Erſtes Heft
das
Tagebuch mit Zubehoͤr.
A 2
Zwey Wort’ an die Leſer.
Daſt erſte Wort.
Haͤtt’s weiß Gott! nimmer gedacht,
daß es ſo kommen wuͤrde, wie’s
nun kommen iſt, daß ich in der Buch-
ſchnizlergilde ſollt’ zuͤnftig werden. Hab
die Buchmacher ſchier nicht anders geach-
tet als die Hutmacher, und beyd’ in Nah-
rung geſezt, wenn ich ihrer Arbeit bedurfte.
Hab’ meine Woll’ und Haſenbaͤlge, wenns
Noth thaͤt, an den Huͤter; Roggen und
Waitzen an den Buchhaͤndler verſtochen,
ohne die produktife Kraft, einen Hut oder
ein Buch zuerſchaffen, in mir zuvermu-
A 3then.
then. Aber da wandelt’ mir vor dem
Jahr was an, — Krankheit wars nicht;
aber ’s glich doch einem plethoriſchen Zu-
fall. — Aderlaſſen wollt’ nicht helfen; ich
fing an, treflich in den erſten Wegen auf-
zuraͤumen, — ’s blieb wie’s war. End-
lich half mir ein zeitiger Schriftſteller auf
die Spur, — habs Buch nicht bey der
Hand, ſonſt koͤnnt ich ihn wohl nennen, —
der gab dem Kind’ den rechten Namen,
hieß es Drang der Seele außer ſich zu wir-
ken, und da ſagte mir’s innre Gefuͤhl ganz
duͤrr und delitlich, daß dieſer Drang nicht
auf Hutmacher, ſondern auf Buchmacher-
werk hinaus lief. Daher auch der Bre-
lockenhauſirer gar recht ſagt: das Buͤcher-
ſch eiben iſt Drang und Beduͤrfniß der Na-
tur, wie das Kindermachen.
Da habt ihr mein Kreditiv. Wollt
ihr das nicht anerkennen, ſo geht hin und
haltet die Fluͤgel der Windmuͤhle oder’s
Waſſerrad auf mit eurer Hand, wenn
der Windſtrohm, oder die herabſtuͤrzende
Lache ſie dreht; oder werft Anker auf ho-
hem Meere, wenn der Sturm euer Schiff-
lein fortreißt; oder thut was Tycho Brahe
that,
that, als er beym Gaſtmahl des geſtren-
gen Junkers von Roſenberg zur Tafel ſaß,
und ſeht wie’s euch bekommt. Beſſer iſts,
der Natur den Lauf laſſen, als Drang
fuͤhlen und mit Muͤckenkraft widerſtehen;
oder aus uͤbertriebener Beſcheidenheit ihn
erſticken wollen.
Darfſt nicht waͤhnen Leſer, als ob dieſer
Drang Schriftſtellerey zu treiben, iugend-
licher Pruritus ſey; oder als ob ich dir
Ausſchußkram vertroͤdeln wollt’ wie die
Zweygroſchen Bude. Hab’ meine Wort’
und Reden all’ ſaͤuberlich geſondert, und
will dir ſie fleißig zuzaͤhlen, wie meine
Mutter ſelger mit den Erbſen thaͤt, die ſie
in die Suppen kocht’, iegliche reif, mehl-
haft und ſonderlich, auch keine zu viel und
keine zu wenig.
Hab’ auch die Materialien zu meinem
Buch nicht aus der Luft gegriffen, wie iezt
mehr thun, die Phantaſeykram aufs Pa-
pier ausſchuͤtten, und gleichſam Schatten-
ſpiel an der Wand repraͤſentiren, das ei-
gentlich nichts als Blendwerk iſt; ob ſie
gleich dazu orgeln, daß man’s auf Gaſſen
A 4und
und Straſen hoͤrt. Geb dir alles ſo wie-
der, wie ichs auf meinen Reiſen mit eignen
Augen geſehen und erfahren, alles die reine
gediegene Wahrheit, wie’s einem biedern
Wandrer eignet und gebuͤhret.
Das pro primo, nun hoͤr auch welche
Geſtalt es eigentlich mit meinen Reiſen hat
pro ſecundo.
Nachdem viele von allerley Geſchlecht
und Nation vor mir in die weite Welt hin-
aus gewandert ſind, nur damit ſie was zu
ſchwatzen wuͤßten wenn ſie wieder in ihre
Heimath kaͤmen, der Eine dies, der Andre
das; manche auch auf gar ſonderlich Aben-
theuer ausgegangen ſind, davon viel zu re-
den waͤr, wenn’s hier nicht außerm Wurf
laͤg: ſo war auch von Jugend auf mein
Sinn aufs Reiſen geſtellt; wußt’ aber lan-
ge nicht, worauf ich eigentlich Spekulation
machen ſollt. Denn einem Andern nach-
zutraben wie meine Schaafe dem Lockhaͤm-
mel; oder wie die empfindſamen Handwer-
ker dem Meiſter Yorick nachgezogen ſind;
oder wie ein Kaͤuzlein in verſtoͤrten waͤl-
ſchen Staͤdten zu niſten, und alt Schniz-
werk
werk und lebloſe Bildſaͤulen der Roͤmer zu
begaffen; oder um ein fein Konterfey von
Titian, Holbein und andern Meiſtern zu
betrachten, uͤber See zu ſchiffen und ganze
Reiche zu durchkreuzen, wie nur erſt neuer-
dings Skweir Twiß aus Britannia gethan
hat; oder mit Bankes und Dr. Solander
durch den weiten Ocean rund um die Welt
zu ſegeln; oder mit Hauptmann Niebuhr
in der Wuͤſte Arabia von den verpeſteten
Luͤftlein Sirocco, von Jakob Lind der Sa-
miel genannt, mich anwehen zu laſſen, um
fuͤr die Gelehrten was aufzuſpuͤren, davon
ſie hernach aus ihren Polſterſtuͤhlen heraus
maͤchtig viel Dicenterey zu machen wiſſen:
alles das taugte nicht in meinen Kram.
Wollt auf mein’ eigen Manier reiſen, als
noch keiner vor mir gereiſet war, nicht die
breite Heerſtraße ziehen, wo einem all’
Augenblick große Hannſen begegnen, die
vor ſich herblaſen laſſen, daß man aus-
weichen ſoll, ſondern mir eignen Weg bah-
nen, ſo beyher neben dem Fahrweg; nicht
eben uͤber Zaͤun’ und Hecken, auch nicht
uͤber Thuͤrm’ und Gebaͤud’: wohl aber
mitunter uͤber andrer Leut’ Aecker und Wie-
ſen, auch wohl uͤber ein Krautland, wie’s
A 5mehr
mehr thun. Dacht’ in meinem Sinn:
wirſt nicht viel zertreten, und wenn auch
hie und da ein Halmen zerknickt, oder
ein Maul voll Graß verlatſcht wird, iſt
fuͤr den Eigenthuͤmer kein großer Scha-
de; und kommen ſie hinter dich her mit
Knitteln und Stangen, ſo gilt’s Ferſen-
geld.
Da begab ſichs nun, daß vor wenig
Jahren wieder anfing aufzuleben eine der
verlornen Kuͤnſte, — war die Phyſiogno-
mika, — davon die alten Philoſophi viel
zu ſagen wußten; iſt auch wohl zu unſrer
Vaͤter Zeiten manch dick Buch davon ge-
ſchrieben worden, das in ruſigen Buͤcher-
ſchraͤnken, wie alte Ruͤſtung im Zeughaus
modert. Denn da ſind etliche gekommen,
die dieſe herrliche Wiſſenſchaft fuͤr eine
grund- und bodenloſe Kunſt und eitel Fatzen
ausgeſchrieen, ihren Soliditaͤtenkram dafuͤr
ausgelegt, und fuͤr alleinig aufrichtigen
Theriak der Seelen verkauft haben; ließen
ſich beduͤnken, Wortglauberey der alten
Sprachen ſey mehr werth als Menſchen-
kunde; oder’s zieme dem Forſchungsgeiſte
bas, die Eigenſchaft der Kraͤuter zu pruͤ-
fen,
ſen, Schmetterlinge und Fliegen zu ha-
ſchen, das Gewuͤrm zu zaͤhlen, Schnecken-
haͤuſer zu ſammlen, und fuͤr die Geſtalten
der Bruchſtein’ Namen zu erſinnen, als
Menſchenantlitz zu ſtudiren, und aus die-
ſer aͤuſern Schaale den innwendigen Kern
herauszuknacken. Dadurch es denn ge-
ſchehen, daß dieſe edle Wiſſenſchaft manch
Saͤkulum hindurch gar verfinſtert und be-
graben gelegen, bis ſie endlich in unſern
Tagen, durch den großen Kraißlauf aller
Ding’, wieder ans Licht bracht und zu ih-
rem vorigen Glanze gediehen iſt.
Das war mir nun eine gar herrliche
Fundgrube, aus der ich zu meinem Behuf
manchen Schatz, der vorhin meinen Au-
gen verborgen war, bereits zu Tage ge-
foͤrdert; find’ auch, daß das phyſiognomi-
ſche Floͤz ſo ergiebig iſt, daß es bey Men-
ſchengedenken nicht abſetzen kann, und mei-
nem Geiſte Nahrung gewaͤhren wird mein
Lebelang. Thaͤt mich hierauf bald mit ei-
nigen Freunden zuſammen, mit denen ich
phyſiognomiſche Verhandlung anhub, ſucht’
und forſchte mit ihnen nach der Wahrheit,
brachte meine Obſervationen fleißig zn Pa-
pier,
pier, wie davon mein Tagebuch das meh-
rere beſagt.
Als ich nun eine ziemliche Zeit innerhalb
meiner vier Pfaͤhl’ alles durchphyſiognomi-
ſiret, all’ meine Freund’ und Bekannten
und wer mir ſonſt noch vors Korn kam,
Clerus und Layen, benebſt meinen Nach-
barn und Unterthanen, ſo viel ſich der Lez-
tern auf Erfordern, ohne Gerichtszwang
freywillig geſtellt, ſilhouettiret, und mit-
telſt des Storchſchnabels deren Profil’ aufs
gewiſſenhafteſte verjuͤngt, daruͤber reiflich
meditiret und aus meinem innren Gefuͤhl
heraus ſtattlich philoſophiret hatt’: auch
nun mich beduͤnken ließ, in dieſer Scienz
ſattelveſt zu ſeyn: kam mir Kundſchaft zu
von etlichen meiner Freund’ und guten
Goͤnner, muͤndlich und durch Briefe, daß
das phyſiognomiſche Lichtlein nicht mehr
unterm Scheffel verborgen ſey, ſondern im
roͤmiſchen Reich deutſcher Nation, uͤberall
als ein’ helle Fackel glaͤnze; auch bereits
die neue Scienz bey maͤnniglich Eingang
gefunden hab’ und dergeſtalt bewurzelt
ſey, daß ihr ferneres Aufkommen und
Wachs-
Wachsthum nicht mehr zu bezweifeln
ſtehe.
Das vernahm ich mit Freuden, dacht’
alsbald bey mir ſelbſt: du ſollſt der erſte
ſeyn, der auf Phyſiognomik auswandert,
willſt zu den Bruͤdern wallfahrten, deinen
phyſiognomiſchen Glauben ſtaͤrken und ver-
gewiſſern. Mußt ſchon einen Ritt wagen,
das all mit Augen zu ſehn. Legt mich
deshalb auf phyſiognomiſche Kundſchaft,
ſpuͤhrt die Kunſtgenoſſen aus, die hie und
da zerſtreut ſind auf Gottes deutſchen Erd-
boden, wie die Glieder der unſichtbaren
Kirch’ unter allen vier Winden des Him-
mels. Bin eben von meiner erſten Reiſ’
in meine Heirnath zuruͤck, und zweifle
nicht, daß mir bald andre in hellen Hauf-
fen nachfahren werden. Kann’s keinem
wehren: ſteht der Weg einem ieden of-
fen. Mag meinethalber ieder ſein Ey
nun auch auf die Spitze ſtellen, wie die
Neider Chriſtophori Columbi, nachdem er
zuerſt in die neue Welt geſchifft war, und
andern die Bahn gebrochen hatte.
Weißt
Weißt nun grade ſo viel lieber Leſer,
als dir vor der Hand zu wiſſen Noth thut.
Will dich drum nicht laͤnger aufhalten,
mein phyſiognomiſch Abentheuer ſelbſt zu
beherzigen. Schriebs aus meinem Kloſet,
am Tage Sankt Modeſti, im Jahr als
man zaͤhlt von Einfuͤhrung des verbeſſerten
Kalenders 79.
Phyſiogno-
Phyſiognomiſch
Tagebuch
Hebt an mit dem zweyten und letzten
Wort des Verfaſſers an die Leſer.
’S iſt was naͤrriſches mit dem in Weg
treten, wenn einer geruhig ſeiner
Straßen ziehen will. Als ich im Begriff
war mein Buͤndlein Manuſtript in die
Druckerey zu bringen, lief mir einer von
den Ungeſtuͤmen nach, die immer ihre Naſen
in andrer Leute Toͤpfe ſtecken, und zuſehn
wollen was ſie gekocht haben, rief mich an,
und ließ nicht von mir ab, bis ich ihm zur
Rede ſtund, und Beſcheid gab von meinem
Thun und Vorhaben. War mein Gevat-
tersmann und guter Freund, Mag. Delgoͤtz
aus meinem Kirchſprengel, ein rechtlicher
Mann, fuͤr den ſich kein Kaͤfer darf blicken
laſſen, ohne geſpießt zu werden, auch Mit-
glied der deutſchen Geſellſchaft zu Bernburg.
Blaͤttert mein Buͤchlein durch vom Anfang
bis
bis zu Ende; konnts ihm aber bald an der
Phyſiognomie abmerken, daß er was in
petto hab’ damit er nicht raus wollt’.
Derohalben wackelt’ ich ſo lang an dem
Zahn, bis ich ihn aus der Wurzel hob.
Da ergab ſich nun ſo viel, daß Mag.
Oelgoͤtz an der phyſiognomiſchen Kunſt ſelbſt
nichts meiſtern wollt, die ſey, ſagt’ er, uͤber
ſeinen Horizont. Daran that er auch wohl,
haͤtt’ mir derſelb wahrlich! ins Auge gegrif-
fen, wenn er ſich daran gewagt haͤtt’; aber
an meinem Styl fand er viel zu muſtern,
meint’ der waͤr nicht juſt, waͤr nach der Wei-
ſe der Altfranken, muͤßt ihn erſt ein wenig
vermoderniſiren laſſen, eh’ ich mit meinem
Buͤchlein herausruͤckt’. Statt aller Wider-
legung langt ich ein Stuͤck der Frankfurter
gelehrten Zeitung aus der Taſchen hervor, die
ich zu gewiſſem Gebrauch immer bey mir zu
tragen pflege: Da leſ’ der Herr, ſprach ich,
die Herren da verſtehn ſich doch wohl auf
den deutſchen Styl ſo gut, als die Geſell-
ſchafter von Bernburg; iſt auch manch fein
Buͤchlein ganz neuerdings in dieſer ſchlicht
und rechten herzigen Mundart geſchrieben.
Der ſchnurrige Aſmus, ſonſt genarnit der
Wands-
Wandsbecker, hat, denk’ ich, zuerſt daran
geſprachmaſtert, — das dient dem Herrn
zur freundlichen Antwort, und damit ſein
Diener.
Gleichwohl krabbelt mir das Ding im
Kopf, als wenn ein Ohrwurm drein gekro-
chen waͤr. Mußt ſchon, dacht’ ich bey
mir, einen oder den andern Sachkundigen
druͤber zu Rathe ziehn: ’s iſt mit der Tono-
logie heut zu Tag’ ein ſeltſamer Kram, waͤr
all’ deine Muͤh und Arbeit verlohren, wenn
du aus einem falſchen Ton angeſtimmt haͤt-
teſt.
Nun wußt ich, daß Herr Chriſtian Hein-
rich Schmidt, treufleiſſiger Profeſſor in
Gieſſen das Comitiv hat, woher? kann ich
nicht ſagen, witzige Koͤpf’ und Schoͤndenker
zu creiren, wie ein Comes palatinus Dok-
toren und Notarien, — ſiehe davon ſeine
Controlen iezt lebender Dichter und ſchoͤnen
Geiſter, in den Leipziger Muſenalmanachs—.
Jch war alſo her und lief dieſe Liſten flugs
durch, fand manchen Freund und guten Ge-
ſellen darunter, dem ich auf meinen Reiſen
zugeſprochen, und den wohl mancher, nach
Bder
der Phyſiognomie zu iudiciren, ehender fuͤr
einen flachen Kopf als fuͤr’n Schoͤndenker
wuͤrd angeſprochen haben.
Macht’ alſo mein Buͤndlein zuſammen,
ſchickt’s einem aus’m Hauffen, ſollt’s ſich-
ten wie den Waitzen. Der hat mir Wirth-
ſchaft gemacht, daß’n Chriſtenmenſch ſeinen
Jammer dran ſieht. Macht’s wie iener
Junker, der dem Bauer den Haſen wollt’
aus dem Garten hetzen, und daruͤber Baͤum
und Hecken verwuͤſtet’, auch Kohl und Pflan-
zen niederritt. Was half’s! Mußt’s halt
laſſen wie’s war, und mich noch oben drein
der freundlichen Dienſte bedanken. Jſt nur
’n Gluͤck, daß mir Grund und Boden blie-
ben iſt, will damit ſo viel ſagen, daß Mei-
ſter Balhorn am weſentlichen nichts ſonder-
lich veraͤndert hat; ob es ſchon hie und da
ein wenig verſchoben und verbogen iſt, wel-
ches ich doch durch eingefuͤgte Randgloͤßlein
fleißig wieder zurecht’ gezimmert hab’. Sol-
ches habe dem geneigten Leſer nicht verhal-
ten moͤgen —. Folget nun das Tagebuch
ſelbſt.
Am
Am Tage Walpurgis.
Monolog, bey einem Spaziergange.
O des Maulwurfsgeſchlechts! das auf
meinem Wege da neben mir hin-
wandelt, Augen hat ohne Sehkraft, Naſen
ohne Riechkraft, Maͤuler ohne Schmeck-
kraft. — Da geht eine Menge Alltagsge-
ſichter vor mir voruͤber, die nichts denken,
nichts thun, als daß ſie einen Fuß um den
andern foͤrderſetzen, Athem ſchoͤpfen, in den
unermeßlichen blauen Himmel hinaus ſtau-
nen, und leben, athmen und ſich bewegen,
um nur die Dauungskraft dadurch zu befoͤr-
dern; oder als Karrenſchieber ihres mecha-
niſchen Berufs zu warten.
Wohl dem Menſchen, der einen ſpekula-
tifen Kopf auf ſeinen Schultern traͤgt! der
nicht fuͤr langer Weile ſchmachtet und gaͤh-
B 2net,
net, nicht um die Zeit zu toͤdten duſelt und
ſchlummert, oder Karten und Wuͤrfel zu
Surrogaten ſeiner Wirkungskraft braucht;
nie begehrt ſich ſelber zu entfliehen, und
mitten im Geraͤuſch der Unbehaͤglichen, oder
wenn er im einſamen Thale Luſtwandelt,
Nahrung vollauf fuͤr ſeinen Geiſt zu ſamm-
len weiß. Aber nicht rieſenmaͤſige Wuͤnſche
gebiehrt, Feenſchloͤſſer erbaut, Luftſchiffe
vom Stapel laufen laͤßt, Seifenblaſen von
ſeinem Strohhalm zum Zeitvertreibe aus
dem Fenſter herausſchleudert; oder gar aus
wildgaͤhrendem Geſchaͤftstrieb Engelſeher
und Geiſterbanner wird, wie Swedenborg
und Schroͤpfer waren. Sondern die Zeit,
ſo weit ſie ſein Eigenthum iſt, alſo gebraucht,
daß er derſelben nicht mißbraucht; nicht al-
lein nichts dummes beginnt, ſondern auch
was kluges thut, das der Welt nutzet und
frommet, wenigſtens ſo gedeutet werden
kann; wenn gleich das bonum publicum
im Grunde nicht eben das eigentliche Wurf-
ziel des Beginnens iſt: denn wo iſt der ge-
meine Nutzen Endzweck? — Vorſpiege-
lung, Larve iſt er, wie ehemals das ſoli
Deo gloria der Schriftſteller. Aber das
Maͤntelgen iſt doch ſittlicher und anſtaͤndi-
ger,
ger, als wenn einer in unverſchaͤmter
Nacktheit am hellen Mittag’ uͤber den
Markt laͤuft und ſich von den Leuten als
einen Wahnſinnigen anſchreyen laͤßt.
Jeder Menſch hat einen gewiſſen ange-
wieſenen Beruf, eine Pfruͤnde, ein Aemt-
gen oder ſo was. Spricht nun einer, daß
er ſich dieſem ganz widme, und weiter nichts
denkt noch vornimmt, der iſt ein traͤger
Stier, der ſein Joch ſchleppt, weil er muß,
und wenn er abgeſchirrt iſt nur freſſen und
wiederkaͤuen kann; macht den Geſchaͤftigen
und faulenzt im Grunde.
Ein Menſch der ſich ein wenig fuͤhlt, laͤßt
ſich nicht in das Fach einſperren, worein
ihn der Zufall geſtoßen hat, wie ein Vogel
im Kaͤfich, der weiter keine Wahl hat, als
von einem Staͤnglein aufs andre zu huͤp-
fen: ſondern ſtrebt den Radius ſeines Wir-
kungskraiſes zu verlaͤngern; treibt neben
dem Nahrungsgeſchaͤfte noch irgend ein Lieb-
lingsſtudium, fuͤr welches der launige Ster-
ne den poſſierlichen Namen des Stecken-
pferdes erfand; ſeine Juͤnger aber haben
das arme Thier ſo herumgetummelt, daß
es nun lahm und unbrauchbar iſt.
B 3So
So ein Lieblinsgewerbe naͤhrt das Leben
der Seele, wie aͤuſerlich Beruf und Amt
ſeinen Mann naͤhrt, ſtaͤrkt und ſpannt die
innern Kraͤfte, erwaͤrmt und ermuntert ſie;
gießt Wonuegefuͤhl ins Herz; iſt eine ſichre
Freyſtatt, wohin ſich, wenns von auſſen
truͤbe hergeht, die Seele fluͤchtet, bis der
Sturm voruͤber braußt.
Mag. Oelgoͤtz mein Gevatter, dem aͤu-
ſern Beruf nach Diener am Wort, laͤuft
unter dem Namen eines Naturforſchers ſei-
ner Lieblingsneigung nach, lauret den Muͤ-
cken und Heuſchrecken auf, kennt das Un-
geziffer ſo gut wie ſeine Beichtkinder; haſcht
Schmetterlinge, und wenn er in ſeine
Sammlung nach den gladbachiſchen Tabel-
len, ein Perlenhuͤhngen, Landkaͤrtgen oder
Spatzendreck einrangiren kann, freut er ſich
ſo herzlich druͤber, als der fleiſſige Ruſt
uͤber einen anhaltiſchen Schriftſteller, den
er einhaſcht. Vor dem Jahre beym Bran-
de verlohr der gute Mann ſeine ſaͤmtliche
fahrende Haabe, Hausgeraͤthe und Buͤ-
cher, kuͤmmerte ſich wenig ums Zeitliche: —
denn ſeine Jnſektenſammlung war gerettet.
Gleich ſeiu naͤchſter Confrater iſt Bie-
nenvater als einer im Lande. Dem ſtar-
ben
ben im Fruͤhiahr, eben wird es iaͤhrige Zeit
ſeyn, zwey Kinder auf einmal; aber ſeine
Bienenſtoͤcke hatte er gluͤcklich durchgewin-
tert, daß keiner drauf gieng. Jm Som-
mer ſchwaͤrmten ſie alle zweymal: dieſe
Fruchtbarkeit erwarb ihm einen Preiß von
der Bienengeſellſchaft, — Vergeſſen war
ſein Hauskreuz.
Aldermann Wilkes war Buchhaͤndler in
London wie Nicolai in Berlin. Beyder
Lieblingsneigung war Spekulation; iener
machte Jagd auf die politiſchen Haͤndel ſei-
nes Vaterlandes, dieſer auf die Litterari-
ſchen des Seinigen. Beyde wurden Schrift-
ſteller und wuchſen zu Haͤuptern maͤchtiger
Partheyen; laſſen ſich wechſelsweiſe im
Triumph zur Schau empor tragen und
auch mit faulen Eyern werfen; oder in ef-
ſigie aufhaͤngen und verbrennen, und hal-
ten ihr Maͤrtyrerthum fuͤr Gewinn, das
ihnen durch die Erploſion ihres Grundtrie-
bes zu Theile wird.
Wenn Klopſtocks und Wielands Geiſt
gerade nicht mehr umſpannt haͤtte, als was
ihre Beſtimmung im buͤrgerlichen Leben er-
forderte: ſo wuͤrde die Seelenpflege einer
kleinen Heerde in Thuͤringen auf des einen,
B 4und
und das irdiſche Wohl eines engbegraͤnzten
Reichsſtaͤdtleins in Schwaben auf des an-
dern Schultern ruhen, ſie haͤtten ihre Ta-
ge im Hinbruͤten verlebt, ohne von der
Schwungkraft des hohen Dichtergefuͤhls an
den Olymp hinaufgehoben zu werden, und
bey den Gaſtmahlen der Goͤtter Nectar und
Ambroſia zu koſten.
Moſes Mendelſohn auf der einen Hemi-
ſphaͤre, und Sir Hancok auf der andern un-
ſers Erdballs, empfiengen beyde Kaufmanns-
geiſt; iener aus der Erbſchaft ſeiner Vaͤter,
dieſer durch den Jnſtinkt zum Gewinn.
Beyde folgten ihrem natuͤrlichen Beruf, der
Erſte als Vorſteher einer Sammtfabrik, der
Andere als Schleichhaͤndler. Aber beyde lei-
tete einerley Lieblingsneigung auf ein Stu-
dium, das mit den Geſchaͤften ihres Berufs
nichts gemein hat: beyde widmeten ihre
Muſſe der Philoſophie mit gleichem Fort-
gange. Der Erſte forſchte nach der Theo-
rie ſolratiſcher Weisheit, und fand ſie; der
Andere haſchte nach der Praxis machiavelli-
ſtiſcher Kuͤnſte, und fand ſie auch. Beyde
haben in zwey Welttheilen durch dieſes Ne-
bengeſchaͤfte mehr Celebritaͤt erworben, als
ihnen ihr hauptſaͤchliches εϱγον iemals hof-
fen
fen ließ. Jener verdiente Praͤſident einer
Geſellſchaft der Wiſſenſchaften zu ſeyn, die-
ſer wurde Praͤſident des Congreſſes der ver-
einigten Provinzen in Amerika.
Von allen Seiten draͤngen ſich Beyſpiele
herzu, die mich in der Meynung beſtaͤrken,
daß die aͤuſere Beſtimmung des Menſchen
nichts mehr als Tageloͤhnerwerk ſey, und
daß der, welcher keinen Sinn, keine Praͤ-
dilection fuͤr irgend ein Nebenſtudium in ſich
fuͤhlt, wedurch ſein Geiſt geſtaͤrket, ſeine
Sehkraft geſchaͤrft, ſein Gefuͤhl verfeinert,
und ſeine Kenntniß erweitert wird, in der
Kette der Geſchoͤpfe zunaͤchſt ans Auſterge-
ſchlecht, oder unter den vierfuͤſſigen Thie-
ren ans Maulwurf- oder hoͤchſtens aus
Stiergeſchlecht graͤnzt, wie alle die auf mei-
nem Wege heute vor mir voruͤbergegangen
und die Muſterung paſſiret ſind.
Leider! merk ichs wohl, daß ich ſelbſt
einen guten Theil meines Lebens getagloͤh-
nert habe; ich und mein Stier haben beyde
ums Futter gearbeitet: aber der fuͤhlte das
unbehaͤgliche Leere nicht, ſo wenig als ſein
Treiber, das mich umgab, wenn unſer Ta-
gewerk vollendet war. Seit vielen Jahren
war der Anbau meines Landguthes das Ge-
B 5werbe,
werbe, zu welchem der Nachlaß meiner
Voreltern mir Beruf gab, den hab ich nun
wohl treulich erfuͤllt; aber er war mir nicht
gnug meine Tageszeit auszufuͤllen, und den
Beduͤrfniſſen meiner Seele Gnuͤge zu leiſten.
Wie oft war die Langeweile meine Geſell-
ſchafterinn, wenn ich vom Traubenhuͤgel
hinuͤber ins Waitzenfeld ſchlich, um unter
den belaubten Aeſten eines wilden Birn-
baums meine Schnitter zu beobachten!
Fand ich gleich zuweilen eine ſchlaue Moa-
bitinn in ſeinem Schatten, die auf meinen
Acker Aehren leſen gieng! ſo amuͤſirt’ ich
mich mit ihr wohl eine Stunde; es war
aber nur Palliatif ohne Heilkraft, und ich
erkannte immer gewiſſer, daß der Menſch
weder gemacht iſt, bloß zu vegetiren, wie die
Pflanze, noch zum Freſſen und verkaͤuen wie
die Heuſchrecke, noch fuͤr den Gattungstrieb
allein zu leben, wie der Seidenſchmetterling,
wenn er aus der Puppe hervorſchlupft.
Wohl mir! daß ich ſie endlich gefunden
habe die eigentliche ſpecifike Nahrung mei-
nes Geiſtes, die Silberquelle in der duͤrren
Syriſchen Sandwuͤſte meines Berufs, der
mich irrenden Wanderer oft ermuͤdet, nie
erquicket oder die Schnellkraft meiner Seele
geſtaͤrket
geſtaͤrket hat. Siehe da! wie ſind meine
Augen ſo wacker worden, als ich meinen
Stab in den phyſiognomiſchen Honigſeim
ſtieß, und ihn mit meinen Lippen koſtete!
Das iſt Speiſe fuͤr meinen Magen, ſprach
ich, der das liebe trockne Brod der gewoͤhn-
lichen Alltagskoſt nicht mehr verdauen will!
Nun bin ich ſtark und ruͤſtig, fuͤhle Manns-
kraft und Thaͤtigkeit in mir, ſeitdem ich
nicht mehr mißmuͤthig herumlungere.
Menſchenkunde liegt nun in meinem
Wirkungskraiſe; iſt ganz mein Element,
und dabey iſt mir ſo wohl, wie dem Fiſch
im Waſſer; wie meinem Gevatter Mag.
Oelgoͤtz beym Anblick einer ſeltenen Raupe;
wie deſſen Confrater bey ſeiner Bienenpfle-
ge; dem Aldermann Wilkes bey der Minori-
ty, dem Geſpan ſeines ehemaligen Gewerbes
beym Schoͤppenſtuhl des Buchrichteramts;
dem Barden Klopſtock, weiland bey der
Meſſiade, iezt am Ruder ſeiner gelehrten
Republik; dem Vater Wieland, beym Zeu-
gungsactu aller Ausgeburten ſeines fecon-
den Genies; dem weiſen Mendelſohn bey ie-
desmaliger Ueberſicht ſeines Phaͤdons; dem
Praͤſident Hancock an der Spitze des Con-
greſſes, und dem Seher Lavater ſelbſt, wenn
er
er mit Adlerblick, die geheimſten Falten
des menſchlichen Herzens in den Aeuſerlich-
keiten der Geſichtszuͤge ſpaͤhet.
Meteor begehr ich inzwiſchen nicht zu
ſeyn, wie mancher der Vorgenannten durch
ſein Nebenher worden iſt. Gemeiniglich
pflegt das Lieblingsſtudium an dem Studio
inclareſcendi ſich hinauf zu ſtaͤngeln, wie
das Epheu an dem hochgegipfelten Eichbau-
me, oder der virginiſche Jungfernwein an
einer alten Mauer. Es iſt mir gnug, daß
ich meinem Gedankenſpiel mit ſpekuliren,
vergleichen, forſchen, ordnen, ſondern, pruͤ-
fen, vom Morgen bis zum Abend nachhaͤn-
gen, mich mit mir ſelbſt unterhalten, in den
neuen phyſiognomiſchen Gefilden herum-
ſtreifen, und auf Entdeckungen ausgehen
kann, wenn mirs luͤſtet.
Zuſatz. War traun, ein’ herrliche
Rhapſodie oder Fragment, eh’s Meiſter
Schoͤnkopf verbalhornt hatt’.
Am
Am Tage Pancratii.
Dialog.
