täglich wurde geknallt , freilich immer vorbei ,
ſo daß der Alte , der ſtäts in’s Schwarze traf , er
mochte zielen , worauf er wollte , über dieſe frucht-
loſen Bemühungen verwunderte Augen zu machen
begann .
Es war ein Glück für unſern Jäger , daß gerade
um jene Zeit der zunächſtwohnende Gutsbeſitzer
ſich mit ſeiner Familie und Dienerſchaft auf einer
Reiſe befand , ſonſt würden ihn wahrſcheinlich doch
einmal die zünftigen Schützen oben am Freiſtuhl
ertappt haben .
Gern wäre der junge Schwabe in Manches
eingedrungen , was ihm verhüllt blieb . Der erſte
Knecht fragte den Schulzen eines Tages , ob das
Korn droben am Stuhl nicht angeſchnitten werden
ſolle , da es vollkommen reif ſei ? erhielt aber von
ſeinem Herrn den Beſcheid , daß es bis nach der
Hochzeit ſtehen bleiben müſſe . Dieſe Worte wür-
den dem Jäger nicht weiter aufgefallen ſeyn , wenn
er damit nicht unwillkührlich den Inhalt eines
Geſprächs in Verbindung geſetzt hätte , deſſen unbe-
merkter Ohrenzeuge er kurz zuvor geworden war .
Zwei benachbarte Hofbeſitzer , welche ſeinen
Wirth beſuchten , hatten ihn nämlich , ſo daß der
Jäger es hörte , befragt : Wann das Geding ſeyn
ſolle ? und zur Antwort erhalten : Am zweiten
Tage nach der Hochzeit , mit dem Hinzufügen , daß
dann zugleich der Schwiegerſohn die Looſung empfan-
gen werde . Der junge Mann brachte dieſe Reden
mit der Schonung des reifen Korns am Freiſtuhl
in Zuſammenhang , ohne gleichwohl die eigentliche
Bedeutung ſich klar machen zu können .
Seinerſeits ſagte der Hofſchulze einmal zum
Jäger , als dieſer wieder mit leerem Pulverhorn
und leerer Waidtaſche in den Hof zurückkehrte :
Wie iſt das , junger Herr ? Sie treffen ja nie-
malen was ?
Der Jäger war gerade in einer verdrießlichen
Stimmung , die zuweilen am offenſten macht . Er
verſetzte daher kurzweg : Daß ich nichts treffe , iſt
nicht meine Schuld , und daß ich dennoch immerdar
ſchießen muß , liegt auch nicht an mir , das hängt
mir von Mutterleib an .
Wie ? Von Mutterleib ? fragte der Hofſchulze .
Ich kann es nicht anders nennen , erwiederte
der Jäger . Ihr ſeid ein ſo verſtändiger Mann ,
daß ich keinen Grund habe , Euch eine Geſchichte
vorzuenthalten , welche Euch meine Jägerei , über
die Ihr , wie ich ſehe , ſchon ſeit einiger Zeit den
Kopf ſchüttelt , einigermaßen erklärlich machen wird .
Man hat Muttermäler in Form von Sternen ,
Kreuzen , Kronen , Schwertern , weil die Frau , welche
den Menſchen trug , ſich an einem großen Orden , an
einem Kirchenzuge , an einer Krönung verſah , oder
unter Kriegsgetümmel ihre Schwangerſchaft abhielt ;
warum ſollte Einer nicht Jäger von Mutterleib
aus ſeyn können ?
Der Hofſchulze nöthigte ſeinen jungen Gaſt an den
Tiſch unter den Linden vor der Thüre , ließ eine Fla-
ſche ſehr trinkbaren Weins bringen , und der Jäger
begann hierauf folgendergeſtalt ſeine Erzählung .
Meine Mutter hatte ſich mit meinem Vater
erſt nach einem trauer- und thränenvollen Braut-
ſtande verbinden dürfen . Die Verwandten und
viele Umſtände waren gegen die Heirath geweſen ,
indeſſen hatte die Liebe , welche Beide zu einander
trugen , doch endlich obzuſiegen gewußt , und die
Ringe durften gewechſelt werden . Die Folge jenes
langen Hinderns und Zurückhaltens war nicht , wie
es oft zu geſchehen pflegt , ein raſches Erkalten
nach gewonnenem Beſitze , ſondern eine äußerſt zärt-
liche Ehe geweſen , ſo daß alſo in dieſem Falle der
Wunſch der Leidenſchaft ſein Recht darwies . Noch
in jetzigen Tagen erzählen bejahrte Leute , welche
meine Eltern in den erſten Jahren ihrer Ehe gekannt
haben , von dem ſchönen Paare , das immerfort
wie Liebhaber und Geliebte mit einander umgegan-
gen ſei . Die Zärtlichkeit meiner Mutter äußerte
ſich nun auch in einer Sorge um das Leben und
die Geſundheit des Vaters , welche freilich oft in
das Uebertriebene ging . Blieb er von einem Spa-
ziergange oder einem Beſuche in der Nachbarſchaft
einige Minuten über die beſtimmte Zeit aus , ſo
ſchickte ſie ängſtlich nach ihm ; war ſeine Farbe
nicht ganz ſo munter , wie gewöhnlich , gleich fürch-
tete ſie eine ſchwere Krankheit und wollte den Arzt
herbeigeholt wiſſen , um Alles hätte ſie ihn nicht
in der Nacht reiſen laſſen , und wo er ging oder
ſtand , mußte er ſich vor Zugluft in Acht nehmen .
Während ſie für ihre eigene Perſon hart , unbeküm-
mert und muthig blieb , ſah ſie in Jeglichem , was
meinen Vater umgab , Schreck und Gefährde .
Ja , Ja , murmelte der Hofſchulze vor ſich hin ,
die vornehmen Leute haben zu dergleichen Zeit .
Bei uns Bauern kommt es auf einen Puff nicht an .
Am inſtändigſten flehte ihn meine Mutter an ,
ſich der Jagd zu enthalten . Sie hatte in den
erſten Jahren ihrer Ehe einen verworrenen Traum ,
von dem ſie ſich beim Erwachen nur einer ſchönen
grünen Uniform , worin ſie meinen Vater geſehen '
und daß ihn in derſelben ein Unglück betroffen ,
zu erinnern wußte . Nun fielen ihr alle die Ge-
ſchicke , die ſich auf Jagden ereignen können ; ſcheu-
gewordene Pferde , unvermuthet losgegangene Schüſſe ,
Eber , die den Schützen anrennen , und was der-
gleichen mehr war , ein , und ſie ließ ſich daher von
meinem Vater das Wort geben , nie dieſem ver-
hängnißvollen Genuſſe wieder fröhnen zu wollen .
Er willfahrte ihr gern , denn er ſah ihre Liebe zu
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 23
ihm , und war überhaupt dem Waidwerke nicht lei-
denſchaftlich ergeben , obſchon er es , wie ihm ſonſt
nach ſeinen Verhältniſſen zukam , getrieben hatte .
Mehrere Jahre der Ehe blieben kinderlos .
Endlich fühlte meine Mutter ihren Schooß geſeg-
net . Sonſt pflegt , wie man mir geſagt hat , in
dieſem Zuſtande die Neigung der Frau zu dem
Manne abzunehmen , und ſich der verborgenreifenden
Frucht zuzuwenden , meine Mutter machte aber von
dieſer Regel eine Ausnahme . Ihre Liebe zu dem
Vater wuchs noch , wenn ſie eines Wachsthums
fähig war . Zugleich ſtellte ſich die Erinnerung an
den früher gehabten und ſeitdem faſt vergeſſenen
Traum wieder bei ihr mit Heftigkeit ein , deſſen
eigentliche Bilder ihr jedoch nicht deutlich werden
wollten , obgleich ſie ſtundenlang ſich damit abmühte ,
ſie hervorzurufen . Nochmals mußte mein Vater
ſein früheres Gelübde in ihre Hand wiederholen .
Inzwiſchen rückte der Sanct Hubertustag heran ,
an welchem der Fürſt , mit dem mein Vater eng
zuſammenhing , die jährliche große Jagd zu veran-
ſtalten pflegte . Es war in ſeiner Umgebung ſchon
verwundernd viel davon geſchwätzt worden , warum
mein Vater ſich in den Jahren zuvor unter aller-
hand Vorwänden von den Jagden zurückgehalten habe ,
endlich hatte man den wahren Grund aufgeſpürt ,
und der etwas rohe und leichtfertige Kreis mag
ſich trefflich über den gehorſamen Ehemann luſtig
gemacht haben . Der Fürſt , derb und zufahrend ,
wie er war , nahm ſich vor , den Gehorſam zu
Falle zu bringen . Es war ſo Sitte , daß ſchon an
dem Tage vor Hubertus ein luſtiges Banquett auf
dem Jagdſchloſſe gegeben wurde . Der Saal , in wel-
chem es Statt fand , war an den Wänden mit Hirſch-
geweihen , Armbrüſten und alten Jagdſpießen ausge-
ziert . Da wurde denn , wie man bei uns zu ſagen
pflegt , tapfer gebürſtet , d. h. gezecht , und wer an
dem Banquette Theil nahm , konnte ſich natürlich
von der Hubertusjagd nicht losſagen .
Mein Vater würde alſo um keinen Preis einen
Partner des Schmauſes abgegeben haben , wenn
ihn nicht der Fürſt durch eine Liſt nach dem Jagd-
ſchloſſe zu ziehen gewußt hätte . Er ließ ihn näm-
lich unter dem Vorwande eines Geſchäfts berufen
und hielt ihn in langen Geſprächen hin , bis der
Lakai meldete , daß ſervirt ſei . Da wollte mein
Vater fortreiten , aber ein zweiter Lakai brachte ,
ausgeſandt , die Nachricht , der Reitknecht habe ver-
23*
ſtanden , der Herr bleibe zur Tafel , und ſei bis
auf den Abend mit den Pferden nach Hauſe gerit-
ten . Nun , da es ſo iſt , laß dir ’s gefallen und
nimm hier vorlieb , ſagte der Fürſt . Du kannſt
doch nicht die zwei Stunden zu Fuß nach Hauſe
gehen . — Was ſollte mein Vater beginnen ? So
unlieb es ihm war , er mußte bleiben . Bei Tafel ,
als es ziemlich lärmend zu werden anfing , warf
Einer die Frage hin , ob er morgen mit zur Jagd
komme ?
Ohne ſeine Antwort abzuwarten , rief ein Ande-
rer : Nein , er darf nicht , ſeine Frau hat es ihm
ſtreng verboten . — Iſt es wahr , fragte der Fürſt
laut über die ganze Tafel hin , daß dir deine Frau
befohlen hat , kein Gewehr mehr abzudrücken ?
Wenn dem ſo iſt , und du gehorchſt , ſo biſt du ja
ein wahrer Muſtermann für Stadt und Land .
Ein ſchallendes Gelächter folgte dieſen Worten ,
obgleich darin nicht viel Lachenswerthes ſteckte .
Mein Vater ärgerte ſich , nahm ſich aber zuſam-
men und verſetzte , daß dem nicht ſo ſei ; wie man
denken könne , daß ſeine Frau ihm ſo etwas befeh-
len werde ? und dergleichen mehr , was ein Jeder
in ſeiner Lage und in einer ſo wilden Geſellſchaft
entgegnet haben würde . — Topp ! rief der Fürſt ,
das iſt recht , ſo hilfſt du uns alſo morgen Sanct
Hubert Devotion erzeigen — und als mein Vater
ſich mit einer Reiſe , mit Beſuch , mit Unpäßlichkeit
entſchuldigen wollte — Oho ! die Frau Gemahlin
ſteckt doch dahinter ! Nun , der Sache müſſen wir
auf den Grund kommen ! Erinnert mich das näch-
ſtemal , wo ich mit der Geſtrengen zuſammentreffe ,
daß ich ernſtlich danach bei ihr anfrage .
In dieſem Augenblicke faßte mein Vater ſeinen
Entſchluß . Er hielt es für nöthig , der Mutter
einen ärgerlichen Auftritt , wie er von des Fürſten
Derbheit immer zu beſorgen ſtand , zu erſparen ,
und ſagte daher : Damit Jedermänniglich ſehe ,
daß an all dem Argwohn nichts ſei , ſo werde ich
die Jagd morgen mitmachen . Ein Beifallsklatſchen
erſcholl , unter Getöſe wurde die Tafel aufgehoben ;
der Fürſt rief mit etwas ſchwerer Zunge : Biſt
du aber morgen nicht um ſechs Uhr am Verſamm-
lungsplatze , ſo holen wir Alle dich in corpore aus
den Federn . — Mein Vater nahm kurz und trocken
ſeinen Urlaub , fuhr den lügneriſchen Lakaien , der
draußen im Vorgemache ihn verſchmitzt lächelnd
befragte , ob er nun die Pferde befehle ? barſch an ,
und ging die Treppe hinunter über den Hof ſelbſt
nach dem Stalle , wo er den Reitknecht mit den
Pferden fand , der ſich keinen Augenblick vom Jagd-
ſchloſſe entfernt hatte .
Hieraus erſah nun mein Vater , daß das Ganze
ein angelegter Plan geweſen ſei . Beim Heimreiten
überlegte er den ſeinigen . Sich von dem gegebe-
nen Worte zurückzuziehen , war unmöglich , denn dann
hätte er wirklich am nächſten Morgen den ganzen
Schwarm vor dem Hauſe gehabt zu Aengſten
und Schrecken der Mutter . Er beſchloß daher die
Jagd wirklich mitzumachen , jedoch ſobald als nur
möglich ſich zu entfernen , und um ſein Abſeyn
eine Zeitlang vor den Uebrigen zu verbergen , ſei-
nen guten Freund , den Oberjägermeiſter , deſſen fin-
ſteres Geſicht Mißbilligung der getriebenen Scherze
ausgedrückt hatte , zu erſuchen , daß ihm der ent-
fernteſte Stand angewieſen werde , von dem er bei
günſtiger Gelegenheit entkommen zu können hoffte .
Um aber für die Zukunft dem Fürſten und der
ganzen Geſellſchaft Reſpect einzuflößen , ſollten Tags
darauf ſchriftliche Erklärungen an die ärgſten Schreier
des Jagdſchloſſes abgehen , welche dieſe entweder
einſtecken , oder worauf ſie zu Piſtolen greifen mußten .
Zu Hauſe zog er einen alten verſchwiegenen
Diener in ſein Vertrauen , ließ die prächtige Jagd-
uniform , in welcher jeder Cavalier bei den großen
Hofjagden erſcheinen mußte , heimlich aus dem
Schranke nehmen , und verſpürte , wie er ſelbſt lange
Jahre nachher , wenn dieſe Geſchichte wieder auf
das Tapet kam , zu erzählen pflegte , trotz ſeines
Mißmuths ein geheimes Behagen , als er das grüne ,
ſchimmernde Collet mit den blitzenden Knöpfen ,
der goldenen , reichen Stickerei , den Achſelſchnüren ,
den ſchweren Epauletts aus dem umgelegten Sei-
denpapier , und das prächtige Couteau mit glänzen-
den Steinen am Griff aus dem Futteral hervor-
kommen ſah , nachdem er ſo lange den Anblick die-
ſer Gegenſtände entbehrt hatte . Meiner Mutter
ſagte er irgend einen gleichgültigen Grund , weßwe-
gen er den folgenden Tag über von Hauſe entfernt
ſeyn werde . Es gelang ihm , ſie zu täuſchen ; ſie
legte ſich ruhig an ſeiner Seite ſchlafen .
In der Nacht aber hatte ſie den früheren ängſt-
lichen Traum , auf deſſen Einzelheiten ſie ſich ſeither
im Wachen nicht zu beſinnen vermocht hatte . Sie
ſah meinen Vater ſich vom Lager erheben , einen
Blick der Bekümmerniß auf ſie , die Schlafende ,
werfen , leiſe auf den Zehen aus dem Zimmer ſchlei-
chen . Der Traum führte ſie hierauf nach der Garde-
robe . Dort legte mein Vater Stück vor Stück die
prächtige grüne Uniform an . Sie konnte ſich nicht
ſatt an ihm ſehen , er kam ihr gar zu ſchön vor , und
doch beſchwor ſie ihn inſtändigſt und mit der äußer-
ſten Herzensangſt , von ſeinem Vorhaben abzuſtehen .
Er ließ ſich aber nicht hindern , ſchnallte das Cou-
teau um , und in dem Augenblicke wieherte ein
Pferd . Nun zerbrach blitzſchnell das bisherige
Traumgeſicht , und mit Entſetzen ſah ſie meinen
Vater blutigen Hauptes unten im Hofe auf dem
Pflaſter liegen . Ehe ſie noch ſich zu ihm helfend
hinbeugen konnte , wieherte das Pferd , welches ſie
wunderbarerweiſe nicht ſah , zum zweitenmale , und
— ſie erwachte , wie es ihr vorkam , von einem
wirklichen Pferdewiehern aus den Schreckniſſen des
Traumes geweckt . Schlaftrunken taſtete ſie umher ,
um des Vaters Wange ſich zur Beruhigung zu
ſtreicheln , aber der Taumel ihrer Sinne wich der
angſtvollſten Ermunterung , denn das Bett neben
ihr war verlaſſen , die Decke zurückgeſchlagen . Sie
ſchellte dem Mädchen , fragte , wo der Herr ſei ?
Dieſe , welche ihn im Gange verſtohlen an ſich
hatte vorüberſchlüpfen ſehen , antwortete zögernd :
In der Garderobe . Nun war ſie nicht länger zu
halten , eiligſt warf ſie ein Nachtgewand über und
begab ſich mehr laufend als gehend nach der Gar-
derobe . Dort die Thüre geöffnet , hatten beide
Eltern vor einander den gleichen Schreck und mein-
ten zu Boden ſinken zu müſſen . Der Vater ſtand ,
wie ihn die Mutter geträumt hatte , prächtig ge-
ſchmückt , in ſeinem Glanz und Flimmer von der
rothen Morgenſonne umſpielt , und ſchnallte eben
das Couteau an . Es folgte ein heftiges Fragen
und Erklären , die Mutter wollte ihn durchaus
nicht ziehen laſſen , bis er auf die eindringlichſte
Weiſe ihr erwieſen hatte , daß für dieſesmal ſchlech-
terdings an dem Vorhaben nichts zu ändern ſei .
Indem ſie noch mit einander ſtritten , wieherte des
Vaters geſattelt ſtehendes Reitpferd unten vom
Hof herauf zum drittenmale . Sie ſtürzte an das
Fenſter , ſah das feurige Thier in den Boden hauen
und ſich heben , das böſe Ende ihres Traums trat
ihr vor die Augen , ſie beſchwor meinen Vater bei dem
Lebendigen unter ihrem Herzen , wenigſtens nicht zu
reiten , da ſie die beſtimmte Ahnung habe , daß ihm
heute damit ein Unglück begegnen werde , ſich vielmehr
des leichten Wagens zu bedienen . Höchſt ver-
ſtimmt rief er dem Bedienten zu : So laß anſpan-
nen ! drückte die Mutter ſanft nach der Thüre zu
und bat ſie um Gotteswillen , ſich doch nur wieder
niederzulegen , da ſie ja in ihrem leichten Gewande
von der Morgenkälte ſchwer krank werden könne ,
und ſprang dann , als er ſie auf dem Wege nach
dem Schlafcabinet glaubte , raſch die Haupttreppe
hinunter , um nur zu Roß und an dieſem vermale-
deiten Tage vom Hofe zu kommen .
Aber meine Mutter , einmal argwöhniſch gemacht ,
ſchlüpfte eine kleine Seitentreppe hinab , die eben-
falls auf den Hof führte , um ſich zu verſichern , ob
auch der Wagen genommen werde . Indem ſie nun
unten anlangte , ſah ſie , daß mein Vater ſchon zu
Pferde ſaß , und mit dem Thiere , welches er in
ſeinem Verdruſſe heftig behandelt und dadurch unru-
hig gemacht hatte , kaum zurecht kommen konnte .
Mit einem lauten Geſchrei flog ſie durch die Thüre
auf den Hof ; das Pferd , von der plötzlich erſchei-
nenden weißen Geſtalt bis zur Wuth geſteigert ,
drehte ſich wie toll auf den Hinterfüßen um , gerieth
auf eine ſchlüpfrig-abſchüſſige Stelle , rutſchte aus
und ſtürzte . Nun lag mein Vater wirklich mit
blutendem Kopfe auf dem Pflaſter , meine Mutter
aber konnte ihm nicht helfen , denn auch ſie ſank
ohnmächtig an der Thüre zuſammen .
Der Jäger hielt athmend inne , bewegt von
ſeiner eigenen Erzählung , deren Einzelheiten , wie
er nach einer Pauſe ſagte , ihm ſo lebhaft vor-
ſchwebten , weil der Vorfall mit den kleinſten Zügen
von den Dabeigeweſenen ihm mehr als hundertmal
berichtet worden ſei . — Er ſei die Haus- und Fa-
miliengeſchichte geworden . Sein Zuhörer ſtrich ſich
die Haare bedächtig aus der Stirn und ſagte nach
einer Weile : Daß die Sache keine ſchlimmen
Folgen gehabt hat , ſtellt ſich dar , denn Sie ſitzen
da ganz friſch und geſund , junger Herr .
Glücklicherweiſe war der Schreck das Aergſte
dabei geweſen , erwiederte der Jäger . Mein Vater
hatte ſich ſchnell bügellos zu machen gewußt , ſein
Epaulett war ihm , von der heftigen Bewegung
gelöſt , unter den Kopf gefahren und ſchützte vor
einem zu harten Aufſchlagen ; er kam mit eine
leichten Wunde davon . Auch meiner Mutter , für
welche das Schlimmſte zu befürchten ſtand , half
ihre überaus kräftige Natur . Sie erholte ſich und
dauerte ihre Zeit aus , obgleich die Gedanken an
an jenen Morgen ſie keinen Augenblick verlie-
ßen .
Und daher , meinen Sie , rühre Ihre Jagdluſt ?
fragte der Hofſchulze .
Ich kam einige Monate nach dem Ereigniſſe
zur Welt mit einem Maale unter dem Herzen in
der Form eines Hirſchfängers . Sobald ich zum
Buben erwachſen war , hielt mich keine Vermah-
nung und Züchtigung ab , mit den Jägern umher-
zulaufen . Und ſo iſt das fortgegangen bis auf
den heutigen Tag , ohne daß ich , wie Ihr ja leider
nun auch gemerkt habt , zu dieſem Treiben durch
Beute und Erfolg irgend eine Anreizung empfinge .
Wenn Ihre Frau Mutter von den Jagdſachen
einen ſolchen Schreck bekommen hat , ſo müßte ſie
Ihnen ja ehender einen Abſcheu davor eingeimpft
haben , ſagte der Hofſchulze .
Nein ! rief der junge Jäger , und ſeine Augen
begannen in dunklerem Feuer zu leuchten , wie immer
der Fall war , wenn ſich die Rede auf ſolche Gegen-
ſtände wandte . Davon verſteht Ihr nichts , Hofſchulze .
Kann ein menſchliches Weſen unwillkührlich auf ein
Andres durch Blut , Seele und Sympathie wirken , ſo
fällt dieſe Wirkung auch ganz in der dunkeln Kam-
mer vor , darin die Kräfte nach ihren eigenen Rech-
ten hin- und herfahren , ſauſen und weben , und
Gebild ſchaffen , deſſen Figur kein Verſtand vorher-
ſieht und auf welches Niemand gefaßt iſt . Abſcheu
kann Luſt , Furcht kann Muth , Sehnſucht Ekel
erzeugen , und iſt Niemand , der den Stammbaum die-
ſer und ähnlicher Zeugungen aufzurichten vermöchte .
Davon verſtehe ich wirklich nichts , und geht
mich auch nichts an , ſagte der Hofſchulze . Aber
aus der Geſchichte , welche Sie da ſo plaiſirlich
erzählt haben , ziehe ich eine dreifache Moral .
Ihr haltet ſehr viel auf Moral .
Die Moral unterſcheidet uns von dem Vieh ,
verſetzte der Hofſchulze feierlich . Das Vieh hat
eigentlich Alles beſſer als die Menſchencreatur , es
findet den Weg ſicherer , es hat ſein ihm gewieſe-
nes Futter und lüſtert nicht nach Anderem , es
trägt ſeinen Rock anerſchaffen auf ſeinem Leibe ,
es fürchtet ſich nicht vor dem Tode , es treibt keine
unnütze Wolluſt , aber Moral hat das Vieh nicht ;
Moral hat nur der Menſch .
Und in meiner Geſchichte ſtecken drei Moralen ?
Drei . Die will ich Ihnen jetzt auch nicht vor-
enthalten , junger Herr Jäger .
Achtes Capitel .
Worin der Hofſchulze eine dreifache Mo-
ral aus der Geſchichte des Jägers zieht .
Erſtens , ſagte der Hofſchulze , lehret die Ge-
ſchichte , daß , wenn Ihre Paſſion wirklich von Ihrer
Frau Mutter ſich herſchreibt , der Herr noch jetzun-
der ſeinen Spruch wahr macht , welcher lautet : Ich
will die Sünden der Väter heimſuchen an den
Kindern bis in das dritte und vierte Glied . Denn
an und vor ſich iſt die Jägerei eine erlaubte und
luſtige Sache . Nun aber ſündiget der Menſch
jederzeit , wenn er ſich wider etwas ſetzt , was
Herkommens iſt bei ſeinesgleichen , dadurch kriegt
die Gleichgültigkeit ein Gewicht und hat Folgen ,
wie Peſtilenz darnach kam , als David ſein Volk
zählen ließ , weil das nicht Herkommens bei den Ju-
den war . Ihre Frau Mutter nun verfiel in Sünde ,
weil ſie den Herrn Vater nicht auf die Jagd gehen
laſſen wollte , da das zu ſeinem Stande gehörte ,
und darum iſt an Ihnen eine Thorheit geſetzt , das
Schießen ohne Treffen . Sie ſollten aber ſuchen ,
mit der Gewalt davon los zu kommen , weil ſolche
Neigungen nicht aus den Wirkungen in der dunkeln
Kammer , nicht aus den Kräften und den eigenen
Rechten , wie Sie es nannten , herrühren , ſondern
einzig und allein aus der Thorheit , durch welche
Sie groß Unglück anrichten können . Auch die
Mädchen haben mitunter das Gelüſt , Feuer anzu-
legen , ſie laſſen es aber wohl bleiben , wenn ſie
ſcharf zuſammengenommen werden . Es kann und
ſoll aber der Menſch , über den kein Anderer geſetzt
worden , an ihm ſelber der Herr und Zuchtmeiſter ſeyn .
Zweitens thut die Geſchichte lehren , daß im
Eheſtande gar zu viel Liebe ſchädlich iſt . Denn
Ihr Herr Vater würde mit dem Pferde nicht
geſtürzt ſeyn , wenn Ihre Frau Mutter nicht ſo be-
ſorgt aus der Thüre geſprungen wäre . Sie wollte
ihn vor Gefahr hüten und brachte ihn eben recht
in Gefahr . Wie leicht konnte ihn Einer von den
Herrn niederſchießen , an die er nach der Jagd
Briefe ſchreiben wollte ! Im Eheſtande muß Alles
moderirt ſeyn , auch die Liebe , weil die Sache für
die Hitze und den Eifer zu lange währt . Vorher
kann der Menſch thun , was er will , danach kommt
nichts , aber der Eheſtand macht einen Abſchnitt
und giebt ein Exempel , da muß der Menſch ſich
zuſammennehmen , denn auf Eheleute ſieht ein Jeder ,
und Aergerniß , welches durch ſie kommt , iſt doppelt
Aergerniß . Mit einem losledigen Menſchen haben We-
nige Verkehr , aber auf den Haus- und Eheſtand ver-
läßt ſich aller Handel und Wandel , Nachbarhülfe und
Anſprache , Chriſtenthum , Kirchen- und Schulzucht ,
Haus und Hof , Rind und Kind , und wie ſollen
nun alle dieſe Sachen in gehöriger Ordnung und Ver-
faſſung bleiben , wenn die Eheleute ſelbſt ſich wie
die Gecken betragen ? Bei uns Bauern kommt der
Fehler weniger vor , aber bei den Stadtleuten , mit
denen ich vielfältig hier und dahaußen verkehre ,
und deren Gebräuche ich daher kenne , will mir in
dem Puncte Manches ſchlimm gefallen . Wenn
ein Mann ſein Weib ſchlägt , oder angrunzt ohne
Noth , ſo giebt er Aergerniß , denn der Apoſtel
ſchreibt , daß die Männer ihre Weiber lieben ſollen ,
wie der Herr Chriſtus ſeine Gemeine liebt , aber
wenn ein Weib ihren Mann ſo unterkriegt mit
Careſſen und ſüßen Reden , daß er zwiſchen guten
Freunden vor Angſt nicht mehr zu bleiben weiß ,
wenn die Stunde ſchlägt , da er hat nach Hauſe
kommen ſollen , oder daß er ſich von Allem zurück-
halten muß , was ihm das Herze fröhlich macht ,
ſo giebt ſie auch Aergerniß , denn der Apoſtel Pau-
lus ſchreibt nicht minder , das Weib ſolle den Mann
fürchten . Die Furcht aber beſteht mit ſolchem Ver-
halten nicht , vielmehr treibet ſie dahin , daß dem
Manne ſein freier Wille gelaſſen werde , denn der
Eheſtand ſoll den Mann erbauen , nicht aber ihn
daniederreißen , weil abermals der nämliche Apoſtel
Paulus an die Corinther ſchreibt : Der Mann iſt
nicht vom Weibe , ſondern das Weib iſt vom Manne .
Ich habe hier jezuweilen bei guter Witterung
große Geſellſchaft von Stadtleuten , die für Plaiſir
den Tag im Freien zubringen , und gegen Abend
wieder heimfahren . Da ſehe ich nun mitunter ,
daß die Neugeheiratheten , die etwa erſt im zweiten
Jahre Mann und Frau ſind , denn ſpäterhin hört
dieſes Weſen gemeiniglich auf , mit einander ein
Anblicken und Anblinzeln , Löffeln und Schlecken
treiben , als ſeien ſie mutterſeelenallein und Nie-
mand außer ihnen um ſie und neben ihnen . Darin
ſtecken nun wieder drei Aergerniſſe .
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 24
Schade , unterbrach ihn der Jäger lachend , daß
Euch kein Philoſoph von Profeſſion anhört , Hof-
ſchulze . Er würde die architectoniſche Symmetrie
Eures Gedankenbau’s loben . Drei Aergerniſſe , ent-
ſprechend drei Moralen !
Der Schulze fuhr , ohne ſich ſtören zu laſſen ,
fort : Erſtens ſind immer in der Geſellſchaft Leute ,
die gerne freien möchten und nicht können , und in
denen ſtiftet ſo ein öffentliches Liebesweſen gehei-
men Neid und ſtille Abgunſt , wovor der Menſch
ſeinen Nächſten bewahren ſoll . Dieſes iſt das erſte
Aergerniß . Zweitens läßt , wenn ſie ſich vor ſo
vielen Leuten nicht ſcheuen , das zu thun , was in
die Verborgenheit gehört , vermuthen , daß ſie da-
heim eine Brinneiferigkeit haben , welche die Geſund-
heit ruinirt , und drittens denkt Dieſer und Jener
in der Geſellſchaft : Was dem Einen recht , iſt
dem Andern billig , genirt Ihr Euch nicht , genir’
ich mich auch nicht , dürft Ihr ſchmatzen , darf ich
kratzen ; läßt nun alle geheimen Würmer und Ottern-
gezüchte , welche er im Herzen trägt und ſonſt bei ſich
behielte , los , die ſchlechten , ſpöttiſchen Reden , die
Schraubereien und Verläumdungen , welche denn wie-
der von Andern aufgefangen und erwiedert werden ,
ſo daß das ganze Plaiſir zu Grunde geht . Auf
dieſe Weiſe habe ich es erlebt , daß durch ſo ein öffent-
lich löffelndes Ehepaar lauter Zank und Hader in
eine Geſellſchaft kam , der immer mehr ſtieg , je
mehr die Eheleute mit einander careſſirten .
Dagegen iſt es eine wahre Freude , bisweilen
vernünftige junge Leute zu ſehen , die beſcheiden
und anſtändig ſich betragen ; das Frauchen ſitzt da ,
und der Mann da , Jedes discurirt höflich mit ſei-
nen Nachbarn , Keines ſcheint auf das Andere zu
achten , von Handgeben und Küſſen iſt nun gar
nicht die Rede , und doch ſieht man den rothen ,
muntern Geſichtern an , daß ſie zu Hauſe Glück
und Segen mit einander haben ; gleichſam zwei
Aepfel ſind ſie an einem Zweige , die auch nicht
nach einander umgucken und doch zuſammen wachſen ,
gedeihen und reifen . Der Eheſtand iſt ein Segens-
ſtand , aber er will mit Vernunft und Geſchick und
Manierlichkeit angegriffen ſeyn , ſonſt macht er , wie
der Wein im Uebermaaß , trunken , dumm und unge-
ſund . Er iſt wie der grüne Zweig am Apfelbaum ;
was darauf zum Gedeihen kommen ſoll , muß hübſch
ſtill und ruhig ſich daran halten bei Sonnenſchein
und Regen .
24*
Eure Moralien klingen zwar ziemlich hausbacken ,
aber es liegt doch etwas Wahres darin , ſagte
der Jäger . Der geſunde Menſchenverſtand behält
immer Recht , obſchon er ſelbſt nicht das letzte
Recht iſt . Was meine Eltern betrifft , ſo ſpricht
deren nachheriges Verhältniß auch gewiſſermaaßen
für Eure Sätze . Meine Mutter iſt nach dem ent-
ſetzlichen Schreck wie umgewandelt geweſen , er
hatte auf ſie wie ein Sturzbad gewirkt , der Vater hat
ſpäterhin gehen , kommen , ſich kleiden dürfen , wie ,
vornehmen können , was er gewollt , und von der
Zeit an , wo ich ſelbſt zum Bewußtſeyn gelangte ,
erinnere ich mich der Ehe meiner Eltern , als einer
zwar liebevollen , aber freien und ruhigen .
Ja , Ja , ſprach der Hofſchulze , ſo mußte es ſich
wenden . Allzuſcharf macht ſchartig , der Bogen ,
welcher zu ſehr geſpannt wird , bricht , und hinter
heißem Wetter kommt kühles . Aber Ihnen will ich
doch eine gute Lehre geben , junger Herr . Wenn Sie
incognito bleiben , und wie Sie ſich mir verkündiget
haben , für den Sohn von Bürgersleuten gelten wol-
len , ſo müſſen Sie mir keine Geſchichte erzählen von
Jagdſchlöſſern und fürſtlichen Banquetten und golde-
nen Uniformen und Bedienten und Reitknechten .
Ach , die Lehre kommt zu ſpät ! rief der junge
Jäger luſtig . Das Verſtellen hilft mir nichts , ich
ſehe es wohl ein , und wenn ich auch wie der Vo-
gel Strauß den Kopf wegſtecke , man erblickt mich
dennoch . Verrathet mich aber nicht ; ich habe
meine Gründe zu der Bitte , die Ihr mit gutem
Gewiſſen erfüllen könnt , denn ein Verbrechen habe
ich nicht begangen .
Nein , das ſoll wohl ſeyn , Sie ſehen nicht danach
aus , ſagte der Hofſchulze lächelnd .
Jetzt nehmt von meiner Seite eine Lehre an .
Ihr ſeid ein alter , geſetzter Mann , dem mehr
daran liegen muß , ſeine Abſichten für ſich zu behal-
ten , als mir . Wenn Ihr Eure Geheimniſſe , welche
Ihr zweifelsohne habt , vor mir und meinem Nach-
ſpüren bewahren wollt , ſo müßt Ihr meine Auf-
merkſamkeit nicht ſelbſt rege machen , müßt mir nicht
das Schwert Karls des Großen mit ſo feierlicher
dunkler Rede zeigen .
Der Hofſchulze richtete ſich in die Höhe . Seine
große Geſtalt ſchien noch zu wachſen , und der Mond ,
welcher inzwiſchen aufgegangen war , warf ſeinen
Schatten lang in den Hof . Er ſagte mit tiefem
Tone und mit einem Nachdruck , der dem Andern
durch Mark und Bein ging : Wehe dem , welcher
die Geheimniſſe des Schwertes Caroli Magni ſieht
oder hört , wenn es dergleichen giebt ! — Darauf
ſetzte er ſich nieder , ſchenkte ſeinem Gaſte das letzte
Glas ein , und that , als ob nichts vorgefallen ſei .
Dieſer ſchwieg verlegen . Er merkte , daß mit
dem Alten in manchen Dingen nicht zu ſcherzen
ſei . Um wieder ein Geſpräch in Gang zu bringen ,
ſagte er endlich : Ihr verſpracht drei Moralen
aus meiner Geſchichte , habt aber bis jetzt mir nur
zwei mitgetheilt .
Die dritte , verſetzte der Hofſchulze , iſt keine
Rede , ſondern eine Handlung und Verrichtung .
Mit dieſen Worten deren Sinn er nicht weiter
aufklärte , ging er in das Haus .
Neuntes Capitel .
Der Jäger erneuert eine alte Bekannt-
ſchaft .
Am folgenden Tage zur Mittagsſtunde hörte
der Jäger unter ſeinem Fenſter ein Geräuſch , ſah
hinaus und bemerkte , daß viele Menſchen vor
dem Hauſe ſtanden . Der Hofſchulze trat in ſonn-
täglichem Putze ſo eben aus der Thüre , gegenüber
aber hielt am Eichenkampe ein zweiſpänniger Kar-
ren , auf welchem ein Mann in ſchwarzen Kleidern ,
anſcheinend ein Geiſtlicher , zwiſchen mehreren Kör-
ben ſaß . In einigen derſelben ſchien Federvieh zu
flattern . Etwas hinterwärts ſaß eine Frauens-
perſon in der Tracht des Bürgerſtandes , welche
ſteif vor ſich hin auf dem Schooße ebenfalls einen
Korb hielt . Vorn bei den Pferden ſtand ein
Bauer mit der Peitſche , den Arm über den Hals
des einen Thier’s gelegt . Neben ihm hielt ſich
eine Magd , auch einen Korb , mit ſchneeweißer
Serviette überlegt , unter dem Arme .