Hab ’n Jaͤger, lieb ihn als meinen Sohn,
iſt Holzgerecht und verſteht ſich aufs Weid-
werk, ’n praver Junge, hat ’n gerades, or-
dentliches, verſtaͤndiges, treues, geſetztes
Geſicht. Mit dem zog ich in aller Fruͤh’ zu
Holz’, war ’n heitrer Fruͤhlingsmorgen, recht
gemacht dazu, die Phantaſey anzufeuern.
Wie wir beyd’ an der Brahne des Waldes
ſo vor uns hinwandelten, ſchwebten mir all’
die Geſtalten vor, die ich Tages vorher,
bey meinem Gutsnachbar, Kapitaͤn Ram-
bold obſerviret hatte, und ſtieg allgemach
allerley Konterfey in meiner Jmagination
empor, wie die leichten Nebel unten aus
dem Thal’ an den Horizont heraufzogen,
und allerley Woͤlklein formten, daruͤber hatt’
ich ſo meine Betrachtung. Philipp ſpe-
kulirt’ auch auf ſeine Manier, uͤber die Fir-
ten des Wildes, die er im Thau und im
feuchten Erdreich eingedruckt fand. Fuhr
all’
all’ Augenblick mit ſeinen Bemerkungen den
meinigen ins Geſchirr, wollt mir zeigen,
wo ein iagdbarer Hirſch, ein Spieſſer, ein
Thier, Hirſchkalb, Fuchs und Dachs ge-
wechſelt hatten. Das war mir zur Zeit
nun eben nicht gemuͤthlich: Laß gut ſeyn
Philipp, ſprach ich, mit deinem Gewaͤſch,
machſt mich immer irr in meiner Medita-
tion, treib dein Werk fuͤr dich in der Still’,
und laß mich das mein’ auch ungeſtoͤhrt
treiben. Mit Verlaub, ſprach Philipp,
lieber Herr! daß ich ein Wort reden mag;
’s iſt da was unterm fuͤnften Knopfloch, das
druͤckt gewaltig und will gern’ raus. Nun
ſo red’ dann, war mein’ Antwort, und her-
nach ſchweig. Drauf ſpann ſich folgendes
Geſpraͤch zwiſchen mir und meinem Philipp
an; das ich um ſeiner Sonderlichkeit wil-
len zu Papier bringen und meinem Tage-
buch hab’ einverleiben wollen.
Philipp. Moͤcht in aller Welt wiſ-
ſen, lieber Herr, wie’s zugeht, daß Sie
Sich in eine Kunſt die Zeit her vertieft ha-
ben, die keiner tauben Nuß werth iſt.
Biſt ’n einfaͤltiger Tropf, guter Philipp,
laß dich mit Dingen unbeworren, die dir
zu hoch ſind.
Phil.
Phil. Weiß wohl was ich red’. Wenn’s
dem Menſchen an die Stirn geſchrieben waͤr,
was er im Schilde fuͤhrt, ſo wuͤßt ich einen,
ders beſſer verſtund ſeinen Mann zu iudici-
ren, als ihr geſtudirten Herrn miteinander.
Wer denn?
Phil. Der Zigeunerhauptmann, der
nach’m lezten Krieg Frankenland durchzog,
bey dem bin ich als Bub’ geſtanden, laͤnger
als drey Jahr. Der konnt’ gut Gluͤck pro-
phezeyhn, traf auf ’n Haar zu; konnt’ al-
les den Leuten aus den Augen leſen, wußt
was ſie practizirt hatten; konnt’ auf einen
Hausdieb mit den Fingern deuten, wenn er
im Kraiß ſtund, und das ohne viel Maul-
geſperr, braucht nicht erſt viel Raͤſonnirens
und Meditirens dabey.
Nun da ſiehſt du ia, daß die Kunſt
Menſchengeſicht zu deuten mehr als eine
taube Nuß iſt.
Phil. Ha! was wollt’s! War eitel
Hokus Pokus.
Wie?
Phil. Er kundſchaftet’ erſt die Leut
aus, braucht’ mich oft zum Spion, darnach
hatt’ er gut prophezeyhn, da mußt’s halt
wohl zutreffen.
Mag
Mag ein durchtriebner Schalk geweſen
ſeyn, dein Zigeunerhauptmann, der die
Leut’ betrog?
Phil. Ja Herr, ſo mein’ ichs auch!
der betrog ander’ Leut, und ihr Herrn betruͤgt
euch ſelbſt, kundſchaftet erſt euren Mann
aus, darnach ſezt ihr euch hin vor ſein Kon-
terfey, und vermeint alles das ihm an der
Naſen anzuſehn, was hinter ihm iſt.
Thuſt maͤchtige Kreuzhieb’ in die Luft,
Philipp, und trifſt nicht ’s rechte Fleck.
Wenn ſich der Phyſiognomiſt hinſezt, und
das Jnnre des Menſchen, des Sinn und
Geiſt er zuvor erforſcht hat, mit den aus-
wendigen Lineamenten vergleicht, und bey-
de Stuͤck’ einander aͤhnlich findet: ſo ſchreibt
er ſich dieſe Aehnlichkeit hinter’s Ohr, und
wenn ihm hernach ein wildfremder Menſch
vorkommt, mit eben der Auſerlichkeit, ſo
iudicirt er den flugs von auſſen hinein, wie
er ienen von innen heraus iudicirt hat. Das
heißt phyſiognomiſch Studium, wenn’s ei-
ner recht macht ſo trift das zu, wie’s Re-
chentaͤflein.
Phil. Da ligts eben Herr! Mach’s ei-
ner recht wenn’s keiner kann! Mit dem von
auſſen hinein und von innen heraus iſts gar
ungewiß
ungewiß Ding, da giebts hundert Fehl-
ſchuͤß’ gegen einen Treffer.
Biſt ’n unglaubiger Thomas, glaubſt
nicht was du nicht mit Haͤnden greifen
kannſt.
Phil. Hab’s wohl erfahren, daß die
Phyſiognomik (ſprach Fuͤßoͤkonomik) ein’
arge betruͤgliche Kunſt iſt, ungewiſſer als ’s
Harn beſehn, richtet oben drein Schaden
und Ungluͤck an.
Gemach Philipp! Komm mir nicht zu
tief in Text, daß wir Freund’ bleiben.
Phil. Ja Herr! So lang’s geht,
mag’s ſeyn.
Nun, was ſchad’t dir denn?
Phil. Daß der arme Markus um ſei-
ner Fratze willen aus’m Dienſt und gar
aus’m Dorf ſoll mit Weib und Kind, das
frißt mir’s Herz. Muß wohl ein Strauch-
dieb werden, wenn er keiner iſt. Als er ge-
ſtern am Holz hintrieb mit der Heerde, fragt
ich: wie geht’s Markus? Wie ſoll’s gehn,
ſprach er, toll gnug, daß Gott erbarm!
Weint’ der Kerl ſeine bittern Thraͤnen, daß
es ’n Stein haͤtt erbarmen moͤgen, und
mehr redt’ er kein Wort.
CSchlag
Schlag ein, ſprach ich, wandt mich und
bot meinem Philipp die Hand, biſt mein
Mann: haſt ’n weiches menſchliches Herz,
hab dich drum lieber. Aber der Markus
wird dir dein Mitleid ſchlecht lohnen, iſt
ein verwogner grundboͤſer Kerl.
Phil. ’S kann ihn doch niemand ei-
nes Bubenſtuͤcks zeyhen.
Das nicht; aber betracht nur das Ge-
ſicht, das der Kerl hat.
Phil. Je nun, hat ’n dick Wurſtmaul
einen haͤmiſchen Blick und ſtraubig Haar wie
Schweinsborſten. Daran hat er nicht Schuld.
Jch auch nicht. Doch das all’ ſollt’ mich
nicht irren; aber merk auf was ich dir iezt
ſag. Als ich vergangnen Winter alle meine
Leut’ ſilhouettirt’, nahm ich auch den Mar-
kus vor, hatt’ dabey kein’ argen Gedanken
wider ihn, veriuͤngt’ drauf ſeinen Kopf, wie
die andern Schattenkoͤpf’ und nagelt’ ihn in
mein Kloſet, dacht nicht mehr daran, bis
einer meiner phyſiognomiſchen Freund kam,
und mit ſeinem Glaß die Schattenbildlein
durchlorgnirt’. Der macht’ mich aufmerk-
ſam, ſprach: was macht Ruͤdgerodt da, in
der Geſellſchaft ehrlicher Leut? — Das iſt
Markus mein Schaͤfer erwiederte ich, und
nicht
nicht Ruͤdgerodt. — Mußt wiſſen, daß der-
ſelb ein Scheuſal und Auswurf menſchlicher
Natur war, ſo ungefehr wie Pape Doͤne,
den du aus dem Huͤbner kennſt. Drauf ver-
glich ich den Markusſchatten mit dem Ruͤd-
gerodt’ſchen aus den Fragmenten, fand daß
beyde ſich glichen wie ’n Ey dem andern.
Nun ſag. was ſoll mir der Kerl mit der
Schandphyſiognomie, vor den ich zuruͤck
ſchauder’ wenn er mir unter die Augen kommt?
Phil. Aber ſteht das auch im Buch,
wenn einer einem Schelmen gleich ſieht,
daß er ſtracks einer iſt?
Ob ers iſt? — Nein. Kan ihm zur Schel-
merey an Gelegenheit gebrechen. Daß er
aber einen maͤchtigen Hang hat einer zu wer-
den, wenn er noch keiner iſt, das iſt unbe-
zweifelt; ſonſt ſtuͤnd’s ſchlecht um die Phy-
ſiognomik, wenn man nicht drauf fußen koͤnnt’.
Phil. Darum laß ich mich unbekuͤm-
mert, weiß nur ſo viel, daß Markus ein
Schalk iſt, aber kein Boͤſewicht.
Ein Schalk? — Bravo Philipp! das
freut mich, haſt phyſiognomiſchen Sinn;
aber nur fuͤr’s Gute, wie der herzaute Va-
ter aller Phyſiognomen in der Schweiz.
Schalkheit iſt des Markus beßre Auſſenſeite,
C 2ſo
ſo wie ſeines Kompans. Denn hoͤr mir was
der Lavater, der doch alle Lineamenten aufs
Haar kennt, aus’m Schattenbild des Ruͤdge-
rodts ſah: vermeint’ er hab das groͤßte ſchoͤ-
pferiſch’ Urgenie vor Augen. Das war nun
wohl maͤchtig weithin neben dem Ziel; aber
dabey merkt er doch ab, daß dieſelbe Phy-
ſiognomie auf drollig, boshaft wizreich We-
ſen deute, das iſt das naͤmliche, was du
Schalkheit nennſt. Aber iezt hab acht was
ich dir ſag’. Der Teufelsſinn des Unmen-
ſchen ward offenbar, da verglich der Phy-
ſiognom abermal Thatſach’ und Geſichtszuͤg,
ſand bald alles lichthell im Geſicht ausge-
druckt, was er erſt uͤberſehen oder zu milt
abgeurthelt hatt’. Nun ſiehſt du was fuͤr
eine Bewandtniß die Sach mit dem Mar-
kus hat, du kannſt den Kerl nicht ausmeſ-
ſen, aber ich kan’s.
Phil. Begreiff’s wohl, wie die Sach
ſteht, das iſt wieder das von innen heraus
und von auſſen hinein. Aus des Ruͤdgerodts
Teufelsſinn haben die Herrn, die’s verſtehn
wollen, ſein Geſicht gedeutet: das war von
innen heraus, und des Markus Geſicht, weil’s
ienem gleichen ſoll, deuten ſie auf Teufels-
ſinn: das iſt von auſſen einwaͤrts. Aber da
ſteckts
ſteckts eben Herr, das trift wahrlich! nicht
zu, Wahn, Jrrſal iſts, und nichts mehr.
Nur Gedult! Wirſt’s wohl noch inne
werden, daß alles gar genau zutrift, wird
der Markus dem haͤnfenen Halsband nicht
entlauffen.
So dauert das Geſpraͤch noch eine Weil’
fort, fand daß mein Philipp nicht zu bekeh-
ren waͤr. Haͤtt’ gleichwohl gewuͤnſcht, daß
er phyſiognomiſch Wahrheitsgefuͤhl empfin-
den moͤcht, weil ich phyſiognomiſchen Sinn
an ihm bemerkt hatt’. Kam mir in Kopf,
die Sach auf ein’ andre Weiß’ mit ihm an-
zufangen. Traf ſich von ungefehr, daß
ein Ochs oder Rind war uͤbern Weg geſchrit-
ten, davon die Spur deutlich zu ſehen war.
Sprach ich: ſchau Philipp, da hat ein
ſtattlicher Hirſch geſtanden, ſprech ihn fuͤr
einen ſechzehner an. Philipp gaft mir ſpott-
laͤchelnd ins Geſicht, meint’s waͤr ein Stuͤck
Stallwilpert aus meinem Hof geweſen,
kaͤuet’ mir drauf ſeine ganze Jchniognomik
vor, wie’s der Jaͤger Art iſt, die ſich auf ih-
re Jaͤgerkuͤnſt’ viel wiſſen. Vermaß ſich die
Firt’ iedes Gethiers nach ſeiner Art und Ge-
ſchlecht nicht nur zu iudiciren, ſondern auch,
ob ein Thier Junge trag, wie viel Enden
C 3der
der Hirſch aufgeſezt hab’, item, ob er ſich
im Ruheſtand’ an einem Ort geaͤſet, oder
in der Bewegung einer Leidenſchaft geweſen
ſey; als, daß er aus ſeinem Lager ſey auf-
geſchreckt und fluͤchtig worden: denn da
pfleg er ſchaͤrfer einzugreiffen. Da war’s
eben, wo ich ihn haben wollt’.
Giebſt der Phyſiognomik keinen Glau-
ben, ſprach ich, und biſt Phyſiognomiſt
mehr als irgend einer.
Phil. Das ich nicht wuͤßt, Herr.
Nun ſo merk auf was ich dir ſag. Un-
ſer Thun iſt im Grund’ einerley, und iſt
weiter dabey kein Unterſchied, als daß ich
aufs Haupt ſpekulit’, und du auf die Fuͤß.
Was dir die Abdruͤck der Laͤuff’, Tatzen,
Klauen, Pfoten des Gethiers im weichen
Erdreich, oder zur Winterszeit im friſchen
Schnee ſind, das ſind mir Umriß’, Schat-
tenriß’, Abguͤß’ und Konterfey von Menſchen-
antlitz. So bald du einer Firt’ anſichtig
wirſt, die rein ausgedruckt iſt, kennſt du
das Thier, das ſie gezeichnet hat, kannſt
der Spur nacheilen und es ſelbſt aufſpuͤren,
ob ſichs gleich in einem Dickig verborgen hat.
Gleicherweiſe ſieht der Phyſiognom aus der
Firt’, die das menſchlich’ Angeſicht in Gyps
oder
oder durch’n Schatten auf der Wand hinter-
laͤßt; oder auf welche Manier es ſeyn mag,
den innwendigen Menſchen, erforſcht daraus
ſeinen Gang und Weſen, folgt ihm in die
verborgnen Schlupfwinkel ſeines Herzens,
alſo, daß er ſich vor ihm nicht bergen mag.
Phil. Wahrlich Herr! das paßt ſich
ſo herrlich zuſammen, moͤcht’ ſagen, wie
das Schloß auf die Pfann’. Kann nichts
darwider aufbringen; nur will mirs noch
nicht recht ein, um des Markus willen.
Lieber Philipp, laß den Markus! und
geſteh mirs frey, biſt iezt in deiner lezten
Fluchtroͤhre, kannſt nicht weiter; alſo ergieb
dich, und hoͤr: noch eins! Wenn in der
mannigfaltigen Abartung der Thierfuͤß’ ſo
viel Gewißheit liegt, daß der verſtaͤndige
Weidmann ſich nicht irrt, wenn er aus der
Schrittſpur das Thier iudicirt, da die Ge-
thier’ nur Beywerk der Schoͤpfung ſind; wie
ſollt im Menſchen Angeſicht, das Meiſter-
werk iſt, nicht eben die Gewißheit ſeyn, daß
man den Menſchen daraus iudiciren koͤnnt?
Laß nur den Phyſiognomen ſo lang obſervi-
ren, als der Weidmann obſervirt hat, ſo
wirſt du Wunder ſehn. Nimrod der ge-
waltige Jaͤger hatt’s wohl ſchwerlich in ſei-
C 4ner
ner Kunſt ſo weit gebracht als du, oder ei-
ner unſrer Foͤrſter.
Phil. Mag drum ſeyn; aber der
Markus! der Markus!
So hab ich meinen Philipp bezwungen,
und der edlen Phyſiognomik unterthan ge-
macht. Hat auch dieſer ganze Diſputat
mich ſelbſt nicht wenig im phyſiognomiſchen
Glauben beveſtiget.
Gloͤßlein. Der Zeyſelierer hat den
ganzen Dialog nicht unter Haͤnden gehabt,
hab ihn erſt nachher wieder aufgefunden;
fuͤrcht auch, er haͤtt mir meinen ſchlichten
Philipp ſo krauß gemacht, daß ich ihn
nimmer erkannt haͤtt’.
Am
Am Tage Sankt Lucian.
Korreſpondenz.
Hab’ dato vom Poſtamt aus H** vier
merkwuͤrdige Brief’ erhalten und wieder be-
antwortet, wie folgt;
Der Erſte.
Vom Beamten Spörtler aus Geroldsheim
in Frankenland.
Es hat ein Gaudieb, Namens Dietrich Flap-
pert, insgemein der ſchlaue Diez genannt,
Mittel gefunden, vor laͤnger als einem Jah-
re aus hieſiger Gerichtshaft zu entweichen,
und ob er gleich mit den gewoͤhnlichen Steck-
briefen iſt verfolget worden, dennoch nicht
wieder ausfuͤndig gemacht werden koͤnnen.
Wenn nun dem Publiko, inſonderheit hieſi-
gen Amtsgerichten daran gelegen, daß der
fernerweiten Bosheit dieſes Landfahrers nicht
nur nach Moͤglichkeit geſteuret; ſondern der-
ſelbe ſeiner veruͤbten Frevelthaten halber zu
gebuͤhrender Strafe gebracht werde; hieſi-
C 5gen
gen Orts aber unter der Hand verlauten
will, daß in ihrem Gerichtsbezirk ein ge-
wiſſer Fremdling ſich haͤuslich niedergelaſſen,
der ſich fuͤr einen Dorfbarbier und Roßarzt
ausgiebt, und oberwaͤhntem, aus hieſiger
Gerichtshaft entkommenen Jnquiſiten, an
Statur, Alter und allen in abſchriftlich an-
gebogenem Steckbrief angemerkten kenntli-
chen Geſichtszuͤgen gleichen ſoll, woraus
denn die Vermuthung erwaͤchſt, daß beſag-
ter Dorfbarbier und dickerwaͤhnter Flappert
eine und die naͤmliche Perſon ſey: als wer-
den Ew. von Amtswegen hierdurch requiri-
ret, fuͤr die Perſon aber Dienſtfreundlich
erſucht, von dem, fuͤr einen Dorfbarbier
und Roßarzt Dero Orts ſich gerierenden
Eingeſeſſenen, gebetene Nachricht einziehen;
auch ſolchen, nach Befinden der Umſtaͤnde,
gefaͤnglich niederwerfen und hieſigem Amt
von dem, was ſich in der Sache ergeben
moͤchte, zu ſeiner Zeit beglaubte Notiz er-
theilen zu laſſen. Welche Gefaͤlligkeit in
aͤhnlichen Faͤllen, nebſt Erſtattung aller Ge-
richtsſpeſen und Unkoſten wir unſres Orts
zu erwiedern, ſo willig als ſchuldig ſind,
u. ſ. w.
Der
Der Steckbrief iſt weggelaſſen, weil er
in der ſogenannten ſchwarzen Zeitung auch
andern oͤffentlichen Blaͤttern bereits im
Druck erſchienen iſt.
Anſchluß. Weg mit den gerichtlichen
Formalitaͤten, die ſo ſteif, ſo unbehuͤlflich
ſind wie die Amtsgeſichter! Beyde ſind all-
gemein gehaßt, und gleichwohl muß man
ſich, um’s lieben Brodes willen, doch drein
falten lernen. Eines Freundes Brief aus
Jhrer Gegend ſagt mir, daß Sie und
ich einerley Liebſchaft haben, das herrliche
geiſterquickende Studium der Phyſiognomik.
Jch fuͤhle ſo warmen Eifer fuͤr die gute Sa-
che dieſer wieder auflebenden nuͤtzlichen,
kernhaften und ergoͤtzenden Wiſſenſchaft,
daß ich alle die mit Bruderliebe umfaſſe,
die ſich derſelben widmen. Hat Jhr Herz
gleiche Enpfaͤnglichkeit der Liebe fuͤr Kunſt-
genoſſen, ſo ſehe ich nicht ab, was uns hin-
dern ſollte, in der engſten freundſchaftlichen
Verbindung unſre phyſiognomiſchen Kennt-
niſſe, durch wechſelſeitige Mittheilung der-
ſelben zu vervollkommen.
Jch
Jch rechne ſo gewiß auf die Erfuͤllung
dieſes Wunſches, daß ich ohne Umſchweife
Jhnen um den erſten Schritt zuvor kom-
men, und Beyſpiel, Verſuch, Probe, oder
wie Sie ſonſt es nennen wollen, von der
Betreibung dieſer gemeinſchaftlichen Arbeit
mittheilen will.
Hier iſt ein ſprechender Schattenriß des
Flapperts, der Jhnen mehr ſagen wird als
der Steckbrief, dieſen leztern nebſt der Re-
quiſition, ſchicken Sie an Jhren Gerichts-
halter, und laſſen Sie ihn damit gerichtlich
ſchalten und walten nach ſeinem Gutbefin-
den. Alles das iſt doch vergebne Arbeit,
die nichts entziffern wird. Wir wollen un-
terdeſſen die Sache weit ſicherer und beſſer
extra iudicialiter betreiben. Laſſen Sie
den verdaͤchtigen Dorfbarbier ſilhonettiren;
aber Sie muͤſſen reines unverwendetes Pro-
fil haben, alsdenn vergleichen Sie. Nach
dem Reſultat Jhrer Beobachtungen, laſſen
Sie den Kerl dann ohne Umſtaͤnde veſt neh-
men, oder in Friede ziehen. Um die Mit-
theilung des Schattenriſſes aber bitte ich in
alle Faͤlle, wenn es Jhnen beliebt uͤber die-
ſe phyſiognomiſche Angelegenheit Ruͤckſpra-
che mit mir zu nehmen.
Seit
Seit zwey Jahren ſind alle Jnquiſiten
beyderley Geſchlechts, in meinem Gewahr-
ſam genau abgeſchattet worden, anfangs
in der Jdee, nach ſolchen die Phyſiognomie
des Laſters zu ſtudiren, um einen Nachtrag
zum Lavateriſchen Coder einſt daraus zu we-
ben, wo dieſe Materie nie genau eroͤrtert wer-
den duͤrfte. Gleichwohl duͤnkt michs ungleich
wichtiger, den Boͤswicht, den Raͤuber, Ehe-
brecher oder Kelchvergifter, auf den erſten
Anblick zu erkennen und mit Gewißheit das
hic niger eſt, uͤber ihn ausſprechen zu koͤn-
nen; als eine poetiſirende, Himmelan-
ſchwebende aͤtheriſche Seele zu analyſiren,
die in ihre idealiſche Jnnigkeit verſchloſſen,
fuͤr die Socialitaͤt eine Null iſt; ohne Stoß-
kraft zwar, aber auch ohne Wolle.
Das Gute und Nuͤtzliche einer Sache
veroffenbart ſich indeſſen immer auf mehr
als eine Art. Sie ſehen, daß ich mit dem
Abſchatten meiner Verhafteten ſchon weiter
reiche, als ich Anfangs gezielt hatte. Es
kommt nur darauf an, daß bey meinen Kol-
legen, Richtern und Amtleuten, phyſiogno-
miſcher Sinn erwacht; ſo werden wir nicht
nur der Steckbriefe entrathen, und die Aus-
reiſſer durch ihren eignen Schatten verfol-
gen;
gen; oder ſie nach den Vorſchlaͤgen des
ſinnreichen Verfaſſers des phyſiognomiſchen
Cabinets, durch eine bloße Buchſtabenfor-
mel einholen und in ihre Kuſtodie gleichſam
zuruͤckzaubern koͤnnen: ſondern dem ganzen
Criminalproceß wird eine wichtige Revolu-
tion bevor ſtehen. Ohne Corpus delicti,
ohne Jnquiſition, Zeugenverhoͤr und Folter
zu Erforſchung der Wahrheit noͤthig zu ha-
ben, wird ein ſimpler Kopfumriß des Jn-
culpaten, dem Richter Urim und Tummim
ſeyn, und in ſehr verwickelten Faͤllen wird
man, anſtatt eines korpulenten Aktenfaſci-
kuls, ein Schattenbild an irgend eine phy-
ſiognomiſche Fakultaͤt verſchicken, und dar-
uͤber erkennen laſſen, mit mehr Zuverlaͤßig-
keit hoffentlich, als drey conforme Urtheile
mit allen rationibus dubitandi et deciden-
di, nach den Geſetzen des leidigen Herkom-
mannus iemals verheißen koͤnnen.
Doch vor der Hand iſt es zu fruͤh am
Tage, an dieſe ſchoͤnen Ausſichten zu ge-
denken. Die phyſiognomiſche Morgenroͤ-
the verguͤldet iezt nur noch die obern Regio-
nen, wenn es unten im Thale zu tagen be-
ginnt, alsdenn mehreres hiervon; wiewohl
es eher zu wuͤnſchen als zu erwarten ſtehet,
daß
daß da die naͤchtliche Daͤmmerung ſo bald
verſchwinden werde.
Mein’ Antwort hierauf.
Wir waͤrmen uns, ſeh ich, an einem Feu-
er. — Da nun Einem ſo ſehr daran gelegen
iſt als dem Andern, daß uns dies Flaͤmm-
lein nicht verloͤſch’, ſo iſt’s recht und billig,
daß ieder ſein Buͤſchel Holz herzutrag’ ihm
Nahrung zu geben. An mir ſoll’s nicht
fehlen, Jhnen in Jhrem Begehr nach Ver-
moͤgen foͤrderlich zu ſeyn, werd alles nach
Jhrer Vorſchrift verhandeln. Hab bereits
meinem Gerichtshalter aufgegeben, das was
Gerichtshalber dabey noͤthig iſt, bald moͤg-
lichſt vor die Hand zu nehmen.
Der Bader Meffner, wie ſich der ver-
daͤchtige Kauz hier nennt, iſt uͤber Feld ver-
reißt, ſteht gewoͤhnlich auf den Maͤrkten
der umliegenden Staͤdt’, als Zahnarzt und
Wurmdoktor aus, derohalben muß es mit
ſeiner Silhouett’ anſtehn bis er wieder
kommt, hab ſie nicht in meiner Sammlung,
ſonſt ſollt’ ſie gleich mit folgen. Herr Urian
mag wohl kein rein Gewiſſen haben: iſt
nicht nur vergangenen Winter ungehorſam-
lich
lich auſſen blieben, als ihm das Schatten-
profil ſollt’ abgenommen werden; ſondern
hat auch ſpoͤttiſch uͤber das ganze Weſen ge-
kannegieſert, welches zur Zeit ich doch nicht
hab ahnden moͤgen.
Jn Betreff des andern Punktes davon
Sie in Jhrem Brief Meldung thun, bedaur’
ich, daß ich damit nicht eben ſo raſch zu
Werk’ gehen kann als mit dem Erſten. Wird
Jhnen wohl bewußt ſeyn, daß wenn Freund-
ſchaft nicht auf den ehernen Pfeiler der Phy-
ſiognomik aufgebauet iſt, ſolche nicht haf-
ten, noch Beſtand haben kann. Daher iſt
einer meiner heiligſten Grundſaͤtz, der auch
Jhnen aus den Fragmenten nicht verborgen
ſeyn kann: mit keinem Menſchen, wie viel
Gutes mir der Ruf von ihm ſagen moͤcht,
Freundſchaft zu machen, bis ich ihn, oder
zuverlaͤßig aͤhnliche Portraͤt’ und Silhonet-
ten von ihm geſehen. Laſſen wir’s alſo da-
bey, wie uns unſer Meiſter gelehrt hat.
Dieſer Aufſchub denk ich, ſoll uns unſer
Buͤndniß mehr foͤrdern als ſelbigem hinderlich
fallen. Pruͤfen Sie einſtweilen beyliegen-
des Schattenprofil, und ſagen Sie mir frey
raus, ob auf der Woͤlbung dieſer Stirn,
dem Ruͤcken dieſer Naſe, und dem Umriß
dieſes
dieſes Mundes, Jhre Freundſchaft ruhen
kan. Werde dies mit gleicher Aufrichtig-
keit in Anſehung Jhres Konterfeys oder
Schattenriſſes zu erwiedern nicht entſtehen,
da ſich’s denn bald veroffenbaren wird, ob
unſre Herzen zu einander geriſſen werden,
daß wir mit Wahrheit ſagen koͤnnen: wir
harmoniren!
Der zweyte Brief.
Von Herrn Franz Laibling aus Regenſpurg in
Dienſten der loͤblichen H—ſchen Geſandt-
ſchaft daſelbſt.
Seitdem die Gaßneriſchen Teufel mit ei-
nem Embargo ſind belegt, ihnen das freye
Ein- und Ausfahren in den menſchlichen
Leib, gleichwie in einen Freyhafen unter-
ſagt, und dadurch das Exorciſations Negoee
en gros gehemmet worden iſt, auſſer was
Herr Gaßner etwa im verborgenen noch
durch Schleichhandel betreibt: hat ſich die-
ſer geſchaͤftige Mann in ein ander Fach ge-
worfen, worinnen er nicht weniger glaͤnzen
wird, als in der Sphaͤre der Teufeleyen.
Schon damals, als er noch zu Prag ſtu-
dirte, fiel er darauf, die Geſichtszuͤge der
DPerſo-
Perſonen, die er nur einmal geſehen hatte,
zu beurtheilen, und das mit ſo viel Richtig-
keit, daß Pater Suadens, ſein damaliger
Buſenfreund, ein vernuͤnftiger kaltbluͤtiger
Mann der Meinung war, er muͤſſe ein ſe-
cretum naturale haben; wiewohl andere
daraus Schwaͤrmerey und Aberwitz weiſſag-
ten. Dieſes Studium lebt iezt wieder bey
Gaßnern auf: er beſchaͤftiget ſich gegenwaͤr-
tig, die Phyſiognomie der merkwuͤrdigſten
Beſeſſenen, die er im Paroxismus, vor oder
waͤhrend der Exorciſation, von einem guten
Meiſter hat zeichnen laſſen, als einen phy-
ſiognomiſchen Beytrag der Welt vor Augen
zu ſtellen, und vermeint dadurch wenigſtens
die Kunſtverſtaͤndigen auf ſeine Seite zu
bringen, und ſie zu uͤberzeugen, daß ein Ge-
ſicht eben ſo leſerlich Buchſtabe der Verteu-
felung ſeyn koͤnne, wie O Buchſtabe der Be-
wunderung und des Erſtaunens iſt.
Es iſt mir gelungen einige dieſer Zeich-
nungen von einem Mitgliede der exſpirirten
kaiſerlichen franziſciſchen Kunſtakademie,
Herrn Jgnaz Hagemeyer, einem Vetter
des Dr. Hagemeyers, Phyſikers der Stadt
Scherbenhaußen in Bayern, ehemaligen
Schildhalters und Waffentraͤgers des geiſt-
lichen
lichen Rath- und Pfarrers zu Kloͤſterle zu
erhalten, iedoch ohne den Gaßneriſchen Text,
die ich zum Behuf Jhres phyſiognomiſchen
Studiums her beylege, welches Jhnen ver-
muthlich nicht unangenehm ſeyn wird. Die-
ſe ſechs Blaͤtter waren zum Theil wichti-
ge Karten, da Herr Gaßner ſeinen Robber
machte; nun dieſer ausgeſpielt war, lagen
ſie unbedeutend unter dem Tiſche, bis er
ſie wieder hervor geſucht hat, eine neue
Parthie damit zu wagen.
Was ich von den Perſonen weiß, denen
dieſe Koͤpfe zugehoͤren, will ich Jhnen nebſt
der Zahl aller Teufel die darinnen gehauſſet
haben, hier mittheilen.
1. Jſt die iunge Kloſterfrau, Maria Anna
Oberhuͤberin auch Trefflerin genannt, wel-
cher laut actenmaͤßigen Protokolls, de da-
to Ellwang den 8. December 1774, Herr
Jſeph Gaßner zehn tauſend Millionen Un-
keuſchheitsteufel abgetrieben hat.