Ein Mann in weitem , braunem Oberrocke , deſ-
ſen bedächtiger Gang und feierliches Antlitz ohne
Widerſpruch den Küſter erkennen ließ , ſchritt mit
Würde von dem Wagen dem Hauſe zu , ſtellte ſich
vor den Hofſchulzen hin , lupfte den Hut und gab
folgenden Reimſpruch von ſich :
Wir ſind allhier vor Eurem Thor ,
Der Küſter und der Herr Paſtor ,
Des Küſters Frau , die Magd daneben ,
Die Gift und Gabe zu erheben ,
So auf dem Oberhofe ruht ;
Die Hühner , Ei ’r , die Käſe gut .
So ſagt uns an , ob Alles bereit ,
Was fällig wird zur Sommerszeit .
Der Hofſchulze hatte bei Anhörung dieſes
Spruchs den Hut tief abgenommen . Nach dem-
ſelben ging er zum Wagen , verbeugte ſich vor dem
Geiſtlichen , half ihm in ehrerbietiger Stellung her-
unter und blieb dann mit ihm ſeitwärts ſtehen ,
mancherlei Reden wechſelnd , welche der Jäger nicht
hören konnte , während die Frau mit dem Korbe
auch abſtieg und ſich nebſt dem Küſter , dem Bauer
und der Magd wie zu einem Zuge hinter jenen
beiden Hauptperſonen aufſtellte . Der Jäger ging ,
um den Zuſammenhang dieſes Auftritts zu erfah-
ren , hinunter , ſah im Flur weißen Sand geſtreut ,
und die daranſtoßende beſte Stube mit grünen
Zweigen geſchmückt . Die Tochter ſaß darin , eben-
falls ſonntäglich geputzt , und ſpann , als wolle ſie
noch heute ein ganzes Stück Garn liefern . Sie
ſah hochroth aus und blickte von ihrem Faden
nicht auf . Er ging in das Zimmer und wollte
eben bei ihr Erkundigung einziehen , als ſchon der
Zug der Fremden mit dem Hofſchulzen die Schwelle
vom Flure aus betrat . Voran ging der Geiſtliche ,
hinter ihm der Küſter , dann der Bauer , dann die
Küſterfrau , dann die Magd , zuletzt der Hofſchulze ;
Alle einzeln und ungepaart . Der Geiſtliche trat
auf die ſpinnende Tochter , welche noch immer nicht
emporſah , zu , bot ihr freundlichen Gruß und ſagte :
So recht , Jungfer Hofſchulze , wenn die Braut
noch ſo fleißig ihr Rädchen dreht , da kann ſich der
Liebſte volle Kiſten und Kaſten erwarten und ver-
hoffen . Wann ſoll denn die Hochzeit ſeyn ? — Auf
Donnerstag über acht Tage , Herr Diaconus , wenn
es erlaubt iſt , verſetzte die Braut , wurde wo mög-
lich noch röther , als zuvor , küßte dem Geiſtlichen ,
welcher noch ein jüngerer Mann war , demüthig die
Hand , nahm ihm Hut und Stock ab und reichte
ihm zum Willkomm einen Erfriſchungstrunk . Die
Andern , nachdem ſie Reihe herum die Braut eben-
falls mit Handſchlag und Glückwunſch bedacht
hatten und durch einen Trunk erquickt worden wa-
ren , verließen die Stube und gingen auf den Flur ,
der Geiſtliche aber unterhielt ſich mit dem Hof-
ſchulzen , der beſtändig ſeinen Hut in der Hand ,
in ehrerbietiger Stellung vor ihm ſtand , über
Gemeinde-Angelegenheiten .
Gern hätte der junge Jäger , welcher , von den
Uebrigen unbeachtet , aus einer Ecke der Stube
den Auftritt mit angeſehen hatte , ſchon früher den
Geiſtlichen begrüßt , wenn es ihm nicht unbeſcheiden
vorgekommen wäre , die Anreden und Antworten
der Fremden und Hofesgenoſſen , welche trotz der
bäuerlichen Scene etwas Diplomatiſches hatten ,
zu ſtören . Denn in dem Diaconus war von ihm
mit Erſtaunen und Freude ein ehemaliger acade-
miſcher Bekannter wiedergefunden worden . Jetzt
verließ der Hofſchulze auf einen Augenblick das
Zimmer und nun ging der Jäger zum Diaconus ,
ihn bei ſeinem Namen begrüßend . Der Geiſtliche
ſtutzte , fuhr mit der Hand über die Augen , erkannte
jedoch auch den Andern ſogleich wieder und freute
ſich nicht weniger , ihn zu ſehen . Aber — fügte
er den erſten Grußworten hinzu — jetzt und hier
iſt keine Zeit zur Unterhaltung , kommen Sie nach-
her mit , wenn ich vom Hofe abfahre , dann wollen
wir zuſammen plaudern ; hier bin ich ein öffentli-
cher Charakter und ſtehe unter dem Banne des
gebietendſten Ceremoniells . Wir dürfen von ein-
ander keine Notiz nehmen , fügen auch Sie ſich
paſſiv dem Ritual ; vor allen Dingen , lachen Sie
über nichts , was Sie ſehen , das würde die guten
Leute auf das höchſte beleidigen . Und dieſe alten ,
feſten Sitten , ſo ſeltſam ſie ausſehen mögen , haben
doch auch immer ihr Ehrwürdiges . — Sorgen Sie
nicht , verſetzte der Jäger , aber ich möchte doch
wiſſen … Alles nachher ! flüſterte der Geiſtliche ,
nach der Thüre blickend , durch welche ſo eben der
Hofſchulze wieder hereinkam . Er trat vor dem
Jäger , wie vor einem Fremden , zurück .
Der Hofſchulze und ſeine Tochter trugen die
Speiſen auf dem Tiſche , welcher in dieſer Stube
gedeckt ſtand , ſelbſt auf . Da kam eine Hühner-
ſuppe , eine Schüſſel grüner Bohnen mit einer lan-
gen Mettwurſt , Schweinsbraten mit Pflaumen , But-
ter , Brod und Käſe , wozu eine Flaſche Wein geſtellt
wurde . Alles dies wurde zu gleicher Zeit auf den
Tiſch geſtellt . Der Bauer war von den Pferden
ebenfalls hereingekommen . Als Alles ſtand und
dampfte , lud der Hofſchulze den Diaconus höflich
ein , es ſich gefallen zu laſſen .
Es war nur für zwei Perſonen dort gedeckt ;
der Geiſtliche , nachdem er ein Tiſchgebet geſprochen ,
ſetzte ſich und etwas von ihm entfernt der Bauer .
Eſſe ich hier nicht mit ? fragte der Jäger . Ei
behüte , antwortete der Hofſchulze , und die Braut
ſah ihn verwundert von der Seite an . — Hier ißt
bloß der Herr Diaconus und der Colonus , Sie
ſetzen ſich draußen bei dem Küſter zu Tiſche . Der
Jäger ging in ein anderes , gegenüberliegendes Zim-
mer , nachdem er noch zu ſeiner Verwunderung
bemerkt hatte , daß der Hofſchulze und ſeine Toch-
ter auch die Bedienung jenes erſten und vornehmſten
Tiſches ſelbſt übernahmen .
In dem andern Zimmer traf er den Küſter ,
die Küſterin und die Magd um den dort gedeckten
Tiſch ſtehen , und , wie es ſchien , mit Ungeduld
ihres vierten Genoſſen warten . Auch auf dieſem
Tiſche dampfte dieſelbe Speiſe , wie auf der Paſtors-
tafel , nur fehlte Butter und Käſe , auch zeigte ſich
dort ſtatt des Weines Bier . Mit Würde trat
der Küſter an den Oberplatz und ließ die Augen
in den Schüſſeln , abermals folgenden Spruch ver-
nehmen :
Alles , was da fleucht und kreucht auf der Erden ,
Ließ Gott der Herr für den Menſchen erſchaffen
werden ;
Hühnerſuppe , Bohnen , Wurſt , Schweinsbraten ,
Pflaumen ſind allerwegen
Gottesgaben , gieb , o Herr , dazu uns deinen Segen !
Worauf die Geſellſchaft Platz nahm , der Küſter
obenan . Dieſer wurde von ſeiner Gravität nicht
verlaſſen , wie die Küſterin nicht von ihrem Korbe ,
den ſie dicht neben ſich hinſtellte . Dagegen hatte
die Paſtorsmagd den ihrigen anſpruchslos bei Seite
geſetzt . Bei dem Mahle , welches aus wahren Ber-
gen auf den Schüſſeln beſtand , wurde kein Wort
geſprochen ; der Küſter verſchlang in ernſter Hal-
tung ungeheuer zu nennende Portionen , und die
Frau blieb wenig hinter dem Manne zurück ; am
beſcheidenſten zeigte ſich in dieſem Puncte auch
wieder die Magd . Was den Jäger betrifft , ſo
beſchränkte er ſich faſt nur auf das Zuſehen ; das
heutige Ceremonialeſſen war nicht nach ſeinem
Geſchmack .
Nach beendigtem Mahle ſagte der Küſter zu
den beiden Mägden , welche dieſen Tiſch bedient
hatten , feierlich ſchmunzelnd : Jetzt wollen wir
denn , geliebt es Gott , die allhier erfallende Ge-
bühr und den guten Willen in Empfang nehmen .
Die Mägde hatten vorher ſchon den Tiſch abge-
räumt und gingen jetzt hinaus , der Küſter aber
ſetzte ſich auf einen Stuhl mitten in der Stube ,
die beiden Frauensperſonen , die Küſterin und die
Magd , ſetzten ſich ihm rechts und links zur Seite ,
vor ſich die neugeöffneten Körbe . Nachdem die
Erwartung , welche dieſe Drei ausdrückten , einige
Minuten gedauert hatte , traten die beiden Mägde ,
begleitet von ihrem Herrn , dem Hofſchulzen , wie-
der ein . Die Erſte trug einen Korb mit weit-
läuftigem Flechtwerk oben , in welchem Hühner
ängſtlich gackerten und mit den Flügeln pluhſterten .
Sie ſtellte ihn vor den Küſter hin und dieſer ſagte ,
hineinſchauend und nachzählend : Eins , Zwei , Drei ,
Vier , Fünf , Sechs ; es iſt ganz richtig . Darauf
zählte die zweite Magd aus einem großen Tuche
ein Schock Eier in den Korb der Paſtorsmagd ,
und ſechs Stück runde Käſe , nicht ohne genaues
Nachzählen des Küſters . Dieſer ſagte , als es ge-
ſchehen war : So , nunmehro hätten der Herr Dia-
conus das Ihrige ; jetzunder käme der Küſter . —
Ihm wurden in den Korb ſeiner Ehehälfte drei-
zehn Eier und ein Käſe zugetheilt . Sie prüfte
jedes Ei durch Schütteln und Geruch , ob es auch
friſch ſei , und merzte zwei aus . Nach dieſen Ver-
handlungen erhob ſich der Küſter und ſprach zum
Hofſchulzen : Wie iſt es , Herr Hofſchulze , von
wegen des zweiten Käſes , welchen Küſterei annoch
vom Hofe zu gewärtigen hat ? — Ihr wißt ſelbſt ,
Küſter , daß der zweite Käſe vom Oberhofe nimmer
anerkannt worden iſt , verſetzte der Hofſchulze . Die-
ſer angebliche zweite Käſe ruhte auf dem Bau-
mannserbe , welches vor hundert und mehreren Jahren
mit dem Oberhofe in einer Hand vereinigt war .
Hernachmalen iſt die Trennung wieder eingetreten ,
und es haftet demnach hier auf dem Hofe nur ein
Käſe .
Ueber des Küſters rothbräunliches Geſicht hatten
ſich die ſtärkſten Falten gelagert , welche daſſelbe
nur aufzutreiben vermögend geweſen war , und
zerlegten es in mehrere bedenkliche Abſchnitte von
viereckter , rundlichter , winklichter Geſtalt . Er ſprach :
Wo iſt das Baumannserbe ? Zerſplittert und zer-
ſpellt wurde es in den unruhigen Zeitläuften .
Soll Küſterei darunter leiden ? Dem ſei nicht ſo .
Jedennoch , unter ausdrücklichem Vorbehalt aller
und jeder Rechtszuſtändigkeiten wegen des ſeit hun-
dert und mehreren Jahren ſtrittigen , vom Oberhofe
erfallenden zweiten Käſes , empfange ich und nehme
ich hiemit an auch den einen Käſe . Sonach wäre
die Zinsgebühr an Paſtor und Küſter abgeſtattet-
und es käme nunmehr der gute Wille .
Dieſer beſtand in friſchgebackenen Rollkuchen ,
wovon ſechs in den Paſtorskorb und zwei in den
des Küſters gelegt wurden . Hiemit war das
ganze Empfangsgeſchäft beendigt . Der Küſter trat
dem Hofſchulzen näher und ſagte folgenden dritten
Spruch her :
Die Hühner waren alle ſechs richtig ,
Und die Käſe alle vollwichtig ;
Die Eier ſind befunden worden friſch ,
Und was ſich gebührte , ſtand auf dem Tiſch .
Deßhalb der Herr Euren Hof bewahr’
Vor Hungersnoth und Feuersgefahr !
Bei Gott und Menſchen iſt beliebt ,
Wer Gift und Gaben richtig giebt .
Der Schulze machte darauf eine dankende Ver-
beugung . Die Küſterin und die Magd trugen die
Körbe hinaus und packten ſie auf den Wagen . Zu
gleicher Zeit ſah der Jäger , daß die eine Hofes-
magd aus dem Zimmer , worin der Geiſtliche geſpeiſt
hatte , Schüſſeln und Teller auf den Flur trug ,
und ſie , indem Jener auf die Schwelle des Zim-
mers trat , vor ſeinen Augen wuſch . Nachdem ſie
dieſe Reinigung verrichtet , näherte ſie ſich dem
Geiſtlichen , er holte aus einem Papiere eine kleine
Münze und gab ſie ihr .
Der Küſter ließ ſich indeſſen den Eaffee ſchmecken ,
und da auch für den Jäger eine Taſſe hingeſtellt
worden war , ſo ſetzte ſich dieſer zu ihm . Ich bin
hier fremd , ſagte der junge Mann , und verſtehe
zum Theil die Gebräuche nicht , welche ich heute
geſehen habe ; wollen Sie mir dieſelben nicht erklä-
ren , Herr Küſter ? Iſt es eine Verpflichtung , daß
die Bauern den Herrn Diaconus in Naturalien
unterhalten müſſen ?
Verpflichtung in Betreff der Hühner , Eier und
Käſe , nicht der Rollkuchen , welche der gute Wille
ſind , jedoch auch jederzeit unweigerlich abgeſtattet
werden , erwiederte der Küſter höchſt ernſthaft .
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 25
Zum Diaconat oder zur Oberpfarre in der Stadt
ſind drei Bauerſchaften als Filiale eingepfarrt ,
und ein Theil der Pfarr- und Küſtereieinkünfte
beſtehet in der Zinsgebühr , welche von den einzel-
nen Hofesſtellen alljährlich erfället . Dieſe nun ,
wie ſie überall ſeit undenklichen Zeiten feſtſteht ,
einzuſammeln , halten wir per Jahr zwei Gänge ,
oder Fahrten , nämlich die gegenwärtige Sommer-
oder kleine Fahrt , und dann die Winter- oder
große Fahrt , kurz nach Advent . Bei der Sommer-
fahrt erfallen die Zinshühner , die Zinseier und
Zinskäſe , an dem einen Hofe ſo viel , an dem andern
ſo viel ; erſtere Rubrik , nämlich die der Hühner ,
erfället jedoch nur pro Diaconatu , Küſterei hat
ſich mit Eiern und Käſen zu begnügen . — Im
Winter erfallen die Kornzinſen an Gerſte , Hafer
und Roggen ; da kommen wir mit zwei Karren , weil
eine die Säcke nicht zu faſſen vermöglich wäre .
So halten wir denn zweimal per Jahr die Rund-
fahrt durch die drei Bauerſchaften .
Und wohin geht die Reiſe von hier ? fragte
der Jäger .
Directe nach Hauſe , verſetzte der Küſter , knöpfte
ſeinen Oberrock los und zog ein Federkiſſen hervor ,
welches er , ungeachtet der warmen Witterung zum
Schutze ſeines Magens aufgelegt hatte . Nunmehr
aber , nach der ſtarken Mahlzeit mochte ihm daſſelbe
doch beſchwerlich fallen . — Gegenwärtige Bauer-
ſchaft iſt die letzte , und gegenwärtiger Oberhof der
letzte Hof in ſelbiger , auf welchem denn auch das
herkömmliche Zinseſſen vor ſich geht , ſagte er .
Der Jäger bemerkte , daß , wie es ihm vorge-
kommen , in der Mahlzeit , bei den Begrüßungen ,
bei der Empfangnahme der Lebensmittel , ja ſogar
bei dem Waſchen der Teller und Schüſſeln eine
vorherbeſtimmte Ordnung geherrſcht habe , worauf
ſich der würdige Küſter , wie folgt , weiter verneh-
men ließ : Allerdings ; in Jeglichem bei dieſen Zins-
fahrten iſt eine Obſervanz und ein ſtrictes Recht ,
von welchem nicht abgewichen werden darf . Mor-
gens um ſechs Uhr rücken wir aus der Stadt aus ,
der Herr Diaconus , ich , meine Frau und die
Paſtorsmagd . Vom Reymannskotten wird , jedoch
auf höfliches Suchen und Erbitten , die Karre geſtellt ,
welche das liebe Gut läd’t , und der Colonus geht
mit und verläßt den Herrn Diaconus nun und
nimmer , ſetzt ſich auch , wie Sie geſehen haben ,
einzig und allein mit ihm zu Tiſch . Den erſten
25*
Hühnerkorb nahmen wir aus der Stadt mit , da
dieſer aber bei dem erſten Hofe ſchon voll wird ,
ſo leihet nunmehr letzterer einen neuen für den
zweiten , und ſofort bis hieher . Der Colonus füt-
tert hier ſeine Pferde mit einem Scheffel Hafer ,
der vom Balſtrup erhoben und mitgenommen wor-
den iſt , und die Magd , welche die Teller und
Schüſſeln vor den Augen des Herrn Diaconus
wieder rein waſchen muß , erhält dafür ihre drei
und einen halben Stüber , gleichfalls heute zu dieſem
Zweck und Ende erfallen und empfangen auf dem
kleinen Beek , Bauerſchaft Branſtedde .
Und die Sprüche , die Sie ſo laut und ver-
nehmlich vortrugen , Herr Küſter , rühren dieſe auch
von Alters her ? fragte der Jäger .
Ja freilich , verſetzte der Küſter . Indeſſen ,
fuhr er wohlgefällig fort , habe ich Einiges , was
darin an die finſtern Zeiten erinnerte , weggelaſſen
oder verbeſſert , wie es ſich für die Gegenwart
ſchicken will . So lautet der Text in der Dankſa-
gungsrede eigentlich zum Schluß :
Wenn Ihr aber uns verkürzen wollen ,
So ſoll Euch Alle der Teufel hohlen ,
Und fehlt am Käs ein einzig Loth ,
So kriegt Ihr gar die ſchwere Noth !
Dieſe unſchicklichen Reime habe ich nach und
nach eingehen laſſen , indem ich Jahr für Jahr einen
nach dem Andern bei mir behielt , oder ſo that ,
als ob ich den Huſten dabei kriegte , und was der-
gleichen Anſchläge mehr waren , denn mit den
Bauern muß man freilich bei allen Neuerungen
langſam zu Werke gehen . Es hat doch Wider-
ſpruch abgeſetzt , und Einige von den Dorfmicheln
wollen durchaus dieſe Grobheiten nicht fahren laſſen ,
weil ſie ſagen , daß ſelbige einmal dazu gehören .