2. Eine Buͤrgerstochter aus W** die
den Teufel in den Bruͤſten hatte, gezeichnet
in dem Augenblick des Aufblehens, da der
Exorciſt die Hand drauf legte, und den boͤ-
ſen Geiſtern auszufahren gebot. Jhre Zahl
wird geſchaͤzt zum mindeſten auf eilf tau-
D 2ſend.
ſend. Pater Gaßner verſichert, daß ſie in
geringrer Anzahl ſich nie an eine Jungfrau
wagen, weil in den Zeiten des keuſchen Al-
terthums, eilf tauſend Jungfrauen, unter
Anfuͤhrung der heiligen Urſula, einmal ge-
gen den Satanas zu Felde gezogen ſind.
3. Ein verabſchiedeter Soldat, buͤrtig
aus Amelung in Schwaben, diente weiland
unter der Reichsarmee, hatte ſeit der Roß-
bacher Bataille Anfechtungen in den Fuͤßen
und ließ ſich exorciſiren. Nach Auſſage des
Beſeſſenen, waren ihm achtehalb Legionen
Teufel in die Beine gefahren, weil ſie aber
darinne zu arg gewirthſchaftet hatten, muß-
te er ſich vor einigen Jahren einen Fuß ab-
nehmen laſſen, und hatte bey der Gaßne-
riſchen Operation ein hoͤlzern Bein. Da
nun dieſes kein obiectum obſeſſionis dia-
bolicae iſt, kommt nur die Haͤlfte der boͤ-
ſen Geiſter hier in Anſchlag.
4. Ein Buͤrger aus Ellwang, klagte nur
uͤber einen einzigen Satansengel, der ihn
Tag und Nacht quaͤle, wurde exorciſirt.
Tags darauf verſchied ſein Weib, und er
ſpuͤrte weiter keine Anfechtung.
5. Ein Kloſtervogt aus Bayern, der
nicht Wort haben wollte, daß er ein Daͤ-
monia-
moniakus ſey; den aber die kloͤſterlichen Un-
terthanen noͤthigten, ſich der Gaßneriſchen
Operation zu unterwerfen, wodurch ihm
ſieben hundert und ſieben und ſiebenzig
tauſend, allzumal Geizteufel, ausgeſchuͤt-
telt wurden.
6. Eine alternde Buhlerin, die als ei-
ne iunge Dirne ungefehr ſo viel muthwillige
Teufel bey ſich beherbergte, als Europa,
nach der Berechnung des — Kalenders
Einwohner zaͤhlt; ſie waren aber nach der
Hand bis auf neun hundert und neun und
neunzig zuſammen geſchmolzen, die auf den
erſten Wink ihre alte Wohnung verließen.
Genau uͤberzaͤhlt, bringen dieſe ſechs Po-
ſten, die Legion auf ſechs tauſend ſechs hun-
dert und ſechs und ſechszig Koͤpfe gerechnet,
eine total Summe von zehn tauſend Millio-
nen 813 tauſend 997 und einen halben Teu-
fel, die aus vorbenannten Perſonen Gaß-
ner wegexorciſiret hat.
Unterſuchen Sie dieſe Zeichnungen, und
theilen Sie mir Jhre Beobachtungen daruͤ-
ber mit. Wenn ſie in dieſen Phyſiogno-
mien wahre Verteufelung finden, ſo bemer-
ken Sie zugleich, wo ſie eigentlich ihren
Sitz hat; ob in dem Uebergange von der
D 3Stirn
Stirn zur Naſe, oder von den Augenbrau-
nen bis zum Munde; im ſtieren Blick des
Auges; dem verzerrten widernatuͤrlich geoͤf-
neten Munde; in den aufſchwellenden Ge-
ſichtsmuſkeln uͤberhaupt, oder wo ſonſt?
Jch wuͤnſchte Jhre Erklaͤrung mit dem Gaß-
neriſchen Kommentar, den wir bald bekom-
men werden, vergleichen zu koͤnnen.
Antwort hierauf.
Hab’s Jhrem Brief bald abgemerkt Freund,
daß es damit auf Schimpf und nicht auf
Ernſt gemeinet ſey: ſoll Jhnen der Muth-
will’ aber um des herrlichen phyſiognomi-
ſchen Gedankens willen, darauf mich der-
ſelb gebracht hat, verziehen ſeyn.
’S kan Jhnen noch nicht entfallen ſeyn,
als der Gaßner mit ſeinem Teufelsbeſchwoͤ-
ren groß Maulgeſperr macht, daß der herz-
gute Lavater„ als alles zulief, aus guter
Meinung auch mit unter’n Hauffen trat, und
ein wenig beyſeits Mirakel! rief. Meint
’s haͤtt’s niemand groß gehoͤrt; aber die
Laurer hatten’s Wort einmal weg. Sagt
er drauf, die Leut’ haͤtten in dem Lerm ihn
nicht recht verſtanden, er mein’: wenn ei-
ner
ner hinging und unterſucht, ob Gaßners
Weſen wahr Mirakel ſey, wollt er ſechs
neue Louisd’or aus ſeinem Beutel dran ſpen-
diren. Da haben ihm nun die Spitzkoͤpf’
die Berliner drauf geantwortet, daß es mit
dieſer Unterſuchung der Thatſach’ ſo viel als
nichts ſey, und der Forſcher ſo klug wieder
heimkehren werd, als er ausgereißt ſey:
Urſache des, weil aus der Thatſach’ nicht
zu erhaͤrten ſtuͤnd, ob die Krankheiten die
Gaßner heilt’, und ſeine Heilungsmethod’
natuͤrlich oder uͤbernatuͤrlich waͤren.
Jſt im Grund ganz richtig; aber warum
nicht zu erhaͤrten? Da liegt der Knoten,
den ich mir phyſiognomiſch zu loͤſen getrau’.
Naͤmlich: weil alles was inwendig im
Menſchen iſt, ſich auf die Oberflaͤche des
Angeſichts aufs deutlichſte, gleichſam als
auf einem Spiegel zeichnet: ſo muß ein-
folglich auch, wo der Teufel innen ſizt, dies
ſich in gewiſſen Lineamenten abſonderlich,
oder in der Harmonie aller zuſammen verof-
fenbaren, und iſt kein Zweifel, daß der
Buchſtab’ der Verteufelung eben ſo gewiß
als der Buchſtab’ des Verſtandes und des
Genies im phyſiognomiſchen Alphabet vor-
handen ſey; aber wer kann ihn aufſagen?
D 4Er
Er iſt Hieroglyphe, wie die egyptiſchen Denk-
maͤler. Traͤgt wohl mancher Obeliſt herr-
liche Aufſchrift, die gafft der Gruͤbler an,
hat’s vor Augen und kan’s nicht leſen, weil
die Bedeutſamkeit der krauſen Zuͤg’ verloh-
ren iſt. Kaͤm aber einer, der eine einzi-
ge Zeil entziffern koͤnnt’, ſo waͤr’s keine
Kunſt alle zu leſen.
Freund, ſo gemahnt michs iuſt mit dem
phyſiognomiſchen Ausdruck der Beſeſſenheit.
Wenn uns der heilige Lukas einen Kopf ei-
nes notoriſch Beſeſſenen vorgezeichnet haͤtt,
den die frommen Biſchoͤff und Kirchenvaͤter
fleißig in Onyx und Karniol haͤtten eingra-
ben laſſen, daß der Zahn der Zeit daran
nicht nagen koͤnnen, ſo waͤr uns der wahr-
lich! mehr werth als all’ Original zur Lip-
pertſchen Daktyliothek. Denn ſo ließ ſich
bald der genuine Ausdruck der Verteufe-
lung heraus ſtudiren, und ſo koͤnnt’ man
auch mit Gewißheit beſtimmen, ob die Gaß-
neriſche von aͤchtem Schrot und Korn, oder
ob ſie poſtiſch ſey; aber da fehlt’s eben,
Bin ich daher der veſten Meinung, daß
der eigentliche Sitz der Beſeſſenheit, aus
den Geſichtszuͤgen ſo wenig heraus zu fin-
den ſey, als der eigentliche Sitz der Seel’
aus
aus der Hirndruͤſe; ob mirs gleich ſo unbe-
zweiffelt ſcheint, daß die Seele die Tangen-
ten ihres Manuals im Hirn hat, als der
Satanas die Seinen in den Lineamenten.
Moͤcht alſo Gaßner mit ſeinem phyſiognomi-
ſchen Beytrag immer daheim bleiben, —
wiewohl mirs vorkommt, die ganze Sach’
ſey nur ein Pfiff.
Als ich die ſechs Zeichnungen ein wenig
uͤberſchaut’, duͤnkt’ mich, die Koͤpf’ waͤren
mir zum Theil bekannt als Leut, die man
einmal geſehen, und nicht acht drauf hat,
wo? vemeint’ daß ſie nach Holzſchnitten
oder Kupfertafeln guter Meiſter kopiret waͤ-
ren, aus irgend einer alten Bibel. Durch-
blaͤttert verlohrnerweis’ meine Kupferbi-
bel — iſt die ſogenannte Staaten Ausgab —
da fand ich das Konterfey der Dirn mit den
aufgeblaͤheten Bruͤſten Numero 2. wies leibt
und lebt, als die Ehebrecherin beym Jo-
hannes im achten Kapitel, auf der Kupfer-
tafel, nur mit dem Unterſchied, daß die be-
taſtende Hand, die in der Zeichnung des
Exoreiſten ſeyn ſoll, im Kupfer einem bey-
ſtehenden muthwilligen Kriegsknecht’ zuge-
hoͤrt.
D 5Der
Der Schwab’ Numero 3. behagt mir
am beſten, hat den wahren Ausdruck der
Wolfstollheit im Blick. Wollt’ viel drum
ſchuldig ſeyn, daß dies Jdeal eines der
Gergeſener Beſeſſenen, — denn dafuͤr halt
ichs — Avthenticitaͤt haͤtt’; koͤnnt’ der Pro-
birſtein der phyſiognomiſchen Verteufelungs-
kunde werden, wodurch das obgedachte
Problem geloͤſet wuͤrd’.
Mit den uͤbrigen Koͤpfen will’s nicht viel
ſagen. Die iunge Kloſterfrau iſt irgend ei-
ne Maria Magdalena; der Kloſtervogt et-
wan von der Jdee des ungerechten Haus-
halters oder des reichen Mannes; die al-
ternde Buhlerin von der apokalyptiſchen Hu-
re, wo nicht gar von der Hexe zu Endor
geborgt. So viel zur freundlichen Ant-
wort, u. ſ. w.
Dritter Brief.
Vom Stallmeiſter Herrn von Rennefort
aus H**.
Laſſen Sie ſichs nicht reuen, daß Sie un-
ſerm Stallamt laͤnger haben credidiren muͤſ-
ſen, als Sie wollten: Jhre Lieferung bringt
Jhnen nun doppelten Vortheil ein. Der
Hafer
Hafer war muͤchzend, und da er doch zu
Jhrer Ehre, oder aus andern bewegenden
Urſachen verfuͤttert wurde, erkrankte davon
unſer ganzer Reitſtall. Einige Kapitalpfer-
de ſind hin! und einige andere ſind ausran-
giret worden. Da koͤnnen Sie, wenn Sie
wollen, einen Rathkauf thun. Das waͤr
Ein Vortheil; der Andre, der gute Preiß
der bey der Haferlieferung einmal gemacht
worden iſt, bleibt Jhnen dabey unverlohren.
Wenn ich arges daͤchte, ſo koͤnnte ichs
Jhnen fuͤr einen oekonomiſchen Kniff an-
rechnen, daß Sie unſre Pferde krank gefuͤt-
tert haben, um ſie wohlfeil zu kaufen.
Aber nein! lieber feurige Kohlen auf Jhr
Haupt! Sie ſollen allen Gewinn aus dieſem
Gewerbe ziehen, und der Fuͤrſt mag den
Schaden tragen.
Jch habe zwey herrliche Reitklepper fuͤr
Sie ausgeſucht: einen Hirſchhals und einen
Sauhals. Der Erſte iſt ein Cimber, war,
ehe ihn Jhr Hafer demuͤthigte, ein muntrer
angenehmer Hengſt, frohliſtig ohne Kriech-
ſucht, recht ſo wie das Original zu der Vi-
gnette in den Fragmenten, worauf mich Jhr
Brief verwieß. Der Gaul iſt noch auſſer-
dem dadurch merkwuͤrdig, daß ihn der Dich-
ter
ter Klopſtock, als ein iunges wildes Pferd
dreſſirt und ſchulmaͤßig zugeritten hat. Es
ſollte ſein Campagne Pferd werden, wenn
der Feldzug gegen die Ruſſen zu Stande
kommen waͤr. Ehedem hatte es einige Ka-
priſen, die ihm nicht abzugewoͤhnen waren:
es ſtieg, daß es ohne Sprungriemen nicht
zu reuten war und ſattelte gern ab. Leute
vom Metier ſind der Meinung, daß den
Dichtern die Pferde, und den Stallmeiſtern
die Gedichte ſelten recht einſchlagen; indeſ-
ſen iſt der Cimber iezt ſo fromm wie ein
Lamm, und Sie koͤnnen ſich ihm ſicher an-
vertrauen. Der Zweite, ein geduldiger, et-
was traͤger Wallach iſt zwar von keinem
Dichter zugeritten; hat aber demungeachtet
etwas poetiſirendes in ſeinem Weſen: naͤm-
lich, einen richtig abgemeſſenen Spondaͤen-
ſchritt, langſam, aber ſicher. Waͤr wie alle
bloß mechaniſchen Geſchoͤpfe ohne Drang
und Schwungkraft, zu einem Saumroß oder
fuͤr einen Packeſel ſehr gut auf Reiſen zu
gebrauchen. Sind die Pferde Jhnen an-
ſtaͤndig, ſo melden Sie mir es, binnen acht
Tagen ſollen ſie ſodann in Jhrem Stalle
ſeyn, der Preiß wird ſich wohl finden wenn
Sie mit uns zuſammen rechnen.
Antwort.
Antwort.
Wenn mein Haber nicht ſo iſt wie er ſeyn
ſoll, hab iſt des keine Schuld: faͤllt nicht
eine Erndte aus wie die andre; waͤr auch
dem Ding wohl zu helfen geweſen, wenn
er nicht ſo raſch waͤr verfuͤttert, ſondern ein
wenig vorher ausgeluͤftet worden.
Jſt mir mit meinem Buͤcherliefranten in
der Oſtermeß nicht anders ergangen. Hat
mir derſelb’ fuͤr mein baar Geld eitel Schund
von Buͤchern geſchikt, wo ſich der unrein’
Modergeruch nicht ſo ausluͤften laͤßt, wie
aus’m Haber. Muß mich doch dran legen
und die ſchaale Lektuͤr’ verkaͤuen, wenn ich
nicht gar darben will. Troͤſt’ mich damit,
daß dem erlauchten Publikum von ſeinen
Futtermeiſtern den Skribenten eben kein
tauglicher Futter aufgeſchuͤttet wird. Dem-
ungeachtet iſts ſeit einiger Zeit ſo dran ge-
woͤhnt, daß ihn recht darnach luͤſtet. Denk
’s werd’ mit Jhren Pferden auch ſo gehen,
werden wohl noch luſtig nach meinem Ha-
ber wiehern und dabey gedeyhen.
Die Gaͤul’ ſind mir recht, ſonderlich der
Klopſtockiſche Pegaſus, wenn er noch Kno-
chenveſt’ iſt. Trag’ ſo ein Plaͤnchen mit
mir herum, das ich nach der Erndt’ auszu-
fuͤhren
fuͤhren gedenk’. Will ein wenig inmerhalb
des deutſchen Reichs herum flankiren; auch
wohl einen kleinen Abfprung in die Schweiz
machen, nicht aus Kurzweil, ſondern eines
Geſchaͤfts halber, das mir iezt mehr am
Herzen liegt, als weiland dem Kaiſer Sieg-
mund das Basler Concilium; oder Kapitaͤn
Baſedow ſein philanthropiniſch Schifflein,
als er’s noch auf dem Werft liegen hatt’,
und vor drey oder vier Jahren weit und
breit herumzog Aſſekurateurs aufzutreiben;
wiewohl er hernach als es flott war einen
Nothſchuß nach dem andern draus that.
Hoff’ nicht, daß mir das auch begegnen ſoll.
Auf dieſe vorhabende Reiſ’ bezog ſich eben
die Anfrag’ in einem meiner Brief, der
Pferd’ halber.
Schicken Sie mir deshalb’ foͤrderſamſt
die beyden Gaͤul’ wenn Sie ſelbige zu die-
ſem Gebrauch tuͤchtig befinden. Sie ver-
ſtehn mich doch wohl, daß ich keine Pa-
radepferd’ haben will, aber auch keine Acker-
gaͤul.
Vierter
Vierter Brief.
Vom Obervogt Herrn von Kracht aus
Minneſingen.
Wer einen Truͤffelhund ſucht, muß ſich
unumgaͤnglich an Sie wenden, wenn er
wuͤnſcht wohl bedient zu ſeyn. Der Duͤraß
hat eine vortreffliche Naſe, und ich laſſe Jh-
rem Philipp gern die Gerechtigkeit wieder-
fahren, daß er es verſteht, wie er ſeinen
Hund abrichten ſoll. Sucht aber iemand
einen Hofmeiſter fuͤr ſeine Kinder, ſo will
ich iedermann warnen, auf Jhre bona of-
ficia in dieſem Stuͤck verzicht zu thun.
Jch ſchreie Ach und Weh! uͤber Jhren
Heidesheimer Rundhut. Das mag Gott
wiſſen-, was der Kerl fuͤr Zwirn im Kopfe
hat: ich verſtehe kein Wort davon. Wenn
ich denke meine Kinder ſitzen hinterm Kate-
chismus oder beym Veſtibulum, wie ichs in
meiner Jugend machen mußte, daß ich ein
wenig Sitzefleiſch bekam, laͤuft der Phantaſt
den ganzen Vormittag mit ihnen im Walde
herum, hat da von Lattenwerk einige Huͤt-
ten in Form der Vogelbauer zuſammen na-
geln laſſen. Jn der Mitte einer ieden ſteht
ein kleiner Raſentiſch, der ſoll einen Altar
bedeuten,
bedeuten, ſo wie die Huͤtten ſelbſt lauter Tem-
pel ſind: Einer der Tugend, der Andre der
Geſchichte, der Dritte der Weisheit und ſo
ferner, gewidmet. Rings um ieden iſt ein
Roſenhayn, oder wie das Ding heißt, ge-
pflanzet, und an dem Gelaͤnder ſchlingen
ſich Lilien, Jasmin und Geißblatt hinauf.
Toll genug! aber mein Garten hats em-
pfunden: ſieht aus, als wenn ihn die
Maulwuͤrfe durchwuͤhlt haͤtten, ſo hat der
Kauz der Hofmeiſter darinnen gewirthſchaf-
tet. Denn in meiner Abweſenheit hat er
beynahe alles Blumenwerk heraus nehmen
und in den Wald verpflanzen laſſen, mich
nimmt nur Wunder, daß er nicht Eichen
und Birken in den Garten verſetzt hat, ſo
waͤr doch die verkehrte Welt vollkommen.
Das Spielwerk ſollte mich zwar wenig
kuͤmmern, moͤchte er meinetwegen mit den
Kindern taͤglich zu ſeinen Tempeln wallfar-
then; fuͤr einen Spaziergang laß ichs gel-
ten, nur ſollte er nachher zu Hauſe ſie deſto
fleißiger an die Schulbuͤcher halten. Denn
was er den Kindern drauſſen unter freiem
Himmel aus dem Kopfe vorbetet, wenn er
mit ihnen aus einem Huͤttgen ins andre
laͤuft, als ob er in iedem eine Meſſe zu le-
ſen
fen haͤtte: das heißt ſo viel als nichts.
Aber in den Lehrſtunden geht das Spiel von
neuem an, da weiß das Kerlgen ſeine Ele-
ven mit tauſend drolligen Erfindungen mei-
ſterlich zu amuͤſiren; will ſeiner Sage nach,
froͤliche Menſchen aus ihnen machen, und
vermeynt durch dieſe Methode im Eduka-
tionsgeſchaͤfte maͤchtige Rieſenſchritte zu
thun, als ob er die Stiefeln von ſieben
Meilen an den Fuͤßen haͤtte.
Das will mir nicht ein. Wenn den Kin-
dern alles ſpielend gelehrt wird, ſo gewoͤh-
nen ſie ſich daran, und wollen hernach al-
les ſpiekend treiben, und nie hart Holz boh-
ren. Bey der geringſten Anſtrengung ſehen
ſie unerſteigliche Berge vor ſich, die ſie hin-
auf zu klimmen nicht wagen, daraus kom-
men traͤge unthaͤtige Koͤpfe und faule Baͤu-
che. Das war zu meiner Zeit anders: mein
Hofmeiſter wußte mir das Lernen ſo ſauer
zu machen, daß ich zu Zeiten lieber nach
der Holzart als nach dem Buch gegriffen
haͤtte, wenn mir die Wahl waͤr uͤberlaſſen
geweſen. Das eingeblaͤuete Latein und die
Wahlſpruͤche aus dem Zopf vom Kaiſer
Auguſtus bis auf Karl den Sechsten, glor-
wuͤrdigſten Andenkens, haͤtte ich leicht ent-
Ebehren
behren koͤnnen, das waren freylich Schlacken;
aber ich gewann daraus den Silberblick eines
geuͤbten Gedaͤchtniſſes und Muth zur Ar-
beit, daß ich hernach mich friſch ins Zeug
warf, wenn ich die Buͤrde der Geſchaͤfte
hinter mir herſchleppen mußte.
Mit meinem Heidesheimer Emigranten
wuͤrde ich nun wohl kurzen Prozeß machen,
wenn er nicht von meiner Donna protegirt
wuͤrde, die nicht die Zweite ſondern die er-
ſte Perſon hier im Hauſe iſt. Jch bin, doch
das unter uns, Weiber Lehn! Wie kan das
anders ſeyn? Sie ein iunges raſches Weib,
ehemals Hofdame obendrein, und ich ein
Graubart. Venus und Vulkan! Tritt er
nicht ans Geblaͤſe, wenn ſie ihn ſtreichelt,
flucht und wettert in ſeiner Werkſtatt, und
ſchmiedet ihr doch ganz dienſtfertig Waffen-
ruͤſtung, wie ſie es begehrt.
Jn dem Modekrahm meiner Frau ſchwimmt
die leidige Phyſiognomik iezt oben auf, darin-
nen iſt nun das Hausgenie ein großer Mei-
ſter, oder giebt ſich wenigſtens dafuͤr aus:
denn verſchmizt iſt er wie ein Fuchs. Moch-
te wohl bald merken wie hier die Actien
ſtuͤnden, und wenn er der Dame vom Hau-
ſe unter die Fluͤgel kroͤch, daß ihm warm
und
und wohl ſeyn wuͤrde. Durch ſein Liebe-
dienern hat er bey meiner Frau einen großen
Stein im Brete; er phyſiognomiſirt mit ihr,
und zur Vergeltung philanthropiſirt ſie mit
ihm. So greift ein Rad in dem Triebwer-
ke meiner Hausmaſchine ins andere, ich bin
das Gloͤcklein an der Uhr, das ſich nur lei-
dend verhaͤlt, und keinen Laut eher von ſich
geben darf, als wenn es der innre Mecha-
nismus erfordert.
Mir verſchlaͤgt es zwar wenig, ob meine
theure Haͤlfte uͤber ihre Nachbarinnen, wenn
ſie nichts beſſeres weiß, phyſiognomiſirt oder
mediſirt; aber dabey ſollte es auch bleiben.
Doch das Ding geht weiter als ich dachte.
Jezt hat der phyſiognomiſche Seher den tol-
len Einfall gehabt, an meinem Fritz eine
wirkſame Staatsnaſe zu entdecken, vermuth-
lich, weil meine Frau den Nagel hat, aus
einem ihrer Junker einen Miniſter zu for-
men. Nun iſt ein Treiben hinter mir, wie
das Treiben Jehu, daß ich ihnen den Buben
uͤberlaſſen ſoll, den ich mir doch von mei-
nen Kindern allein ausgezogen habe um mit
ihm zu ſchalten und zu walten wie ich will.
Der Junge iſt recht mein Ebenbild, ſo Gott
will, ſoll er ein Jaͤger werden und nichts an-
E 2ders;
ders; oder ich will mein Haupt nicht ſanfte
niederlegen. Schon ſeit einem Monat ſteht
die Mutter mit mir in Tractaten, und will
ihn gegen den Wilhelm umſetzen; aber es
wird nichts aus dem Handel, wenn ich auch
den guͤldnen Hausfrieden, der mir uͤber al-
les lieb iſt, dieſer Grille aufopfern ſollte.
Der Erzvater Jacob hatte zwoͤlf Buben
und dazu vier Weiber; aber keinen philan-
thropiniſchen Hofmeiſter, darum machte
ihm ſein Edukationsweſen nicht halb ſo viel
Verdruß und Sorge, bey ſeinem großen
Kinder- und Weiberſegen, obs gleich ſonſt
manchen Strauß in der Ehe gab, als mir
bey meinem geringen.
Sie ſehen wohl, daß der neoteriſche Hof-
meiſter, der Wigand, den ich Jhnen aufs
Wort abgenommen habe, an dem ganzen
Unfug Schuld hat. Schaffen Sie mir
doch den Stoͤhrenfried mit guter Manier,
daß meine Frau nichts davon wittert, aus
dem Hauſe, und ſpediren Sie ihn wie-
der ad locum unde. Dieſe Gefaͤlligkeit
will ich Jhnen hoͤher anrechnen, als wei-
land Goͤtz von Berlichingen einen Reuter-
dienſt.
Antwort.
Antwort.
Das deutſche Vaterland iſt in unſern Ta-
gen von zwey Landplagen heimgeſucht wor-
den, laͤßt ſich ſchwerlich ſagen, welche da-
von die ſchwerſte ſey. Die erſt’ iſt die Vieh-
ſeuch’, darwider noch kein ſouveraͤn Heilmittel
ausfuͤndig gemacht worden; obgleich viel’
Aerzt’ aufgeſtanden, die bald durch Latwer-
gen, bald durch beraͤuchern und klyſtiren,
derſelben Einhalt thun wollen. Hat auch
noch allererſt ein Hamburger Doktor ein
neues Univerſale hell auspoſaunet, das ſo
wenig Stich haͤlt als die uͤbrigen. Das An-
dere iſt die Erziehungsſeuch’, die bey Men-
ſchengedenken erſt ausgebrochen, und davon
unſre Vorfahren nichts wußten.
Nachdem nun mancher Pfuſcher vergeb-
lich hier ſein Heil verſucht, hat ſich endlich
der philanthropiſche Leibarzt Baſedow unter-
fangen, durch dienliche Mittel dem Uebel
zu ſteuren; und wiewohl einige der Meinung
ſind, er habe die Leut’ erſt durch ſeine Arze-
neyen krank gemacht, um ſie hernach zu hei-
len; auch laͤg er ſelbſt an dem Edukations-
fieber hart darnieder, ſo iſt doch dem nicht
alſo. Ehe denn Baſedow kam, war das deut-
ſche Reich von der Erziehungsſucht ſchon in-
E 3ficirt.
ficirt. Weil nun dieſe Seuch’ fuͤr die ganze
Nation uͤble Folgen fuͤrchten ließ, verſucht’s
der Nordalbinger eine heilſame Kriſis zu be-
wirken, die dem ganzen politiſchen Koͤrper
nuͤtz waͤr: ſtund aus, auf Maͤrkten und Kreuz-
wegen, und rief laut, daß man’s hoͤren konnt’
uͤberall: wer vom Edukationswurm geplagt
wuͤrd’ ſollt’ ſich ihm anvertrauen, er woll
ihm helfen. Da bekam er nun, weil’s was
neues war, was er vorbracht’, bald Zulauf.
Hatt’ aber aus der Acht gelaſſen, ſich mit ei-
nem kaiſerlichen Privilegium zu verſehen; alſo
kuͤnſtelten andre ſein Arcanum nach, und er,
als ein guter biedrer Mann, ließ ſie kochen
und quirlen was ſie wollten, Salben und
Pflaſter. Gab ihnen Lehrbrief, als haͤtten ſie
bey ihm ausgelernt; obgleich Dr. Bahrdt der
Jungmeiſter, ſeine Recepte viel anders ſchrieb
als der Oberaͤlteſte. Aus ienes Officin iſt
der Wigand, mag wohl nur Handlanger ge-
weſen ſeyn. Hat mir frey bekannt, daß er
biß zu ſeinem Rufe nach Heidesheim keine
einzige Schrift geleſen, die ihm zur Paͤda-
gogik haͤtt Anweiſung gegeben, die Erzie-
hungskunſt ſey ihm weiter nicht als aus Zei-
tungen und Journalen bekannt geweſen.
Aber wie Meiſter Bahrdt bloß und allein
durch
durch einen zehntaͤgigen Umgang mit Baſe-
dow, aus einem paͤdagogiſchen Klotz in ei-
nen paͤdagogiſchen Merkur ſey umgeſchaffen
worden: ſo auch er ebenfalls durch einen
zehntaͤgigen Umgang mit Dr. Bahrdt.
Daraus folgt nun keinesweges, daß er ein
Stuͤmper, ſondern vielleicht, daß er ein paͤ-
dagogiſch Genie ſey. Denn wer ein Genie
iſt, muͤſſen Sie wiſſen, geht nicht langſam
Schritt vor Schritt von einem Begriffe zum
andern fort, ſondern eilt wie auf Fluͤgeln
des Sturms, von Fleiß weiß er nichts, die
gewoͤhnlichen Kenntniſſe eckeln ihn an. Da
hiernaͤchſt in unſern Tagen die Liebe, die
Blattern und die Viehſeuch mit gleich gluͤck-
lichem Erfolg inoculirt werden, ſo daß neun
Tage nach der Operation, wenn der Zun-
der gefangen hat, das Fieber ausbricht und
den erreichten Endzweck verkuͤndiget: ſo haͤlt
die Einimpfung der Paͤdagogik wahrſchein-
licher Weiſe den naͤmlichen Typus, und
geht leichter von ſtatten, weils hier keiner
Jnciſion braucht, ſondern die bloße Aus-
duͤnſtung allgnug wirkſam befunden wird.
Laſſen Sie alſo Jhren Hausaeſkulap nur
walten, vertrauen Sie ſeiner Methode, ſo
wird alles gut gehn. Das oͤftere wechſeln
E 4der
der Hofmeiſter taugt nicht: was einer auf-
baut reißt der audre nieder, und wenns um
und um kommt ſo laͤufts mit all den Erzie-
hungsmethoden auf eins ’naus: iſt viel Ge-
ſchrey bey der Sach’ und wenig Wolle. Der
herrliche Menſchenſpaͤher Lavater, der ſonſt
dem Philanthropinweſen nicht abhold iſt,
ſagt gar recht, daß ſich uͤberhaupt eigentlich
in den Menſchen nichts hinein bringen laͤßt,
nur heraus bringen, entwickeln laͤßt ſich,
was da iſt. Kommt mir die Sach bald ſo
vor, als wenn einer einen Strang Garn
entwickeln und in ein Knaͤuel concentriren
wollt: gilt’s nicht gleich, ob er vom aͤuſſern
End’ anfaͤngt oder vom innren? Der Faden
folgt immer allgemach nach, und wird der
Endzweck erreicht, man mags ſo oder ſo
anſtellen. Wenn aber einer von hinten und
der andre von forne abwickelt, giebt’s Ge-
wirr, und muß der Faden oft abgeriſſen,
wieder angeknuͤpft oder durchgeſteckt werden,
welches eitel Berdruß macht.
Sie lieber Freund, daß ichs frey ’raus
ſag’, ſind auch von der Edukationsſucht nicht
wenig befallen, wie’s einem zaͤrtlichen Va-
ter leicht begegnet. Das Uebel iſt bey Jh-
nen ſchon lang eingewurzelt und in eine
chroniſche
chroniſche Krankheit ausgeartet; kan’s Jh-
nen daher kein Arzt recht machen, Sie mei-
ſtern alles und wollen’s beſſer wiſſen. Will
Jhnen das philanthropiniſche Manoͤvre des
Wigands nicht behagen, weil Sie ſelbſt
nicht darnach ſind gemodelt worden, ſo er-
waͤgen Sie, daß wie in dreißig und mehr
Jahren auf dieſer Unterwelt manch Ding
ein’ andre Geſtalt gewonnen hat: ſo auch
das Edukationsgeſchaͤft’. Viel hochgelahrte
Maͤnner, ſelbſt die Berliner Bibliothekare,
denen einer ſelten was zu Danke machen
kann, ziehen alle Regiſter, wenn ſie ein phi-
lanthropiniſch Kyrie anſtimmen, und pfeiffen
dagegen den alten Schulſchlendrian aus.