Sie entrichten die Zinsgebühr nicht , wenn ich ihnen
den Teufel und die ſchwere Noth nicht anwünſche ;
der Hofſchulze iſt darin vernünftiger .
Der Küſter wurde abgerufen , denn die Karre
war angeſpannt , und der Geiſtliche nahm von dem
Hofſchulzen und ſeiner Tochter , die jetzt eben ſo
ehrerbietig und freundlich vor ihm ſtanden , wie
bei allen übrigen Verhandlungen dieſes Tages , mit
herzlichen Händedrücken und Worten Abſchied . Nun
ſchwankte der Zug einen andern Weg , als den er
gekommen war , zwiſchen Kornfeldern und hohen
Wallhecken fort . Der Colonus mit der Peitſche vor
ſeinen Pferden , die Karre langſam hinterdrein be-
wegt , auf ihr jetzt außer den beiden Frauensperſonen
der Küſter ſitzend zwiſchen den Körben , und der
Fürſorge wegen wieder das Federkiſſen vor die
Magengegend geſtopft .
Der Jäger hatte ſich bei der Abfahrt beſchei-
dentlich zurückgehalten , war aber , als die Zinskarre
ſich eine Strecke weit entfernt hatte , mit raſchen
Sprüngen nachgeeilt , und fand den Diaconus , wel-
cher ebenfalls hinter ſeinem eingeſammelten Gute
zurückgeblieben war , auf einem anmuthigen Baum-
platze ſchon ſeiner harren . Hier , frei vom Cere-
moniell des Oberhofes , umarmten ſie einander , und
der Diaconus rief lachend : Das hätten Sie wohl
nicht gedacht , in Ihrem ehemaligen Bekannten , der
in jener großen Stadt ſeinen jungen ſchwediſchen
Grafen ſo ſäuberlich auf dem ſchlüpfrigen Boden
der Wiſſenſchaft und des eleganten Lebens umher-
führte , eine Figur wiederzufinden , welche Sie an
Ehrn-Lopez in dem ſpaniſchen Pfarrer von Fletcher
erinnern muß ?
Ihr Küſter iſt , wenn auch kein luſtiger Diego ,
doch ein ganzer Mann , verſetzte der Jäger . Er
hat mir wie ein wahrer Ceremonienmeiſter der
Zinspflicht das ganze Ritual ausgelegt , und ſich bei
dem Empfangen , Verwahren und Spruchſprechen
mit ſolcher Würde und Klugheit benommen , daß
ich ihn jedem bevollmächtigten Miniſter , welcher
eine verwickelte Angelegenheit ſeines Hofes zu
ſchlichten hat , als Muſter empfehlen möchte .
Ja , ſagte der Geiſtliche , das iſt heute ſein Eh-
rentag , auf den er ſich ſchon ſechs Wochen vorher
freut . Ueberhaupt giebt es unter den Küſtern noch
viele komiſche Figuren , welche ſonſt ſo ſehr jetzt
abnehmen . Das beſtändige Anhören hoher und
erbaulicher Worte von ihrem Standpuncte der
Dienſtbarkeit dabei , das Läuten , das Anſagen der
Geburten und Sterbfälle giebt ihrem Weſen einen
wunderſamen Schwung , mit welchem nun wieder
ihr glücklicher Appetit , oder beſſer zu ſagen , ihre
maaßloſe Freßgier ſeltſam contraſtirt . Denn da ſie
zu Hauſe nicht viel zu beißen und zu brechen haben ,
ſo verſorgen ſie ſich auf Kindtaufen , Hochzeiten
und Leichenſchmäuſen für ganze Wochen , und ver-
ſchlingen die außerordentlichſten Portionen , aber
immer mit einem Anſtriche von Salbung , und nicht
ſelten die hellen Thränen der Mitfreude oder Mit-
trauer in den Augen . Der meinige hat nun zu
allen dieſen Standeseigenſchaften noch den Privat-
charakter der Feigheit ; er iſt ein ausgemachter
Poltron und ich habe mit ihm auf einſamen nächt-
lichen Wanderungen zu Kranken oder Sterbenden
ſchon die luſtigſten Scenen erlebt .
Doch laſſen wir den Küſter und ſeine Narrhei-
ten . Was die Procedur betrifft , welcher Sie heute
beiwohnten , ſo iſt es unumgänglich nothwendig , daß
ich mich ihr in Perſon unterziehe ; mein ganzes
Verhältniß zu den Leuten wäre gebrochen , wenn ich
zu ekel wäre , die alte Sitte mitzumachen . Mein
Vorgänger im Amte , der nicht aus hieſiger Gegend
war , ſchämte ſich der terminirenden Fahrten , und
wollte ſchlechterdings nichts damit zu thun haben .
Was war die Folge davon . Er gerieth in die
übelſten Zwiſtigkeiten mit dieſen Landgemeinen ,
welche ſelbſt auf den Verfall des Kirchlichen und
des Schulweſens Einfluß hatten . Zuletzt mußte
er gar um ſeine Verſetzung einkommen und ich nahm
mir gleich vor , als ich die Pfarre erhielt , in allen
Dingen mich nach Ortsgebrauch zu verhalten . Hie-
bei habe ich mich denn bisher ſehr wohl befunden ,
und weit gefehlt , daß der Schein der Abhängigkeit ,
welchen mir dieſe Fahrten geben , meinem Anſehen
ſchaden ſollte ; es wird vielmehr dadurch erhöht und
befeſtiget .
Wie ſollte es auch anders ſeyn ! rief der Jäger .
Ich muß Ihnen geſtehen , daß bei dem ganzen Ein-
hergange , ungeachtet alles Komiſchen , was Ihr
Küſter darüber auszubreiten wußte , mich ein Gefühl
der Rührung nicht verließ . Ich ſah in dieſem
Empfangen der einfachſten leiblichen Gaben einer-
ſeits , und in der Ehrfurcht , womit ſie anderſeits
dargeboten wurden , gewiſſermaßen das frömmſte ,
ſchlichteſte Bild der Kirche , welche zu ihrem Beſtande
des täglichen Brodes nöthig hat , und das Bild
der Glaubigen , welche ihr das irdiſche Bedürfniß
in der demüthigen Ueberzeugung , daß ſie damit ſich
ein Höchſtes und Ewiges erhalten , darreichen , ſo
daß weder auf der einen noch auf der andern
Seite eine Knechtſchaft , vielmehr bei Beiden nur
die Innigkeit des vollkommenſten Wechſelbezuges
entſteht .
Es freut mich , rief der Diaconus , und drückte
dem Jäger die Hand , daß Sie die Sache ſo anſe-
hen , über welche vielleicht ein Anderer geſpöttelt
haben würde , daher es mir , wie ich Ihnen nun
geſtehen darf , im erſten Augenblicke auch gar nicht
recht war , in Ihnen unvermuthet einen Zeugen
jener Scenen zu finden .
Gott bewahre mich , daß ich über etwas , was
ich in dieſem Lande geſehen , ſpöttelte ! verſetzte der
Jäger . Ich freue mich jetzt , daß mich ein toller
Streich zwiſchen dieſe Wälder und Felder geſchleu-
dert hat , denn ſonſt würde ich die Gegend wohl
nicht kennen gelernt haben , da ſie auswärts wenig
in Ruf ſteht , und in der That auch nichts Anzie-
hendes für abgeſpannte und überreizte Touriſten
haben kann . Aber mich hat hier die Empfindung
ſtärker , als ſelbſt in meiner Heimath angefaßt :
Das iſt der Boden , den ſeit mehr als tauſend
Jahren ein unvermiſchter Stamm trat ! Und die
Idee des unſterblichen Volkes wehte mir im Rau-
ſchen dieſer Eichen und des uns umwallenden
Fruchtſegens faſt greiflich möchte ich ſagen , ent-
gegen .
Es ergaben ſich aus dieſer Aeußerung Reden zwi-
ſchen dem Diaconus und dem Jäger , welche Beide
führten , indem ſie der Karre langſam folgten .
Zehntes Capitel .
Von dem Volke und von den höheren
Ständen .
Das unſterbliche Volk ! rief der Diaconus . Ja ,
dieſer Ausdruck beſagt das Richtige . Ich ver-
ſichere Ihnen , mir wird allemal groß zu Muthe ,
wenn ich der unabſchwächbaren Erinnerungskraft ,
edr nicht zu verwüſtenden Gutmüthigkeit und des
geburtenreichen Vermögens denke , wodurch unſer
Volk ſich von jeher erhalten und hergeſtellt hat .
Rede ich aber von dem Volke in dieſer Beziehung ,
ſo meine ich damit die Beſten unter den freien
Bürgern und den ehrwürdigen , thätigen , wiſſenden ,
arbeitſamen Mittelſtand . Dieſe alſo meine ich ,
und Niemand anders vor der Hand . Aus ihnen
aber , und aus dieſer ganzen Maſſe haucht es mich
wie der Duft der aufgerißnen ſchwarzen Ackerſcholle
im Frühling an , und ich empfinde die Hoffnung
ewigen Keimens , Wachſens , Gedeihens aus dem
dunkeln , ſegenbrütenden Schooße . In ihm gebiert
ſich immer neu der wahre Ruhm , die Macht und
die Herrlichkeit der Nation , die es ja nur iſt durch
ihre Sitte , durch den Hort ihres Gedankens und
ihrer Kunſt , und dann durch den ſprungweiſe her-
vortretenden Heldenmuth , wenn die Dinge einmal
wieder an den abſchüſſigen Rand des Verderbens
getrieben worden ſind . Dieſes Volk findet , wie ein
Wunderkind , beſtändig Perlen und Edelſteine , aber
es achtet ihrer nicht , ſondern verbleibt bei ſeiner
genügſamen Armuth , dieſes Volk iſt ein Rieſe , wel-
cher an dem ſeidenen Fädchen eines guten Wortes ſich
leiten läßt , es iſt tiefſinnig , unſchuldig , treu , tapfer ,
und hat alle dieſe Tugenden ſich bewahrt unter
Umſtänden , welche andere Völker oberflächlich , frech ,
treulos , feige gemacht haben .
Ich werde nicht , wie Le Vaillant die Tugen-
den der Hottentotten auf Koſten der europäſchen
Civiliſation herausſtrich , den Lobredner idylliſcher
Ruſticität und kleinbürgerlicher Enge machen , ich
fühle ſehr wohl , daß uns Allen durch den Um-
ſchwung der Zeiten die Neigung zu glänzenden ,
geſchmackvollen Dingen , zu einer Art von Ariſto-
cratie des Daſeyns mitangeboren iſt , welche außer-
halb der Mittelverhältniſſe liegt , und von der wir
uns , ohne an der Natürlichkeit unſeres Weſens
Einbuße zu leiden , nicht losmachen können , aber
ich muß doch Folgendes aus meiner eigenen Ge-
ſchichte hier anführen . Ich war , da ich jenen jun-
gen Vornehmen zu führen hatte , während ich noch
ſelbſt der Führung gar ſehr bedürftig war , unter
allen den geiſtreichen , eleganten , ſchillernden und
ſchimmernden Geſtalten der Kreiſe , die mir durch
mein damaliges Amt zugewieſen waren , eben ſo
geiſtreich , halbirt , kritiſch und ironiſch geworden ,
wie Viele ; genial in meinen Anſprüchen , wenn
auch nicht in dem , was ich leiſtete , unbefriedigt
von irgend etwas Vorkommendem , und immer in
eine blaue Weite ſtrebend ; kurz ich war dem ſchlim-
meren Theile meines Weſens zu Folge , ein Neuer ,
hatte Weltſchmerz , wünſchte eine andere Bibel ,
ein anderes Chriſtenthum , einen andern Staat ,
eine andere Familie , und mich ſelbſt anders mit
Haut und Haar . Mit einem Worte , ich war auf
dem Wege zum Tollhaus , oder zur inſipideſten Phi-
liſterei ; denn dieſe beiden Ziele liegen meiſtens
vor den Füßen der modernen Wanderer . Und da
bin ich denn doch erſt hier zwiſchen den wunder-
lichen aber achtbaren Originalen meiner Mittelſtadt
und unter dieſen ländlichen Wehrfeſtern wieder zu
mir ſelbſt gekommen , habe Poſto gefaßt , den Schaum
der Zeit von mir weichen ſehen und Muth bekom-
men , mir ein liebes häusliches Verhältniß zu grün-
den . Denn in dem Volke ſind die Grundbezüge
der Menſchheit noch wach , da iſt das richtige
Verhältniß der Geſchlechter noch feſt ausgeprägt ,
da gilt das Geſchwätz noch nichts , ſondern das
Gewerbe und der Beruf , den Jeder hat , da folgt
der Arbeit in gemeſſener Ordnung die Ruhe , da iſt
von den Vergnügungen das Vergnügen noch nicht
verbannt . Hören Sie den Jubel in der Stadt
oder auf dem Lande bei ſonntäglichen Tänzen , bei
Hochzeiten und Scheibenſchießen , und urtheilen Sie ,
ob der Spaß ſobald in der Welt ausſterben wird ,
wie die grämlichen Jünglinge der Gegenwart mei-
nen ? Es giebt Müßiggänger , ſchlechte Ehen und
böſe Weiber auch hier in Stadt und Land , aber
ſie heißen bei ihren und nicht bei vornehm umge-
bogenen Namen . Jene Miſchungen von Langeweile
und Begeiſterung endlich , wie ſie mir einſt ein
Freund treffend nannte , aus denen in den ſubli-
mirten Kreiſen der Geſellſchaft manches Perverſe
hervorgeht , und aus deren einer derſelbe Freund
auch die blutige That der armen , ſchönen , bejam-
mernswerthen Frau ableitete , deren Unglück darin
beſtand , einen mittelmäßigen Dichter und großen
Selbſtling geheirathet zu haben , liegen dem Volke
ganz fern . Das ganze potenzirte und deſtillirte
Genre , der Hermaphroditismus des Geiſtes und
Gemüthes , welchen die Muße eines langen Friedens
hie und da erzeugt hat , wird dem Stock und Stamm
der Gemeinſchaft immer fremd bleiben .
In dieſer orthopädiſchen Anſtalt gerader und
normaler Verhältniſſe legten ſich denn meine etwas
verbogenen Glieder auch wieder zurecht . Freilich
muß man in der Stille und Abgeſchiedenheit von
den brauſenden Strömungen der Gegenwart auf
ſich wachen , denn die Gefahr des Verbauerns
ſteht auch nahe , indeſſen noch hange ich durch ſtille
aber feſte Fäden mit dem Weltganzen zuſammen ,
nur mit dem Unterſchiede , daß ſie ſich jetzt bloß um
die Gegenſtände ſchlingen , zu denen mich ein geiſti-
ges Bedürfniß hinweiſt , während ich mir früher
manches geiſtige Bedürfniß , wie es ſo Manche
unſerer Zeitgenoſſen machen , einzubilden wußte .
Der Jäger ging nach dieſer Rede des Diaco-
nus ſchweigend und mit geſenktem Haupte neben
ihm her . Was iſt Ihnen ? fragte ſein Bekannter
nach einer Pauſe .
Ach , ſagte Jener , Ihr Bild vom deutſchen
Volke iſt wahr , und es macht mich nur traurig ,
daß theilweiſe über dieſer Grundfläche ein ſo wenig
entſprechender Gipfel ſteht . Dieſes tüchtige Volk
würde bei weitem mehr ausrichten , es würde weit
entſchiedener Front machen , wenn in den höheren
Ständen eine gleiche Tüchtigkeit lebte ! Schlimm ,
daß ich , ich ſelbſt ſagen muß : Dem iſt nicht ſo .
Leider , erwiederte der Diaconus , ſind unſre
höheren Stände hinter dem Volke zurückgeblieben ,
um es kurz und deutlich auszuſprechen . Daß es
viele höchſt ehrenwerthe Ausnahmen von dieſer Regel
gebe , wer wollte es läugnen ? Sie befeſtigen aber
eben nur die Regel . Der Stand als Stand hat ſich
nicht in die Wogen der Bewegung , die mit Leſſing
begann und eine grenzenloſe Erweiterung des ge-
ſammten deutſchen Denkens , Wiſſens und Dichtens
herbeiführte , getaucht . Statt daß vornehme Per-
ſonen geboren ſind , die Patrone alles Ausgezeich-
neten und Talentvollen zu ſeyn , halten bei uns
noch viele Große das Talent für ihren natürlichen
Feind , oder doch für läſtig und unbequem , gewiß
aber für entbehrlich . Es giebt ganze Landſtriche
im deutſchen Vaterlande , in welchen dem Adel , ein
Buch zu leſen , noch immer für ſtandeswidrig gilt ,
und er ſtatt deſſen lärmende , nichtige Tage abhetzt ,
wie in den Zeiten jener Bürgerſchen Parforcejagd-
Ballade . Das Auffallendſte hiebei iſt , daß ſelbſt
nach der ungeheuren Lehre , welche die Weltkriege
den Privilegirten ertheilt hatten , dieſe noch nicht
eingeſehen haben , es ſei mit dem leeren Scheine
nunmehr für immer vorbei , und der erſte Stand
müſſe nothwendig ſich in ſich ſelber gründlich faſſen
und reſtauriren . Es war ſeine erſte Obliegenheit ,
dieß zu begreifen , es war die Lebensfrage für ihn ,
ob er ſich mit dem Heiligthume deutſcher Geſin-
nung und Geſittung nunmehr inniglich verbünden ,
allem wahrhaftquellenden geiſtigen Leben der Ge-
genwart Schirm und Schutz geben möchte , damit
das Zauberbad dieſes Lebens ſeine altersſtarren
Glieder verjünge . Er hat ſeine Stellung und dieſe
Frage nicht verſtanden , hat in allerhand kleinen
Hausmittelchen ſeine Erkräftigung geſucht , und iſt
darüber obſolet geworden . Nie und zu keiner Zeit
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 26
hat ein Stand anders als durch Ideen exiſtirt .
Auch den erſten haben Ideen geſchaffen und erhal-
ten , anfänglich die der Kampfestapferkeit und Lehns-
treue , demnächſt die der beſondern Ehre . Gegen-
wärtig iſt durch die Errettung des Vaterlandes ,
welche von allen Ständen ausging , die höchſte
Ehre ein Gemeingut geworden ; weßhalb denn die
oberen Stände das Protectorat des Geiſtes hätten
übernehmen müſſen , wenn ſie wieder etwas Beſon-
deres ſeyn und vorſtellen wollten .
Ich habe , ſagte der Jäger kleinlaut , in einer
hohen und vornehmen Familie , die ich vor Kurzem
auf meinen Streifereien kennen lernte , die zwan-
zigjährigen Töchter auf gut Schwäbiſch mit der
Iphigenie bekannt machen müſſen , welche ſie noch
nie geleſen hatten , weil die Eltern Goethe für einen
jugendverführeriſchen Schriftſteller hielten .
Und wer weiß , ob das Haupt dieſer Familie ,
welche ich übrigens nicht kenne , nicht einer von
den Figuren iſt oder ſeyn wird , welcher man Bahnen
der Cultur anvertraut ? ſagte der Diaconus . Der
unbefangene Beobachter hat in dieſer Hinſicht zu-
weilen die erſchreckendſten Contraſte anzuſchauen .
Nun müſſen Sie einräumen , daß ein franzöſiſcher
Marquis oder Düc , von dem eine gleiche Barbarei
gegen einen Claſſiker ſeiner Nation verlautete , in
der Pariſer Societät für Lebenszeit verloren wäre .
Das Beiſpiel von Frankreich fordert hier von
ſelbſt zur Frage auf , ſagte der Jäger . Wie kommt
es nur , daß ſich dort ganz natürlich gemacht hat ,
was bei uns nie zu Stande kommen will , nämlich ;
ein beſtändiger Contact der Großen mit den Gei-
ſtern und mit dem Geiſte der Nation , eine zarte
Achtung vor dem geiſtigen Ruhme der Nation , und
eine unbedingte Anerkennung der Literatur , als
der eigentlichen Habe der Nation ?
Die franzöſiſche Nation , ihr Geiſt und ihre
Literatur haben und ſind Esprit , verſetzte der
Diaconus . Der Esprit iſt ein Fluidum , welches
die Natur unter den zu ſeiner Erzeugung günſtigen
Vorausſetzungen an ganze Länder und Völker aus-
theilen kann . Es iſt alſo dort in Frankreich eine
natürliche Brücke von dem Volksgeiſte und von der
Literatur zu dem Geiſte der vornehmen Claſſen
geſchlagen , Letztere ergreifen in ihrem Intereſſe
ohne Anſtrengung nur das ihnen Gleichartige . Wir
haben keinen Esprit . Unſere Literatur iſt ein Pro-
duct der Speculation , der freiwaltenden Phantaſie ,
26*
der Vernunft , des myſtiſchen Puncts im Menſchen .
Die Gaben dieſer von Grundaus gehenden Arbeit
des Geiſtes ſich anzueignen ſind eben nur wieder
Geiſter , welche die Arbeit ſtählte , vermögend . Mit
Leichtfertigkeit iſt deutſcher Art nicht beizukommen .
Die Vornehmen arbeiten aber nicht gern , ſie ziehen
es bekanntlich vor , zu ernten , wo ſie nicht geſäet
haben . Deßhalb iſt es wieder natürlich — wenn
auch das Verwerfungsurtheil über die Barbarei des
erſten Standes bei Kräften ſtehen bleibt — daß er
locker mit deutſchem Geiſte zuſammenhängt ; zu
einem näheren Bündniſſe hätte er ſich über Gebühr
anſtrengen müſſen .
Zu läugnen iſt doch auch nicht , daß gerade
durch die Abſonderung des deutſchen Geiſtes von
dem Athem der hohen Societät ihm manche Tugen-
den erhalten worden ſind , ſagte der Jäger ; ſeine
Friſche , ſeine eigenſinnige herbe Jungfräulichkeit , ſein
rückſichtsloſes Um- und Vorgreifen . Denn jede Erfin-
dung der ſchaffenden Seele , welche vor Augen haben
muß , mit gewiſſen Forderungen der Geſellſchaft zu-
ſammenzutreffen , wird nothwendigerweiſe mechani-
ſirt . Unſere Wiſſenſchaft , unſere Philoſophie , unſere
Literatur ſind Töchter Gottes und der Natur ; mit
welchen andern möchten ſie einen Tauſch ſolches
Stammbaum’s eingehen ?
Hier wurden dieſe Geſpräche von einem hef-
tigen Schreien , ja Brüllen unterbrochen , welches
ſich an der Zinskarre erhob . Hinzueilend ſahen ſie
den Küſter in entſetzter Stellung , die Arme wie
Wegweiſer ausgebreitet , das Geſicht braun und
weiß geſprenkelt , den Mund wie Laocoon aufge-
ſperrt . Um ihn her ſtanden die Frauensperſonen
und der Colonus , der ſeine Karre zum Stehen
gebracht hatte . Die Küſterin klopfte dem Küſter
den Rücken , die Magd hatte ihm den Rock halb
aufgeknöpft , aus welchem das Federkiſſen gefähr-
lich hervorhing . Der Diaconus forſchte nach der
Urſache des Auftritts und erfuhr von ſeiner Magd ,
( denn der Küſter war noch immer ſprachlos ) daß
der Küſter von der Karre abgeſtiegen ſei , um , wie er
geſagt , der lieben Verdauung wegen etwas zu gehen ,
da ſei ein großer ſchwarzer Hund dicht an ihm vorbei
quer über den Weg hinübergeſchoſſen , der Küſter habe
aber ſofort jenes Geſchrei oder Gebrüll erhoben , ſo
daß beinahe die Pferde ſcheu geworden ſeien .
In dieſem Augenblicke gab die Küſterin ihrem
Manne , bei dem das Klopfen nicht verfangen
wollte , mit den Worten : Wenn Alles bei der
Maulſperre vergebens iſt , ſo hilft das ! aus Lei-
beskräften eine Ohrfeige . Alſobald flogen die
Kinnbacken des entſetzten Mannes zuſammen wie
Thorflügel , er wiſchte ſich die Thränen aus den
Augen und ſagte zu ſeiner Frau : Ich danke dir ,
Gertrud , für dieſe Backpfeife , durch welche du
mich von ſchweren Leiden curirt haſt . Und zum
Diaconus ſich wendend : Ja , Herr Diaconus , ein
wüthender , ein toller Hund ! Schweif eingeklemmt ,
rothe und dabei triefende Augen , Schaum vor der
Schnauze , blaue Zunge , heraushängend , taumeln-
der Gang , kurz alle Kennzeichen der waſſerſcheuen
Wuth !
Um Gotteswillen , wo hat er Euch gebiſſen ?
rief der Diaconus erblaſſend .
Nirgend , mein Herr Diaconus , verſetzte der
Küſter feierlich , nirgend ; dem Allmächtigen ſei
Dank dafür . Aber wie leichtlich hätte er mich
beißen können . Ich habe das Ungeheuer , wie An-
dere einen grimmen Wolf durch Geigenſpiel in die
Flucht ſchlugen , durch den Ton meiner Stimme ,
die mir Gott gegeben , verſcheuchet und verjaget ,
als es eben im Anſpringen auf mich begriffen war .
Es ſtutzete und ſchwang ſich ſeitwärts die Wallhecke
hinauf . Mir aber blieben von der übermenſchlichen
Anſtrengung jenes heilſamen Angſtrufes die Kinn-
backen in der Maulſperre verfangen und verfeſtiget ,
bis meine gute Ehefrau , wie Sie geſehen , mir die
wirkſame Backpfeife verordnete . Das iſt ein Zins-
tag , an welchen ich gedenken werde !
Der Diaconus und der Jäger hatten Mühe ,
ein Lachen zu verbeißen . Die Magd ſagte , ſie glaube
nicht , daß der Hund toll geweſen ſei , er möge
wohl nur ſeinen Herrn verloren gehabt haben , in
welchem Falle die Creaturen ſich immer ſehr un-
gebärdig anſtellten . Wirklich ſah man den Hund
in einiger Entfernung auf einem Feldwege ruhig
und ſchweifwedelnd hinter einem Packenträger her-
gehen . Der Küſter , dem dieſe Bemerkung mitge-
theilt wurde , ließ ſich nicht aus der Faſſung brin-
gen , ſondern ſprach ernſthaft : Wie leichtlich hätte
der Hund toll ſeyn können !
Der Diaconus ließ ihn und ſein Fuhrwerk ſich
wieder in Bewegung ſetzen , und trennte ſich an
dieſer Stelle von dem Jäger , da , wie er ſagte ,
ihr Geſpräch doch geſtört ſei , und der Colonus
es ihm verdenken werde , wenn er deſſen Geſell-
ſchaft auf dem ganzen Heimwege meide . Bei dem
Abſchiede mußte der junge Schwabe ſeinem Be-
kannten das Verſprechen geben , ihn auf einige
Tage in der Stadt zu beſuchen . Darauf gingen
ſie nach verſchiedenen Richtungen aus einander .
Eilftes Capitel .
Die fremde Blume und das ſchöne Mäd-
chen . Die gelehrte Geſellſchaft .
Die Sonne ſtand noch hoch am Himmel , und
dem Jäger war es nicht gelegen , ſo früh in den
Oberhof zurückzukehren . Er trat auf eine der
höchſten Wallhecken , ſah ſich in der Gegend um und
meinte , daß er eine Hügelgruppe , welche in gerin-
ger Entfernung ihre buſchichten Häupter erhob , wohl
noch durchſtreifen und doch vor ſpät Abends wieder
in ſeinem Quartiere ſeyn könne . Das Wiederfinden
des Diaconus und ſein Geſpräch hatte manche
Erinnerungen der früheren Zeiten in ihm aufgeweckt ;
er war unruhig und ſehnte ſich in dieſer Stim-
mung nach Pfaden , die er noch nicht betreten , nach
Bergen und Bäumen , an deren Anblick er ſich noch
nicht gewöhnt hatte . Tief , tief ſeine heiße Seele
in das kühle Waldesdunkel , in den feuchten Dunſt
bemooſter Felſen , in den begeiſteten Schaum ſprin-
gender Quellen zu tauchen , danach lechzte er ; danach
ſchmachtete er aus der brütenden Wärme der Korn-
felder .
Der Anblick des Diaconus hatte ihm wohl und
wehe gemacht ; ihre erſte Bekanntſchaft war durch
die unerſchrockene Gymnaſtik des Geiſtes , in wel-
cher die Jugend ihre erſten überſchwellenden Kräfte
zu tummeln liebt , bezeichnet geweſen . Jener , älter ,
und wie erwähnt worden , ſchon Führer eines jun-
gen vornehmen Schweden , hatte ſich dennoch als
ein immer fertiger Disputant und Opponent zu
den Studenten gehalten , und manche Stunde der
Mitternacht war dem Jäger mit ihm in eifrigem
Kämpfen und Ringen vergangen . — Ja , rief er ,
indem er immer fürbaß den Hügeln zuſchritt , du ,
mein deutſches Vaterland , bleibſt doch der ewig
geweihte Heerd , die Geburtsſtätte des heiligen Feu-
ers ! Ueberall , auf jedem Fleckchen in dir wird dem
Dienſte des Unſichtbaren geopfert , und der Deut-
ſche iſt ein Abraham , der dem Herrn den Altar
baut allerwege , wo er auch nur die Nacht über geraſ-
tet hat . — Er gedachte der Reden ſeines Bekannten
und der Situation , in welcher ſie vorgefallen
waren . — Das wird auch anderwärts nicht vorkom-
men , daß ein armer Paſtor , hinter ſeiner Hühnerkarre
herſchreitend , ſich an der unſterblichen Idee der Nation
begeiſtert , ſagte er . Lächerlich und erhaben ! Lächer-
lich , weil das Erhabene auch durch das Aermlichſte
und Kleinſte bei uns hindurchſieht und die Formen
des Geringen ſiegreich zerbricht ! Wie reich biſt
du , mein Vaterland !
Sein Fuß betrat friſches , feuchtes Wieſengrün ,
beſäumt von Büſchen , unter denen ein klares Waſ-
ſer rann . Dieſer vollen , geſunden , jungen Seele
thaten noch ſymboliſche Handlungen Noth , ſich und
ihrem Drange zu genügen . In kurzer Entfernung
zeigten ſich kleine Felſen , über die ein ſchmales ,
ſchlüpfriges Pfädchen lief . Er ging hinüber ,
klomm zwiſchen den Klippen nieder , ſtreifte den
Aermel auf , ritzte das Fleiſch ſeines Armes und
ließ das Blut in das Waſſer rinnen , indem er ein
ſtilles , frommes Gelübde ohne Worte ſprach . Er
legte den Arm in das Waſſer , die Fluth kühlte
ihm mit anmuthigem Schauder das heiße Blut ab .
So , halb knieend , halb ſitzend an den feuchten ,
dunkeln , umklippten Orte blickte er ſeitwärts in
das Offene ; da wurden ſeine Augen von einer
prachtvollen Erſcheinung gefangen genommen . Zwi-
ſchen den Gräſern waren alte Baumtrümme ver-
weſet und ſtarrten ſchwarz aus dem umgebenden
luſtigen Grün . Einer derſelben war ganz ausge-
höhlt , in ſeinem Inneren hatte ſich der Moder zu
brauner Erde niedergeſchlagen , und aus dieſer und
aus dem Trumm , wie aus einem Crater , blühte
die herrlichſte Blume empor . Ueber dem Kranze
ſanfter runder Blätter erwuchs ein ſchlanker Sten-
gel , der große Kelche von unnennbar ſchöner Röthe
trug . Tief in den Kelchen ſtand ein geflammtes
zartes Weiß , welches in leichten grünen Aederchen
nach dem Rande zu auslief . Es war offenbar
keine hieſige , es war eine fremde Blume , deren
Samenkorn , wer weiß , welcher ? Zufall in den
durch die Verweſungskräfte der Natur bereiteten
Gartenboden getragen , und eine günſtige Sommer-
ſonne auch hier zum Wachſen und Blühen gebracht
hatte .
Der Jäger erquickte ſein Auge an dieſem rei-
zenden Anblicke , der ihn belohnte , als er das Ge-
lübde gethan hatte , mit Leib und Seele dem Vater-
lande angehören und Zeitlebens keine Götter
haben zu wollen , als die heimiſchen . Trunken von
der Magie der Natur lehnte er ſich zurück und
ſchloß in ſüßen Träumereien die Augen . Als
er ſie wieder öffnete , hatte ſich die Scene ver-
ändert .
Ein ſchönes Mädchen in einfachem Gewande ,
den Strohhut über den Arm gehängt , kniete vor
der Blume , hielt deren Stengel zärtlich , wie den
Hals des Geliebten umſchlungen , und blickte , die
holdeſte Freude der Ueberraſchung in den Augen ,
tief in einen der rothen Kelche . Sie mußte , wäh-
rend der Jäger zurückgebeugt lag , leiſe herbeige-
kommen ſeyn . Ihn ſah ſie nicht ; die Klippen
verdeckten ihn , und er hütete ſich wohl , eine Bewe-
gung zu machen , welche ihm die Erſcheinung ver-
ſcheuchen konnte . Aber , als ſie nach einer Weile
athmend von dem Kelche emporſchaute , fiel ihr
Blick ſeitwärts in das Waſſer , und ſie gewahrte
den Schatten eines Mannes . Nun ſah er ſie ſich
verfärben , die Blume aus ihren Händen entlaſſen ,
übrigens aber regungslos auf den Knieen bleiben .
Er erhob ſich mit halbem Leibe zwiſchen den Klip-
pen , und vier junge , unſchuldige Augen trafen
einander mit feurigen Strahlen . Nur einen Au-
genblick ! denn alſobald ſtand das Mädchen , Gluth
im Antlitz , auf , warf den Strohhut über das
Haupt und war mit drei raſchen Schritten hinter
den Büſchen verſchwunden .
Er kam nun auch aus den Klippen hervor
und ſtreckte den blutigen Arm nach den Büſchen
aus . War der Geiſt der Blume lebendig gewor-
den ? Er ſah dieſe wieder an , ſie wollte ihm nicht
mehr ſo ſchön bedünken , wie wenige Augenblicke
zuvor . Eine Amaryllis , ſagte er kalt , ich erkenne
ſie jetzt , ich habe ſie im Gewächshauſe . Sollte
er dem Mädchen nachfolgen ? Er wollte es , eine
geheime Scheu feſſelte aber ſeinen Fuß . Er
faßte an ſeine Stirne ; geträumt hatte er nicht ,
das wußte er , und das Ereigniß , rief er endlich
mit einer Art von Anſtrengung , iſt auch ſo abſon-
derlich nicht , daß es geträumt werden müßte !
Ein hübſches Mädchen , die des Weges daherkommt
und ſich auch an einer hübſchen Blume erfreut , das
iſt das Ganze !
Er ſtrich zwiſchen unbekannten Bergen , Thälern
Geländen umher , ſo lange ihn die Füße tragen
wollten . Endlich mußte er an den Rückweg den-
ken . Spät , im Dunkeln , und nur mit Hülfe eines
zufällig gefundenen Führers erreichte er den Ober-
hof .
In dieſem brummten die Kühe , der Hofſchulze
ſaß auf dem Flure mit Tochter , Knechten und
Mägden zu Tiſche und wollte moraliſche Geſpräche
beginnen . Aber dem Jäger war es unmöglich ,
darauf einzugehen , es kam ihm Alles verwandelt ,
roh und ungefüge vor . Er ſuchte raſch ſeine
Stube , nicht wiſſend , wie er noch länger in
das Ungewiſſe hin hier werde verweilen können .
Ein Brief , den er oben von ſeinem Freunde Ernſt
aus dem Schwarzwalde fand , vermehrte noch ſein
Mißbehagen .
In dieſer Stimmung , welche einen Theil der
Nacht dem Schlummer raubte und die ſich ſelbſt am
folgenden Morgen noch nicht verloren hatte , war
es ihm ſehr erwünſcht , daß ihm der Diaconus ein
kleines Wägelchen ſchickte , ihn nach der Stadt
abzuholen .
Schon von weitem zeigten Zinnen , hohe Mauern
und Baſtionen , daß der Ort , einſt ein mächtiges
Glied im Bunde der Hanſa , ſeine große , wehrhafte Zeit
gehabt habe . Der tiefe Graben war noch vorhanden ,
wenn gleich zu Baumpflanzungen und Küchengärten
verwendet . — Sein Fuhrwerk bewegte ſich , nachdem
das dunkle , gothiſche Thor durchfahren war , etwas
mühſam auf dem zerſchrotenen Steinpflaſter und
hielt endlich vor einer freundlichen Wohnung , an
deren Schwelle ihn ſchon der Diaconus empfing .
Er trat in einen heitern , behaglichen Haushalt
ein , belebt von einer munteren , hübſchen Frau ,
und einem Paar lebhafter Knaben , die ſie ihrem
Eheherren geboren hatte .
Nach dem Frühſtück machten ſie einen Gang
durch die Stadt . Die Straßen waren ziemlich
menſchenleer . Zwiſchen alten Schwiebbögen , Thürm-
chen , Kragſteinen , Fragmenten von Steinfiguren zeig-
ten ſich nichtſ elten nicht ſelten Sumpfſtellen , Baumplätze , Gras-
flecke . Um ein altes Gebäude , mit vier zierlichen
Spitzſäulen an den Ecken und einer Kränzung von
Rauten und Roſen aus Sandſtein ſprang ein muth-
williges Wäſſerchen ; Epheu und wilder Wein
hatte ſich in den Ritzen des Mauerwerks einge-
niſtet . Ringsumher die tiefſte Einſamkeit . Iſt
es nicht , als ob man den Geiſt der Geſchichte leib-
haftig weben und ſpinnen ſieht ? ſagte der Jäger
an dieſer oder einer anderen ihr ähnlichen Stelle .
Ja , verſetzte der Diaconus , man wird hier , wie
von ſelbſt , zum Alterthume hingeführt , und eine
erinnernde Stimmung bemächtigt ſich der Seele .
Dazu kommt , daß auch ein Theil der Bevölkerung
aus menſchlichen Ruinen beſteht .
Wie ſo ? fragte der Jäger .