Soll mich nicht verdrießen, weil mir Jh-
renthalber die Sach’ nah am Herzen liegt,
eine paßliche Stelle dieſer einſichtigen Kunſt-
richter hier anzuziehen. „Denkt euch, ſind
ihre eignen Wort’, einen Canarienvogel,
dem man die Fluͤgel gelaͤhmt, die Augen aus-
gebrannt, ihn an eine kleine Kette beveſtiget
und gewoͤhnet hat, ſein nothduͤrftiges Futter
und Getraͤnk, in kleinen dazu eingerichteten
Gefaͤßen von Zeit zu Zeit ſelbſt herauf zu
ziehen: ſo habt ihr das Bild eines gewoͤhn-
lichen Menſchen, in unſern gewoͤhnlichen
E 5Schulen
Schulen erzogen. Denkt euch einen andern
Canarienvogel, den man auch an eine Ket-
te beveſtiget, aber ſeine Augen ungeblendet,
ſeine Fluͤgel ungelaͤhmt gelaſſen, und ihn ge-
woͤhnt hat, ſeine Kette von Zeit zu Zeit zu
verlaͤngern, oder ganz abzuloͤſen, um zwar
nicht unter freiem Himmel; aber doch in
ſeinem Wohnzimmer nach Gefallen herum
zu fliegen, ſeine Kraͤfte zu brauchen, und
dann aus angewohnter Neigung freiwillig
in ſeinen Bauer zuruͤck zu fliegen: ſo habt
ihr das Bild eines nicht gewoͤhnlichen Men-
ſchen, von philanthropiſcher Erziehung!
Weſſen Zuſtand iſt nun beſſer?“
So viel fuͤr diesmal zur Apologie des
Wigands, und der philanthropiſchen Eduka-
tionsmethode. — Doch eins nur noch bey-
laͤuffig, weil eben die Red’ war von Cana-
rienvoͤgeln. Hab’ ſeit vielen Jahren auch
eine Heck’, iſt mir aber nie gelungen, einen
Vogel ſo abzurichten, daß er mehr Glieder
an ſein Kettlein haͤtt’ anſetzen und es dadurch
verlaͤngern, oder ſelbiges gar nach Willkuͤhr
ab- und anguͤrten lernen. Meint mein Phi-
lipp, das ſey unmoͤglich; ich aber ſag, daß
es gar wohl moͤglich iſt dem, der’s kann.
Find’ hier myſtiſchen Sinn in den Worten:
giebt
giebt Recenſent dadurch ſo viel zu verſtehen,
daß die Philanthropiſten mit ihrem Weſen
Wunderding auszurichten vermoͤgen. Wenn
nun auch der Wurf nicht ſo weit reicht, als
ſie zielen; ſo ergiebt ſich daraus doch ſo
viel, daß die Erziehungsmethode des neuen
Schlags gegen die alte keinen Rabbat leidet.
Wenn Sie ſich mit dem Erzvater Jacob
in Anſehung der Kinderzucht in Vergleichung
ſtellen, ſo ſag ich: wohl Jhnen, daß Sie
einen Philanthropiſten zum Hofmeiſter ha-
ben. Sie wiſſen vermuthlich nicht, daß
Jacobs Edukationsweſen in der Wurzel
nichts taugte, und daß der ehrwuͤrdige Pa-
triarch in unſern Tagen den Erziehungs-
verbeſſerern tuͤchtig damit herhalten muß.
Hoͤren Sie wie ihm einer den Text ließt:
Jacobs Kinderzucht, ſpricht er, iſt gar nicht
weislich. Da er den Joſeph verzog, bloß
aus mehrerer Zaͤrtlichkeit gegen deſſen Mut-
ter; da er ihn beſſer kleidete; da er ihn zum
Angeber ſeiner Bruͤder machte, war er ſelbſt
ſchuld an dem Neid und Haß ſeiner Familie.
Joſeph war nicht empfindſam und erkennt-
lich gegen die Zaͤrtlichkeit ſeines Vaters, da
er bey ſeinem Gluͤck in Egypten ſeiner ver-
gaß. Er war zu hart gegen ſeine Bruͤder,
forderte
forderte dem Vater ſeinen Lieblingsſohn Ben-
jamin ab. So weit mein Autor. — Poſ-
ſierlich iſts, aber ſchwer haͤlts nicht, an
dem Edukator Jacob zum Ritter zu werden
und ſeine Methode unweiſe zu finden, wenn
ſie in Gedanken der Deſſauer gegenuͤber ge-
ſtellt wird. Doch iſts auch wahr, daß der
Patriarch nichts kluͤgers haͤtte thun koͤnnen,
wenn zu ſeiner Zeit irgendwo ein Philan-
thropium vorhanden geweſen waͤr, als ſeine
maͤnnliche Deſcendenz ſammt und ſonders
dahin zuſchicken, und ſie dort lieber als Se-
migratiſten oder Famulanten unterzubringen,
als ſich ſelbſt mit der Erziehung zu befaſſen:
denn dafuͤr hatte der Altvater ſo wenig als
Sie, mein Freund, Talent empfangen.
Laſſen Sie alſo den Wigand ihre liebe Ju-
gend nur immer gaͤngeln, wird nichts daran
verderben; iſt ein weidlicher Geſell und kein
Gimpel, hat Menſchenverſtand, welchen ich
ihm, als er bey mir herbergt, auf den er-
ſten Anblick abgemerkt hab, ſchwebt ihm
auf der Stirn, und von da, zwiſchen den
Augbraunen bis zur Naſenwurzel herab.
Was mir aber abſonderlich an dem Kerlgen
gefiel, war ſein phyſiognomiſcher Scharf-
blick. Fuͤhlt’ ihm ein wenig auf den Zahn,
und
und fand, daß er ſchneller Geſichter leſen
konnt, als Mathias Plerr der Schulmeiſter
Noten aus dem Choralbuch. Ließt er im
Geſicht eines Jhrer Junker Miniſterphyſio-
gnomie, ſo iſt ia das kein Landesverbrechen,
daß Sie ihn deshalb exiliren wollen.
Aber wenn der Wigand recht geſehen, kan
der Junker Fritz Jhr Ebenbild nicht ſeyn, wie
Sie waͤhnen: denn mit unſer beyden Geſichts-
formen wuͤrd’ im Cabinet wohl nicht viel an-
zufangen ſeyn. Jſt auch unſre Meinung nie
geweſen, daß wir am Staat’ haͤtten flicken
wollen, wie ehedem Meiſter Jobſen der
Schuſter zu ſingen pflegt’.
Leb der guten Hofnung, daß mein Brief
bey Jhnen alles ſchlichten und richten auch
Jhren Unwillen gegen den Wigand tilgen
werd’. Sollt’s nicht ſo ſeyn, thun Sie
mir’s zu wiſſen, wollen dann zuſehn, wie
der Sach’ auf andre Weiß’ moͤg zu rathen
ſtehen.
Am
Am Quatember.
Phyſiognomiſche Spekulation.
(Geſichtet.)
„Zu Befoͤrderung der Menſchenliebe.“
Menſchenliebe! Schlußſtein aller phyſio-
gnomiſchen Geheimniße, — deutlicher Fin-
gerzeig, — Stab und Leuchtpunkt dem
wallenden Wanderer auf dem Wege der
Kunſt. Nicht huͤpfender Jrrwiſch und Taͤu-
ſchung der Sinnen; kuͤrzeſte, perpendikular
fortlauffende, veſte Directionslinie, zum
Standort der Ueberſchauung des Ganzen. —
Aber auch Stein des Anſtoßes! Blaͤßlicher,
unkraͤftiger, hoͤchſtens nur wehenden Wind
verkuͤndender Nordlichtſchimmer, dem bloͤ-
den ungeſchaͤrften; und druͤckendes Sand-
korn dem Auge des luͤſternen Sehers, hin-
blickend in die mit heiligem ſchauervollen
Dunkel erfuͤllte Grotte der Sibylla philan-
thropotokos. — Wie die Saat, ſo die Ernd-
te: Arbeit und Lohn gegen einander aufge-
wogen,
wogen, reichlich wuchernde Fruchtgarbe dem
der nicht ermuͤdet die Hand an deu Pflug
zu legen, aufgelockerte Furchen zu ziehen,
und Keimtrieb umſchließendes Saatkorn dar-
ein zu verbergen; und wieder ganz natuͤr-
lich, Sonnenhirſe oder flachwurzelndes Far-
renkraut, uͤber Flugſand ſich hinbreitend,
der Gewinn der im Schoos laͤßig ruhenden
Hand, ſo lange nicht Thatkraft ſie belebt,
die unfruchtbare Oberflaͤche zu durchbrechen,
um befeuchtenden Hauch der all belebenden
Luftſaͤure einzuſaugen. — Ja zuweilen glat-
ter Bachſtein aus der Schleuder des ruͤſti-
gen Hirtenknaben, gegen die Felſenſtirn des
Hohnſprechenden Giganten geworfen.
Eins von dieſen dreyen gewiß, dem im
Vorhof des phyſiognomiſchen Heiligthums
weilenden Schauer. Der Eingeweihete,
oder eigentlich der wahre Artiſt ſuchet und
findet, baͤhet und waͤrmet ſeine erſtarrten
Gliedmaßen an der heiligen Flamme des Al-
tars, und gehet hinab gerechtfertiget. Der
Sudler tappt im Finſtern, haucht in die
hohle Hand, bleibt eiskalt und fuͤhlt nicht
die wohlthaͤtige Einwirkung ienes aͤtheriſchen
Feuers. Der ſpoͤttelnde Naſenruͤmpfer
mißkennt ganz den phyſiognomiſchen Drey-
klang,
klang, wie er ſeyn koͤnne harmoniſcher Ein-
klang oder Zuſammenklang, ruhend auf eben
ſo erweißbarem phyſiſchen Grunde, als die
Beſtimmtheit des Wohllauts oder auch des
Mißlauts im Zuſammenklang verſchiedener
Toͤne, aus dem geometriſchen Verhaͤltniſſe
der Laͤnge oder Verkuͤrzung der Saiten.
Dafuͤr aber auch ſind dem Hohnlacher ver-
ſchloſſen die Pforten des Heiligthums, wie
billig, zur Strafe: er iſt unter dem Ban-
ne, denn er will es ſo, weil er ſich ſelbſt
verbannet. Sezt ſich hin an die reine Sil-
berquelle, ſchmachtend und durſtend, will
ſich nicht hinab beugen, des koͤſtlichen Waſ-
ſers zu koſten, ſondern lieber Muthwillen
treiben, drein harnen, oder Staub drein
werfen um es zu truͤben; liebt nicht, und
wird nicht geliebt. Das waren meine Ge-
danken — —
Meine Gedanken??? Behuͤr’ der Him-
mel! Da weiß ich kein Wort von! Muß
traun ein Gloͤßlein einſchieben, daß ich das
Werk wieder eingleiſe. Hat der Schoͤnfaͤr-
ber hier von ſeiner eignen Farb ſo viel auf-
getragen, und mein Gemaͤchts dergeſtalt
und alſo uͤberpinſelt, daß kaum einer mei-
ner Grundzuͤg noch durchſchimmert. Moͤcht
ein
ein guter Bimsſtein noͤthig ſeyn, das unnuͤtz
Colorit damit wegzuſchleifen. Jch kom-
mentir’ mich alſo:
Phyſiognomik deutet auf Menſchenliebe,
als Ziel und Zweck der Kunſt, wer darauf
fußet und in dieſer Abſicht phyſiognomiſirt,
der kommt zum Ziel und lernt Menſchen
lieb gewinnen. Aber dem Angaffer duͤnkt
das alles Spielwerk und Nuͤrnberger Tand;
und der Faſeler kann’s auch nicht reimen,
reibt ſich die Augen, und ſieht nicht, wie
Phyſiognomik ſey Gebaͤhrerinn der Men-
ſchenliebe. Kommt alles drauf an, wie
einer eine Sach’ treibt. Wer’s recht angreift
hat Gewinn davon; macht’s einer obenhin
geht ihm auch alles Links. An dem Spoͤt-
ter raͤcht ſich die Kunſt: der iſt zu harthaͤu-
tig Menſchenliebe zu fuͤhlen, drum iſt ihm
zur Strafe ihr wonniglich Gefuͤhl verſagt.
Eins von dreyen begegnet dem phyſio-
gnomiſchen Forſcher gewiß; entweder ge-
lingts ihm, daß er der Kunſt Meiſter wird,
ihre Geheimniſſe durchſchauet und erfaͤhrt,
daß ſie lebt und webt in der Liebe; oder er
lernt nie drauf aus, bleibt ein kalter An-
ſtauner ſein Lebelang; oder er ſchlaͤgt ganz
um und vermag nie mit Jnnigkeit zu um-
Fſpannen,
ſpannen, wie ſich Phyſiognomik, Menſchen-
kunde und Menſchenliebe durcheinander flech-
te, daß der Faden menſchlicher Vervollkom-
mung heraus geſponnen werd’; zieht das
ganze Werk auf Muthwillen, und treibt
damit ſein Poſſenſpiel, wird aber auch nicht
geſaͤttiget durch Liebe. So weit das Gloͤß-
lein. Was folgt mag unter der Firma des
Verdeutſchers hinlauffen.
Das waren meine Gedanken, als die er-
ſte Seſſion unſrer phyſiognomiſchen Privat-
akademie, die aber durch thaͤtige Verwen-
dung bemittelter Menſchenfreunde, des
naͤchſten, Weſen, Form und Geſtalt eines
oͤffentlichen Jnſtituts erhalten duͤrfte, auf-
gehoben war. Es kamen, wie es bey dem
erſten Feuer der Unternehmung, und einer
ſo reichhaltigen Materie nicht wohl anders
ſeyn konnte, viel wichtige Dinge aufs
Tapet.
Der Exprofeſſor Wandeler, Verfaſſer
des unter verdecktem Namen vor kurzem er-
ſchienenen, ertappten Briefwechſels von der
Zauberey, Schroͤpferskuͤnſten, Nativitaͤt-
ſtellen, Sympathie und Geſpenſtern, wel-
ches Kernbuch nicht nur die Wahrheit al-
ler dieſer Dinge zur Ehre unſers Zeitalters,
in
in der buͤndigſten Schlußfolge, von neuem
beſtaͤtiget, ſondern auch noch neben her
ſehr bequem als ein kompendioͤſes Titular-
buch zu gebrauchen iſt; dieſer ſcharfſinnige
Schriftſteller, Vielwiſſer, Exulant und
Tiſchfreund meines Nachbarn des Kam-
merherrn von ** eroͤfnete die Sitzung mit
einer feierlichen Rede, vom Urſprung phy-
ſiognomiſcher Gefuͤhle, aus dem Umfaſ-
ſungsblick des Sehers.
Hierauf brachte der Buchhaͤndler Dods-
ley, weiland Verleger aller confiſcabeln
Schriften, der aber ſeit einigen Jahren in
merklichen Verfall der Nahrung gerathen
und ganz vergeſſen iſt, eine Bill ein, den
Verfaſſer der Fragmente durch eine Depu-
tation, oder in einer Bittſchrift zu erſuchen,
dem zu erwartenden vierten Theile der Frag-
mente, die Phyſiognomik der bisher noch
unbearbeiteten Theile des menſchlichen Koͤr-
pers, inſonderheit eine vollſtaͤndige Charak-
teriſtik der Waden, dies reichhaltigern phy-
ſiognomiſchen Suͤjets, als das Studium
der Haͤnde und Handſchriften, beyzufuͤgen,
und dadurch den wißbegierigen Hunger vie-
ler Kunſtverwandten zu ſaͤttigen. Wurde
zweymal verleſen und auf den Tiſch gelegt.
F 2Zunaͤchſt
Zunaͤchſt ruͤckte der Rektor Brunold den
Stuhl, trat auf und hielt einen gelehrten
lateiniſchen Sermon: de ſcientia phyſio-
gnomica antediluviana, worinnen er eine
neue Meinung von dem Zeichen an Cain
vorbrachte, und bewieß, daß alles Gezaͤn-
ke der Ausleger uͤber dieſe Stelle, durch
ſeine phyſiognomiſche Erklaͤrung wegfallen
muͤßte. Loths Engel gaben ihm Gelegen-
heit uͤber die Engelphyſiognomie viel Neues
und Unterhaltendes zu ſagen. Er behau-
ptete als einen Grundſatz, ſie ſey keines-
weges willkuͤhrlich, ſondern beſtimme ſich
nach dem innren Engelcharakter eben ſo ge-
nau wie die menſchliche. Weil ſonſt Loths
Engel ſehr uͤbel wuͤrden gethan haben, in
einer ſo reizenden Geſtalt zu erſcheinen, daß
dadurch die Begierden der Einwohner zu
Sodom waͤren entzuͤndet worden. Doch
ſtuͤnd es ihnen frey ihre Geſtalt auf man-
cherley Art zu modificiren: denn der Teu-
fel koͤnne ſich ia zuweilen in einen Engel des
Lichtes verſtellen. Wiewohl es gewiſſe nicht
zu verkennende Abzeichen gaͤbe, die dem
Scharfblick des Phyſiognomen bey einer
Engelerſcheinung nicht entgehen koͤnnten,
und mithin wuͤrde der Satanas einen aͤchten
Sohn
Sohn der Kunſt ſchwerlich taͤuſchen koͤnnen.
Den Beſchluß machte er mit einer intereſ-
ſanten Nachricht von dem zehenten der ober-
ſten Engel, genannt Hexael, oder Dr.
Schroͤders Engel, der vor der Suͤndfluth
mit den Menſchenkindern ſehr en Camerade
gelebt, ihnen Schwerdter und Bruſthar-
niſch zu machen, auch Gold, Silber und
Edelſteine zu behandeln gelehret hat. Aeu-
ſerte hierbey allerley ſcharfſinnige Muth-
maſſungen uͤber die Geſtalt deſſelben, und
warf die Frage auf: wo ſind aber die neu-
ne? welche er iedoch in dem naͤchſten Schul-
programm ausfuͤhrlich zu beantworten ſich
vorbehielt. Jndeſſen wuͤnſchte er daß es
Herrn Schroͤder ſelbſt gefaͤllig ſeyn moͤchte,
uns mit der Claſſe dieſer Engel ſo bekannt
zu machen, als Herr Schreber mit der
Claſſe der ſaͤugenden Thiere gethan hat.
Herr F**aff, ehemals Freiwilliger un-
ter dem Klotziſchen Faͤhnlein, ſo lang es
wehete, Schoͤndenker, Recenſent und Heer-
poſauner, dermalen homme de lettres à
Bourbach, ein iunger ruͤſtiger Mann, deſ-
ſen Phyſiognomie unter den witzigen Koͤpfen
ſich ſo vorzuͤglich auszeichnet, als die Phy-
ſiognomie eines Feldwebels unter den Un-
F 3teroffi-
terofficiers; und aus deſſen Handſchrift Mi-
lord Montaiguͤ, der es an der Aufſchrift
der Briefe ſehen konnte, ob ſie ein Caſtrat
oder ein Kranker geſchrieben hatte, gleich
wuͤrde erkannt haben, daß er weder krank
noch caſtrirt ſey, im Fall er des Lords Kor-
reſpondent geweſen waͤre: lieferte zu den
Beweiſen aus alten und neuen Schriftſtellern
fuͤr die Wahrheit der Phyſiognomik, einige
Supplemente aus den Maximen des gemei-
nen Lebens, die gelehrter Muthwille in
zwey lateiniſche Verſe verfaßt hat. Sie
ſind in keinem gedruckten Buche, wohl aber
zuweilen an den Fenſterſcheiben und Waͤn-
den der Wirthshaͤuſer zu leſen, haben ſich
durch dieſe Art Tradition ſchon durch man-
che Geſchlechtsfolge herunter erhalten, und
geben Anweiſung, aus der Beſchaffenheit
einiger Theile des Geſichtes auf gewiſſe ver-
boxgene Talente zu ſchließen. Herr F**aff
konnte nicht aufhoͤren daruͤber zu witzeln,
und meinte ein Kommentar uͤber dieſes phy-
ſiognomiſche Apophtegma, mit einigen my-
ſtiſchen Stellen unſrer Dichter aufgeſtuzt,
waͤr fuͤr Herrn Dodsley ein ergiebiger Ver-
lagsartikel, ſeinen verfallnen Finanzen wie-
der aufzuhelfen.
Doktor
Doktor Baldrian, der als Auſkultant der
Verſammlung beywohnte, ein kalter Spoͤt-
ter und Starrkopf, der ſich nichts eindiſpu-
tiren laͤßt und andern alles abdiſputiren
will, dabey weder an die ſymboliſchen Buͤ-
cher noch an das acidum pingue glaubt,
und waͤhrend der akademiſchen Seſſion ver-
ſchiedene mal ſehr unanſtaͤndig uͤberlaut ge-
gaͤhnet hatte, warf nun den Kopf auf, als
einer der was wichtiges ſagen will, ſah
dazu aus wie zuſammengeknoteter Drang,
und plazte mit der unverſchaͤmten Quer-
frage heraus: ob unpartheyiſch beurtheilt,
alle dieſe Vorleſungen nicht leeres Gewaͤ-
ſche, oder aufs glimpflichſte, phyſiogno-
miſche Mikrologie waͤren, dabey die Wiſ-
ſenſchaft mehr verloͤhr als gewaͤnne? Es
entſtunden hieruͤber wichtige Debatten: der
Exprofeſſor wurzelte den Arzt nach Her-
zensluſt. Das Reſultat der Diſpuͤte lief
endlich dahinaus: daß wenn der Vorwurf
gegruͤndet waͤre, unſre phyſiognomiſche
Privatakademie das Gebrechen fader, ge-
ſchwaͤtziger und mikrologiſcher Abhandlun-
gen mit allen uͤbrigen Akademien in Euro-
pa gemein habe, von der Londner der Wiſ-
ſenſchaften an, bis auf die vaterlaͤndiſche
F 4der
der naturae Curioſorum, wie dieſes aus
ihren Schriften zur Gnuͤge erhelle.
Endlich wurden noch ein halb Dutzend
ſilhouettirte Koͤpfe meiner Bauern ausge-
haͤngt, und zur Uebung durchphyſiognomi-
ſiret, worauf die Verſammlung auseinan-
der ſchied. Mit Vorbedacht hatte ich des
Markus meines Schaͤfers Profil mit einge-
miſcht, da denn die ſonderbare Ueberein-
ſtimmung mit dem Ruͤdgerodtiſchen, beym
erſten Anblick allen und iedem in die Augen
fiel. Vermeinten einige der Herren ich
habe ſie damit aufs Eis fuͤhren wollen;
mir wars aber um Gewißheit in der Sa-
che zu thun, damit dem Tockmaͤuſer nichts
zur Ungebuͤhr geſchaͤhe.
Doktor Grobian lief mich auch noch mit
einer ſchnackiſchen Anmerkung an. Er be-
trachtete meine eigne Silhouette unter dem
Spiegel, und die Aushaͤngſel gegen uͤber
eins ums andre mit großer Aufmerkſamkeit,
und betheuerte, daß er zwiſchen beyden ei-
ne frappante Aehnlichkeit faͤnde. Das fuhr
mir nicht wenig wider die Stirn, weil ich
es fuͤr Spoͤtterey hielt; er aber wußte alle
Zuͤge ſo zu anatomiren und mit einander zu
vergleichen, daß durch eine uͤberwiegende
Mehr-
Mehrheit der Stimmen, die Meinung des
Arztes ohne Widerrede durchgieng. Nun
ſind meine Cutsunterthanen, den Markus
abgerechnet, der kein Eingebohrner iſt, ehr-
liche unbeſchotene Maͤnner, in der Gemein-
de; denn daß der Muͤller im Gered’ iſt,
er partuckele zuweilen mit dem Mehl, und
daß vom Altarmann einmal gemurmelt
wurde, er habe einen Diebsgriff in den
Klingelſack gethan, das iſt keinem erwieſen;
ich laſſe mir auch ganz gern gefallen daß
meine Phyſiognomie mit den Geſichtszuͤgen
eines andern ehrlichen Mannes uͤbereintrift,
er ſey wer er wolle: aber ſonderbar duͤnkte
michs doch immer, daß meine Bauern ih-
rem Gutsherrn gleichen ſollen, als ein Ey
dem andern. Jch machte mich alſo druͤber
und verglich die Schattenkoͤpfe nochmals;
je laͤnger ich ſie aber betrachtete, deſto mehr
uͤberzeugte mich der Augenſchein, daß Dr.
Baldrian richtig geurtheilt hatte, ob ich
gleich den zureichenden Grund davon nicht
finden konnte. Weil aber in dem lezten
Jahrzehend gar viele Dinge ohne zureichen-
den Grund geſchehen ſind, nachdem Wolf
mit ſeiner Lehre pro emerito iſt erklaͤret
worden, mocht ich weiter nicht nachgruͤbeln,
F 5und
und blaͤtterte vor Schlafgehen noch ein we-
nig in den Fragmenten.
War doch recht ominoͤs, daß ich gerade
im erſten Theile auf die herrliche Lehre von
Familienphyſiognomien ſtieß, wie ſie ſich
durch viele Geſchlechter hinunter erhalten,
und ſo kenntlich immer wieder hervorkom-
men, daß du aus einer Menge ſolcher Fa-
milienportraͤte, die unter eine Menge ande-
rer gemiſcht wuͤrden, viele zur Familie ge-
hoͤrige, wieder zuſammen finden koͤnnteſt.
Das gab mir reichlichen Aufſchluß uͤber den
phyſiognomiſchen Erfahrungsſatz des Dok-
tors; ich bedachte, daß meine Voraͤltern
vermuthlich fuͤr die Bevoͤlkerung ihres
Stammgutes geſorgt haͤtten, wie es noch
bey vielen Gutsherren der Brauch iſt: denn
die Praxis gewiſſer Gewohnheiten veriaͤhrt
nicht ſo leicht als philoſophiſche Theorien.
Ueber dieſes ging mir dadurch noch ander-
weit ein großes Licht auf: denn einmal ſchuͤt-
telte ich von obigem fruchtbaren Lehrſatz oh-
ne Muͤhe mir einen ganzen Hut voll nuͤzli-
cher Wahrheiten herab, davon ich hier zu
weiterm Nachdenken nur folgende notire.
Erſtlich, mit den Familienphyſiognomien
hats ſeine gute Richtigkeit.
Zweitens,
Zweitens, zu einer phyſiognomiſchen
Sippſchaft gehoͤren nicht eben Perſonen von
einerley Stande und Geſchlechtsnamen.
Drittens, ganz heterogene Geſichtsfor-
men in einer und derſelben Familie, laſſen
Guckukseyer in dem Neſte der Graßmuͤcke
vermuthen.
Viertens, den rothwangigen Laͤuffer mit
der Phyſiognomie voll kecker, feſter, ſtol-
zer Sinneskraft des Junkers, und den Jun-
ker mit der vagen, ſtumpfen Kutſcherphyſio-
gnomie, voll flacher Gemeinheit, verpflanzt
der Phyſiognom mentaliter, ieden in ſein
natuͤrliches Erdreich, wenn ers gleich aͤuſ-
ſerlich ignorirt.
Andern Theils fiel mir der klare Sinn
der Worte „zu Befoͤrderung der Menſchen-
liebe“ deutlich in die Augen. Wenn hab
ich, oder wenn haͤtt’ ich meine Gutsunter-
thanen ie mit Bruderliebe umfaßt? Wo
mich nicht eine phyſiognomiſche Unterſu-
chung uͤberzeugt haͤtte, daß ſie meine Bruͤ-
der und Vettern ſind, ſo waͤr das Vorur-
theil des Abſtandes vom Ritter zum Knecht,
das mit mir herangewachſen und aufgeſtaͤn-
ſtaͤngelt war wie wilder Hopfen, nie aus
meinem Hirn auszuwurzeln geweſen.
Couſine!
Couſine! Couſine! wie wird ſich dieſer
Tiefblick in die phyſiognomiſchen Geheim-
niſſe mit ihrem hochſchwebenden Adelsideal
vertragen? Die laͤndlichen Dirnen, in de-
nen Sie vergroͤberte Organiſation der
Menſchheit erblicken, ſind vielleicht nur
vergroͤberte Kopie aͤchter Familiengemaͤhlde.
Wagen Sie den Verſuch einer phyſio-
gnomiſchen Vergleichung; aber nach den
bedeutſamen Zuͤgen des Geſichts, und nicht
nach dem Umriß Jhrer himmelanſtrebenden
Puderalpe, die den Gipfel in eine Blon-
denwolke verbirgt. Eine alte Wahrheit oh-
ne Kraft und Saft, das iſt ohne Wirkung
aufs Herz, ſagt, alle Menſchen gehoͤren zu
einer Familie. Wenn wir dieſe Wahrheit
mit etwas phyſiognomiſcher Wuͤrze verſe-
tzen, ſo wird ſie wieder anziehend. Durch
Huͤlfe einer kleinen Spekulation ſinden wir,
daß wir nicht bis auf den Ahnherrn Noah
hinauf ſteigen duͤrfen, den gemeinſchaftli-
chen Stammvater des in unſrer Dorfſchaft
bluͤhenden Menſchengeſchlechtes aufzuſuchen:
wenn wir genau zuſehen, ſind wir mit un-
ſern Unterthanen ſo erbverbruͤdert und erb-
vereiniget, wie dieſe untereinander. Die
Katzen gehoͤren eben ſo wohl ins Loͤwenge-
ſchlecht,
ſchlecht, als die Loͤwen ins Katzengeſchlecht.
Fuͤr dieſe kleine Demuͤthigung unſres Erb-
ſtolzes haben wir den Troſt: es iſt uͤberall
in ganz Europa tout comme ches nous.
Laſſen Sie uns dieſen Tiefblick in unſre
Familiengeheimniſſe mit Schlangenklugheit
und Taubeneinfalt benutzen. Fragen Sie:
wie geſchicht das? Antwort: wenu wir uns
der Vorrechte unſrer Geburt in der Stille
erfreuen; keiner Menſchenſeele aber das
Gewicht derſelben fuͤhlen laſſen, und allen
die unter uns ſind mit Liebe begegnen, da-
mit ihnen die Hochachtung verbietet, daran
zu gedenken, daß ſie Fleiſch ſind von un-
ſerm Fleiſch und Bein von unſerm Bein.
Am
Am Tage Sankt Kilian.
Abentheuer.
Was auch das alte Spruͤchwort ſagt,
daß das, was man hinter’m Zaun’ aufließt,
nicht viel taugen ſoll: ſo hat doch dieſe Re-
gel wie alle Regeln in der Welt ihre Aus-
nahmen. Heut hab einen Fund gethan, —
hinter’m Zaune, das iſt wahr; — aber um
viel Geld waͤr mir nicht die Wohlluſt feil,
eine ſeufzende Kreatur beruhiget, die lei-
dende Unſchuld getroͤſtet, und die ſchmach-
tende Duͤrftigkeit erquickt zu haben. Das
denk’ ich, predigte der Paſtor am Sonn-
tag’, und ich uͤbt’s aus den Dienſtag. Der
gute Mann irrt alſo, wenn er, ſeitdem
ihm mein Philipp die Haſenſchlingen vori-
gen Winter im Pfarrgarten zerſchnitten hat,
der Meinung iſt, ich ſey ein Irregenitus,
und koͤnne keine guten Werk’ thun.
Unter einem Apfelbaum’, hinter meinem
Garten, fand ich gegen Untergang der Sonn’
ein
ein Weiblein in Schatten ruhend, mit dem
linken Arm ſtuͤzte ſie ihr Haupt auf ein
kleines Packt ihrer Waͤſche und Kleider. Ein
ſchwarzer Baſthut mit einem blaßrothen
Band’ und zwey welkenden Feldroſen ge-
ſchmuͤckt, bedeckte ihr Geſicht; nur Mund
und Kinn waren ſichtbar, und ließen keine
ſchlechte Bildung vermuthen.
Hier iſt Nahrung fuͤr deinen phyſiogno-
miſchen Hunger, dacht’ ich, wenigſtens be-
maͤntelte dadurch mein Herz den Jnſtinkt
zur naͤhern Bekanntſchaft mit der Unbekann-
ten; ſchlich alſo unbemerkt naͤher zu ihr
hin. — Aber wie mir zu Muth’ ward’!
als aus ihrem ſchwellenden Buſen ſich lau-
te Seufzer hervordraͤngten; als ihre weiſſe
Schuͤrze die Thraͤnen gierig verſchlang, die
von den Wangen wie der Thau aus der
Morgenroͤthe herab traͤufelten! Jedes Auf-
ſchluchſen des Maͤdchens war fuͤr mein inn-
res Gefuͤhl ein elektriſcher Schlag, und
wenn nicht ein ploͤzlicher Zufall mich aus
dieſer empfindſamen Ekſtaſe geriſſen haͤtte,
ſo wuͤrd’ ich noch bey Sternenklang der Naͤ-
nie des lieblichen Maͤdchens zugehorcht ha-
ben. Aber das Mitleid regte ſich ſo ſehr,
daß ich ganz weichmuͤthig wurde. Nun
hat’s
hat’s mit mir die ſonderbare Bewandtniß,
wenn mir’s weinerlich wird, daß ſich der
Schmerz iederzeit durch ein gewiſſes ſonder-
bares Kribbeln im Naſenknopf aͤuſſert.