Weil es hier ſehr wohlfeil leben iſt , ferner
wegen der Stille des Orts und vielleicht auch we-
gen ſeiner dem menſchlichen Alter ähnlichen Phy-
ſiognomie ziehen ſich hieher viele bejahrte Leute
aus Amt und Geſchäft zurück , ihre letzten Tage
unter dieſem verwitternden Gemäuer zuzubringen ,
ſagte der Diaconus . Greiſer Beamten und Offi-
ziere , welche hier ihre Penſionen verzehren , betagter
Rentner , welche das Comptoir jüngeren Händen
überlaſſen haben , giebt es hier eine Menge . Wenn
nun auch Viele dieſer Ausruhenden nur langwei-
lige alte Tröpfe ſind , ſo ſtößt man doch auch auf
Manchen , der ſich umgethan hat , einen reichen
Schatz von Erfahrung bewahrt und von dem man
Dinge zu hören bekommt , die nicht ſo allgemein
bekannt ſind . So erzählen gewiſſermaßen die ſtei-
nernen Trümmer Geſchichte und die Menſchentrüm-
mer , welche darunter umherwanken , Memoiren .
Hier ſollen Sie gleich ein ſolches Fragment kennen
Immermann’s Münchhauſen 1. Th. 27
lernen , einen alten Hauptmann ; nur bitte ich Sie ,
widerſprechen Sie ihm in nichts , denn Widerſpruch
kann er nicht ertragen .
Er klingelte an der Thüre eines ziemlich gut
ausſehenden Hauſes , welches hinter Kaſtanien
beſchattet lag , ein Diener öffnete und führte mit
ſteifer militairiſcher Haltung den Beſuch in ein
Zimmer , welches von Sauberkeit glänzte . Dann
ging er den Herrn zu rufen , welcher , wie er ſagte ,
die Hühner füttere . Der Diaconus blickte ſich
flüchtig im Zimmer um und ſagte dann raſch zum
Jäger : Der Hauptmann iſt heute Franzöſiſch , alſo
um Gotteswillen keine patriotiſche deutſche Auf-
wallung , er mag vorbringen , was er will ! Der
Jäger hatte ſich gleichfalls im Zimmer umgeſehen .
Alles athmete darin das Andenken an die Thaten
des Empire . Napoleon ſtand als ganze Figur im
bekannten Oberrocke , die Arme gekreuzt , auf dem
Schreibſchranke , außerdem war er mehrmals in
Büſten und Medaillons vorhanden . Da hing Mü-
rat in dem bekannten Theatercoſtüme zu Roß , Eugen ,
Ney , Rapp . Es fehlte nicht der General bei dem
Beſuche der Peſtkranken zu Jaffa , der erſte Conſul
zu St. Cloud und der Kaiſer bei dem Abſchiede
von den Garden zu Fontainebleau . Viele , dieſen
gemäße Darſtellungen reihten ſich ihnen an . In
einer Ecke des Zimmers ſah der Jäger ein Bücher-
brett mit den Werken von Segur , Gourgaud , Fain ,
LasCaſes und Andern , welche zu dieſer Autoren-
Reihe gehörten .
Dennoch hatte er die Mahnung ſeines Beglei-
ters nicht ganz verſtanden und wollte ihn eben
um nähere Erläuterung bitten , als der Hauptmann
das Zimmer betrat . Es war ein ältlicher Herr in
blauem Oberrock , das rothe Band im Knopfloch .
Durch das hagere Geſicht zogen ſich unzählige
Runzeln und auch einige Schmarren . Er begrüßte
ſeine Gäſte mit trockener Höflichkeit , lud ſie zum
Sitzen und ließ ſich den Namen der Jägers nen-
nen , den der Diaconus ohne Arg ausſprach , ehe ſein
Träger es verhindern konnte . Ich habe , ſagte der
Hauptmann , indem er nachſann , Einen dieſes Na-
mens bei den Würtembergern in Rußland gekannt .
Der Zufall führte uns mehrmals zuſammen , bei
Smolensk geriethen wir beide in Gefangenſchaft ,
halfen uns aber bald wieder heraus .
Das war mein Oheim , erwiederte der Jäger . —
Dieſe Entdeckung gab ihm ſogleich einen näheren
27*
Bezug zu dem Hauptmann , deſſen ganzes Geſicht
ſich erheiterte . Er drückte dem Neffen ſeines alten
Cameraden die Hand und ließ ſich nun in ſeinen
Kriegeserinnerungen bis zur Schlacht von Leipzig
ungemeſſen gehen . Dort aber bekamen ſie einen Halt
und ſtockten , ſo zu ſagen , hinter einem Schlagbaume ,
über den ſie nicht hinwegſprangen . Am Schluſſe ſeiner
Erzählungen ſagte er : Es iſt um einen großen Mann
eine eigene Sache , und die Menſchheit ſchaufelt ſein
Bild aus dem Schutte hervor , mag das Unglück
dieſen noch ſo hoch über ihm aufgethürmt haben .
Was haben alle die Siege , die zweimal nach
Paris führten , den Siegern in Betreff des Nach-
ruhmes geholfen ? Nichts . Es ſind Thatſachen
geblieben , die alle Welt kalt anhört und weiter
erzählt , aber der Kaiſer , der Kaiſer bleibt die ein-
zige Geſtalt jener Tage . Er hat die Menſchen
gequält , und dennoch vergöttern ſie ihn , ei , ein
wenig Qual iſt dem Menſchengeſchlechte nützer als
allzuſchlaffes Wohlleben ! Wahrlich , wahrlich , ich
ſage Euch : An den gußeiſernen Monumenten mit
den ſpitzigen Kirchendächern werden die Invaliden
wachen und die Gegitter den reiſenden Englän-
dern aufſchließen , aber nur an der Vendomeſäule
werden jeden fünften Mai friſche Immortellen
liegen .
Der Diaconus erhob ſich ; der Hauptmann
fragte , ob er den Fremden nicht noch anderweit
zu ſehen bekomme , was der Diaconus bejahte , da ,
wie er hinzufügte , ſein junger Freund ihm das
Vergnügen machen werde , an der gelehrten Geſell-
ſchaft Theil zu nehmen . In ihr hoffen wir dieß-
mal ſtark auf Sie , liebſter Hauptmann , ſagte er . —
Ich werde Euch aus den Papieren meines ſeligen
Freundes einen Beitrag liefern , welcher Euch zei-
gen ſoll , welche Jüngelchen den großen Kaiſer
geſchlagen haben wollen , verſetzte der Hauptmann
ironiſch .
Das iſt ja ein wüthender Bonapartiſt , ſagte
der Jäger draußen zum Diaconus . Tageweiſe , ver-
ſetzte dieſer . Johann , können Sie uns nicht das
preußiſche Zimmer zeigen ? mit dieſen Worten
wandte er ſich an den begleitenden Diener . Der
Menſch ſah ſich ängſtlich um , nach einigem Schwei-
gen antwortete er : Der Herr wird wohl gleich
ausgehen ; treten Sie nur ſacht hinein , ich will
hier auf Poſten bleiben . — Der Diaconus ging mit
ſeinem Gaſte über den Flur nach der andern Seite
des Hauſes und that ihm ein Zimmer auf , vor
deſſen Fenſtern Weinranken einen grünen Schim-
mer verbreiteten und welches eine anmuthige Aus-
ſicht auf blühende Gartenbeete hatte . Das Erſte ,
was dem Jäger auffiel , weil es der Thüre ge-
rade gegenüber ſtand , war ein Tropäon auf hohem
Poſtamente , zuſammengefügt aus Kanonen , Waffen ,
Fahnen , Kriegesgeräth . An dem Poſtamente glänz-
ten in goldenen Ziffern die Jahreszahlen 1813 ,
1814 , 1815 und über dem Tropäon an der Wand
prangten in einer Einfaſſung von goldenen Sternen
die Namen der Befreiungsſchlachten auf weißem
Grunde . Die Wände dieſes Zimmers waren von
den Büſten der verbündeten Herrſcher und ihrer
Feldherrn geſchmückt . Da ſah man den Abſchied
der Freiwilligen , Blücher und Gneiſenau in ihren
Regenmänteln nach der Schlacht an der Katz-
bach über die Haide reitend , den Einzug in
Paris , die Plane von Leipzig und Belle-Alliance .
Und um den ſymmetriſchen Gegenſatz zu dem
franzöſiſchen Zimmer zu vollenden , ſo fehlte
auch hier eine kleine Sammlung von Kriegsbü-
chern nicht , von Deutſchen in deutſchem Sinne
geſchrieben .
Nun ſagen Sie mir , was bedeutet das ? fragte
der Jäger , welcher die Gegenſtände umher mit
Verwunderung betrachtete . Iſt Ihr Hauptmann
ein Amphibium ? — Ein Stück davon , erwiederte
der Diaconus . Ich höre eben die Thüre klinken ,
er hat das Haus verlaſſen , ich kann Ihnen mit
Muße die Contraſte auslegen , über welche Sie
erſtaunen .
Er nöthigte ſeinen Gaſt auf ein Canap é , dann
fuhr er ſo fort : Unſer Hauptmann iſt ein recht-
winklichter , ſchroffer und unvermiſchter Charakter .
Deßhalb haben ſich ſeine Erinnerungen wie zwei
mathematiſche Figuren aus einander gelegt . Er
diente bei den Franzoſen mit großer Auszeichnung ;
Sie haben geſehen , daß ihm unter jenen Adlern das
rothe Band zu Theil geworden iſt . Nach der Schlacht
von Leipzig wurde ſein Corps aufgelöſt , er war als
Deutſcher ſich ſelbſt und den vaterländiſchen Verhält-
niſſen zurückgegeben . Indem nun das Kriegsgetüm-
mel weiter raſte , und alle Welt gen Frankreich zog ,
wäre es unnatürlich geweſen , wenn der alte Degen
hätte zurückbleiben ſollen ; er nahm daher preußi-
ſche Dienſte , und kämpfte mit ſo vielen andern
Tauſenden nun auf derſelben Seite , welche er noch
vor wenigen Monaten zu vernichten ſich beſtrebt
hatte . Auch unter dieſen Fahnen war ſeine
Tapferkeit belobt , namentlich ſoll er ſpäterhin in
den mörderiſchen niederländiſchen Schlachten wie
ein Löwe geſtritten haben . Er empfing zu dem Kreuze
der Ehrenlegion das eiſerne , jenem ſo feindlich
gewordene .
Nach dem Frieden blieb er nur noch kurze Zeit
im Heere ; ſeine Strapazen und Wunden hatten
ihn mürbe gemacht . Hieher zog er ſich mit ſeiner
Penſion zurück , welche ihm ein anſtändiges Aus-
kommen gewährte . Indem nun Jedermann um
ihn her in den wiedererworbenen weſtlichen Theilen
des Vaterlandes ſich mit ſeinen Gefühlen einzu-
richten wußte , die Sympathien des geſtürzten Reichs
und der neuen Deutſchheit amalgamirte , oder we-
nigſtens zuſammenſchweißte und löthete , wollte es
unſerem armen ſtörrigen Hauptmann nicht ſo wohl
gelingen . Den Degen in der Fauſt hatte er ohne
Reflexion darauf losgeſchlagen , für oder wider ;
aber in der Muße und im Nachdenken des Frie-
dens überfiel ihn eine Spaltung und Verwirrung ,
welche ihn faſt toll machte . Er konnte es nicht
in ſich beherbergen , daß er binnen Jahresfriſt ein
tapferer Franzoſe und ein tapferer Preuße geweſen
ſeyn ſollte , daß er bis zum October „ la perfidie
du cabinet de Berlin “ habe züchtigen und nach
dem October das Vaterland retten helfen . Mit
ſeltſamen Blicken betrachtete er die beiden Orden ,
die ſtreitbaren Löwen , welche wie friedliche
Lämmer neben einander auf ſeiner Bruſt ruhten .
Er ſtieß Reden aus und verübte Handlungen , die
ſeinen Bekannten bange um ihn machten .
Ich weiß von dieſen Dingen nur durch Andere ,
denn ich war damals noch nicht hier . Möglich ,
daß der Zuſtand durch die Nachwirkung ſeiner Kopf-
wunden und des ruſſiſchen Eiſes befördert worden
iſt , doch bin ich überzeugt , daß die Urſache deſſel-
ben im Geiſtigen , in dem Leiſten- und Fachartigen
ſeines ehrenwerthen Sinnes gelegen hat . Endlich
nahm ſich ein Fieber ſeiner an , machte ihm Leib
und Seele frei . Unmittelbar nach der Herſtellung
richtete er die ſonderbare Lebensweiſe ſich ein ,
deren Zeichen und Spuren Ihnen aufgefallen ſind ,
und in dieſer habe auch ich ihn erſt kennen gelernt .
Er ſtiftete nämlich militairiſche Ordnung in
ſeinen Erinnerungen und theilte ſie , ſo zu ſagen ,
in zwei abgeſonderte Corps ein , die für ſich agiren .
Eine Zeitlang iſt er Franzoſe und ganz verſenkt
in die Herrlichkeit der Napoleoniſchen Zeit , dann
wird er wieder eine Zeitlang eben ſo entſchiedener
Preuße und Lobredner des Aufſchwungs jener gro-
ßen Epoche der Volksbewegung . Dieſe Phaſen
treten abwechſelnd ein , jenachdem ihn eine Vorſtel-
lung , die dem einen oder andern Kreiſe angehört ,
in Beſchlag nimmt , und ſie dauern ſo lange , bis
der Stoff der Vorſtellung ſich abgeſponnen hat .
Es verſteht ſich , daß er auch immer nur einen
Orden , entweder den Preußiſchen , oder den Fran-
zöſiſchen trägt . Dieſem Turnus gemäß hat er
denn auch die beiden abgeſonderten Wohngelaſſe
ſich ausgerüſtet , und neben jedem ein beſonderes
Schlafgemach . Drüben unter den Marſchällen bringt
er zu , wenn er Franzoſe iſt , und hier bei den Tro-
päon verweilt er , wenn er die preußiſchen Tage hat .
Nicht wahr , wir beſitzen hier zu Lande gute Ori-
ginale ?
In der That , verſetzte der Jäger , man fühlt
ſich bei Ihnen wie in der Welt des Triſtram
Shandy . Uebrigens kann ich nicht ſagen , daß mir
die Manier des guten Hauptmanns , ſo barock ſie
auch ausſieht , gerade unvernünftig vorkäme . Man-
cher Deutſche , welcher eine geraume Zeit lang
ſelbſt nicht gewußt hat , was er eigentlich war ,
Franzoſe oder Deutſcher , würde durch ſie ſeinen
Charakter reiner und einfacher erhalten haben . —
Wie das Gemüth ihm unbewußt einen Streich
ſpielte ! Zu dem vaterländiſchen Zimmer erwählte
er das beſtgelegene mit grüner lieblicher Ausſicht ,
während das Franzöſiſche unerquicklich an der kah-
len , öden Straße liegt .
In einem Puncte iſt der Hauptmann höchſt
achtbar , ſagte der Diaconus , in dem , daß , wenn
auch ſeine Fantaſie Tage- und Wochenweiſe an
den fremden Erinnerungen haftet , dennoch nie der
leiſeſte Wunſch nach der Zeit des allgemeinen Elends
in ihm aufkeimt . Für unſere gelehrte Geſellſchaft
iſt er vom größten Nutzen , denn er beſitzt einen
wahren Schatz an einem Hefte perſönlicher Denk-
würdigkeiten eines verſtorbenen , ihm innigſt ver-
bunden geweſenen Freundes , eines Offiziers .
Man lernt aus denſelben das Kleinleben des
Krieges kennen , was die eigentlichen Geſchichtsbü-
cher , Schlachtbeſchreibungen und militairiſchen Be-
richte gar nicht enthalten , und weil ein Menſch
von hinreißendem Gefühl und treuer Beobachtungs-
gabe jene unbefangenen Notizen aufgeſchrieben hat ,
ſo iſt mir nicht ſelten bei einzelnen Parthien zu
Muthe geworden , als rolle ſich vor mir eine neue
Ilias und Odyſſee ab . Wenigſtens leidet und
handelt darin der Einzelne trotz des paſſiven Ge-
horſams und der mechaniſchen Kriegsführung unſerer
Tage , wie ein homeriſcher Held . Von dieſen Denk-
würdigkeiten lieſt nun zuweilen der Hauptmann in
unſerer Geſellſchaft Abſchnitte vor .
Der Jäger erkundigte ſich nach der gelehrten
Geſellſchaft , deren Daſeyn er in dieſer Stadt nicht
vermuthet hatte , und der Diaconus erzählte ihm ,
indem er ihn aus dem Hauſe des Hauptmanns
weiter durch die Stadt führte , lächelnd und heiter
von ihrer eigenthümlichen Geſtalt , ihren Geſetzen
und ihren productivſten Mitgliedern , unter denen
außer einem Dichter ein Sammler und ein Rei-
ſender von Profeſſion vorkamen . Er ſagte ihm ,
daß er ihm ſchon deßhalb heute den Wagen geſchickt
habe , damit er einer Sitzung beiwohnen könne , die
auf den Abend beſtimmt worden ſei und ihm viel-
leicht einige angenehme Stunden bereite .
Unter dieſen Geſprächen waren ſie zu einem
geräumigen Wieſenplatze gekommen , welcher aber
gleichwohl noch innerhalb der Ringmauern der Stadt
lag . Auf demſelben erhob ſich eine alte gothiſche
Kirche , grün wie die Wieſe . Der Jäger konnte
an ihrem Anblicke ſein Auge nicht erſättigen .
Theils war ſchon die Farbe des Sandſteins , wie
ſie bezeichnet worden , äußerſt eigen ; theils aber
hatte die Natur auch ihr willkührlichſtes Spiel
mit dem lockeren und mürben Material getrieben ,
und in dem reichen Pfeiler- und Schnitzwerk , an
den Kanten und Ecken durch Regenſchlag und Näſſe
ganz neue Figurationen hervorgebracht , ſo daß das
Gebäude wenigſtens ſtellenweiſe ausſah , als ſei
es nicht aus des Menſchen , ſondern aus ihrer Hand
hervorgegangen . — Wie ſonderbare Symbole wer-
den oft um uns hergeſtellt ! rief der Jäger . Hier
ſteht die Kirche , an welcher , mindeſtens an deren
Ornamenten ſich nicht unterſcheiden läßt , was davon
der Baumeiſter gewollt , und was Zeit und Wetter
hinzugefügt haben , und geſtern erſchien mir an
einer Blume im Walde ein ſchönes Mädchen .
Der Diaconus fragte näher nach , und der Jä-
ger erzählte ihm mit glänzenden Augen und beweg-
ter Stimme ſein Waldabentheuer . Nach Ihrer
Beſchreibung zu urtheilen , ſind Sie mit der blonden
Lisbeth zuſammengetroffen , ſagte Jener . Das liebe
Kind ſtreift im Lande umher , ihrem alten faſeln-
den Pflegevater Geld zu verſchaffen ; ſie war auch
bei mir vor einigen Tagen , wollte ſich aber nicht
verweilen . Wenn ſie es war , ſo hat Ihnen die
Natur wirklich ein Symbol gezeigt , denn auch das
Mädchen iſt in Moder und Verfall aufgeblüht , wie
Ihre Wunderblume aus dem alten Baumtrumm .
Ueber ihr halten ſchirmende Geiſter die Hände , ſie
iſt das liebenswürdigſte Aſchenbrödel und ich wün-
ſche ihr nur den Prinzen , der ſich in ihren kleinen
Schuh verliebt .
Auf dem Rückwege ſollten der Sammler und
der Reiſende beſucht werden , Beide waren aber
nicht zu Hauſe . In der Wohnung des Diaconus
hatten ſich dagegen bei der Frau mehrere Freun-
dinnen eingefunden , anſcheinend zufällig , eigentlich
jedoch wohl in der Abſicht , den jungen hübſchen
Fremden in Augenſchein zu nehmen . Sein mun-
teres trauliches Weſen brachte ihn bald mit allen
den Frauenzimmern , unter denen keine einzige Häß-
liche war , in naive Berührung , und es ſchadete
ihm bei ihnen nicht , daß ſie hin und wieder über
ſeine Ziſchlaute heimlich lächeln mußten .
Er hatte ſich bei Tiſche ſeiner Verſchwiegenheit
gerühmt . Als man aufgeſtanden war , zog ihn die
Wirthin raſch bei Seite und flüſterte ihm zu :
Sagen Sie den Beiden — ſie zeigte auf zwei
ihrer Freundinnen , welche zum Eſſen geblieben
waren — nichts vom heutigen Abende , es ſoll
daraus eine Ueberraſchung für ſie geſponnen wer-
den . — Sie meinen , verſetzte er , die gelehrte
Geſellſchaft des heutigen Abends . — Dieſelbe ,
erwiederte die Frau ſchalkhaft , und verſchweigen
Sie , wenn Sie ſich auch ſonſt verſchnappen ſollten ,
wenigſtens den Ort der Zuſammenkunft , wie heißt
er doch nur gleich ?
Er nannte ihr harmlos den Ort , den er zufäl-
lig auch bereits vom Diaconus erfahren hatte .
Richtig ! rief die Frau , eilte zu ihren Freundinnen ,
und alle Drei verließen flüſternd und lachend das
Zimmer .
Zwoͤlftes Capitel .
Brief und Antwort .
Der Oberamtmann Ernſt an den Jäger .
„ Wenn du mich Mentor nennſt , ſo ſteckt Pallas
Athene in mir , und wenn ich dann trotz meiner
Göttlichkeit immer noch an dem unfolgſamen Tele-
mach hange , ſo muß wohl das unerbittliche Schick-
ſal daran Schuld ſeyn , dem Götter und Menſchen
ſich beugen .
Sage mir , was biſt du ? Wo fängt bei dir
die Vernunft an , und wo hört die Thorheit auf —
Miſchweſen ? Willſt du ewig ein Kind bleiben ?
Kommt es denn immer in dir nur zu Blüthen
und ſetzen ſich nie Früchte ab ? Ich dächte , man
würde Alles müde , abſonderlich dummer Streiche ,
und du hätteſt den Reiz der Neuheit in dieſer
Materie allgemach überwunden .
Allerdings glaube ich , daß der Menſch von dun-
keln Inſtincten Manches zu erdulden hat , und in-
ſonderheit mag deinem Blute durch die ſchwärmende
und übertriebene Zärtlichkeit deiner Eltern , welcher
du deine Entſtehung verdankſt , der Kitzel einge-
impft worden ſeyn , von Abentheuern zu Abentheu-
ern fortzuſtrudeln . Wenn du aber meinſt , daß
aus ſolchen inſtinctelirenden Anſtößen irgend etwas
Großes , ja daß nur etwas Gutes und Geſcheidtes
daraus hervorgehen könne , ſo biſt du gewaltig im
Irrthum , ich habe immer die Handlungen der Men-
ſchen erſt anfangen ſehen , wo dieſe Region dämm-
riger Willkührlichkeiten hinter ihren Füßen lag .
Von der Geſchichte deines Ludwigsburger Grana-
tenſuchers haſt du das Ende vergeſſen . Der
Menſch gewöhnte ſich nach dem kleinen Glücke ,
welches ihm ſein Raptus gebracht , das Trinken
an , ging oder taumelte einmal bei ſpäter Abend-
zeit in der Gegend umher und fiel in den Neckar ,
aus dem man am andern Morgen ſeine Leiche zog .
Ihr Ritter der Nachtſeite der Natur greift aber
immer aus den Thatſachen nur das heraus , was
in Euren Kram paßt , und woran Ihr kapuzinerhaft
Euren Spruch demonſtriren könnt .
Immermann’s Münchhauſen. 1. Th. 28
Dein Umherſchweifen hat dir manche ſchöne
Stunde und viele tauſend Gulden unnütz ge-
raubt , mit deinem verwünſchten Schießen wirſt
du einmal übel ankommen ; was deine Verehrung
der Frauenzimmer betrifft , ſo iſt dieſe Andacht
für mich eine neue Bekanntſchaft , ich hatte bis
etzt in der Hinſicht nichts Abſonderliches an dir
verſpüren können . — Beinahe krank bin ich aber
von deinem Briefe geworden , denn es giebt nichts
Verhängnißvolleres , als wenn ein Menſch in dei-
nen Jahren und Verhältniſſen noch Streiche macht ,
die man kaum einem heimathloſen Studenten ver-
zeiht . Die Leute glauben nicht an die Thorheit ,
ſie ſuchen und finden in ſolchen Eulenſpiegeleien
Gründe und Abſichten . Was die deinige zur Fol-
ge gehabt hat , will ich dir kurz und practiſch vor-
halten . Man ſteht bei deinem einmal hingeworfenen
Worte feſt , du ſeiſt ſchon im Auslande verſprochen ,
man ſetzt deine Reiſe mit dieſem Geſchwätz in
Verbindung , ſagt , du habeſt nur einen Vorwand
ergriffen , um zu entrinnen , und werdeſt unverſehens
mit einem aufgeleſenen alten academiſchen Liebchen
wiederkehren . Fräulein Clelia iſt durch deine Rit-
terſchaft auf’s äußerſte bloßgeſtellt und ganz troſt-
los . So erzählte mir Pfleiderer , der von Stutt-
gart hier durchreiſte . Außerdem hat die Sache
verblümt ſchon im Mercur geſtanden , und was der
Mercur weiß , das weiß bekanntlich ganz Schwaben .
Ich habe mich nun kurz reſolvirt . Deiner
ſeligen Mutter verſprach ich einſt , für dich Sorge
tragen zu wollen bei allen Exceſſen , zu denen dich
dein ſtürmiſches Temperament verleiten möchte ;
und als guter Geſchäftsmann will ich mein Wort
halten . Die Sommerferien ſtehen vor der Thür ,
eine Bewegung thut mir auf die ewige Schreiberei
auch Noth , der Aerger , wenn ich dich treffe , wird
die Motion verſtärken — kurz , in acht Tagen
ſchließ ’ ich mein Oberamt zu , reiſe den Rhein hinab ,
biege nach deiner Tacitiſchen Germania , wo du
unter Bohnen , Schweinen und Bauern ſo genuß-
reiche Tage verlebſt , hinüber , faſſe dich , wo ich
dich finde , und will dann ſehen , ob du mich wirſt
allein zurückreiſen laſſen .
Uebrigens bin ich , wie immer
Dein Freund Ernſt . “
28*
Der Jäger an den Oberamtmann Ernſt .
„ Ich ſende dir dieſe Zeilen nach Stuttgart
entgegen , wo ſie in Wilhelms Händen für dich
beruhen bleiben , denn du wirſt als ein wahrer
Glaubiger gewiß erſt in unſerer National-Kaaba
dein Gebet verrichten , bevor du hinausziehſt in
die Fährlichkeiten des falſchen Auslandes .
Nun iſt mir erſt wohl . Du haſt mir die Lec-
tion gegeben , und ſo ſteht Alles in gehöriger Ord-
nung . Daß du mir nachrennſt , entzückt mich ,
denn ich ſehe daraus , daß Thorheit anſteckt und
mächtiger iſt , denn Vernunft . Wenn du kommſt ,
will ich mit dir , geduldig wie ein Lamm heimreiſen ,
ſofern ſich nicht inzwiſchen der Schrimbs oder
Peppel noch findet , wozu freilich wenig Anſchein .
Könnte ich nur des alten Jochem erſt wieder hab-
haft werden ! Wer weiß , wo der arme Kerl
umherrennt ? Ich habe ſchon in verſchiedenen
öffentlichen Blättern nach ihm Erkundigung gethan ,
jedoch bis jetzt vergebens .
Hier in dieſer alterthümlichen Stadt verweile
ich ſeit mehreren Tagen bei einem guten Bekannten ,
den ich unverſehens wiedergefunden habe . Eine
gar hübſche Häuslichkeit und ein angenehmer Kreis
umgiebt ihn . Auch hier habe ich närriſche Son-
derlinge kennen gelernt , welche doch dabei gute ,
ſchätzbare , unterrichtete Menſchen ſind , ſo daß man
über ſie lächeln und ihnen zugleich von Herzen
zugethan ſeyn kann . Welche Maſſe von Bildung ,
Wiſſen und Eigenartigkeit iſt bei uns überallhin
verbreitet ! Wenn dieſe Reiſe auch weiter keinen
Nutzen hat , ſo wird ſie mir ſchon dadurch , daß ſie
mir jene Ueberzeugung recht in die Hand gab ,
heilſam ſeyn .
Der Gipfel unſerer Geſelligkeit war der vor-
geſtrige Abend , wo ihre gelehrte Geſellſchaft ( lache
nicht ! ) eine Sitzung hielt . Sie haben eine Aca-
demie zuſammen geſtiftet , in welcher die verſchieden-
artigſten Aufſätze vorgeleſen werden . Dieſe ſind
aber ſtatutenmäßig bis auf Weiteres aller Veröf-
fentlichung durch den Druck ſtreng entzogen . Jeder
muß Strafe zahlen , der ſich zur Unterſtützung einer
vorgetragenen Meinung auf eine Flugſchrift oder
ein Zeitblatt beruft , und von den Zuſammenkünften
bleiben die Frauen ausgeſchloſſen . In dieſer
Geſellſchaft brachte ich einen wahrhaft platoniſchen
Abend zu , denn wenn wir Alle auch lange nicht
ſo ſchön redeten , wie die Griechen , ſo kam doch
ſo viel Urtheil , Beobachtung , Scherz und Laune
zum Vorſchein , daß du dich verwundern wirſt .
Ich ſchreibe nämlich in den Morgenſtunden die
Geſchichte dieſes Abends unter dem Titel : Ein
Gaſtmahl , für dich nieder . Eine unvermuthete
Wendung hatte ich der Sache zubereitet , indem
ich in meiner Unſchuld gegen die Frauen zum
Verräther der Zuſammenkunft geworden war , und
dieſe dem Abende einen phantaſievoll humoriſtiſchen
Abſchluß gaben .
Ach , Lieber ! es iſt mir zu Muthe , als ſtehe
mir die Poeſie des Lebens ſo nahe , daß ich ſie
hinter jedem Buſche jetzt und jetzt werde mit Hän-
den greifen , aus jedem Blumenkelche in mich
hineinſaugen können ! Da , dort , überall guckt
die Elfe hervor und ſieht mich mit Liebesaugen
an . Ward denn jegliches Daſeyn beſtimmt , wie
eine der verwickelten algebraiſchen Gleichungen
nur annäherungsweiſe ein Analogon von Auflö-
ſung darzubieten , oder giebt es nicht auch ſchlichte ,
plane Exiſtenzen , die aus Sehnſucht und Erfüllung
ein reines Facit ziehen ? — Und was denkſt du
dir bei dieſen geſchraubten Worten , die da unwill-
kührlich meiner Feder entfloſſen ſind ?
Ich bin ſo wenig ein Dichter , als du ein
ſchwarzwälder Uhrmacher biſt , aber bisweilen
bricht die Poeſie aus Jedem , wie die Thräne aus
der Rebe im Lenz . Das ſind dann ſchickſals-
ſchwangere Momente , Momente , in denen unſere
Sterne ſich rühren , und dadurch die Kräfte unſres
kleinen Selbſtes rühren und regen . Ich ſchrieb dir
von dem Speſſarter Mährchen , welches ich da hin-
geworfen , und nun iſt’s ſonderbar , daß ſich einzelne
Elemente dieſer Erfindung , z. B. das unvermuthete
Treffen eines Freundes , ein curioſes Waldaben-
theuer , körperlich hinſtellen , freilich ganz verſchieden
von meinem Poem , aber im innerſten Sinne doch
verwandt , ſo daß es iſt , als wollten mich meine
Speſſarter Zauberfiguren mit Wirklichkeit necken .
Hiebei mußt du dir gar nichts Beſonderes
vorſtellen ; es giebt nur ſo wunderbare Stimmungen ,
in denen man mehr ſeine Gedanken , als ſein Leben
lebt . So will mir das Waldgefühl nicht aus dem
Sinn , es fluthet grün und kühl mit friſchem Bor-
kengeruch durch meine Seele , und gelbe Funken
kreuzen den ſtillen , tröſtlichen Schein .
In Leben und Tod , mein alter Ernſt ,
Dein Narr .
N. S. Die arme Clelia dauert mich herzlich .
Wie ſchlecht , daß ich ihrer erſt jetzt gedenke ! Was
mich betrifft , ſo mögen ſie von mir ſchwätzen ,
was ſie wollen . “
Dreizehntes Capitel .
Der Jäger ſchießt und trifft .
Immer wurde unſer junger Schwabe von ſeinen
ſchwärmeriſchen Empfindungen wieder durch einen
äußeren Eindruck abgezogen , der ihm etwas Neues
zuführte . So beſuchte er den Sammler , den wir
auf dem Oberhofe kennen gelernt haben , einige
Tage , nachdem er den Brief an ſeinen Freund
geſchrieben hatte . Der alte Schmitz hatte ihm
ſchon hin und wieder ein ſaures Geſicht gemacht ,
daß ſeine Schätze noch nicht früher in Augenſchein
genommen worden waren , indeſſen erheiterte ſich
dieſes jetzt bald , als der Jäger , angelegentlich
fragend , in der kleinen , engen und dunkeln Woh-
nung mit ihm durch die aufgeſtapelten alten
Kloſterbilder , Pergamenthaufen , Waffen , Urnen und
Gefäße hindurchwanderte , und den gelegentlich
erfolgenden Auseinanderſetzungen : Wo Hermann
den Varus geſchlagen ? ein aufmerkſames Ohr lieh .
— Der Jäger ſah manches ihm Neue und würde
von der ganzen Beſchauung noch mehr Nutzen gehabt
haben , wenn ihm ſein Führer Muße gelaſſen hätte ,
die einzelnen Stücke genauer zu betrachten . Allein ,
ſobald er einige Secunden lang bei einem verweilt
hatte , riß ihn der Ungeduldige mit ſchreienden
Worten zu einem andern hin , in der Beſorgniß ,
daß irgend etwas überſehen bleiben möchte .
Er lebte , nach Sammlermanier , ganz einſam
und nur ſeinen Seltenheiten hingegeben . Ein
großer , ſchwarzer Kater , welcher ihm treu anhing ,
machte ſeine ganze Hausgenoſſenſchaft aus . Dieſer
ging denn auch heute , wie es ſeine Gewohnheit
war , ernſthaft durch die Zimmer hinter den beiden
menſchlichen Beobachtern , wie ein dritter Alterthums-
freund einher .
Der Alte war eigentlich in Folge einer unglück-
lichen Liebe Sammler geworden . In ſeiner Jugend
hatte er einem ſchönen Mädchen ſein Herz zuge-
wandt , welche , zu früh elternlos , unter der Obhut
oder vielmehr Nichtobhut eines ſchwachen , nach-
läſſigen Vormundes ſtand und bei ihrem Leichtſinn
zu unabhängig war , um verſtändig bleiben zu können .
Nachdem ſie den treuen Verehrer vielfältig durch
Grillen und Zweideutigkeiten gekränkt hatte , ſetzte
ſie ihrem Benehmen durch offenbare Untreue die
Krone auf . Der Himmel ſtrafte ſie aber doppelt
dafür ; er ließ ſie ihr Herz an einen Unwürdigen
hängen und bald hernach in eine ſchwere Krankheit
verfallen , von welcher ſie nicht wieder erſtand .
Auf dem Todtenbette trat die Reue ihren wankel-
müthigen Buſen an , ſie ſchickte nach dem Verlaſſenen ,
es erfolgte eine Ausſöhnung , und ſie ſetzte ihn zum
Erben ihres Nachlaſſes ein . Unter dieſem befand
ſich eine Menge goldener , ſilberner , emaillirter ,
ſeidner Kleinigkeiten , die das lebhafte Ding zuſam-
mengekauft , erbettelt , erſtoppelt hatte , da ihr
Auge , wie das der Elſtern , an allen glänzenden
Dingen hing , und ihre Hand beſitzen mußte , was
ihrem Auge gefiel . Der Hinterbliebene ſtellte nun
daraus ein kleines Cabinet ſehr ordentlich zuſam-
men , aber bald wollte ihm das Vorhandene nicht
mehr genügen , die Medaillen , die Figürchen , die
gemalten Portefeuilles und Mappen forderten
Geſellſchaft , und er gab ſie ihnen durch Münzen ,
Metallſachen , Siegelkapſeln , ſchöngeſchriebene Per-
gamenturkunden . Dergleichen greift aber immer
weiter um ſich , es zieht gewiſſermaßen magnetiſch
das Gleichartige an , und ehe er es ſich verſah ,
hatte daher ſeine Umgebung und ſein Leben die
nachherige Geſtalt bekommen . Da nun die Lieb-
haberei bei ihm gefühlvollen Urſprungs war , ſo
gab ſie ihm auch nicht das Trockene und Lebloſe ,
wodurch die Sammler in der Regel der Abdruck
ihrer Sachen werden ; er behielt vielmehr eine
freundliche und milde Sinnesart .
Der Jäger hatte neben einigem Guten viel
Geringes beſichtigen müſſen . Jetzt fiel ſein Blick
in eine Ecke , worin die uns bekannte Amphora
mehr verſteckt als gewieſen ſtand . — Wie ? Und
dieſes herrliche Gefäß zeigen Sie mir nicht ? Das
iſt ja leicht das ſchönſte Ihrer ganzen Sammlung !
rief er erſtaunt .
Eine Traurigkeit beſchattete das Antlitz des
Sammlers , ſeine geläufige Zunge ſtockte , er ging
in die Ecke , ſtreichelte die Amphora , wie ein
Vater ſein krankes Kind ſtreichelt , und erzählte
dem Jäger zutraulich die Geſchichte ihrer Erwer-
bung . — Seit der Zeit nun , fuhr er fort , daß
ich gegen mein Gewiſſen dem Hofſchulzen ein Atteſt
über ſein falſches Karls ‒ des ‒ großen ‒ Schwert aus-
ſtellte und mir durch dieſe Unwahrheit die Amphora
zueignete , macht mir oft die ganze Sammlung
keine rechte Freude mehr . Denn bei Alterthümern
beruht Alles auf der Wahrheit , und wer für ein
fremdes gelogen hat , der kann auch leicht den
Glauben an ſeine eigenen verlieren . Es geht mir
ſchon hin und wieder ſo ; ich ſehe die Donnerkeile
zweifelnd an , ich habe bereits geträumt , meine ſo
ſchönen Bracteaten ſeien nachgemachte Scharteken .
Das Ende vom Liede wird wohl ſeyn , daß ich die
Amphora zurückgebe und mir mein falſches Atteſt
wieder aushändigen laſſe , wenn ich gleich nicht
weiß , wie ich den Verluſt des prächtigen Gefäßes
werde überſtehen können .