Jch konnt’ mir nicht wehren herzhaft zu nie-
ſen, daruͤber fuhr das arme Ding zuſam-
men, nicht anders wie ein Reh, wenn un-
verſehens in der Naͤh’ ein Schuß faͤllt.
Sie ſprang auf und wollte Feldein, ich
aber trat ſie freundlich an: Juͤngferchen
lauf ſie nicht! Bin kein Habicht der’s
Taͤubchen rupfen will. — Sie ſtund auf-
horchend und ſchuͤchtern. — Woher des
Landes mein’ Tochter? So ſpaͤt am Tage
und ganz allein? — Kein’ Antwort. —
Was iſt ihr begegnet? Was hat ſie zu iam-
mern? — Kein’ Antwort, aber ein tiefer
Herzensſeufzer.
Jch faßte ſie traulich bey der Hand:
Kind, ſey gutes Muth’s! Was du auch
fuͤr Anliegen haſt, vertrau mir’s. Seh
wohl, biſt ein armes verſcheuchtes Kuͤchel,
willſt auffliegen und findeſt kein Staͤnglein,
worauf du ruhen kanſt. — Komm mit
mir, ſollſt bey mir aufgehoben ſeyn, wie
in deines Vaters Hauſe.
Sie
Sie fuhr mit Entſetzen zuruͤck, oͤfnete ih-
ren Roſenmund, und ſprach mit unausſprech-
lichem Wohllaut, der meinem Ohr ſchmei-
chelte, als ie eines Weibes Stimm’ ihm ge-
ſchmeichelt hat. — Wie in meines Vaters
Hauſe? — Jch bin daraus entflohn! —
Hoͤren Sie mich, und urtheilen Sie, ob
eine Ungluͤkliche Jhres menſchenfreundlichen
Schutzes und Mitleids wuͤrdig iſt.
Meine Geſchichte hat den Gang der all-
taͤglichen Romane, die den Leſer durch ihre
Einfoͤrmigkeit ermuͤden. Aber was die idea-
liſche Welt traͤumt, wird in der wirklichen
mit der Zeit realiſirt; nur iſt iene vor dieſer
immer um ein halbes Jahrhundert voraus;
aber dennoch ihr vorgezeichneter Plan, der
nach und nach ausgefuͤhret wird.
„Sackerlot! dacht ich, wo mag das
Maͤdchen das her haben? ſie redt ia wie
ein Buch.“
Jch bin die Tochter eines ehemals wohl-
habenden Pachters, eines Mannes, der
wegen ſeiner Redlichkeit, ſeines untadelhaf-
ten Wandels, und des Eifers in ſeinem
Beruf in guter Achtung ſtund, ſo lange
meine Mutter lebte. Dieſe verlohr ich im
zwoͤlften Jahre. Mein Vater verheyrathe-
Gte
te ſich wieder, und ſeine zweite Ehe war ſo
fruchtbar, daß er in vier Jahren ſieben Kin-
der mehr zaͤhlte.
„Der verſtund’s, ſagt ich zu mir ſelbſt,
haͤtte wohl moͤgen heißen: allzeit Mehrer
des Reichs.“
Jch wuchs unterdeſſen in laͤndlicher Un-
ſchuld heran. Der gnaͤdge Herr kam von
ſeinen Reiſen zuruͤck; er hatte ſich zehn Jahr
in Frankreich aufgehalten, und neun davon
in der Baſtille zugebracht Ungluͤkliche Lei-
denſchaft oder Hang einen Roman auszu-
fuͤhren, der ihn in der Pariſer Einſiedeley
amuͤſirt hatte, gab ihm ein, meiner Tugend
nachzuſtreben.
„Dabey dacht’ ich an die Familienphy-
ſiognomien.“
Er bruͤtete vergebens uͤber ſeinem Laſter:
ich wieß ihn mit Spott und Verachtung von
mir, und er beunruhigte mich nicht weiter.
Jch glaubte meinen Verfolger gedemuͤthiget,
und mir ſo viel Achtung bey ihm erworben
zu haben, daß er ſich ſeiner ſchaͤndlichen
Entwuͤrfe ſchaͤme.
Kurz nachher wurde mein Vater zu einer
ſtrengen Rechenſchaft ſeiner bisherigen Ver-
waltung der Guͤter gezogen, man ſahe ſei-
ne
ne Rechnung nach, und rechnete geſchwind
nicht nur ſeinen vieliaͤhrigen Erwerb, ſon-
dern auch ſein eigenthuͤmliches Vermoͤgen
und ſeinen ehrlichen Namen hinweg, daß
ihm nichts uͤbrig blieb, als Schande und
der Bettelſtab.
Jn dieſer Verlegenheit ließ ihm der gnaͤ-
dige Herr einen Vergleich anbieten. — Ach,
ich Ungluͤkliche! war der Preiß, um wel-
chen er alle Anforderungen an meinen Va-
ter zuruͤcknehmen, und ihn bey Ehre und
Gut laſſen wollte. Dieſer Vorſchlag wur-
de ſehr billig gefunden, und von meinem —
— unnatuͤrlichen Vater angenommen. Mit
der Kaltbluͤtigkeit, mit welcher ein harther-
ziger Richter einen Dieb zum Strange ver-
urtheilt, entdeckte mir der Mann, der ehe-
mals mein Vater geweſen war, daß ich zum
Baalsopfer beſtimmt ſey, und belehrte mich
von der Pflicht ohne Widerrede zu gehor-
chen: weil es vernuͤnftig waͤre, einen Zahn
drum zu geben, wenn die Schmerzen des
ganzen Koͤrpers dadurch koͤnnten gehoben
werden.
Mein ſchauervolles Entſetzen, meine Bit-
ten und Thraͤnen — alles — alles das
ruͤhrte ihn ſo wenig, daß er mir mit kaltem
G 2Blute
Blute ins Geſicht ſagte, voriezt ſey das fuͤr
ihn nur Grimaſſen, Schall und Waſſer.
„O das entvaterte Herz! rief ich aus,
aus Platina zuſammen geſchmolzen, hart
und unbeugſam im Feuer ſelbſt!“
Jch ſchwieg. Ein tiefer ſtummer Schmerz
betaͤubte mich; aber beym erſten Augenblick
der Ueberlegung rafte ich einige Kleinigkei-
ten zuſammen, und verließ unter Beguͤn-
ſtigung einer Mondhellen Nacht, meine vaͤ-
terliche Wohnung als Fluͤchtling, die ich
nie anders als im Brautgepraͤnge zu verlaſ-
ſen gedachte.
Vor Herzdruͤckenden Jammer konnte das
Maͤdchen nicht weiter reden. — Wein’ dich
aus mein’ Tochter, ſprach ich im iammern-
den Ton, wein’ dich aus, wiſchte dabey
ein paar große Thraͤnen, wie die Tropfen
von geſchmolzenen Schloßen aus den Au-
gen. Sie bemerkt’s, gewann Vertrauen
zu mir, ruͤckt’ ihren Baſthut, als um ſich
zu luͤften in die Hoͤh’, daß ich ſie anſchauen
konnt’ die reine keuſche Engelphyſiognomie,
wie ſie da ſtund in ihrer hohen Menſchen-
wuͤrde, gleich der Heva, als ſie aus der
Ribbe Adams zur Maͤnnin hervorkeimte in
einer Unſchuldswelt.
Weiß
Weiß bis dieſe Stund’ nicht wie mir uͤber
den Anblick zu Muth ward’; daͤucht mich,
ich waͤr auf einmal ganz veramort, wie
man von dem Schoͤpfer der Grazien zu ſa-
gen pflegt. Waͤr auch wahrlich! nicht zu
verwundern geweſen: das Helldunkel des
Abendlicht’s, durch die gruͤnen Gewoͤlbe
meiner Obſtbaͤum’ hinwallend, gab der Ge-
ſtalt des Maͤdchens einen Zauberreiz, daß
ich mich nicht enthalten konnt’, aus der Fuͤl-
le des Herzens mit Vater L. auszurufen:
welch ein Geſicht voll Salbung! gut und
lieblich, das wie die lieblichſte Salbe
alldurchdringenden Wohlgeruch ausduftet.
Wer kann beſchreiben den Wohlgeruch des
Salboels, ausgegoſſen aufs Haupt des lie-
ben Maͤdchens, ſanft herabtriefend bis zum
Saume des Kleides! — Wie abgeſchnit-
ten war nun meine Red’ auf einmal, konnt’
weiter kein Wort vorbringen, winkt ihr mit
der Hand mir zu folgen, und ſie that’s.
Wie wir ſo durch die Johannisbeerhecke
giengen, blickt’ ich ſo beyher von der Seite
nach ihr um, das mocht’ ihr wohl allerley
Gedanken machen: denn ich merkt in ihrem
Geſicht ſichtbare Verlegenheit. Alſo macht
ich ſchnell einen Bund mit meinen Augen,
G 3das
das liebliche Geſchoͤpf nicht anders als mit
phyſiognomiſchen Sinn zu beantlitzen; ob-
gleich das Herz ſich auf alle Seiten draͤngte
einen Ausweg zu finden, und mit der Ver-
nunft daruͤber expoſtulirt’, wie Bileams
Eſel mit ſeinem Reuter.
Wie wir ins Haus traten, potzelement!
wie gaften meine Leut’ das Doſengeſichtgen
an, ſteckten die Koͤpf zuſammen und mun-
kelten unter einander, dies und das. Jch
aber ließ die Frau Gertrud kommen, mein’
Ausgeberinn, und band ihr das Maͤdchen
auf die Seel’ um ihrer wohl zu pflegen.
Jhren Namen und Heymath wollt’ ſie
nicht entdecken; mit ihrem Taufnamen aber
nennt ſie ſich Sophie, den frug ihr die Cou-
ſin’ ab. Es verdroß mich iedoch nicht we-
nig, als ſie aus Spoͤtterey als waͤr’s Zer-
ſtreuung, das liebe Maͤdchen mit der alber-
nen Frag’ narrt’: ob ſie die famoͤſe Sophie
waͤr, die auf der Reiſe von Memel nach
Sachſen verungluͤckt ſey? Jch frug aber
gleich was anders, daß das verſchwatzt
wurd’; die Sophie warf gleichwohl einen
ſo bedeutenden Blick auf die Couſine, daß
es wohl zu merken war, ſie hab’ die Naͤcke-
rey empfunden.
Sie
Sie mußt uns ihre Geſchichte noch ein-
mal in pleno erzaͤhlen, und ihre Gebehr-
den verbuͤrgten mehr als beſchworne Auſſag’
dreyer Zeugen die reine goldlautere Wahr-
heit ihrer Wort’ und Reden. Denn ihr
ganzes Geſicht iſt Stempel kindlicher Un-
ſchuld und Aufrichtigkeit, und theilt das
Gepraͤge derſelben ieder ihrer Aeuſſerun-
gen mit.
Eh’ wir auseinander ſchieden, zeichnet’
ich noch ihr Schattenprofil, nahm’s mit in
mein Kloſet, und deutet’ es mit Huͤlfe des
Jdeals, das mir von der holden Dirn’ gar
anſchaulich vorſchwebt’ alſo: ein Geſicht
das ohne Praͤtenſion praͤtendirt, eine reine,
gute, in ſich ſelbſt wohnende Seele. Die
Stirn ſo Eindrucksfaͤhig, ſo ohn’ alles Ar-
ge. Die Naſe ſicherlich einer keuſchen edlen
iungfraͤulichen Seele wuͤrdig. Das Auge
hinſchmachtend in Wonnegefuͤhl unkoͤrperli-
cher Liebe. Das Ohr, beſonders im zarten
Sammetweichen Ohrlaͤpplein, hat viel Aus-
druck von Sanftheit. Empfindſamkeit und
weichmuͤthige Guͤte in der vorſtehenden
Oberlippe, ſo wie honigſuͤſſe Lieblichkeit im
Munde uͤberhaupt.
G 4O du
O du weiblicher Engel! ſey mir gegruͤſſet
unter meinem friedlichen Dach’, ein heiliger
Zufluchtsort deiner Sittſamkeit und Unſchuld.
Ruhe ſanft, in kloͤſterlicher Sicherheit dei-
nes unzugaͤnglichen Schlafgemachs! Kein
ſorgſamer Gedanke, eines deiner Tugend
auflaurenden Hinterhaltes ſchrecke dich auf
aus deinem Schlummer; ſie dekt dich ſelbſt
mit ihrer Aegide, und ſchuͤzt dich ſicherer
vor den Pfeilen der Verſuchung, als ein
eiſernes Gitterbett nebſt Schloß und Riegel.
Ruhe ſanft! bis die keuſche Morgenſonne,
welcher allein vergoͤnnet iſt in dein Kaͤm-
merlein zu ſchauen, dich zum Genuß eines
froͤhligen Tages deines ſchuldloſen Lebens
wekt.
Mit dieſen und dergleichen warmen Her-
zensgedanken ging ich zu Bett’, thaͤt mein
Licht aus, und ſchlief flugs und froͤlich
ein.
Am
Am Tage Bonaventuraͤ.
Beherzigung.
Mein Gutsnachbar, Kapitaͤn Rambold,
hatte mich bey ſeinem Soͤhnlein zu Gevat-
ter gebeten, konnt’ ihm nicht entſtehen ſei-
ner Bitt’ zu willfahren und das chriſtliche
Werk zu verrichten. Nach der Taufhand-
lung gabs allerley Schnack und Kurzweil,
aber auch viel ernſthafter Reden und Un-
terhaltungen, wie’s bey Ehrengelagen auf’m
Land’ pflegt herzugehn. Waren der Ge-
vatterleut’, die Abweſenden mit eingerech-
net, an der Zahl drey und dreißig. Dok-
tor Baldrian, der immer mit unter eine
Thorheit zu ſagen pflegt, meint’ dieſe Zahl
der Pathen, bey einem und dem naͤmlichen
Kind’, ominir etwas: denn drey und dreißig
ſey halb ſechs und ſechszig, und das ſey die
mindre Zahl des apokalyptiſchen Thieres,
und der Hypothek Schuld Vater Hamanns;
aber die volle Zahl der Berliner Kunſtrichter-
gilde. Daraus ließ ſich fuͤr den neugebornen
G 5Junker
Junker die Nativitaͤt dahin ſtellen, daß er
einmal in der Welt Aufſehen machen werd’
ungefehr halb ſo viel als eins oder auch als
alle drey dieſer mit der Zahl ſechs und ſechs-
zig geſtempelten Ding’. Des Kindesvater
erklaͤrte die Sach’ anders, meinte, die Zahl
drey und dreißig ſey ihm immer gluͤklich ge-
weſen: er ſey Anno drey und dreißig gebo-
ren; hab’ im drey und dreißigſten Jahre
ſeine Kompagnie in Holland und ſeine Frau
bekommen; hab’ auf die Zahl drey und
dreißig als das ietzige Lebensiahr der Kind-
betterin in’s Lotto geſezt und einen beſtimm-
ten Auszug gewonnen, von deſſen Ertrag
er die drey und dreißig Gevattern zu bewir-
then gedaͤchte.
Nachdem das erſte Brauſen der Unterre-
dung ein wenig verdunſtet und der Koffee
herum war, zog eine beiahrte Tante und
Mitgevatterin ein ſeidnes Tuch hervor,
ſchlug’s bedachtſam auseinander, und be-
ſchenkte ihr Pathgen mit einem zuſammen
gelegten Papier, worinn ich eine gute Por-
tion Marggrafenpulver vermuthete; aber
mit nichten! ’S war eine Segensformel
aus der Gaßneriſchen Fabrik, bey Kindern
und Erwachſenen als Amulet zu gebrau-
chen,
chen, um bey ienen das Schraͤllein oder
die Trudt, und bey dieſen Gefroͤhrniſſe,
Aufbaͤumungen und durch Malefiz verur-
ſachte Hinderniſſe der Eheleute zu vertreiben,
wiewohl Gevatter Rambold daruͤber keine
Klag zu haben vermeinte. Sie verehrt’s
dern Kinde mit dem Beyfuͤgen: man pfleg
zwar hier zu Land’ auf dergleichen Ding
nicht zu achten; inzwiſchen wenn’s nicht
helfe, koͤnnt’s auch nicht ſchaden. Doch
die gute Tante haͤtt’ viel drum gegeben,
daß ſie ihr Wort wieder gehabt haͤtt: das
Ungethuͤm, Dr. Baldrian ruͤmpfte ſeine
hippokratiſche Naſe, und fuhr ihr an den
Hals wie ’n wilder Kater, ſah das als ei-
nen Eingriff in ſein mediciniſch Forum an,
erklaͤrt’ die Segensformel fuͤr Kontreband,
und rollt’s Papier als einen Fidibus zuſam-
men; wuͤrd auch ſonder Zweifel der alten
Dame, ohne Ruͤckſicht auf die geiſtliche
Verwandtſchafft, noch einen langen Ver-
balprozeß gemacht haben, wenn ſich nicht
der Hauswirth dazwiſchen gelegt und ſie
auseinander geſchieden haͤtt’.
Die Herren Geiſtlichen ſaßen zuſammen
in ihrem eignen Zirkel, fuͤhrten allerley er-
baulich Geſpraͤch unter einander, dolirten
heftig
heftig uͤber den ſchwarzen Kornwurm und
das leidige Toleranzweſen. Die Antiſym-
boliſten mußten auch weidlich herhalten, und
die heutige Kindtauffe gab den Herren rei-
chen Stoff zu einer Unterhaltung, von den
neuern Lehrmeinungen von der Taufe. Die
ehrwuͤrdige Synode fuhr gar uͤbel mit einem
großen Doktor der Theologie, der die Tau-
fe in einer ſeiner Schriften fuͤr nichts weiter
als Bekenntnißhandlung, oder bey Kindern
als Weihung zur chriſtlichen Religion will
gelten laſſen. Es fehlte wenig, daß nicht
ein geiſtlich Halsgericht uͤber ihn waͤr gehe-
get worden, und da haͤtt’ ich friſch mit ad
ignem votirt. Soll auch noch ein Buch
neuerdings uͤber dieſen Lehrpunkt heraus ſeyn,
voll grober Jrrthuͤmer, das aber noch nicht
zu uns uͤber’n Wald gedrungen ſeyn mag,
denn es hatt’s keiner geleſen.
Magiſter Duͤnkler, der nicht meint, daß
es mit ſeinem Wiſſen Stuͤckwerk ſey, und
welcher im Vorbeygehen, der naͤmliche
Pfarr iſt, der mit Wieland das Kolloqui-
um gehabt und den Dichter dabey ſo warm
gehalten hat, wie davon das ganze Proto-
koll im Merkur ausfuͤhrlich zu leſen iſt,
prieß unſre Partialkirche hinter’m Wald-
gluͤklich,
gluͤklich, bey dem unablaͤßigen Hin- und
Herſchwanken der Ebbe und Fluth theologi-
ſcher Meinungen und Lehrſaͤtz: weil dieſe
allverſchlingenden Wogen nicht eher zu uns
gelangten, bis ſie ſich erſt uͤber das weite
Sandgeſtad’ her abgetobt, und ihre Kraft
zu verſchlingen und in ihrem Strudel fort
zureißen, verlohren haͤtten. Daher, wenn
der ſelge Gottesmann Luther wieder aufſte-
hen, und eine Kirchenviſitation halten ſollt’,
meint er, wuͤrden wir beſſer beſtehen als die
theologiſchen Schwung- und Kraftmaͤnner;
auch beſſer als die theologiſchen Handwer-
ker, Modeſchneider, Bordenwuͤrker, Ra-
firer und Friſirer, die die Glaubenslehr ad
genium ſaeculi accomodiren, daran ſchnei-
dern, verbraͤmen, wegputzen, kraͤuſeln und
ſtaffiren, daß ſie ausſeh’ wie ein Lieb’frau-
enbild beym Umgang an einem Feſttag’ und
dabey ihrer herrlichen erhabnen Einfalt ver-
luſtig geh; auch beſſer, als die exegetiſchen
Gewuͤrm und Jnſekten, die gierig an die
Schrift fallen, und mit ihrem Saugruͤſſel
den reinen Milchſaft in ſich ziehen; aber
nach der innren Struktur ihres Magens und
der Beſchaffenheit ſeiner Dauungskraͤft’ ei-
nen Chylus draus kochen, von dem ſie nur
ſich
ſich ſelbſt maͤſten, der iedoch nicht fuͤr Ho-
nig zu gebrauchen ſey, die Speiſen damit
zu ſuͤſſen, ſondern ſey und bleib Auswurf
und Unrath.
Alles das ſagte der Mann auf ſeine Ma-
nier, ich hab’s in die meine uͤbergetragen und
in mein Tagebuch verzeichnet, weil mirs zu
einer herrlichen Meditation Anlaß gab.
Bin ein einfaͤltiger Laye, iſt mir daher
nicht zum Ausſtehen, wenn mich einer in
meinem Glauben irr’ macht, den ich gelehrt
bin von meiner Jugend an. Gleichwohl
hat die verderbliche Neuerungsſucht in un-
ſern Tagen die Goͤttesgelehrten dergeſtalt
uͤberfallen, daß, nachdem ſie das ſymboli-
ſche Zaum und Gebiß uͤber die Ohren ge-
ſtreift, haben ſie den gebahnten Weg ver-
laſſen und galoppiren quer uͤber Feld, der
Eine dahinaus der Andre dort hinaus, daß
man ſich die Bein’ ablaufen moͤcht’, ihrem
Gang’ zu folgen, bis man marod’ iſt, ſie
fortrennen laͤßt, und aus Verdruß den er-
ſten beſten Raſenrand ſucht und einſchlaͤft.
Sollt’ duͤnkt mich der Glaubenslehr bey
Leib’ keine waͤchſerne Naſ’ angeſezt werden,
wie der Juriſterey, die man drehen koͤnnt’
wie man will. Wenn ieder wer Luſt hat
am
am Lehrſyſtem der Kirch’ ſchrauben und dre-
hen darf, ſo muß die ganze Maſchin’ wan-
delbar und verdorben werden. Kommt mir
nicht anders vor, als wenn einer ein Jn-
ſtrument haͤtt’, von einem guten Meiſter ge-
fertiget und bezogen; nun kaͤm einer her,
dreht’ einen Wirbel links den andern rechts,
waͤr all’ Harmonie und der ganze Gebrauch
des Kunſtwerks verlohren, bis der Meiſter
es wieder zurecht ſtimmt’.
Eben drum haben unſre Vorfahren ihre
Lehr in die ſymboliſchen Buͤcher verfaßt,
welche ſind das eigentliche Reſultat aller von
ihnen fuͤr wahr und richtig erkaunten Glau-
bensmeinungen. Wer nun dieſen beyzutre-
ten und ſich zu ihrer Gemeind’ zu halten ge-
dacht’, den konnten ſie nach allen Rechten
eidlich, oder wie’s ihnen gutduͤnkt’, verbin-
den, ihre Lehrſaͤtz zu bekennen und nicht da-
von abzuweichen in keinem Stuͤck. Jſt nun
viel Schreyens und Diſputirens in unſern
Tagen, das ſey Gewiſſenszwang: mit nich-
ten! Jſt nichts weiter als ein buͤrgerlicher
Kontrakt, den beyde Theil’ mit einander
ſchließen, die ganze Kommun mit einem ie-
den ihrer Glieder, zu Aufrechthaltung ih-
res Jnſtituts. Kommen ſie all’ mit einan-
der
der uͤberein, dieſen Kontrakt aufzuheben:
das kan niemand wehren; will einer draus
ſcheiden: auch gut! dem gebe man ſeinen
Laufpaß und laß’ ihn im Frieden ziehen.
Aber an den Jnnungsartikeln darf keiner ei-
genmaͤchtig meiſtern und beſſern, wenn er
auch gleich Maͤngel und Gebrechen daran
finden ſollt’. Wo iſt ein menſchlich Werk
ohne Fehl? Alle Geſetzbuͤcher, von dem,
das der weiſe Lykurg verfaßt hat, bis auf
das neue Geſetzbuch in Rußland, hat iedes
nebſt dem reinen guten Gehalt, auch ſeine
Legirung oder Zuſatz von Unvollkommenheit;
demungeachtet gilt’s vor voll in dem Staat
wo’s ausgepraͤgt iſt, verknuͤpft alle Theil’
in ein Ganzes veſt und unaufloͤslich zuſam-
men, erhaͤlt alle Operationen der Staats-
maſchine in einer gleichmaͤßigen Bewegung,
daß ſie in der naͤmlichen Beſchaffenheit lan-
ge Zeit ausdauren kann, wie eine Taſchen-
uhr die deſto laͤnger die Stunden richtig zeigt,
ie ſeltener man ſie zerlegen, putzen und re-
pariren laͤßt. Aber in der Glaubenslehr
will ieder den Zeiger anders ruͤcken und
darfs auch.
Wie das zugeht iſt mir kein Geheimniß;
ie mehr ich daruͤber dicht und denk, deſto
deut-
deutlicher wird mir’s, daß eine zwiefache
Urſach hievon obhanden ſey.
Einmal ſind die Theologen unſrer Kirch
auch Menſchen wie wir andern, fuͤhlen al-
ſo eben den Drang in ihrer Seel’ wie die
Layen, ſich aus der Dunkelheit empor zu
ſtreben, große Lichter am Kirchenhimmel
zu werden und den Anſtaunern ſich durch
das zehnſchuhige Sehrohr der Verherrlichung
als Stern’ erſter Groͤße zu praͤſentiren.
Duͤrft’ nun keiner aus der vorgezeichneten
Bahn ſchreiten, ſo ſtuͤnden ſie von dem Au-
ge des Beſchauers all’ in gleichem Abſtand’
ihr Glanz floͤß zuſammen wie der Schimmer
der Milchſtraße, und keiner koͤnnt am theo-
logiſchen Horizont wie der Sirius leuchten.
Daher das Ringen, Streben, Lauffen
nach Keckheit, Neuheit und Sonderlichkeit
in der Lehr’, im Vortrag, in der Ausdeu-
tung des Glaubens, der geglaubet wird;
daher der Schnack von Schwaͤrmerey, To-
leranz, Aberglauben und Predigerweſen,
der ſo viel Lungen in Othen, ſo viel Finger
der Schreiber in Bewegung und ſo viel Dru-
ckerpreſſen in Nahrung ſezt, daher endlich
das ewige Zimmern, Mauren, Tuͤnchen,
Pinſeln und Verzieren des ganzen kirchlichen
HGebaͤu-
Gebaͤudes, das dadurch endlich ein ganz
ander Exterioͤr gewinnt, wie das Haͤußlein
zu Loretto. Waͤr beſſer geweſen, man haͤtt’
ihm zu Befoͤrderung der Andacht frommer
Pilger, ſein’ eigenthuͤmliche Form und Ge-
ſtalt gelaſſen, in welcher es die lieben En-
gel den weiten Weg hertransportirt haben,
als nun, da es in einem koſtbaren Futteral
ſteckt, und nicht mehr mit leiblichen Augen,
ſondern allein mit den Augen des Glaubens
beſchauet werden kann.
Die zweite Urſach von all’ dem Unfug
iſt, daß unſre Theologen, naͤmlich die Jn-
fulirten, oder die den rothen Hut haben und
die Facultiſten, ihr Dichten und Trachten
allein auf das Fach gerichtet ſeyn laſſen,
worinn ſie leben und weben; kein Nebenher,
oder ein Lieblingsſtudium treiben, wie der
geringere Clerus zum wahren Vortheil der
Kirche betreibt; ſondern zerbohren, kaͤuen
und durchreuten die liebe Orthodoxie wie die
Holzwuͤrmer, daß ſie endlich, wie ein mor-
ſcher durchfreſſener Balken, auseinander fal-
len muß.
Ein weiſes Geſetz hat ehemals verordnet,
daß der iedesmalige Großſultan ſich einer
Kunſt, Handthierung oder Leibesuͤbung be-
fleißigen
fleißigen ſoll, damit es keinem einfallen
moͤcht’, ſeiner Sultanſchaft allein nachzu-
haͤngen, und nur Baſſen ſtranguliren zu
laſſen. Da wurd’ Einer ein Kunſtdreher,
der Andre ein Bogenſchuͤtz, der Dritte ein
Jaͤger, der die Reigerbeitz’ uͤbt’ —, worauf
ſich der ietzige verſteht, iſt mir nicht bewußt;
glaub aber, die alte Sitt’ ſey in Abnahme
gekommen, weil er die Veziers und Muftis
ſo fleißig exilirt, und die Koͤpf’ der Scheiks
und Hoſpodars ſo gern vor ſeinem Serail
aufgepflanzt ſieht.
Das Nebenher iſt dem Hauptgeſchaͤft ſo
zutraͤglich, wie der Weinſtock der Ulme:
beyde ſchlingen und verflechten ihre Zweig
und Reben durcheinander, wachſen und bluͤ-
hen luſtig zuſammen, indem der allzugeile
Ueberwuchs des Hauptſtammes, durch die
ins Nebengewaͤchs abgeleiteten Saͤfte zuruͤck-
gehalten und bezaͤhmet wird.
Noch nie iſt ein theologiſcher Litholog,
Muſchelſammler, Schmetterlingsiaͤger, Bie-
nenwaͤrter oder Wurmſpaͤher der Heterodoxie
bezuͤchtiget worden, oder daß einer davon
in Glaubensſachen hab Neuerungen begon-
nen; aber wer weiß, was der ſelge Probſt
Suͤßmilch, Paſtor Schaͤfer, Eiſen, Hahn,
H 2Fulda,
Fulda, Bergmann und viel andre, die ich
nicht zu nennen weiß, nach der Wirkſamkeit
ihrer Federkraft zu urtheilen, wuͤrden aus-
geſponnen haben, oder zum Theil noch aus-
ſpinnen wuͤrden, wenn ſie nicht gluͤcklicher
Weiſe, durch eine Nebenbeſchaͤftigung einen
Ableiter gefunden haͤtten, an dem der elek-
triſche Funken ihres theologiſchen Feuers
ſanft und ohne Schaden anzurichten, herab-
gegleitet und verglimmt waͤr. Jeder von
ihnen hatte ſein eignes Lieblingsfach: der
Eine zaͤhlte das Volk unablaͤßig, ohne ſich fuͤr
den Engel von der Tenne Arafna zu ſcheuen.
Der Zweite, was fuͤr ein Jnſekten- und
Pflanzenforſcher! Wie unermuͤdet im Schrei-
beu und unerſchoͤpflich im Erfinden! Was fuͤr
Materialien hat er nicht zuſammen getragen
um Papier daraus zu machen? Wenn’s auf
ihn angekommen waͤr, haͤtte der unterneh-
mende Mann, die ganze Schoͤpfung in die
Stampfmuͤhle geſchickt um Papier daraus
zu machen. Der Dritte kocht Quinteſſen-
zen aus dem Thier- und Pflanzenreich, ver-
wahrt ſie in Buͤchſen und ſchickt ſie in der
Koͤnige Haͤuſer zu koͤſtlichen Bruͤhen, ernd-
tet dafuͤr Lob und Beifall von gekroͤnten
Haͤuptern. Der Vierte iſt Meiſter in Me-
tallarbeit
tallarbeit wie Tubal Kain, Kunſtwerk und
Jnſtrumente zu feilen. Der Fuͤnfte graͤbt
in den Einoͤden veralteter Urkunden nach den
Wurzeln deutſcher Sprach’, auch weiß er
ſie ſchmakhaft zuzurichten, und der Sechs-
te beſchreibt die Hiſtorie ſeines Vaterlandes,
um Gelegenheit zu haben die Anſicht ſeines
Pfarrhauſes aller Welt in Kupfer vor Au-
gen zu ſtellen. — Alles das ohne Nachtheil
ihres Amtes, wie beym Apoſtel das Tep-
pichweben.
Wenn unſre Theologen insgeſamt dem
Beiſpiel dieſer ihrer wuͤrdigen Amtsbruͤder
folgen wollten; wenn keiner ſich eher vor
ſein Pult ſetzte, eine neue Meinung auszu-
ſinnen, bis er des Jahres ein paar Pfund
ſelbſt gewonnene Seide gehaſpelt, oder ei-
nige Dutzend Brennglaͤſer und Sonnenmi-
kroſkopen geſchliffen, oder einige Zentner
Mahagony Holz verarbeitet haͤtte; oder
wenn doch ia ihr Lieblingsideal auf Spe-
kulation geſteuret waͤr, die Herren fleißig
Phyognomik trieben, damit dieſe Geiſter-
quickende, nuͤtzliche und heilſame Wiſſen-
ſchaft fein bald die Kinderſchuhe vertraͤt’,
und zu einer ſolchen Evidenz gedeihen moͤcht
wie die Markſcheidekunſt: ſo wuͤrde die
H 3Toch-
Tochter Zion nicht mit ſo vielem modiſchen
Flitterſtaat belaſtet einhertreten, daß man
ihre wahre Geſtalt ſchwerlich mehr heraus
zu finden vermag.
Denn wahrlich! wenn ich mir die Glau-
bens-Phyſiognomie unſrer Kirch zur ietzi-
gen Zeit und zwey hundert Jahr zuruͤckgezaͤhlt
genau betracht’, ſo find’ ich weniger Aehn-
lichkeit zwiſchen beyden, als zwiſchen Ka-
pitaͤn Rambold und ſeinem neugebornen
Kinde; wo ich doch nach langem Beſchauen
endlich auf die Grundphyſiognomie ſtieß,
und ſolche zu beobachten ſo gluͤcklich war,
welches mir mehr Freude macht’, als wenn
ich den Venustrabanten in der Sonn’ er-
blickt haͤtt.
Eigentlich war das mein phyſiognomi-
ſches Penſum, das ich dieſen Tag ſtudiren
wollt’, und das ich uͤber die theologiſchen
Haͤndel, die mir den Kopf ganz irr’ gemacht
hatten, bald gar aus der Acht gelaſſen haͤtt.
Jch kam mit meinen Beobachtungen noch
juſt zurecht, die frappante, freilich veriuͤng-
te Aehnlichkeit des Kinderprofils mit der ſei-
nes Vates, zu erhaſchen. Sie ſtund ſchon
tief am Horizonte und eine Stunde nachher
war ſie ganz verſchwunden: der kleine Balg
hatte
hatte fich kirſchbraun geſchrien, und ſeine
Grundphyſiognomie dadurch ſo verſchoben,
daß er freilich hernach einer Meerkatz’ aͤhn-
licher ſah als einem hollaͤndiſchen Kapitaͤn.
Nun bin ich doch begierig zu erfahren,
ob auch das zutrift, daß die Grundphyſio-
gnomie nach dem Tode wieder zum Vor-
ſchein kommt. Das Kind iſt ſchwach, ſollt’s
der liebe Gott zu ſich nehmen mein Path-
gen, heut oder morgen, hab’ ich hinterlaſ-
ſen, daß mirs gleich gemeldet werd’. Da
will ich denn hinuͤber, und mich auch uͤber
dieſen Punkt belehren, damit mein phyſio-
gnomiſcher Glaube ſey Ueberzeugung aus
eigner Erfahrung und nicht Koͤhlerglaube,
wie das Spruͤchwort ſagt: Was das Auge
ſieht, glaubt’s Herz.
H 4Am
Am Tage Maria Magdalena.
Ueber thieriſche Stumpfheit, Horn und Stoß-
kraft des Menſchengeſchlechts.
Wenns einen wurmt, ſo gewinnt die gan-
ze Schoͤpfung um den Murrkopf her, ſo
weit ſie in ſeinem Geſichtskraiß liegt, ein
ander Anſehn, wird alles truͤb und unluſtig,
und was in ſeinen Sehwinkel einfaͤllt er-
ſcheint ihm mißgeſtaltet. Liegts am Aug’,
oder an der Seel’, oder an dem Ding ſel-
ber, das dem verſtimmten Seher vorſchwebt?
Denk’ wohl ’s lieg’ an beyden Letztern.
Wenns einem wohl iſt, fixirt die Seel’
ihre Aufmerkſamkeit auf das, was ihrem
Zuſtand homogen iſt, und ſchluͤpft ſchnell
uͤber das hinweg, was ihr widrige Ein-
druͤck’ machen koͤnnt’; ihre Kontemplation
iſt nur auf angenehme erquickende Jdeen ge-
richtet. Aber bey uͤbler Laune heftet ſie ih-
re Aufmerkſamkeit mehr aufs Unliebliche,
weils mit ihrem Zuſtand zu der Zeit ſympa-
thiſirt, und iſt eine Beobachterinn aller Diſ-
ſonanz,
ſonanz, Diſkrepanz, Flecken, Maͤngel und
Gebrechen. Hab’ mir das Theoremgen aus
eigner Erfahrung zugeſpitzt, und befind’,
daß es auf Phyſiognomik angewendet, ſo
viel werth iſt als irgend eins, woruͤber ſein
Erfinder das ευρηκα laut uͤber die Straßen
poſaunet hat.
Nun iſt mir Sonnenklar, warum zu ſo
vielen Leuten, unter andern auch zu den
Goͤttinger Recenſenten, die Geſichter in den
Fragmenten ſehr oft ganz was anders ſa-
gen, als was L. geſehen hat: naͤmlich die
Herren ſind, beym Beſchauen derſelben,
nicht in der Lavaterſchen Stimmung gewe-
ſen, und da verruͤckt ſich der Geſichtspunkt
unvermerkt, daß wie iedermann ſeinen eig-
nen Regenbogen, oder nach P. Hells Mey-
nung auch ſein eigen Nordlicht ſieht mit
leiblichen Augen; ſo beſchaut auch ieder
Phyſiognom, aus ſeinem eignen Stand-
punkt, des Menſchenantlitz mit den Augen
des Verſtandes, und dieſer Standpunkt
verruͤckt ſich, ſo oft die Stimmung der
Seele ſich veraͤndert.
Kan mir auch nun ein Problem des
Herzguten L. gar anſchaulich erklaͤren, das
mir vorher unaufloͤßbar war. Spricht der-
H 5ſelb’
ſelb’ irgendwo in den Fragmenten: „es be-
gegnet mir wenigſtens alle Jahr dreymal,
daß ich mich von gewiſſen Geſichtern weg-
wenden, und wenn ich in einem Zimmer
mit ihnen bin, hinausgehen und friſche Luft
ſchoͤpfen muß. — Warum meinen Augen
denn unertraͤglich? Ganz einfaͤltig, wegen
der erweisbaren Heterogenitaͤt der Geſichter.“
Jch vermein’ dieſe Antwort ſey ſo gut als
keine. Sollten unter ſo viel hundert oder
tauſend Menſchengeſichtern, die Herrn L.
das Jahr lang vorkommen, nur drey oder
vier Heterogene auf ihn treffen, neben wel-
chen das Seinige nicht freywillig coexiſtiren
kann; ſo muͤßt die Heterogenitaͤt gar eine
ſeltene Waar’ ſeyn, die man nicht auf allen
Straßen und Maͤrkten faͤnd, und wenn ſie’s
waͤr, wie koͤnnt’ ohne vorgaͤngige Analyſe
der bedeutſamen Zuͤg’, ein Menſchengeſicht
aufs andre die Wirkung thun, als der Bi-
bergeil auf eine empfindſame Naſe, und
herzgeſpann, Schwindel und Uebelſeyn
verurſachen? Jch erklaͤr dieß alſo nicht die
Heterogenitaͤt der Geſichter, ſondern Herrn
L. Spleen iſt Urſach, wenn er ſich von ge-
wiſſen Geſichtern ploͤtzlich hinwegwenden
und beyſeits gehen muß. ’S mag den gu-
ten
ten Mann auch wohl zu Zeiten was druͤcken
und wurmen, das ihn verſtimmt, ſo gut
wie mich ſeit zween Tagen. Da heftet
ſtracks ſeine Seel all’ ihre Aufmerkſamkeit
auf Diſkrepanzen und Diſſonanzen der Ge-
ſichtsformen, die ihm vorkommen, merkt
ieden Flecken den ſie bey guter Laun’ uͤberſe-
hen haͤtt, und dann uͤbt die Phantaſie ihre
gewoͤhnliche Taſchenſpielerey, macht aus
einer Muͤck’ ein Nashorn, verwiſcht all’
aufs Gute deutende Zuͤg’, und ſkizzirt eine
ſcheußliche Frazze hin, mit allen Attributen
der Tuͤck und Bosheit. Jſt alſo kein Wun-
der, wenn ſolch Jdeal den lieben Mann
baugt und das Herz engt, daß ihm ganz
weh drum wird und er ’naus muß, friſche
Luft zu ſchoͤpfen.
Hab’s an mir ſelbſt erfahren, was die
Stimmung der Seel’, Laun’ oder Humor,
fuͤr Einfluß auf phyſiognomiſch Urtheil hab’.
Seit den paar Tagen daß ich uͤbler Laune
bin, leſ’ ich faſt iedes Geſicht meiner Freund
und Bekannten, aus der Nachbarſchaft um-
her, anders als ſonſt; ſind gleichwohl die
naͤmlichen Zuͤg und Linien, die ich all’ ſchon
hundertmal uͤberſchaut, auch einzeln und in
ihrer Zuſammenfuͤgung nach dem innren
Gefuͤhl
Gefuͤhl iudieirt, und iedes Urtleil mit dem
phyſiognomiſchen Richtſcheit und Winkel-
maas des Meiſters ajuͤſtirt hab’. Wenn
ſichs Wetter in den obern Regionen meines
Hauptes nicht bald aufklaͤrt, duͤrft ich leicht
zu meinem phyſiognomiſchen Codex ſo viel
Varianten ſammlen, als Dr. Kennicot zu
ſeinem hebraͤiſchen, und waͤr noch immer die
Frag’, welche von unſern beyden Samm-
lungen der Welt am meiſten Nutz und
Frommen braͤcht. Ueber die ganze Tapete
linker Hand in meinem Kloſet, beym
Schreibtiſch, beſtehend aus 24 verjuͤngten
Silhouetten meiner benachbaiten Freund’
beyderley Geſchlechts, hat mein Spleen ein
Air von Stumpfheit, Schiefheit, Gedraͤngt-
heit, Verworrenheit ausgebreitet, davon ich
vorher nie etwas waͤhnte; alles erſcheint
mir nun verſchoben und wirrt gegen einan-
der. Dabey ſtellt mir die Phantaſey ganz
unwillkuͤhrlich ſo viel Thieraͤhnlichkeiten die-
ſer Bildlein vors Geſicht, daß ich mir’s
nicht wehren kann, aus dieſem und ienen
Horn- und Stoßkraft der Stier und Wid-
der, oder Schaafskoͤpfige Dummheit; an
andern Haaſigen Benagungshunger, Hirſch-
maͤßige Horchſamkeit, Dachshaftes unedles
bos-
boshaftes Mißtrauen uud Katzenartige Tuͤ-
cke, Schlauheit und Lauerſamkeit zu leſen.
Will doch Wundershalber einige dieſer Va-
rianten hier aufzeichnen, um zu ſehen, ob
nach einiger Zeit etwas davon ſtet und fix
bleibet; oder ob bey der Wiederkehr der lieb-
lichen Sonnenblicke eines heitern Gemuͤths,
das all’ wieder verliſchen und wegſchmilzen
werd’, wie die Figuren der gefrohrnen Duͤnſt
an den Fenſterſcheiben.
Nro. 3. Ein weiblich Profil, ſteht in
meinem phyſiognomiſchen Manual ange-
zeichnet, mit einer Naſe, die mich mit Ach-
tung, Ehrfurcht und Demuth gegen ſie er-
fuͤllt; ietzt ſetzt mein innres Gefuͤhl dazu:
hervor luͤſternd, Hohn ſitzt auf dieſer Naſe,
nicht ſtille verſchloſſene friedliche Klugheit.
Nro. 4. Ein Seelenvolles Geſicht, voll
Witz, Laune, Empfindungsempfaͤnglichkeit.
Zuſatz. Sieht ins Affengeſchlecht, eitel
Grimaſſe! Kommt mir das Maͤnnchen nicht
anders vor, als woll es eben einen krum-
men Sprung durch’n Reif machen.
Nro. 7. Fromme haͤusliche Tugend,
Gutmuͤthigkeit, Geiſt der Anordnung und
Geſchaͤftigkeit in weiblichen Verrichtungen,
immer ſieben ſtille Thaten, ſtatt eines Worts,
im
im Kinn weibliche Bonhommie. So das
Manual; aber der gegenwaͤrtige Gefuͤhls-
blick: recht hier an ihrem Platze! Eine boͤ-
ſe Sieben, zwiſchen den gutartigen Zuͤgen
ſcheint eine gewiſſe Heftigkeit des Charak-
ters durch, eine fortwaͤhrende Ebbe und
Fluth der Leidenſchaften, die alle haͤuslichen
Tugenden verſchwemmt und vertruͤbt; im-
mer ſieben lautkreiſchende Worte, ſtatt einer
ſtillen That. Das abgerundete leichtbe-
wegliche Kinn deutet auf Geſchwaͤtzigkeit,
beſonders wenns auf Verunglimpfung des
Naͤchſten gemeinet iſt.
Nro. 12. Ein maͤnnliches kraftvolles
Geſicht. Jm Uebergang von der Stirn zur
Naſe iſt Verſtand, in den Lippen wahre
Freundſchaft und aͤchte Treue. Jetzt alles
das nicht, nichts mehr und nichts weniger,
als bengelhafte Dreſcherphyſiognomie, Starr-
ſinn, Eigenduͤnkel, Stierartiger Stoßtrieb
und defenſiver Trutz. Kurzum, ein bepan-
zerter vollkommen liebloſes, dummſchaden-
des Weſen, wie der ungeheure Nashorn-
kaͤfer.
Nro. 17. Ein ſuͤßes iugendliches Ge-
ſchoͤpf, liebevolle Naivetaͤt, Wohlwollen,
die Stirn ſo rein weiblich, die Naſe einer
zarten
zarten guten Seele, im Munde ruhig laͤ-
chelnder Witz, mit etwas ſuͤßlicher Bonhom-
mie tingirt. Der Variant ſetzt hinzu: ia
wohl ſuͤß; aber wie ſchlechter gezuckerter
Wein, der auf Eßig ſticht. Aus dem nied-
lichen Laͤrvchen guckt Weiblichkeit, Ziererey
und Kocketterie heraus, aber unter’n Schley-
er kindlicher Unſchuld verſteckt. Mediſirt
das Maͤdchen ſchon friſch weg, und ſieht ſo
naiv dazu aus, als koͤnnt’ ſie kein Waſſer
truͤben; ſtoͤßt mit ihrem Stutzkoͤpfgen dem-
ungeachtet um ſich, wie die iaͤhrigen Laͤm-
mer pflegen wenns wittern will, oder ein
Platzregen bevorſteht.
Bin’s muͤde mehr aufzuzeichnen, wollen
ſehen, ob von dieſem Unkraut, das die boͤ-
ſe Laun zwiſchen den guten Phyſiognomi-
ſchen Waitzen geſaͤet hat, was aufkeimen;
oder ob Letzterer auf dem guten Acker mei-
nes Herzens die Oberhand gewinnen, und
das Lolch oder Tollkorn wieder verdruͤcken
werd. Kein Wunder, daß mir die Origi-
nale, wenn ſie hoͤchſtalbern auf mich die
Naſen ruͤmpfen, noch viel widerwaͤrtiger
und Frazzenmaͤßiger vorkommen, als dieſe
Kopien, mit ihren ruhig hinſtarrenden
Schattennaſen, Tret ich ietzt in den Zir-
kel
kel meiner Bekannten, ſo wiederfaͤhrt mir
das in einer Minute wenigſtens dreymal,
was dem Lavater in der Schweitz kaum in
einem Jahr dreymal begegnet. Jch ſtoß
all’ Augenblick auf ein fatal heterogenes
Geſicht, das mich druͤckt; muß ’mans in
die freie Luft, aus Gottes blauem Himmel
mit meinen Augen Erquickung zu trinken,
daß mir wieder wohl werd’ ums Herz.
Aber ’s hat mirs freilich darnach ge-
macht, das leidige Voͤlklein aus meiner
Nachbarſchaft, daß mir die Geduld ausge-
riſſen iſt, und niemand aͤrger als die oben
numerirten, wiewohl die unbenannten Zif-
fern nicht ausgeſchloſſen. Jſt ein Sparge-
ment und Maulgeſperr im ganzen Kirch-
ſpiel umher uͤber die Sophie, als ſey ſie
ein Wunderthier, oder eine Syren’ halb
Weib halb Fiſch, wie die ſchoͤne Meluſin’.
Jſt zeither mein Haus nicht leer worden
von Beſuch, hat mancher Gaſtwirth, der
ſich durch ein in Kupfer geſtochenes Aviſo,
mit Paſteten und Weinflaſchen verbraͤmt,
dem geehrten Publiko ankuͤndiget, nicht ſo
viel Einkehr. Jſt immer das zweyte Wort,
das eigentlich dem Thermometer gebuͤhrt,
die Sophie; denn mit dem Erſten bleibts
beym
beym alten, das gehoͤrt Ehrenhalber fuͤr den
Wirth. Da iſt ein Gefrag’ nach ihr, ab-
ſonderlich von den Damen, ein Gefluͤſter,
wenn ſie herein tritt in das Zimmer, ein
Angaffen, ein Ausforſchen, ein Mienen-
ſpiel. Da giebts Blicke, ſo zweydeutig,
ſo ſeitenſchielerlich, hoͤhnende Schmeiche-
leyen, verbiſſenes Gelaͤchter. Da ſtoͤßt
auf das liebe Maͤdchen, wie auf ein Huͤhn-
chen, das ſich auf einen fremden Hof ver-
flogen hat, alles was einen Schnabel hat,
Huhn und Hahn; auch der rothnaͤßige
Puterhahn dreht ſich ſtolz um ſie her,
ſchlaͤgt ein Rad, und giebt ihr unverſehens
einen Tritt mit unter, den ſie fuͤhlt.
Das gute Kind ſteht da, ſo beſcheiden,
in ſo liebenswuͤrdiger Verlegenheit, wagts
nicht die Kornblumfarbenen Augen aufzu-
heben, und den gierigen Falkenblick der An-
gaffer zu ertragen. Eine ſanfte Schaam-
roͤthe faͤrbt ihre Wangen, die der Unwille
uͤber die feinen Jmpertinenzen, welche ſich
ſtrenge Aſpaſien ſo gern erlauben, wenn
ihnen ihre Phantaſie was Laismaͤßiges vor-
gaukelt, allgemach gluͤhend roͤthet, daß ſie
der Kuͤhlung einer druͤber hinſchluͤpfenden
Zaͤhre beduͤrfen, die auf ſolchen, wie auf
Jeinem
einem gluͤhenden Blech verraucht, ohne den
aufwallenden Buſen zu erreichen.
Anfangs hatt’ ich keinen Arg daraus,
daß es den Leuten ſo ſehr nach der Sophie
verlangt; dacht’s waͤr weibliche Neugier
und nichts mehr. Staffiert’ alſo das lieb-
liche Geſchoͤpf ein wenig ’raus, daß ſie gar
fein in Geſellſchaft figurirt’, ließ ſie mit zu
Tiſch ſitzen, und da wußt ſie mit ihrer klei-
nen niedlichen Hand ſo zierlich vorzulegen,
daß das Aug’ immer einen Teller mehr be-
gehrt’ als der Magen; denn weder von der
Suite der dreyzehn Haͤnde, noch aus der
von neuen in den Fragmenten, kommt
der Jhrigen eine an Ebenmaaß und
Schoͤnheit bey. Aber bald wurd’ das un-
ſchuldige Wohlgefallen freventlich mißge-
deutet: Neid und Mißgunſt gloſterten hin-
term Stuhl im Geſellſchaftszimmer, lauer-
ten hinter Zaͤun und Buͤſchen beym Prome-
niren, trabten neben der Berline her bey
der Spazierfarth, blinzten aus ieder Fen-
ſterlucke auf dem Kirchweg’, und kommen-
tirten mit Zuſtimmung des haͤßlichen Arg-
wohns, dieſes Teufelsſcholiaſten, den ich
mir von dem Dechent von Pondorf gern
aus hieſiger Fluhr moͤcht wegexorciſiren laſ-
ſen,
ſen, all’ mein’ Schritt’ und Tritt’ mit der
Sophie alſo, als waͤr ſie eine Delila, der’s
um meine Haarlocken zu thun waͤr.
Dieſer Jrrthum haftet ſo veſt in der
Leut’ Koͤpfen, daß die Stimme der lau-
tern Wahrheit nichts dagegen vermag.
Die Sophie hat ihre Geſchicht’ hundertmal
wiederholt, iederzeit mit der Freymuͤthig-
keit, mit dem offnen zuverlaͤßigen Geſicht,
das in iedem Zug das Bewußtſeyn des
guten Gewiſſens ausdruͤckt. O Sophie,
Sophie! wenn dein Geſicht truͤgen ſollt,
ſo ſtuͤnd’s wahrlich ſchlecht um Phyſiogno-
mik! Als ich neulich dem phyſiognomiſchen
Club eine Collation gab, produzirt’ ich
das Schattenprofil der Sophie nebſt mei-
ner Auslegung, und wie dieſe als unwi-
derſprechlich richtig agnoſcirt wurde, auch
das Original. Waren die Herren ganz
verblaͤfft bey dieſem lieblichen Anblick,
und laſen noch ſo viel herrliches aus der
Sophie ihrem Geſicht, und guckten ihr
dabey ſo tief in die Angen, daß ich der
Beſcheidenheit des lieben Kindes zu ſcho-
nen, ſie gar behend gute Nacht nehmen
ließ.
J 2Aber
Aber ſo viel als nicht gelten all’ dieſe
Beweiſe bey euch unphyſiognomichen Koͤp-
fen, die ihr von der Mutter Natur ver-
nachlaͤßiget, in eure Augen keinen Scharf-
blick des Sehers, dagegen in eure Stirn
deſtomehr dumpfe Horn- und Stoßkraft,
zu eurem Erbtheil empfangen habt!
Da ſizt bald der bald jener meiner
Nachbarn traulich zu mir hin, raunt mir
einen Gemeinplatz oder ein Spruͤchwort,
zum Exempel, das Trau, Schau, Wem,
oder ein anders ins Ohr, ſieht ſo bedeu-
tend und Geheimnißvoll dabey aus, als
wenn er mir einen vorſeyenden Hochver-
rath anvertraut haͤtt’; giebt mir ganz ver-
bluͤmt zu verſtehen, die Sophie ſey eine
Jrrlaͤuferinn, ich ſollt’ mich vorſehen, ſie
werd’ einmal zuſammen packen und ver-
ſchwinden, eh man ſich’s verſaͤh; es ſey
bedenklich, daß ſie ihren Namen und ihre
Heimath ſo ſorgfaͤltig verheel. Appellir
ich drauf an ihr Geſicht, ſo predig’ ich
tauben Ohren. Kaum bin ich einen Ue-
berlaͤſtigen los, ſo faßt mich eine weiſe
Dame beym Arm und zieht mich beyſeits,
erdruͤckt mich erſt mit Freundſchaftsverſi-
cherungen, und ſpeyt mir hernach aufs un-
ver-
verſchaͤmteſte alle Narrheiten und Weiber-
grillen von Konkubinat, des mich, ihrer
Sage nach, das Geruͤcht bezuͤchtigen ſoll,
ins Geſicht. Die feinen Spoͤtter beyder-
ley Geſchlechts benehmen ſich mit mir
noch auf andre Manier; kommen Schaar-
weiſe angezogen wie die Fiſch, die einen
Koͤder wittern, ſchnappen und haſchen nach
einem Blick, einem Wort, einer unſchul-
digen Handlung, die ſie verdrehen, druͤ-
ber ſpoͤtteln und witzeln nach Herzens Luſt;
artet ſich die ganze Schaar nach der Na-
tur der Raupentoͤdter, ſind unfeſt, kuͤnſt-
lich, leicht, und unverdroſſen nach Raub
und Beute, ſtechen dabey wie die Bienen,
wenn ſie eben zu ſchwaͤrmen beginnen. Nun
hab ich zwar einem beruͤhmten Mann ſeine
Bienenkappe abgeborgt, die ietzt maͤnnig-
lich vors Geſicht nimmt, wer nicht von ſpiz-
zuͤngigen Jnſekten will Ueberlaſt haben; ſagt
das ſo viel, hab’ mich mit dem trefflichen
Apophtegma gepanzert: ſie reden was ſie
wollen, moͤgen ſie doch reden, was kuͤm-
mert’s mich! Aber in die Laͤng’ kanns einer
unter dieſer Ruͤſtung doch nicht dauern, ’s
wird einem leicht zu warm an der Stirn.
J 3Zwey
Zwey Ding’ haben endlich dem Faß den
Boden ausgeſtoßen, erſtlich die Predigt am
vorigen Sonntag, uͤber den Text: meidet
allen boͤſen Schein. Hoff’ nach der Liebe,
daß hier nichts menſchliches in Abſicht auf
die Haaſenſchlingen mitunter gelaufen ſey;
war auch alles was der Pfarrer vorbracht’
gar glatt und glimpflich geſagt, daß ich ihn
nicht packen koͤnnt, wenn ich gleich wollt.
Aber ’s war doch leicht mit Haͤnden zu grei-
fen, wohin’s gemeint war, hatte die Pre-
digt ganz die Phyſiognomie einer oͤffentlichen
Kirchencenſur, und das will bey uns hier
hinterm Wald, freilich mehr ſagen als in
Berlin, oder ſonſt in einer großen Stadt,
wo man aufs Abkanzeln eben nicht viel
achtet.
Hiernaͤchſt begab ſichs Tages darauf,
daß der Gerichtsſchreiber Volkmar ein Ver-
ſchlinger aller modiſchen Lektuͤre, meinen
Philipp foppt wegen der Sophie. Hatten
neulich beym Beſuch die Predigerstoͤchter
derſelben maͤchtig zugeſetzt, ſie ihres Her-
kommens und ihrer Heimath halber auszu-
locken, da denn das liebe Maͤdchen, des
zudringlichen Forſchens loß zu werden, in
aller Unſchuld eine Nothluͤgen erdacht und
vorge-
vorgegeben hat, Philipp ſey ihr Vetter, der
wiß’ um alles, und den moͤchten ſie ihrent-
wegen nur befragen; (aber mit dem redt
ſeit dem Winter her kein Menſch aus der
Pfarr’ ein Wort.) Drauf verbreitet’ ſich
ein Geſchwaͤtz, Philipp hab das After-
muͤhmchen unter der Hand hierher gebracht,
daruͤber hats nun, hoͤr ich, ſchon manche
Schrauberey gegeben. Am Montag ſpricht
der Volkmar, Philipp hab’ ietzt mit dem
Gott Merkur einerley Beſtallung uͤberkom-
men; ſey einer ſo gut Pimp wie der andre,
iener bey ſeinem Brodherrn wie dieſer beym
Sultan im Olymp. Dem Philipp ſchwillt
der Kamm uͤber dieſe Red’, faßt den Witz-
ler beym Kragen, und pimpt ihn dergeſtalt
mit der geballten Fauſt ins Geſicht, daß
ihm ein paar Schneidzaͤhne ſeit dem ab-
gaͤngig worden ſind. Das gab einen Teu-
fels Lerm und Verdruß, bracht’ mich vol-
lends in Harniſch, und nun griesgram ich
im Haus umher, daß mir alles aus dem
Weg’ geht; bin mißmuͤthig und graͤmlich;
irrt mich iede Flieg’ an der Wand, ich
muſſir wie eine Champagnerflaſch’ die Luft
gefangen hat: der geringſte Anſtoß vermag
ietzt den Stoͤpfel zu treiben. Komm mir
J 4drum
drum keiner zu nah, daß er mich anruͤh-
re, mit einem Wort, oder nur mit einer
Mien’ gegen die Sophie, er ſey wer er
woll’, Ritter oder Knecht; ich wuͤrd’ nicht
ſaͤuberlich mit ihm fahren, wie mit dem
Knaben Abſolom; ſondern wahrlich! ſo
derb und deutſch, wie Friedrich Eckardt mit
Tobias Goͤbhardt von Bamberg.
Am
Am Tage Jakobi.
Korreſpondenz.
Bald wird mirs zu toll! — Da kommt
mir ein Brief zu, vom Beamten Spoͤrtler
aus Geroldsheim in Frankenland, der mich
ganz perplex gemacht hat. Seh wohl, ei-
ner von uns beyden iſt der Narr’ im Spiel,
wer? das wird ſich bald veroffenbaren.
Will doch den Brief nebſt meiner Antwort
und Verhandlung darauf hier eintragen.
Er lautet alſo:
Sie ſind mein Mann. Jch kann nicht
anders als es ſehr billigen, daß Sie erſt
meine phyſiognomiſche Kenntniß pruͤfen, ehe
Sie mir Jhre phyſiognomiſche Freundſchaft
gewaͤhren, und in Abſicht auf das Stu-
dium, in engere Verbindung mit mir treten
wollen. Wenn nach Lavateriſcher Angabe,
an deren Richtigkeit kein aͤchter Lehrjuͤnger
zweifeln darf, unter einer Anzahl von zehn-
tauſend Menſchen, die Anlage zur Phyſio-
J 5gnomik
gnomik haben, kaum ein guter Phyſiogno-
miſt ſich ausſondern, oder wie ein Goldkorn
aus einem Sandhaufen ausſchlemmen laͤßt:
ſo kann es dieſer Wiſſenſchaft eben ſo wenig
an Pfuſchern und Boͤnhaſen fehlen als der
Alchymie, wo man ſicher eine gleiche An-
zahl Goldkocher, gegen einen wahren Ade-
pten rechnen kann, wenn anders ein ſolcher
Phoͤnix iemals exiſtirt hat. Es iſt der Klug-
heit gemaͤß, den Sudler und Spoͤtter auf
gleiche Weiſe von ſich fern zu halten, da-
mit man von ienem nicht hintergangen und
von dieſem nicht ausgelacht werde. Wenn
ich nicht ſchon ein ziemlich geuͤbtes Auge
haͤtte, ſo wuͤrde mich das uͤberſchickte Pro-
fil getaͤuſchet, und Sie wuͤrden, wenn ich
mehr den geſchriebenen Buchſtaben Jhres
Briefes als den phyſiognomiſchen der Schat-
tenzeichnung geglaubt haͤtte; mich unter den
Troß der neun tauſend neun hundert und
neun und neunzig phyſiognomiſchen Jdioten
gezaͤhlt haben, ohne ſich mit mir iemals
aſſociiren zu wollen.
Aber ſo fein Sie auch alles bey Jhrer
Aufgabe angelegt hatten, mich zu verwir-
ren, ſo habe ich doch ſolche mit einem ein-
zigen Tiefblick geloͤſet. Jn dem Jhrem
Briefe
Briefe beygeſchloſſenen Profil, welches mich
auf die Vermuthung bringen ſollte, daß es
das Jhrige ſey, ob Sie es glelch aus leicht
zu begreifenden Urſachen nicht mit klaren
Worten ſagen, erkannte ich ganz deutlich
meinen Dietrich Flapert wieder, ohne durch
die verſchiedenen Zuſaͤtze, des Wulſtes und
Haarbeutels am Vorder- und Hinterkopfe,
und der vorſtehenden Spitzenkrauſe unterm
Kinn, mich irre fuͤhren zu laſſen. Jch
wuͤrde den Stempel der Spitzbuͤberey, die
dieſem Profil vom Anfang der Stirnlinie
bis zum Endpunkte des Unterkinns aufge-
druckt iſt, nicht verkannt haben, wenn es
Jhnen auch beliebt haͤtte, ſolches in eine
ehrwuͤrdige Peruͤcke und einen Prieſterkragen
zu verſtecken. Die Frage, ob auf der Woͤl-
bung dieſer Stirn, dem Ruͤcken dieſer Naſe,
und dem Umriß dieſes Mundes Freundſchaft
ruhen koͤnne, beantwortet ſich alſo von ſelbſt;
ich wiederhole ſie aber in Abſicht beyder bey-
liegenden Zeichnungen, eines und des naͤm-
lichen Geſichtes. Es waͤre unſchicklich,
wenn ich Sie, der Sie auf einer hoͤhern
Stufe der phyſiognomiſchen Kenntniß ſtehen
als ich, auf eine aͤhnliche Art in Verſuchung
fuͤhren wollte; ich bekenne mich zu beyden
Zeich-
Zeichnungen, worunter die algeſchattete
ſprechender iſt als die craͤjonirte, mit aller
Aufrichtigkeit als das Original.
Begierig habe ich bisher der begehrten
phyſiognomiſchen Notiz, was durch Jhre
Beobachtungen in Anſehung Jhres vedaͤch-
tigen Gerichtsunterthanen ſich zu Tage ge-
legt hat, entgegen geſehen; aber noch im-
mer vergebens. Eben ſo wenig iſt von Jh-
rem Gerichtsbeamten etwas Legales ein-
gegangen, zum Beweis, daß die heilſa-
me Juſtiz an allen Orten mit traͤgem
Schildkroͤtenſchritt ihrem gewoͤhnlichen Weg
geht. — — So weit der Brief.