Der Jäger mußte ungeachtet des kummervollen
Geſichtes , welches der alte Mann machte , lächeln ,
und ſagte : Mit Ihrer Gewiſſenhaftigkeit wäre nie
ein Muſäum zu Stande gebracht worden . — Aber
ſagen Sie mir , was für eine Bewandniß hat es
eigentlich mit dem Schwerte , auf welches der Hof-
ſchulze einen ſo außerordentlichen Werth legt ?
Hierauf gab der Sammler dem Jäger folgende
wunderſame Auskunft . Daß hier auf unſerer rothen
Erde der geweihte Boden der Freigerichte , welche
man nur ſehr uneigentlich Vehmgerichte genannt
hat , war , wiſſen Sie , ſagte er . Freigerichte waren
ſie , und Freigerichte blieben ſie trotz aller ſpäteren
Entſtellungen und Mißbräuche , nämlich die Gerichte
der urſprünglich freien Markengenoſſen , die ſo
unbeſchränkt auf ihrer Wehr ſaßen , als der König
in ſeiner Pfalz . Das aber werden Sie nicht
wiſſen , daß in mehreren Diſtricten und ſo auch
nahe hiebei manche Höfe , welche das Freiſchöffen-
recht hatten , immer noch die Tradition dieſes
Beſitzes erhalten , und daß dieſelbe vom Vater auf
den Sohn , vom Sohn auf den Enkel fortgepflanzt
wird . Natürlich iſt jetzt die Sache zu einer bloßen
Spielerei herabgeſunken . Aber Wiſſende giebt es
wirklich noch immer , die von Zeit zu Zeit ſich bei
den alten Freiſtühlen verſammeln , und durch Mit-
theilung der geheimen Erkennungszeichen und des
Rituals neue Wiſſende machen . Anfangs nahmen
einige Behörden von dem Hokuspokus Notiz , woll-
ten in die Myſterien eindringen , aber das gelang
ihnen nicht , die Bauern trieben ihr Weſen nur um
ſo vorſichtiger und blieben gegen alle Anmuthungen ,
den Sinn der Loſung zu verrathen , ſtandhaft .
Seitdem bekümmert man ſich nicht mehr darum .
Der Oberhof gehört nun recht eigentlich zu
den alten Freiſchöffengütern . Nach dem Bauern-
glauben war es Karl der Große , der die Gerichte
einſetzte , und das Gewaffen , was in dem Hofe
aufbewahrt wird , gilt für das Richtſchwert , welches
der Kaiſer zum Zeichen der Inveſtitur dem erſten
Beſitzer gegeben habe . Der Hofſchulze , der ein
gar ſchlauer Vogel iſt , hat , ſein Anſehen zu ſtei-
gern , ſich dieſen Glauben zu Nutze gemacht , und
ſpielt nun eine Art von Freigrafen . Er ſoll nicht
ſelten mit den Schöffen der umliegenden großen
Höfe am Freiſtuhl zuſammenkommen . Ja man
ſpricht , daß durch ihn in die leeren Poſſen wieder
ein Gehalt gebracht worden ſei , daß ſie über
manche Sachen wirklich ihre geheimen Urtheile
fällen . So viel iſt wenigſtens gewiß , daß die
Gerichte ſich ſelbſt über die wenigen Streitigkeiten
wundern , die aus jener Gegend vor ſie gebracht
werden , obgleich unſer Land ſonſt die Heimath
der Prozeßkrämer iſt .
Aber wie iſt das möglich , da ihnen ja jede
Macht der Ausführung fehlt ? fragte der Jäger ,
den dieſe ſeltſame Entdeckung ganz träumeriſch
bewegte .
Nun , ſagte der Sammler , ſie können freilich
keinen Wiederſpänſtigen mehr am Baume aufknü-
pfen , aber wenn ſie ihm nun Hülfe , Beiſtand ,
Vorſchub verſagten , es durch ihren Einfluß , da ſie
die Reichſten in der Gegend ſind , dahin brächten ,
daß ihn auch die Andern mieden , Keiner mit ihm
im Kruge tränke , Knecht und Magd nicht ihm
aushielte ; wie dann ? Wäre das nicht auch ein
Zwang , zwingend genug ? Was vermag nicht die
Meinung von Standesgenoſſen über den Menſchen ?
Es werden mitunter dort umher Einzelne in auf-
fallender Art Freunde- und Genoſſenlos , das dauert
eine Weile , dann nähert ſich ihnen wieder Alles .
Man ſpricht , dieſe ſeien Verfehmte , und nur
ihre Nachgiebigkeit hebe den Bann wieder von
ihrem Hauſe .
Der Jäger reimte nunmehr ſich Manches zuſammen ,
was ihm bisher unverſtändlich geblieben war . Er
theilte ſeine Vermuthung , daß binnen Kurzem am Frei-
ſtuhl etwas vorgehen werde , dem Sammler mit , und
fragte ihn eifrig , ob es nicht möglich zu machen ſei ,
einem ſolchen heimlichen Gerichte aus der Verborgen-
heit zuzuſchauen ? Damit wollte indeſſen der Sammler
als mit einer gefährlichen Sache nichts zu thun haben .
Der Fuhrmann trat ein , welcher den Jäger
nach dem Oberhofe befördern ſollte und ſagte ,
daß der Wagen vor der Thüre ſtehe . Der Jäger
hatte nämlich mit dem Diaconus die Abſprache
genommen , ſich in der Stadt einquartieren zu
wollen , hielt es jedoch für ziemlich , ſeinem alten
Wirthe Perſon Dank und Lebewohl zu ſagen .
Einen Theil des Weges über hatte er weder auf
dieſen , noch auf das Fuhrwerk Acht , da ſeine
Gedanken um den Freiſtuhl und die Geheimniſſe
des Vehmgerichtes ſchwebten , die noch immer ſchat-
tenartig in der Gegenwart fortlebten . Sonderbares
Land , rief er für ſich , in welchem Alles ewig zu
ſeyn ſcheint ! Wie kommt es , daß aus dir noch
kein großer Dichter hervorgegangen iſt ? Dieſe
Erinnerungen , welche von dem Boden nicht weichen
wollen , dieſe alten Sitten und Gebräuche mußten
doch wohl im Stande ſeyn , eine Einbildungskraft
zu entzünden ! Er überſah , daß das Talent keine
Feldfrucht iſt , ſondern wie das Manna in der
Wüſte vom Himmel fällt .
Als er auf die Außendinge wieder zu merken
begann , nahm er wahr , daß ſein Wäglein ſich
ſchneckenartig fortbewegte , weil das eine Pferd
Immermanns’ Münchhauſen. 1. Th. 29
ſtark lahmte . Er entſchloß ſich kurz , ließ das
Fuhrwerk heimgehen und machte den übrigen Weg
zu Fuß . Freilich konnte er nun nicht , wie er
gewollt , am nämlichen Tage zur Stadt zurückkehren ,
mußte ſich vielmehr bequemen , die Nacht auf dem
Lande zuzubringen .
Er fand den Hofſchulzen an einem Scheuren-
thore zimmern . Als dieſer von ſeiner Arbeit die
blitzenden Augen unter den weißen Brauen gegen
ihn emporhob , kam er ihm nach den erhaltenen
Aufſchlüſſen wie der Alte vom Berge vor . Der
Jäger meldete ihm ſeinen bevorſtehenden Abzug .
Jener erwiederte : Das iſt mir lieb , das Frauen-
zimmerchen , welches vor Ihnen die Stube hatte ,
ließ mir ſagen , ſie würde heute oder morgen zurück-
kommen ; der müßten Sie doch weichen , und ich
könnte Sie nur unbequem logieren .
Der ganze Hof ſchwamm in dem beginnenden
rothen Abendlichte . Eine reine Sommerwärme
durchdrang die von keinem Dunſte beſchwerten
Lüfte . Es war ganz einſam zwiſchen den Gebäu-
den ; alle Knechte und Mägde mußten wohl noch
auf dem Felde zu thun haben . Auch im Hauſe
ſah er Niemand , als er nach ſeinem Zimmer ging .
Dort ordnete er , was er an dieſem Orte zuwei-
len aufgeſchrieben hatte , packte ſeine wenigen
Sachen zuſammen und ſah ſich dann nach dem
Gewehre um .
Dieſes war jedoch verſchwunden . Er begriff
nicht , wer es ihm fortgenommen haben könne , und
ging , bei dem Hofſchulzen Erkundigung einzuziehen ,
über den Gang nach der Treppe zu . In einem
Gelaſſe ſeitwärts glaubte er ein Geräuſch zu ver-
nehmen — vielleicht iſt eine Magd darin , die dir
es auch nachweiſen kann — dachte er und klinkte
die Thür auf . Er war aber in die Schlafkammer
der Tochter gerathen und ſah erſchreckt eine unzwei-
deutige Gruppe . Herzklopfend ſchritt er raſch nach
ſeinem Zimmer zurück ; der Bräutigam , ein junger
ſtarker Bauer , folgte ihm dahin nach . Das müſſen
Sie nicht für übel nehmen , ſagte dieſer . Denn das
zweite Aufgebot iſt geweſen , und nächſten Donner-
ſtag iſt die Hochzeit , und wenn es ſo weit iſt , ſo
hat ſich Keiner um ſo etwas zu bekümmern , und
der Paſtor und der eigene Vater fragt nichts dar-
nach . Es wird dieſe Nacht bei uns im Hofe Korn
geſackt , deshalb mußte ich meine Braut heut zu
Nachmittage beſuchen .
29*
Mich geht das nichts an , antwortete der Jäger
verwirrt , wenn ich nur wüßte , wo mein Gewehr
iſt . Dieſes will ich Ihnen ſagen , antwortete der
junge Bauer , der Schwiegervater hat es heimlich
weggenommen und dort hinter dem großen Schranke
verſteckt , denn er ſagte , der dritte Choral aus
Ihrer Geſchichte wäre —
Was ? Choral ? Ihr wollt wohl Moral ſagen ?
Ja wohl . Alſo der dritte Choral aus Ihrer
Geſchichte wäre , daß man einem Fehlſchützen von
Mutterleib aus kein Schießgewehr unter Händen
laſſen müſſe . Ein gewöhnlicher Fehlſchütz wäre
wenig zu aeſtimiren , aber ein Fehlſchütz von Mut-
terleib könnte großen Schaden anrichten .
Der Jäger hörte nicht länger auf dieſe Reden
hin , warf vielmehr ſeine Waidtaſche um , eilte nach
dem Schranke , zog hinter demſelben das Gewehr
hervor , lud , und war mit zwei Schritten aus dem
Hofe nach dem Freiſtuhl , ſich die unruhig wogen-
den Bilder aus der Seele zu ſchießen . Schon im
duftigen goldenen Dämmer des Eichenkamps hatte
er ſeine Lebensgeiſter wieder beiſammen . — Nun das
muß wahr ſeyn , rief er , die Idyllenſchreiber haben
uns die Bauernwelt arg verzeichnet ! Sowohl die
ſchäferlich-zarten , als die knolligen Kartoffelpoeten .
Sie iſt eine Sphäre , ſo mit derber Natur , wie
mit Sitte und Ceremonie ausgefüllt , und gar
nicht ohne Anmuth und Zierlichkeit , nur liegt letz-
tere wo anders , als wo ſie in der Regel geſucht
wird . Iſt der Burſch aus Unenthaltſamkeit vor
der Zeit in ſein Recht getreten ? Gewiß nicht .
Es iſt ſo Herkommen , lieblicher , luſtiger Brauch ,
und ſein Mädchen würde ſich vielleicht für verach-
tet halten , wenn er ihn nicht mitmachte .
Droben auf dem Hügel am Freiſtuhl ward
ihm ſehr wohl . Das Korn wiegte ſäuſelnd die
Aehren , ſchwer von Segen , des Vollmondes große
glührothe Scheibe ſtieg am Oſtrande des Himmels
auf und noch wirkte der Wiederſchein der in Weſten
abgeſchiedenen Sonne . Die Atmoſphäre war ſo
rein , daß dieſer Wiederſchein gelbgrün glänzte . — Er
empfand ſeine Jugend , ſeine Geſundheit , ſeine
Hoffnungen . Hinter einen großen Baum am
Waldrande ſtellte er ſich ; heute will ich doch
erproben , ſagte er , ob das Geſchick nicht zu beugen
iſt . Ich ſchieße nur , wenn mir etwas bis auf drei
Schritte vor dem Rohre nahe kommt , und da müßte
es ja mit Zauberei zugehen , wenn ich fehlen ſollte .
Im Rücken hatte er den Forſt , vor ſich die
Senkung mit den großen Steinen und Bäumen
des Freiſtuhls , gegenüber umſchloſſen die gelben
Kornfelder den einſamen Ort . In den Wipfeln
über ihm gurrten noch einzelne verlorne Töne der
Turteltaube , durch die Aeſte der Bäume am
Freiſtuhle fingen die wilden Lindenſchwärmer an
mit den grün-rothen Flügeln zu ſchwirren . All-
gemach begann es auch im Walde am Boden ſich
zu rühren . Ein Igel kroch ſchläfrig durch das
Laub ; ein Wieſelchen zog den geſchmeidigen Leib
aus einer Steinſpalte , nicht breiter , als der Kiel
einer Feder , hervor . Buſchhäslein ſprangen mit
vorſichtigen Sätzen , zwiſchen jedem innehaltend ,
ſich duckend und die Löffel legend , ins Freie ,
bis ſie , muthiger geworden , auf dem Rain am
Kornfelde ſich emporhoben , tänzelten , mit ein-
ander ſpielten , und die Vorderläufe zu ſcherzenden
Schlägen brauchten .
Der Jäger hütete ſich wohl , dieſes Haſenvolk
zu ſtören . Endlich trat ein ſchlankes Reh aus dem
Walde . Klug die Naſe in den Wind ſtreckend ,
links und rechts aus den großen , braunen Augen
umherſchauend , ſchritt das Thier auf den feinen
Füßen mit leichter Grazie einher . Jetzt war das
Zarte , Wilde , Flüchtige dem Geſchoſſe des Ver-
ſteckten gegenüber angelangt , es war ſo nahe , daß
es faſt nicht gefehlt werden konnte , er wollte ab-
drücken , da ſchreckte das Reh zuſammen , that einen
Sprung in veränderter Richtung gerade auf den
Baum zu , hinter welchem der Jäger ſtand , ſein
Schuß ging los , das Wild ſetzte in gewaltigen
Sprüngen unverwundet waldein , zwiſchen dem
Korne aber war ein Schrei erſchollen , und wenige
Augenblicke nachher kam eine weibliche Geſtalt auf
einem ſchmalen Pfade , der in der Linie des Schuſſes
lag , aus den Feldern hervorgewankt .
Der Jäger warf die Flinte weg , ſtürzte auf
die Geſtalt zu und meinte vergehen zu müſſen ,
als er ſie erkannte . Es war das ſchöne Mädchen
von der Blume im Walde . Sie hatte er ſtatt des
Rehes getroffen . Sie hielt die eine Hand auf
der Gegend zwiſchen Schulter und linker Bruſt ,
dort quoll unter dem Tuche reichlich das Blut
hervor . Ihr Antlitz war bleich und etwas von
Schmerz verzogen , doch nicht entſtellt . Sie holte
dreimal tief Athem und ſagte dann mit ſanfter
und matter Stimme : Gottlob , es muß nichts ge-
fährlich verletzt ſeyn , denn ich kann Athem holen ,
wenn es mir auch Schmerzen macht . — Ich will
verſuchen , fuhr ſie fort , den Oberhof zu erreichen ,
zu dem ich auf dieſem Richtwege gelangen wollte ,
wo mich nun das Unglück treffen mußte . Geben
Sie mir Ihren Arm . — Er führte ſie einige Schritte
hügel-abwärts , da zuckte ſie zuſammen und ſagte :
Es geht doch nicht , die Schmerzen ſind zu heftig ,
ich könnte unterweges ohnmächtig werden . Wir
müſſen ſchon an dieſem Orte aushalten , bis Leute
herbeikommen und eine Tragbahre verſchaffen
können .
Trotz ihrer Wundſchmerzen hielt ſie ein Päckchen
feſt in der linken Hand , dieſes reichte ſie ihm
jetzt und ſagte : Verwahren Sie es mir , es iſt
das Geld , welches ich für den Herrn Baron ein-
geſammelt habe , ich möchte es verlieren . — Wir
müſſen auf längeres Bleiben uns gefaßt machen ,
fügte ſie hinzu . Wenn es Ihnen möglich wäre ,
mir ein Lager zu bereiten und etwas Wärmendes
zu geben , daß die Kälte nicht zur Wunde ſchlägt !
So hatte ſie die Beſonnenheit für ſich und ihn .
Er ſtand ſprachlos , bleich und ſtarr , wie eine
Bildſäule ; die Verzweiflung wühlte in ſeinem Her-
zen und ließ kein lautes Wort über die Lippen .
Jetzt gab ihm ihre Aufforderung Bewegung , er
eilte nach dem Baume , hinter dem er ſeine Waid-
taſche abgelegt hatte . Dort ſah er auch das un-
glückliche Gewehr liegen . Wüthend ergriff er es
und ſchlug es mit ſolcher Kraft gegen einen Stein ,
daß der Schaft zerſplitterte , die Läufe ſich bogen .
und die Schlöſſer von ihren Schrauben losſpran-
gen . Er verwünſchte den Tag , ſich , ſeine Hand .
Zu dem Mädchen zurückgeſtürzt , welches ſich auf einen
Stein des Freiſtuhls geſetzt hatte , fiel er ihr zu
Füßen und flehte , den Saum ihres Kleides küſ-
ſend , unter heftigen Thränen , die nun aus ſeinen
Augen mit Gewalt brachen , ſie um ihre Verge-
bung an . Sie bat ihn , doch nur aufzuſtehen , er
habe ja nicht dafür gekonnt , die Wunde ſei gewiß
nicht bedeutend , er möge ihr nur jetzt helfen . Er
richtete ihr nun einen Sitz auf dem Steine zu
indem er die Waidtaſche auf denſelben legte . Um
ihren Hals band er ſein Tuch , um ihre Schultern
legte er locker und loſe ſeinen Rock . Sie ſetzte
ſich auf den Stein , er nahm neben ihr Platz und
bat ſie , zu ihrer Erleichterung ihr Haupt an ſeine
Bruſt zu neigen . Sie that es .
Der Mond war in völliger Klarheit über einen
Theil des Himmels gedrungen und beſchien faſt
taghell die beiden durch einen rohen Zufall einan-
der ſo Nahegerückten . In der vertraulichſten Nähe
ſaß der Fremde mit der Fremden , ſie ſtieß leiſe
Schmerzenstöne an ſeiner Bruſt aus , und von
ſeinen Wangen floſſen unaufhaltſame Thränen .
Rings aber um ſie her verbreitete ſich nach und
nach das Schweigen und die Einſamkeit der Nacht .
Endlich wollte es das Glück , daß ein ſpäter
Wanderer durch die Kornfelder ging . Der Ruf
des Jägers erreichte ſein Ohr , er eilte herzu und
wurde nach dem Oberhofe geſchickt . Bald darauf
ließen ſich Fußtritte hügelan-Kommender verneh-
men ; es waren die Knechte , welche einen Trag-
ſeſſel mit Kiſſen brachten . Der Jäger hob die
Verwundete ſanft hinein und ſo gelangte ſie ſpät in
der Nacht unter das Obdach ihres alten Gaſt-
freundes , der ſich freilich ſehr verwunderte , die
Erwartete in dieſem Zuſtande ankommen zu ſehen .