Jn der erſten Aufwallung dacht ich:
ſollſt den Pfuſcher einſeiffen, und ihn mit
dem weiſſen Barte ſitzen laſſen; oder wenn
er ſich beygehen ließ, etwan gar ſein Ge-
ſpoͤtt mit mir zu treiben, ſollt’s ihm noch
weniger ungenoſſen hingehen. Aber wenn
ich gleichwohl in den Zeichnungen ſein Ge-
ſicht beſchaut’, fand ich darinn nichts von
Schiefheit, Schalkheit, Trutz und Hohn-
ſprache, nicht einen Zug, den es mit Claus
Narrens Geſicht gemein gehabt haͤtt. Viel-
mehr duͤnkt mich, ich ſaͤh einen ehrlichen
Mann vor mir, einen treuen, geraden,
duͤrren
duͤrren Rechtsgelehrten, den aber oͤftere Er-
fahrung vermuthlich gegen die Menſchen
mißtraulich gemacht haͤtt’: denn ehrliche
Leut werden oft betrogen. Zugleich bedacht
ich, daß des guten Spoͤrtlers phyſiognomi-
ſches Studium nicht ſowohl aufs allgemei-
ne, ſondern nur auf ein gewißes Fach,
naͤmlich auf ſolche Linien und Zuͤg’, die die
ſchlimme Seite des Menſchengeſchlechts be-
zeichnen, gerichtet ſey; weil er hauptſaͤch-
lich nur Jnquiſiten und Diebsgeſichter vor
Augen hab’. Da konnt ihm denn die Jma-
gination leicht einen ihrer gewoͤhnlichen
Streich geſpielt, und ihm eine Aehnlichkeit
meines Profils mit einem Diebsgeſicht, das
auf ihn einen ſtarken Eindruck gemacht hatt’
vorgeſpiegelt haben. Er argwoͤhnt’ ich woll
ihn aufs Eis fuͤhren, beſchaut’ das Profil
durch den Dunſtkraiß des Vorurtheils, ſah
falſch, und verwechſelt dadurch ein Geſicht
mit dem andern.
Durch dieſe Betrachtung kuͤhlt’ ſich mein
Blut ein wenig ab. Doch wenn mir da-
bey wieder mein Theoremchen in den Kopf
kam, daß der Phyſiognomiſt gleichwohl
nichts anders ſieht, als was wirklich da iſt,
ob er gleich nach der Stimmung ſeiner Seel’
zuwei-
zuweilen nur auf die boͤßartigen Zuͤg ſpeku-
lirt, auch dieſe gar oft durch die Brill der
Phantaſey betrachtet; ſonach aber dennoch
ein Zug von Tuͤck- und Schalkheit irgend-
wo in meinem Geſicht ſtecken muͤßt, davon
mein Herz nichts wiß’, ſo druͤckt mir das
aufs Herz, wie ein ungewohnter Schuh auf
einen Leichdorn. Laß ſehen, ſprach ich zu
mir ſelbſt, was du fuͤr eine Chamaͤleons
Fratz habeſt, die ſich in ſo vielerley Geſtal-
ten formt, daß du nicht ſicher biſt, man
werd’ noch eine Knipperdollings, Storzebe-
chers oder was ſonſt noch fuͤr eine Teufels-
larv’ aus dir herausphyſiognomiſiren. Hat
Dr. Baldrian ſchon eine gewiſſe Localphy-
ſiognomie, die ich mit meinen eingeſeſſenen
Bauren gemein haben ſoll, mir eindiſputirt,
und welche ich aus ſtatthaften Gruͤnden mir
hab muͤßen gefallen laſſen: aber ein Diebs-
geſicht mit mir herum zu tragen, das waͤr
mir auſſerm Spaß.
Sezt’ mich deßhalb vor den Spiegel,
ſtellt auf die eine Seite die Gypsbuͤſte, auf
die andre mein Portraͤt, nach welchem mich
Schleuen in Berlin zum Beytrag fuͤr die
Fragmente geſtochen; aber ſo verkleinſtaͤd-
telt hat, daß ich die Kupferplatte nicht hab
einſchi-
einſchicken moͤgen. Jſt der Meiſter auch
erboͤthig ſie zuruͤck zu nehmen, und verhofft
ſein Gemaͤchts, unter dem Namen eines
Virtuoſen oder Gelehrten, gelegentlich an
einen Bewindhaber irgend eines Journals
noch mit Vortheil abzuſetzen. Zugleich
kramt ich alle Abſchattungen von mir, um
mich her, von dem Giganteſkenkopf auf ei-
nen Jmperialfoliobogen, bis auf die kleinſte
Veriuͤngung, einer Linſe groß, unterm Kry-
ſtall eines Rimges, der fuͤr den Goldfinger
einer Hand beſtimmt iſt, die ein eignes
Fragment in dem phyſiognomiſchen Werk
verdiente. Der Spiegel ſchmeichelte mir
dieſen Tag ſo wenig, als mir Schleuens
Grabſtichel geſchmeichelt hatte; aber mit al-
ler Aufmerkſarnkeit war ich doch nicht ver-
moͤgend, irgend einen Zug, der mich zu
einem Criminalprozeß qualificirt haͤtt’, in
allen den Spielarten meiner Geſtalt, oder
auch nur eine Aehnlichkeit mit dem diebi-
ſchen Diez auszufinden; auſſer daß beyde
Geſichter in die Klaſſe der vordringenden ge-
hoͤren. Kan indeſſen wohl ſeyn, daß ein
fataler Zug auf meiner Geſtalt ſchwebt, der
etwan auf Truͤbſinn deutet, an den ein Cri-
minaliſtenkopf anſtoßen, und ſolchen aus
Jrrthum
Jrrthum vor ſein Forum ziehen kan. Jm
Grunde befind ich der Flappertſchen Phy-
ſiognomie den Stempel der Buͤberey nicht
ſo deutlich aufgedruckt, wie Herr Spoͤrtler
vermeint, es waͤre denn Sach, daß das Ori-
ginalgeſicht mehr beſagte als die Abſchat-
tung. Denn wenn iedes Menſchengeſicht
ein unerſchoͤpflich Meer iſt, wie Freund L.
behauptet: ſo kan eine Silhouett’ nicht mehr
als eine Ciſtern, oder kleine Pfuͤtze ſeyn,
und darauf laͤßt ſich kein Manoͤvre mit Or-
logſchiffen anbringen, wie auf der offenba-
ren See. Dem ſey indeſſen wie ihm wol-
le, ein großer Beweiß daß ich recht hab’
liegt darinn, daß ich bey meinem gallich-
ten Humor, wo die Nerven fuͤrs mißlau-
tende doch ſo reizbar ſind, das alles nicht
ſeh was er ſah, und bin daher der feſten
Meinung, die Seel’ des Phyſiognomiſten
koͤnne ſich, wie iede andre Menſchenſeel’,
in ihren drey Operationen wohl irren; ob-
gleich die Kunſt fuͤr ſich betrachtet, ſo in-
fallibel iſt, wie die Autoritaͤt des heiligen
Vaters, in der Chriſtkatholiſchen Kirch.
Nachdem ich alles wohl ponderirt, erach-
tet ich dienlich, die unſchuldige Beleidigung
des Spoͤrtlers in der Still zu verdauen, und
ihn
ihn in einer glimpflichen Antwort zurecht’
zu weiſen. Schickt einen Expreſſen nach
der Stadt an den Gerichtshalter, der von
Haus aus die Unterſuchung gegen den Ba-
der Meffner betrieben hat, mir Bericht
zu geben, wie weit er damit gekommen
ſey. Hat Herr Spoͤrtler wohl recht, daß
mit dem gerichtlichen Verfahren nicht
viel werd’ ausgericht’ ſeyn. Aus dem
Promemoria des Gerichtshalters ergiebt
ſich noch uͤberdieß, daß den guten Mann
ſein ſchwer Gehoͤr zu allerley chimaͤriſchen
Einfaͤllen verleitet hab’, die aus hellem
Mißverſtand entſprungen und nicht hierher
gehoͤren.
Folgt das Promemoria in Extenſo.
Pflichtſchuldigermaßen habe Ew. auf De-
ro Anfrage, in Betreff des in Jhrem Ge-
richtsbezirk ſeßhaften verdaͤchtigen Roß- und
Zahnarztes, folgendes zu vermelden: ſo
wenig aus der nach Moͤglichkeit beſchleunig-
ten Unterſuchung die Vermuthung erwaͤchſt,
daß Jukulpat mit dem aus der Gerolds-
heimer Gerichtshaft entwichenen Jnquiſiten
einerley Perſon ſey; indem durch abgehoͤrte
KZeugen
Zeugen ſich klaͤrlich zu Tage geleget, daß
zu der Zeit, als ermeldeter Jnquiſit bereits
im Verhaft geweſen, der hieſige Gerichts-
unterthan zu Elwang, bey dem damaligen
Zuſammenfluß preßhafter Perſonen daſelbſt,
als Wurmdoktor und Pferdearzt ſein ehr-
liches Gewerbe getrieben: ſo erwaͤchſt ge-
gen denſelben doch anderweit der gegruͤndete
Verdacht eines begangenen Falſi, indem
Jnculpat den iocoſen Namen Peter Mef-
fert ſich beyzulegen und hieſige Gerichte da-
durch zu aͤffen ſich erfrecht. Bekannter-
maßen iſt dieſer Name fingirt, bezeichnet
einen Quidam, und iſt vorlaͤngſt in eini-
gen Provinzen beym gemeinen Mann im
Gebrauch, unbeſcheidene Frager auf eine
ſcherzhafte Art damit abzuweiſen. Als ich
in Erfurth ſtudirte, zog der damals be-
ruͤhmte Riedel ſolchen aus der Duukelheit
hervor, brauchte ihn als einen Leckerbiſſen
fuͤr ſeinen Satyr, den er zuweilen darnach
ſpringen ließ; wodurch dieſes Wort zu der
Bekanntſchaft der Schoͤndenker gelanget,
und ob es gleich nicht uͤberall Cours be-
kommen, dennoch gewiſſermaſſen anoblirt
worden iſt. Es wird daher noͤthig ſeyn,
bey fortwaͤhrender Unterſuchung auf dieſen
Punkt
Punkt hauptſaͤchlich zn inſiſtiren; da ich
denn zu ſeiner Zeit, Ew. ſowohl von dem
fernern Verlauf der Sache Bericht zu er-
ſtatten, als auch an das Geroldsheimiſche
Amtsgericht, nebſt Beifuͤgung der Akten,
das Noͤthige gelangen zu laſſen, nicht ver-
fehlen werde. Der ich u. ſ. w.
Drauf concipirt’ ich an den Beamten
Spoͤrtler gar nachdenklich folgende Ant-
wort:
’S iſt kein Spaß mit Jhnen zu phyſiogno-
miſiren, ſo wenig als mit Klopſtock Ball
zu ſpielen; der wirft verzweifelt ohn’ Anſe-
hen der Perſon, daß es laut ſeines Biogra-
phen wohl eher einen blauen Fleck geſetzt
hat. Zum Gluͤck trift nicht ieder Wurf,
und ſo Freund, iſts Jhnen mit meiner
Silhouett’ ergangen: Sie haben tuͤchtig
ausgeholt, und vermeinten deſto gewiſſer
zu treffen; aber um ein Haar haben Sie
uͤberhin gezielt und der Wurf gieng vor-
bey, ohne mich mit einem blauen Fleck
zu zeichnen. Ein Jrrthum von einer
Haarbreite, wiſſen Sie wohl, macht in
der Phyſiognomie einen groͤßern Unter-
K 2ſchied,
ſchied, als ein Erddiameter in der Aſtro-
nomie. Kan’s Jhnen geometriſch bewei-
ſen, daß dießmal der Scharfblick Jhnen
verſagt hat.
Richten Sie Jhr Malefikantenorofil und
die Abſchattung von mir, mittelſt des
Storchſchnabels alſo zu, daß beyde einer-
ley Groͤße bekommen, runden Sie die
Hinterkoͤpf’ auf einerley Art wie Sie wol-
len, mit Hinweglaſſung aller Beyzierden,
und legen ſie aufeinander. Decken beyde
einander wie zwey gleiche Dreyecke; ſo
will ich zugeben, daß die Mutter Natur
den Teig zu meiner Exiſtenz, aus Verſehn
in eine unrechte Form gedruͤckt hab’, wie’s
ihr wohl alle Jahrtauſend einmal begegnen
mag; denn mit dem Sokrates iſt’s ihr
gleichwohl ſo ergangen. Aber ’s hat keine
Noth, daß das hier der Fall ſey; der
Verſuch iſt ſchon gemacht und befunden
worden, daß in beyden Figuren kein Zug
uͤberein trift, indem in der einen iede ein-
zelne Linie mehr heraus tritt oder ſich zu-
ruͤck zieht, verkuͤrzt oder verlaͤngt als in
der andern. Zu einer Hauptklaſſe moͤgen
beyde Geſichtsformen gehoͤren, und da kan
der erſte fluͤchtige Blick wohl einige Aehn-
lichkeit
lichkeit vorluͤgen, und den Seher irr’ ma-
chen. Sind doch unlaͤngſt die Goldphy-
ſiognomiſten in Paris, die Wechsler an
den Nuͤrnberger Rechenpfennigen irr wor-
den, daß ſie ſolche fuͤr Louisd’or des neuen
Schlags ihres Koͤnigs angeſehen haben;
demungeachtet wird keine Menſchenſeel’ die-
ſen Herrn Tiefblick in ihrem Gewerb ab-
ſprechen koͤnnen, ſo wenig als uns in dent
unſrigen. Jch vermein’ aber es ſey da-
mit eine eigne Sach’; oft iſt’s nur Flach-
blick, oder gar Schiefblick, was einer
waͤhnt Tiefblick zu ſeyn. Hat der Mann,
des Auge gediegener Lichtſtrahl iſt, zuwei-
len neben Wahrheit hingeſehen, ſo kan
das Jhnen und mir auch begegnen. Ei-
ner der Kirchenvaͤter ſpricht, ich weiß nicht
welcher: irren iſt menſchlich, aber im Jrr-
thum beharren iſt teufliſch. Leb’ der gu-
ten Hoffnung, daß Jhr Jrrthum auch nur
menſchlich ſey, und daß mein Profil, wenn
Sie’s eines zweyten Anblicks werth achten,
Jhnen ganz was anders zuſagen werd’ als
das Erſtemal.
Den Jhrer Gerichtsfrohn entkommenen
Jnquiſiten, duͤrften Sie ſchwerlich in der
Perſon des Bader Meffners wieder finden.
K 3Jſt
Jſt bewieſen aus den Akten, daß dieſer,
als bey Jhnen der Fuchs ſchon in der
Fall’ war, frey in Schwabenland herum-
gezogen, und vielen Leuten, bey welchen
Pater Gaßner Teufel vermuthet, Wuͤrmer
abgetrieben; folglich bewieſen, daß er nicht
in der Perſon des Dietrich Flapperts Jhr
Gefangener geweſen; oder er muͤßt’ zu-
gleich in Ellwang und Geroldsheim gewe-
ſen ſeyn. Wiewohl ich hierinn keinen Wi-
derſpruch find’: denn ſeitdem die Schwa-
ben, beſage ihres Magazins, ein Mittel-
ding zwiſchen Einfach und Zuſammengeſezt
moͤglich gefunden, laͤßt ſich auch wohl ein
ſolch Mittelding zwiſchen Gegenwaͤrtig und
Abweſend gedenken, und ſo waͤr’s moͤglich,
daß der Kauz dennoch Jhr Arreſtant gewe-
ſen ſey, ſeines gleichzeitigen Herumziehens
in Schwaben unbeſchadet.
Mit der gerichtlichen Antwort auf Jhre
Requiſitoriales muß es, nach dem Deciſo
des Gerichtshalters, noch Anſtand haben
bis die Unterſuchung zu End’ iſt; die wird
aber wohl fortdauern, ſo lang der Meffner
ein Scheermeſſer in ſeiner Gewalt hat.
Was dem Bader am meiſten zu ſtatten
kommt, und ihn von allem Verdacht libe-
rirt,
rirt, iſt ſein Geſicht; nicht als wenns ſei-
ne Ehrlichkeit verbuͤrgt’, es blickt vielmehr
ſchlaue zweyzuͤngige Argliſtigkeit deutlich
daraus hervor, dabey find ich etwas trutzi-
ges, ſpoͤttiſches, hartnaͤckiges, eiſernes in
des Kerls Phyſiognomie, welches ſich auch
gnugſam durch all’ ſeine Handlungen be-
ſtaͤtiget, daß ich ihn ieder Buͤberey faͤhig
acht’, und des naͤchſten aus meiner Ge-
richtsbarkeit werd’ Landsverweiſen laſſen.
Aber ſein Profil iſt von dem Flappert-
ſchen ſo Himmelweit unterſchieden, daß
es Jhnen unmoͤglich begegnen kann, dieſes
mit ienem zu verwechſeln: es iſt eins der
tiefeingedruckten, und in Betracht’ des Letz-
tern ganz heterogeniſch. Nach des Mei-
ſters Theorie muͤſſen wir alſo glauben, daß
die ſaubern Geſellen nicht einmal unter eine
Diebsbande zuſammen taugten; geſchweige
daß einer den andern in Perſon ſollte ver-
treten koͤnnen.
Jhrem Begehr zu Folge ſchließ ich des
Meffners Profil hier bey, welches Sie
ſelbſt beaugenſcheinigen moͤgen. Hat mir
der Strick viel Haafenſpruͤng’ gemacht, eh
ich ihn dazu vermocht hab’, daß er zum
Abſchatten geſeſſen hat. Spricht hier zu
K 4Land’
Land’ Hanns Dumm, der gemeine Mann,
man woll’ einen Mohrenkoͤnig, oder gar
eine Teufelsfratz aus ihm machen, wenn
man ihn ſilhouettirt. Danks Jhnen viel-
mal Freund, daß Sie mir zwo Zeichnun-
gen Jhrer Geſichtsform haben zukommen
laſſen, von meiner Ausdeutung derſelben,
ſag ich mit gutem Vorbedacht nichts; aber
mein Brief ſagt’s Jhnen deutlich ſatt, wie
ich mir ſie erklaͤr, und Jhr Schattenpro-
fil hat auch Naſe gnug, daß ich ihr zu-
trauen kan, ſie riech deu Duft meiner Ge-
finnungen.
Am
Am Tage St. Donati.
Ueber den zeitigen Reichsfuß des Muͤnz- und
Litteraturweſens.
Wenn’s Wetter ſo bleibt, und’s mit der
Fruchterndte ſo raſch von ſtatten geht wie
mit der Heuerndte, gedenk ich meine Reiſe
vierzehn Tag’ eher anzutreten, als ich mir
den Termin dazu geſezt hatte. Beynah
haͤtte die Sophie mich derſelben ganz vergeſ-
ſen gemacht; aber das Ottergezuͤcht, mei-
ne Nachbarn rings umher, die wie die
Blindſchleichen aus duͤrrem Laub hervor mir
an die Bein fahren, und mich mit ihren
Schlangenzungen verletzen, ob ich gleich
dieſer Nattern keine wiſſentlich auf den
Schwanz getreten hab, verleiden mir den
Aufenthalt in meiner Heimath alſo, daß
mich hier alles druͤckt, und ich nolens vo-
lens fort muß, in der Fremd’ friſche Luft
zu ſchoͤpfen, und die eingeſchluckten boͤſen
Duͤnſt’ wieder auszuhauchen. Nur bin ich
K 5noch
noch nicht ſchluͤßig, was ich mit meiner
Pflegtochter beginnen ſoll.
Um das zu uͤberlegen, ſpaziert ich mit
meinem Philipp aufs Feld, ſezt’ mich un-
ter den wilden Birnbaum, und wollt’ eben
meine Conſultationen mit mir ſelbſt anfa-
hen, als ich meine Augen aufhob, und in
der Fern’ einen Wandrer erblikt’, der mit
wackerm Schritt gerad’ auf uns zuſegelt’.
Sprach ich zu Philipp: Du, wer iſt der
Schwarzrock dort, der auf uns zielt? Sieh,
wie der zuſteigt! Duͤnkt mich ich ſaͤh den
Sebaldus Nothanker, der eine apokalypti-
ſche Quatern’ einholen wollt. Herr, ſagt’
Philipp, oder den Doktor Dodd ſelger, wie
er in Kupfer geſtochen vor dem Staatsthea-
trum hermarſchirt. Als der Fremde heran
kam, wars der Pentekontarch oder Befehls-
haber uͤber funfzig, — nicht der im Solde
des Ramirez de Prado, — ſondern des
Magiſtrats in Duͤnſelfing, Magiſter Gra-
tius, mein geweſener Praͤceptor, und der-
malen Conrektor daſelbſt, der aus alter Be-
kanntſchaft zuweilen in den Erndteferien,
auf ein paar Tage bey mir einſpricht und
ſichs wohl ſeyn laͤßt. Allein dießmal merkt
ich ihm bald an der Phyſiognomie ab, daß
ihm
ihm irgendwo der Schuh druͤkt’, erkundigt’
mich der Umſtaͤnd’ und vernahm, daß der
Magiſtrat mit einer philanthropiniſchen
Schulreformation umgeh; legt es den alten
Lehrern ſo nah, daß der Rektor bereits ſei-
nen Abſchied begehrt. Nun waren ſie hin-
ter den Magiſter Gratius her, daß der auch
abdanken ſollt’; doch der war geſcheid, und
that als merkt er’s nicht. Da hatten ſie
vor ihn fuͤr einen Jnvaliden auszugeben,
und ihn mit Zeiſigfutter zur Ruh zu ſetzen;
gleichwohl iſt der Mann noch ruͤſtig, laͤufr
den Tag ſeine drey Meilen, iſt aller Sin-
nen maͤchtig, und hat einen Magen, daß
er wohl Naͤgel und Hufeiſen verdauen koͤnnt,
wie der Vogel Strauß. Zog derſelb ein
gedrukt Avertiſſement der philanthropini-
ſchen Jugendfreund’, die den alten Schul-
ſauerteig ausfegen ſollten, aus der Taſchen,
worinn ſie die Weisheit, Menſchenlieb
und Freygebigkeit des Magiſtrats trefflich
herausgeſtrichen, auch die alten Schulher-
ren gar ſaͤuberlich geſtreichelt hatten; doch
gemahnt mich das Ding wie’s Jnterim,
hatt’ den Schalk hinter ihm. Jch philan-
thropiſir’ auch ein wenig mit unter; durft’
michs vor dem Magiſter Gratius doch nicht
aus-
austhun: denn ich fuͤrchtet’, es moͤcht den
armen Mann nur druͤcken. Aber ich ge-
ſteh’s und bekenn’s, das uͤberlaute Huͤner-
gluchzen uͤber iedes philanthropiniſche Ey,
das die Herren legen, iſt mir hoͤchlich zu-
wider. Noch weniger kan ich’s Wegbeiſ-
ſen und das Eyereinlegen in fremde Ne-
ſter vertragen: alle Huͤner, die das auf
meinem Hof’ thun, muͤſſen ohne Gnad’ in
den Topf.
Jm Geſpraͤch mit meinem Gaſt gab ein
Wort ’s andre, wir ſtießen auf allerley
ſinnreiche Materien, ſonderlich auf eine
Pruͤfung des ietzigen Reichsfußes, ſowohl
des Muͤnz- als Litteraturweſens in Deutſch-
land. Hatten uns darein ſo vertieft, daß
die gehoͤrnte Luna mit ihrem abnehmenden
Schimmer, ſchon uͤber den hohen Fichten-
wald ins aehrenreiche Blachfeld herab blik-
te, und die reifenden Halmen verſilbert’,
eh wir den Raſenſitz unterm wilden Birn-
baum verließen, und nach Haus giengen.
Nachdem Magiſter Gratius wohlgenaͤhrt
zur Ruh gebracht war, wiederkaͤuet’ ich,
wie ich zu thun gewohnt bin, in meinem
Kloſet das gefuͤhrte Geſpraͤch, fand’s zum
Theil ſo intereſſant, daß ich flugs folgen-
des
des Fragment davon aus meinem Ge-
daͤchtniß, wie eine Honigſcheibe aus ei-
nem Bienenſtock heraus ſchnitt und aufs
Papier warf, um es zu kuͤnftigem Gebrauch
aufzubewahren.
Mag. Gratius. — woraus deut-
lich zu erſehen, daß ſeit dem Jahr drey
und ſechszig, das Muͤnzweſen ſich in
weit beſſerm Zuſtande befindet als das Lit-
teraturweſen. Um das von Jhnen belieb-
te Gleichniß fortzuſetzen, koͤnnte man den
ietzigen litterariſchen Perioden die Zeiten der
Kipper und Wipper nennen, die zu groſ-
ſem Nachtheil der ganzen gelehrten Re-
publik, ihr verderbliches Gewerbe unge-
ſtraft treiben. Schriften von gutem Schrot
und Korn, reichhaltig an aͤchter Gelehr-
ſamkeit, kommen ſo ſelten unter die Preſſe,
als waͤhrend des lezten Krieges ein Stuͤck
fein Silber unter den Praͤgſtock. Warum?
ſie ſind auſſer Cours, werden nur noch von
einzelnen Liebhabern zuweilen als Schau-
muͤnzen fuͤrs Kabinet geſucht. Das Pu-
blikum begnuͤgt ſich an der Scheidemuͤnze
der Modelektuͤre, und dem leichten Bey-
ſchlag der Ueberſetzungen. Gute und taug-
liche Waare, wenn ſie auch noch koͤnn-
te
te fabricirt werden, findet keine Abneh-
mer.
Wahrlich, kein guͤnſtiger Adſpekt fuͤr die
Wiſſenſchaften! Aber Freund mit Gunſt,
daß ich auch beym Gleichniß bleib’: Sie
reden von der Sach wie’n Jud und nicht
wie’n Muͤnzwaradein. Jener findet immer
das Geld, das andre Leut’ im Sack tragen
zu leicht, um ſeines Vortheis willen, und
giebt nur ſeine Dukaten fuͤr voll und uͤber-
wichtig aus; dieſer dagegen pruͤft den wah-
ren Gehalt deſſelben mittelſt der Streichna-
del oder auf der Kapell’. Kommt hier al-
les auf die Frag’ an, was einer unter Ge-
lehrſamkeit verſteh, auſſerdem giebts Wort-
krieg, worinn leicht ieder Recht behaͤlt.
Mag. Gr. Wohlgeſprochen! Das
Wort Gelehrſamkeit und Litteraturweſen iſt
allerdings vieldentig. Nach dem ausge-
dehnteſten Begriff, bezeichnet ienes zuwei-
len den ganzen Umfang menſchlicher Er-
kenntniß; in eingeſchraͤnkterm Verſtande
bedeutet es Wiſſenſchaft nuͤzlicher Kennt-
niſſe; und die Mittel ſolche zu erlangen heiſ-
ſen Schulgelehrſamkeit; Litteratur, in ſo
fern dieſes Wort nicht als gleichbedeutend
mit Gelehrſamkeit uͤberhaupt genommen
wird,
wird, iſt Theorie der Gelehrſamkeit. Jch
leugne nicht, daß das Gebiete der menſch-
lichen Erkenntniß, bey der Betriebſamkeit
des menſchlichen Geiſtes, und der Leichtig-
keit dieſe Kenntniß mitzutheilen, taͤglich er-
weitert werde. Fragt man aber, ob dieſe
neuen Erweiterungen nicht groͤßten Theils
ohne Nutzen ſind; ob nicht unſere Zeitge-
noſſen, durch den Reiz der Neuheit geblen-
det, die bereits entdekten, laͤngſt nuͤzlich
befundenen Kenntniſſe, und die Mittel zn
Erlangung derſelben verabſaͤumen, ob nicht
den ſich duͤnkenden Vielwiſſern und Ver-
ſchlingern aller neuen Ausgebuhrten des
menſchlichen Witzes und der menſchlichen
Thorheit, das wiederfahren, was dem
Hunde in der Fabel begegnete, der nach
dem Schatten ſchnappte und die Realitaͤt
fuͤr ſeinen Magen daruͤber aus dem Mau-
le fallen ließ; ob man nicht mit den Wiſ-
ſenſchaften wie mit den Nuͤſſen ſpiele, nur
die aͤußere Schale betaſte, und der Zaͤhne
ſchone ſie aufzubeiſſen, um zu dem ſchmak-
haften Kern derſelben zu gelangen; ob alſo
nicht wahre Gelehrſamkeit taͤglich mehr in
Abnahme und Verfall gerathe: ſo muß
ich nach meiner gewiſſenhaften Ueberzeu-
gung,
gung, alle dieſe Fragen mit ja beant-
worten.
Bald iſt mir dieſe Red’ zu ſpitzig einge-
faͤdelt. Erklaͤr mir der Herr, was fuͤr
Kenntniſſe er fuͤr nuͤzlich, und zum eigent-
lichen Weſen der Gelehrſamkeit erforder-
lich haͤlt?
Mag. Gr. Alle die auf ſichern
Grundſaͤtzen und Erfahrungen, oder auf
dem Grundpfeiler der Wahrheit beruhen.
Weil aber die Frage: Was iſt Wahrheit?
eine der ſchwer zu loͤſenden iſt, ſo muͤſſen
dieſe Grundſaͤtze und Erfahrungen, aus
den Denkmaͤlern aller menſchlichen Weis-
heit, den ſchriftlichen Urkunden der Alten,
erforſcht, und dieſe mit Fleiß und Nachden-
ken ſtudirt werden. Keuntniße die auf ſol-
che Weiſe geſammlet, berichtiget und be-
feſtiget werden, heißen gruͤndliche oder
nuͤtzliche Gelehrſamkeit, alle uͤbrigen Kennt-
niſſe ſind ſuperficiell und nichtig.
Aber ſollt’ nicht iede Erkenntniß, ſie ſey
her woher ſie woll, ohn’ auf ihre Anwen-
dung zu ſehen, nur als Acquiſition des
Verſtandes betrachtet, ihren Nutzen ha-
ben?
Mag.
Mag. Gr. Ja, in der Allgemeinheit
des Begriffes von Nutzbarkeit wohl; aber
in Beziehung auf plus und minus, iſt ein
geringer Vortheil, wenn ein groͤßerer druͤ-
ber eingebuͤßt wird, Verluſt. Was wuͤr-
de man von einem Menſchen ſagen, der
Steine aufleſen wollte, wenn er Trauben
ſammlen koͤnnte? Aus ienen kan kein Wein
gekeltert werden; aber ſie koͤnnen doch nuͤtz-
lich ſeyn, die Straßen damit zu pflaſtern;
demungeachtet waͤr der Steinſammler ein
Thor, und das ſind neun Zehntel unſrer
heutigen Gelehrten, die nicht mehr die
Trauben der alten Gelehrſamkeit pfluͤcken
wollen, ſondern ſich begnuͤgen, die Bach-
kieſeln neoteriſcher Weisheit dafuͤr aufzu-
leſen. Wo athmen iezt unſre Schriftſtel-
ler Geiſt und Leben der Alten, entfernen ſie
ſich nicht taͤglich mehr und mehr von dieſen
Muſtern?
Will daruͤber nicht ſtreiten. Sollen
denn aber unſre gelehrten Koͤpf’ ſich ewig
von den alten Autorn gaͤngeln und am
Laufzaum fuͤhren laſſen? Jſt denn all un-
ſer Wiſſen und Verſtand erbaut auf den
Grund der alten Weisheit, wie unſer
Glaub’ auf den Grund der Propheten und
LApoſtel?
Apoſtel? Jch verſteh das Ding anders,
kan mir das all ausdeuten, durch ein
Gleichniß mit des Breitkopfs Baͤr in Leip-
zig. Der war vor Zeiten ein Symbolum
der Buchhaͤndler, fuͤhrt’ die Ueberſchrift:
Ipſe alimenta ſibi, das leg ich ſo aus:
der Buchhaͤndler ſucht Nahrung fuͤr ſich,
kuͤmmert ſich wenig um den Autor, ob der
faſtet oder uͤber ſeine Autorſchaft verhun-
gert. Jezt iſt aber der Baͤr ein Symbo-
lum der Schriftſteller, naͤhrt ſich traun!
wohl mancher von ſeinen Tatzen. — Doch
halt! ſo wars nicht, wie ichs eigentlich ha-
ben wollt’, ich mein es damit alſo: eh Wiſ-
ſenſchaft und guter Geſchmak, ſich durch
die Ueberbleibſel von Barbarey und Unwiſ-
ſenheit in Deutſchland durchgearbeitet hat-
ten, waren die Gelehrten fremder Huͤlf be-
duͤrftig, mußten ſich Nahrung ſuchen und
eintragen aus dem Vorrath der Alten; da
glichen ſie dem Baͤr, der ſeine Schnauz in
ieden Honigbaum ſtekt, gute ſuͤße Koſt in
ſich zu ſaugen, daß er ſtark und feiſt werd.
Nun er das worden iſt, ſtoͤhrt er nicht
mehr die Honigbaͤum um, ſondern thut ſich
nieder in ſein Dickig, ſaugt aus ſeinen
eignen Tatzen balſamiſche herzerquickende
Nahrung,
Nahrung, und da heißt’s von ihm: Ipſe
alimenta ſibi. Nachdem der richtige gute
Geſchmak und die Kultur des Geiſtes ein-
mal im Genge ſind, die durch das Stu-
dium der Alten den erſten Anſtoß und
Schwung erhielten, ſind Genies unter uns
aufgewacht, die koͤnnen was ſie wollen;
nehmen, auſſer der erſten Richtung, die
ſie von ihren Zeitgenoſſen leicht empfangen,
alles aus ſich ſelber, und beduͤrfen keiner
fremden Huͤlf mehr.
M. Gr. Leider! ſind es die ſogenann-
ten Genies, die alle gruͤndliche Gelehrſam-
keit, durch Vernachlaͤßigung der gelehrten
Sprachen, und Herabwuͤrderung des Stu-
diums der Originalſchriften der Griechen
und Roͤmer verdringen wollen.
Da haben wir den Schulmann! Das iſt
eben der Jud, der alle Muͤnz fuͤr zu leicht
haͤlt, die er nicht in ſeinem Seckel hat.
Die Schulleut’ ſchreyen freilich gleich uͤber
Verfall der Wiſſenſchaften, wenn ihr Pri-
ſcian nicht mehr regierender Konſul in der
gelehrten Republik iſt. Der ietzige Dik-
tator ſchlaͤgt andre Befehl an, hats hoch
verpoͤnt, daß kein Buͤrger des gelehrten
Staats anders ein Wort als in ſeiner Mut-
L 2terſprach
terſprach reden noch ſchreiben darf, und er-
kennt dieſe ſo alleinig fuͤr reichsgeſezmaͤſig,
wie Dr. Piderit den maſorethiſchen Text
der hebraͤiſchen Bibel. Wozu ſoll uns
das Sprachſtudium? die alten Schriftſtel-
ler zu leſen? das lohnt der Muͤh nicht
mehr: da iſt keiner, der nicht in eine
neue Sprach’, die gaͤng und gaͤb’ iſt, uͤber-
ſezt worden waͤr, und daraus laͤßt ſich die
Sacherkenntniß ſo gut ſtudiren als aus’m
Original.
M. Gr. Dawider ließ ſich nicht we-
nig einwenden; ich koͤnnte Jhnen nur zum
Beiſpiel die griechiſchen und roͤmiſchen Red-
ner und Dichter anfuͤhren, die muͤberſez-
bar ſind, und folglich aus keiner Ueber-
ſetzung vollkommen ſtudirt werder koͤnnen.
Sie wuͤrden mir aber einwenden, daß die-
ſes Studium iezt entbehrlich ſey: wir haͤt-
ten ihren Geiſt bereits erhaſcht und in un-
ſere Schriften uͤbergetragen, und aus die-
ſen koͤnnte der Juͤngling ſeinen Geſchmak
nun vollkommen bilden. Das iſt der
Glaube unſrer Schoͤndenker, den ſie mit
dem Herzen bekennen und nur mit dem
Munde verleugnen, weil ſie noch die roͤ-
miſche und griechiſche Litteratur um Auf-
putz
putz ihrer Schriften brauchen, wie die Da-
men die roͤmiſchen Locken, zu ihrem Kopf-
aufputz. Gleichwohl weiß iedermann, daß
dieſe Herren ihre alte Gelehrſamkeit aus
neuen Diktionaͤrs, und aus Paraphraſten
und Ueberſetzern zuſammen ſuchen, wie die
Damen ihre roͤmiſchen Locken unter den
Hauben deutſcher Bauerdirnen. Jch will
mich indeſſen begnuͤgen, ihnen mit einem
Gleichniße zu antworten, weil ſie dieſe lie-
ben. Jſt es nicht vernuͤnftiger und beſ-
ſer, aus der Quelle ſelbſt reines klares
Trinkwaſſer zu ſchoͤpfen, als aus der Lache
mattes und getruͤbtes, das ſeinen erquicken-
den Geiſt und ſeine Lauterkeit immer mehr
verliert, abſchmeckender und eckelhafter
wird, ie weiter es fließt?
Allerdings! da hat der Herr recht.
Aber wenn die alte Gelehrſamkeit mit einer
Brunnquell zu vergleichen iſt, vergleich ich
ſie mit dem Selzerbrunn’. Jſt lang auſ-
ſer Brauch, iſt auch nicht eines ieden
Sach’, daß er als Brunnengaſt hinreiſ’,
und das Quellwaſſer trinke; waͤr auch un-
noͤthig, Urſache des: es iſt kein gemein
Waſſer, ſtekt Kraft und Geiſt drinnen,
drum laͤßt ſichs auf viel Meilweges uͤber
L 3Land
Land und See verfuͤhren. Wenn alſo der
Schulmeiſter von Selters, der allein das
Privilegium hat, gegen Gebuͤhr die Kruͤg’
zu fuͤllen und zu petſchieren, ſeiner Pflicht
wahrnimmt, und rein Waſſer einfuͤllt, thut
mir die Flaſche, die ich aus der dritten
oder vierten Hand hab’, eben die Dienſt’
als das Quellwaſſer. Begiebt ſich wohl
mit unter, daß ein Krug nach faulen Eyern
ſchmekt; aber wer wird den trinken? Die
uͤble Beſchaffenheit veroffenbart ſich bald,
wenn einer den Kork nur ein wenig luͤftet
und hinein riecht. Nun mach’ der Herr
hievon die Amwendung.
M. Gr. Jch geſtehe es Jhnen gar
gern zu, daß ſie mir in Gleichniſſen uͤber-
legen ſind. Aber oben haben ſie mir be-
reits eingeraͤumt, was der Augenſchein
auch lehret, daß das Studium der klaſſi-
ſchen Schriftſteller von aller Art, und die
Kenntniß der gelehrten Sprachen, in un-
ſern Tagen wenig mehr geachtet wird.
Wenn nun dieſe Meiſterſtuͤcke nicht mehr
als Vorbilder und Regeln des geſunden,
und von aller Welt als richtig anerkann-
ten Geſchmaks gelten; wenn nicht mehr
darnach gearbeitet wird; wenn die Phan-
taſie
taſie oder die Willkuͤhr der Skribenten ihr
einziges hoͤchſtes Geſez iſt: ſo urtheilen ſie
ſelbſt, ob nicht Unordnung und Verwir-
rung daraus entſtehen muͤſſe; ob nicht bey
dieſer Zuͤgelloſigkeit, das geſittete Gebie-
the der Gelehrſamkeit von einer ungeheuren
Schaar barbariſcher Produkte, wie ehe-
mals das Roͤmiſche von barbariſchen Voͤl-
kern uͤberſchwemmt, eben ſo wie ienes
Reich zerfallen und in Barbarey ausarten
muͤſſe.
Herr Sie uͤberſchauen, duͤnkt mich, den
Zuſtand des vaterlaͤndiſchen Litteraturwe-
ſens aus einem zu eingeſchraͤnkten Geſichts-
punkt, und ſehen einen einzelnen Aſt fuͤr
den ganzen Baum an. Schau der Herr
den wilden Birnbaum, unter deſſen Schat-
ten uns wohl iſt. Was fuͤr ein geſunder
feſter Stamm! Was fuͤr herrliche weit
ausgebreitete Aeſte! die immer neue Zweig’
treiben, welche die Fruchtbarkeit des Stam-
mes iaͤhrlich mit unzaͤhlbaren Fruͤchten be-
laſtet. Jm Ganzen geben dieſe reichlich
alle Sommer zwey Eimer Moſt; aber nicht
ieder Aſt giebt Fruͤchte, viele treiben nichts
als Blaͤtter; knikt auch wohl mancher, der
vorher luſtig anzuſehen war, durch einen
L 4Wind-
Windſtoß gar entzwey, oder ſtirbt von ſich
ſelbſt ab. Wenn nun einer meiner Leut’
kaͤm und ſpraͤch: Herr, der Bimbaum im
Feld hat ’n duͤrren Aſt, laßt dem Baum
umſaͤgen, er taugt nicht mehr, zu dem
ſpraͤch ich: Narr ſaͤg den Aſt ab, und
nicht den Baum um; der Aſt taugt nim-
mer, aber der Baum iſt noch gut und
nutzbar. So Freund iſts gerad’ mit dem
Litteraturweſen, dieſer oder iener Zweig der
Gelehrſamkeit, der ehemals herrliche Fruͤch-
te getragen, ſtirbt nach und nach ab und
verdorret; Aber das ſchad’t dem Ganzen
nicht, die andern Aeſt’ treiben deſto luſti-
ger, ziehen die Saͤft’, die ihnen ihr ver-
trockneter Konſort entzog in ſich, und brin-
gen mehr Fruͤcht’ als zuvor. Dieſer ver-
dorbene Zweig iſt die Schulgelehrſamkeit,
damit iſt’s freilich aus, und das iſt fuͤr
euch Herren ein’ harte Nuß, ſchier eben
ſo ſchlimm, als fuͤr die Planetenbewoh-
ner eines Sonnenſyſtems, wenn ihr Fir-
ſtern verliſcht, moͤgen die dann auch wohl
denken, der ganze Weltbau zerfall; aber
das hat keine Gefahr, der ſteht feſt ge-
nug.
M.
M. Gr. Jn Jhrer Bemerkung liegt
allerdings etwas Wahres: der Verfall
der Gelehrſamkeit aͤuſſert ſich am ſichtbar-
ſten durch die Verachtung der ſogenannten
Schulſtudien, die faſt durchgaͤngig fuͤr un-
nuͤtze Pedanterey ausgegeben werden. Be-
ſonders beeifern ſich die philanthropiſchen
Zeloten, ihnen den lezten Stoß zu geben,
die man daher lieber Jkonoklaſten als Re-
formatoren des Schulweſens nennen moͤch-
te. Jndeſſen hat ſchon mancher Sachver-
ſtaͤndige, vornaͤmlich der gelehrte Rektor
Krebſius, dieſen Unfug zur Gnuͤge darge-
than und gezeigt, mit was fuͤr unnuͤtzen,
und zum Theil unſchicklichen Dingen, man
die Luͤcke der klaſſiſchen Schriftſteller, die
man der Jugend entzieht, ausgefuͤllet ha-
be; und welche Barbarey uns dadurch be-
vorſtehe, wenn der Juͤngling fruͤhzeitig von
allen Dingen ſchwatzen lernt, und von kei-
nem recht.
Lieber Herr! das all’ iſt auch ſchon von
andern Gelehrten widerlegt. Haben in-
ſonderheit die Berliner Koͤch, den guten
Krebs mit ſo heißer Lauge gebruͤhet, daß
ihm die Scheeren gelaͤhmt ſind, und er
nimmer kneipen wird.
L 5Mag.
Mag. Gr. Jch will hier nicht ent-
ſcheiden, mein Urtheil wuͤrde partheyiſch
ſcheinen, habe dieſer Sache nur im Vor-
beygehen gedenken wollen. Jndeſſen ſind
wir daruͤber einverſtanden, daß die Schul-
ſtudien ſehr darnieder liegen. Jch laſſe
mir gefallen, daß Sie dieſe nur fuͤr ei-
nen Zweig und nicht fuͤr den Stemm, oder
die Grundwurzel der Gelehrſankeit halten,
doch ſind meiner Meinung nach, die uͤbri-
gen Zweige der Wiſſenſchaften ſo welk wie
dieſer. Daher bin ich begierig zu verneh-
men, bey welchen Wiſſenſchaften Sie einen
ſo ſichtbaren Fortgang bemerken, als dort
der Verfall ſichtbar iſt?
Daruͤber waͤr viel zu ſagen, will gleich-
wohl nur wenig davon gedenken. Erſtlich
was anlangt die ſchoͤnen Wiſſenſchaften, ſo
bedarfs keines Beweißes, daß zum Exem-
pel die Dichtkunſt in unſern Tagen ihr
Haupt maͤchtig empor gehoben, daß die
Deutſchen in Anſehung des Werths ihrer
Produkte, mit allen Nationen wetteifern
koͤnnen. Auch der Zahl nach iſt das Frey-
kohr der Dichter und Dichterlinge, Schoͤn-
denker, Humoriſten, Empfindler u. ſ. w.
die all’ in die Dichterklaſſ’ gehoͤren, ob ſie
gleich
gleich nicht all’ Vers’ bauen, gewiß bey
uns ſo ſtark an Mannſchaft, als irgend un-
ter einem Volk das die Sonn’ beſcheint,
welches wenigſtens die Luſt und Lieb’ des
deutſchen Volks zu den angenehmen Stu-
dien beweißt. Was nun anlangt die hoͤ-
hern oder ſoliden Wiſſenſchaften, will ich
nur der Naturlehre, nebſt dem was dahin
einſchlaͤgt, der Kuͤrze halber Erwaͤhnung
thun. Muͤßt’ ſich nicht Koͤnig Salomon
mit aller ſeiner Weisheit bas wundern,
wenn er wieder kaͤm und vernaͤhm, daß der
Jſopp auf der Mauer gleichſam zu einer
neuen Ceder auf Libanon empor gewachſen,
und der Naturkuͤndiger von dieſem Kraut
bis zum Steinmooß herab, mehr Zwiſchen-
arten von Gewaͤchſen kennt, als er von der
Ceder bis zum Jſopp zu nennen wußt?
Was aber wichtiger iſt als alle phyſiſche,
botaniſche, oekonomiſche, kameraliſche, mi-
neraliſche, geographiſche, aſtronomiſche,
anatomiſche Entdeckung und Beobachtung;
wichtiger als die Entdeckung der Patago-
nen, Otahyten, aller unbekannten Suͤd-
laͤnder, oder eines fuͤnften Welttheils: das
iſt die Wiedergeburt und Erneuerung, Ver-
edlung und Vervollkommung der phyſiogno-
miſchen
miſchen Wiſſenſchaft, zu Befoͤrderung der
Menſchenkunde und Menſchenliebe. Dieſe
Knoſpe, hat als ein koͤſtliches Auge, der
Mann Gottes Lavater, aus dem Treib-
haus ſeines Genies hergenommen, ſolches
auf den Stamm der allgemeinen Gelehr-
ſamkeit mit ſeiner fruchtbaren Hand ein-
geimpft, welches denn herrlich geſchoben,
und reiche Fruͤchte traͤgt zum Nutz der Men-
ſchen. Fuͤr ſolchen herrlichen Zweig, des
ganzen Baumes Zier, wollt’ ich alle Aeſte
der ſpekulatifen’ Philoſophie, die ohnehin
ſchon ziemlich verdruckt und kahl da ſtehen,
ohn’ Bedauerniß abſaͤgen ſehen, wenn ſie
ienem im Weg ſtuͤnden und ſeinen Wachs-
thum hinderten. Wird auch wohl noch
dahin kommen. — Was ſagt der Herr
dazu?
M. Gr. Daß Sie eine ſchlimme
Sache mit vieler Waͤrme vertheidigen:
doch ich will Jhnen uͤber ieden Punkt be-
ſonders meine Meinung ſagen. Ueber den
Zuſtand unſrer ſchoͤnen Litteratur, waͤhle
ich das weiſe ἐπεχειν unſrer alten Theolo-
gen vor der Hand: eine Parallele zwiſchen
den Produkten der Alten und unſern Natio-
nalprodukten waͤre hier zu weitlaͤuftig, das
Reſultat
Reſultat davon wuͤrde ſeyn, daß ſich unſre
Pygmeen mit den alten Giganten auf kei-
nerley Art meſſen koͤnnen. Doch ich bin
ein Schulmann, das heißt nach der mo-
dernſten Bedeutung des Wortes ein Pedant,
ein mechaniſcher Kopf, der keinen Sinn fuͤr
das hat, was Geſchmak heißt, keine Um-
ſpannungskraft, kein Kunſtgefuͤhl. — Jn
den Wiſſenſchaften, wo Erfahrung und
Beobachtung, nicht Tiefſinn, Staͤrke und
Schwung des Geiſtes allein in Anſchlag
kommen, gebe ich zu, daß wir einen Schritt
weiter ſind als die Vorwelt. Erwaͤgt man
indeſſen, daß nur ein kleiner Theil der
Wiſſenſchaft und Erkenntniß der Alten auf
uns gekommen iſt; daß dieſe vieles vor-
laͤngſt geſagt haben, womit die Neuern ſich
als eigner Erfindung bruͤſten, und daß wir
vieles nicht wiſſen, was die Alten recht
gut wußten: ſo gleicht ſich auch dieſe Dif-
ferenz wieder aus. Die neuen wiſſenſchaft-
lichen Acquiſitionen aber, von denen Sie
mit Enthuſiasmus zu reden ſcheinen, ſind
in der That nicht ſo viel werth, als ein
einziger Morgen Landes im Koͤnigreich La-
domirien. Jch ſehe, Sie hinken mit den
abgoͤttiſchen Jſraeliten unſrer Zeit, auch
um
um das guͤldne Kalb der Phyſiognomik
herum; aber glauben Sie uͤber kurz oder
lang wird dieſe angebetete Afterſcienz das
Schikſal ienes Jdols haben. Lange gnug
iſt ſeine Subſtanz fuͤr reines gediegenes
Gold gehalten worden; ia Moſes, der Zer-
ſtoͤhrer deſſelben, hat ſich gar fuͤr einen
Adepten muͤſſen ausſchreien laſſen; endlich
hat der Ritter Michaͤlis dieſes idealiſche
Kalb geſchlachtet, und nachdem er ihm
das guͤldne Fell abgeſtreift, befunden daß
nichts anders als ein Stuͤck Holz in ſeinem
Jnnern verborgen war, und ihm nur die
Auſſenſeite einigen Werth gegeben hatte.
Wenn Sie fuͤr die Wiſſenſchaften keine an-
dern Pfropfreiſſer wiſſen, und ſo friſch die
Saͤge brauchen wollen, wo noch ein nuz-
barer Aſt durch Schienen und Umſchlaͤge
von Baumwachs koͤnnte erhalten werden,
ſo wird ihr Baum bald ganz entblaͤttert da
ſtehen: denn die genannten bekleiben nicht.
Solche luftige Scienzen erhalten in dem
Gebiete der Gelehrſamkeit nicht einmal das
Buͤrgerrecht, ſondern werden als Vagabon-
den bald wieder uͤber die Graͤnze gebracht,
wie wir das an der Alchymie, Aſtrologie,
Geomantie, Chiromantie und andern mehr
erlebt
erlebt haben. Sollte indeſſen ſolch Geſin-
del ia einmal naturaliſirt werden, ſo waͤre
der Umſturz der ganzen litterariſchen Staats-
verfaſſung ohnfehlbar vor der Thuͤr.
Jch daͤchte wir gingen, ſprach ich, denn
es beginnt Nacht zu werden. Konnt’s laͤn-
ger nicht aushalten, was der Geck daher
ſchwazt. Waͤr M. Gratius nicht vor dem
mein Praͤceptor geweſen, haͤtt ich ihm ſchon
antworten wollen, daß ihm die Ohren da-
von gegaͤllet haͤtten; ſo aber dacht ich: ſollſt
Gemach thun mit dem alten Knaben, Alter
hilft fuͤr Thorheit nicht. Zog deßhalb mei-
ne aphoriſtiſche Bienenkapp’ uͤbers Geſicht:
ſie reden was ſie wollen, moͤgen ſie doch re-
den, was kuͤmmerts mich! — und gieng
heim.
Am
Am Tage Sankt Sebaldi.
Eine wichtige Entdeckung.
Probatum eſt! der Markus iſt fort!
Die Hammel ſind fort! Der Jung in die
Schaͤferhuͤtt’ eingeſperrt und das Thuͤrlein
verbohrt! — Nun ſag mir einer, daß
Phyſiognomik nichts ſey, und daß nicht
alles zutreff’ auf’n Haar. Will gern den
Verluſt verſchmerzen, ſind’s doch nicht die
purpurfarbnen Hammel des Candide. All’
meine Schoͤps, ieder ſeine vier Gulden un-
ter Bruͤdern werth, ſind mir nicht ſo lieb,
als daß der Markus ein Dieb iſt. Nun
ihr Zweifler, habt ihr doch klaren Beweiß,
daß die Kunſt nicht fallirt. Lang gnug hab
ichs voraus geſagt, daß es ſo kommen
wuͤrd’, aber da waret ihr all’ des Markus
Advokaten, nun ſeht ihrs, daß ich recht
prognoſticirt hab. — Soll mich wundern,
was der Philipp angeben wird, wenn der
vom Revier kommt; wird große Augen
machen, ich glaub’ er maſakrirt’ den Kerl
auf
auf der Stell, wenn er ihn haͤtt’: denn die
gutherzigen Leut werden nicht leichter wild,
als wenn ſie inne werden, daß ein Boshaf-
ter ihr Herz betruͤgt.
Aber da kommt mir ein Gedank’ von un-
gefehr, den ich gleich feſt halten muß: mein
Haus iſt im Aufruhr; das ganze Dorf;
alles in Schrecken und Beſtuͤrzung, als
wenn eine allgemeine Pluͤnderung vorge-
weſen waͤr; ich hoͤr nichts als den diebiſchen
Markus verwuͤnſchen und verfluchen; ſind
ihm mehr als dreyßig Leut nach, ihn zu
fahen, doch der wird ſich nicht kriegen
laßen, dazu ſieht mir ſein Profil zu ver-
ſchmizt aus, iſt ’n ausgelernter Dieb, wird
mit ſeinen zwoͤlf Hammeln bey den ameri-
kaniſchen Werbern in Freyſtadt ſchon in Si-
cherheit ſeyn. Von all’ den Eiferern hat
gleichwohl keiner einer Stecknadel werth
eingebuͤßt; ich allein hab den Verluſt, und
als ein guter Wirth pfleg ich auch nichts
wegzuwerfen; wie mir aber der Verwalter
den Diebſtahl kund macht’, empfand ich
mehr eine heimliche Freud’ als einen Ver-
druß daruͤber. Wie erklaͤr ich mir das?
Jſt mit alle dem eine wunderbare Erſchei-
nung; doch viel Kopfbrechens ſoll’s nicht
Mkoſten
koſten das Raͤthſel zu loͤſen, nicht halb ſo
viel als der Gruͤbler Volkmar braucht, ei-
nen ſinnreichen Logogryph im Merkur zu
entziffern, daß er daruͤber den Gerichtstag
verabſaͤumt.
Wenn ich dieß Prolem geneu auf der
Wage meines Verſtandes abwig, in der
einen Schaal’ den Verluſt der zwoͤlf Ham-
mel, in der andern die Ehre aus meinem
phyſiognomiſchen Tiefblick, der nun vor al-
ler Welt gerechtfertiget iſt, als Gewinnſt:
ſo druͤckt das Gewicht der Eigenliebe, die
durch dieſe Ehre geſchmeichelt wird, die
Wagſchaal alſo nieder, daß die zwoͤlf Ham-
mel ſo leicht werden als zwoͤlf Pflaumfe-
dern, gegen eben ſo viel Pfund Silber auf-
gewogen. Gewinnſt und Verluſt genau be-
rechnet, ſind ich beyder Verhaͤltniß wie Ein-
ſatz und Auszug im Lotto: der Gewinn des
Letztern erſtattet den Verluſt des Erſtern
funfzehnmal wieder. Waͤr einer nicht ein
Thor der ſich beym Gewinn uͤber den Ver-
luſt des Einſatzes graͤmen wollt? Haben
auch ſchon ſtattliche Leut’ vor mir Schaden
fuͤr Gewinn geachtet, wenn ſie eine gewiſſe
Art Ehre, worauf ihr werthes Selbſt
eben geſteuret war, dadurch erlangten.
Mein
Mein Großvater ſelger war ein Landſaß
wie ich; im ganzen Canton ſaß keiner ſo
warm und weich wie er. Da kuͤtzelt’ ihn
die Eigenliebe mit einer Excellenz, begab
ſich an Hof, diente par honneur, machte
zur Ehre ſeines Fuͤrſten Schulden, haften
noch immer 10000 Thaler dieſer alten
Suͤnden mit Lehnsherrlichem Conſenz auf
dem Gute, und wurd’ zu ſeiner großen Zu-
friedenheit als Excellenz verabſchiedet.
Mein Graͤnznachbar der Kammerherr
von** meint’ es ſey eine herrliche Sach,
wenn er zwey Knoͤpf mehr auf dem Rock
truͤg als ein anderer, ob er dafuͤr gleich
zwey Guͤter weniger haͤtt. Der Wunſch
wurd’ erfuͤllt, nun lebt er bey leerem Spei-
cher gluͤklicher mit dem Schluͤſſel, als vor-
her bey vollem ohne denſelben.
Der große Blumiſt van der Dalen in
Harlem, fand, wie mein ſelger Vater zu
erzaͤhlen pflegt’, eine Tulp’ in einem Gar-
ten, die er in dem Seinen allein zu beſi-
tzen glaubt’, kaufte mit ſchwerem Geld
den Garten um der Blume willen, riß die
Zwiebel aus, zertrat ſie, und gab darauf
noch den naͤmlichen Tag, den Garten mit
20000 Gulden Verluſt an den erſten Be-
M 2ſitzer
ſitzer zuruͤck; denn ſein Blumitemſtolz war
befriediget.
Der beruͤhmte Naturalienſanmler Com-
merſon, durchkreuzte mehr als einen Welt-
theil, fuͤr ſein baares Geld Seltenheiten
einzutauſchen, fuͤr die ſein Freind Maillart
in ganz Paris kein Haus zum Aufbewahren
finden konnte, weil der Geſtenk ſeiner Fi-
ſche und andrer Sammlungen unertraͤglich
war. Jhm roch aber ſein Kloak wie Am-
bra und Zibeth, weil ſein Sanmlerſtolz da-
durch geſchmeichelt ward.
Der Prediger in Mangelsdorf, der um
eine Kopfslaͤnge an Gelahrtheit uͤber ſeine
Confratres im Kirchſprengel hervor zu ra-
gen ſtrebt, und alle Bienenwaͤrter, Rau-
penwuͤrger, Seidenbauer neben ſich verach-
tet, richtet eine Bibliothek an, hat auf alle
periodiſche Schriften abonnirt; hat Schiff
und Geſchirr vermakelt, um ſeinen Na-
men als Praͤnumerant hinter der Phyſio-
gnomik verewiget zu ſehen; iſts wohl zu-
frieden, daß er von ſeinen Aeckern Dorn
und Diſteln erndtet, wenn ihm nur kein
Menſch die Ehre des Beſitzes eines koͤſtli-
chen Buͤcherſchatzes ſtreitig macht.
Erwaͤg
Erwaͤg ich nun, daß all’ die Vorbenann-
ten Geldverluſt nicht geachtet haben, wenn
ſie die Art Ehre, nach welcher ihnen luͤſte-
te, damit erkauffen konnten; oder wend ich
meine Betrachtung auf andere Beiſpiel’,
wo’s nicht mit Geld erworben wird, wo-
nach das Herz verlangt; Bedenk ich wie
der Staatsmann Zufriedenheit und Ge-
muͤthsruh, der Kriegsmann Leben und ge-
ſunden Leib, der Gelehrte Geiſteskraͤfte druͤ-
ber konſumirt; als zum Beiſpiel der Lord
North in England, deſſen Miniſterſchaft
ich mir wahrlich nicht um einen Scheffel
Kartoffeln eintauſchen moͤcht’; der General
Wolf der in Amerika auf’m Ehrenbett ver-
ſchied; und der Schoͤndenker — z in
Deutſchland, mit dem’s der Sage nach
uͤbergeſchnappt haben ſoll: ſo befind’ ich,
daß ich mit dem Verluſt von zwoͤlf Ham-
meln ganz wohlfeil abgekommen bin: hab
meinen Zweck erreicht, und meinen Ehrgeiz
ſo gut befriediget, als einer der Obenge-
nannten. Auſſerdem macht mir dieſer Han-
del noch viele Freud’, aus Patriotismus
fuͤr die gute Sach’ der Phyſiognomik, de-
ren Unfehlbarkeit dadurch mit einem Beweiß
mehr unterſtuͤzt wird.
M 3Als
Als ich ſo weit mit meiner Neditation
gekommen war, trat ich ganz wohlgemuth
ans Fenſter, ein wenig Luft zu ſchoͤpfen
und weiter druͤber nachzudenken, ſiehe, da
kam mit einemmal der Markus zum Thor
herein, war luſtig und vergnuͤgt; rief dem
Kellner zu: her ’n friſchen Trurk ’ch hab’
ſie wieder, die Hammel, hab ſie auskund-
ſchafter auf der Diebsherberg, der Kneip-
ſchenk’ im Wald’: ſind verarreſtirt. — Jch
wußt’ nicht was ich da zu hoͤren bekam und
ob ich meinen Sinnen trauen ſollt’, gleich-
wohl wars nicht anders. Thaͤt deßhalb
ganz gemach mein Fenſter zu und ſchlich
mißmuͤthig wieder zum Schreibtiſch. Sah
von ungefehr in Spiegel, fand mein Ge-
ſicht ganz entſtellt; alle Muſteln, die ſich
vorher iovialiſch gerundet und erhoben hat-
ten, hingen izt ſchlaff und ſchienen ver-
laͤngt: das Auge getruͤbt und verduͤſtert;
die Naſe bleich, der Mund verzerrt; die
Unterlippe herabhangend. Da kam mir
wieder ein Gedank ein: iſt kraun ein naͤrri-
ſcher Handel, dacht ich, einen Verdruß
darob zu faſſen, daß die Thatſach beweißt,
einer ſey ein ehrlicher Kerl, den die Phan-
taſie zum Dieb demoſtrirt. Biſt ſonſt ein
Bieder-
Biedermann, der lieber zehn ehrlich macht
als einen zum Schelm, und iezt wuͤnſchteſt
du das Gegentheil? Herz wie haͤlts? Wenn
du im Stand’ biſt, einen rechtſchaffenen
Kerl einer Hypotheſe aufzuopfern; ſo iſt
die dem Goͤtzen Moloch zu vergleichen, der
die unſchuldigen Kindlein frißt, und du biſt
nicht werth in dieſer Bruſt zu ſchlagen.
Zwar waͤr’s nichts neues, daß eine Hypo-
theſe ’n ehrlichen Kerl verſchlungen haͤtt’,
wie ehemals der Lindwurm den Poſtboten,
bis auf die Brieftaſch. Wie viel Menſchen
ſind um einer Hypotheſe willen, die ſie glau-
ben ſollten und nicht wollten, oder glauben
wollten und nicht ſollten, geſtaͤupt, ge-
brandmarkt, gekoͤpft, gehangen, gevier-
theilt, und Gott weiß was ſonſt noch wor-
den! Waͤr der Unterſchied nicht groß, wenn
zu dieſer ganzen Summ’ noch eine Einheit
hinzu kaͤm’; aber Gott ſoll mich bewahren,
daß ich ein ſolcher hypothetiſcher Schlaͤchter
wuͤrd’, wie ich doch bald unvorſaͤzlicher
Weiſ’ worden waͤr. Heut zu Tage ſind
zwar dieſer Hyaͤne die Zaͤhn’ ziemlich ausge-
brochen, daß ſie nicht leicht wuͤrgen und
verſchlingen kan; doch kneipen und um ſich
beißen kan ſie noch immer. Das hat er-
M 4fahren
fahren der krenzbrave Exſenior G** in
H **, auf den iſt wie maͤnniglich bekannt,
ſeit langer Zeit die Hypotheſe losgehezt
worden, daß er ſey ein ungeſtuͤmer Zelot
und Ketzermacher, der die ganze Chriſten-
heit anathematiſir’, wenn ſie nicht in’s
Horn ſeiner Orthodoxie blaß’. Dieſer, fuͤr
wahr angenommene Satz, hat nun verur-
ſacht, daß der Mann nur einmal in die ge-
lehrte Welt hinein huſten oder nieſen darf,
ſo kneipt und beißt alles auf ihn; laͤuft ihm
ieder litterariſche Troßbub’ nach, und rauft
ihm ein Haar aus dem Bart. Lieben Bruͤ-
der! beurtheilt den Mann doch nicht blos
nach der Phyſiognomie ſeiner Schriften, die
haben freylich oft all’ das Widerwaͤrtige des
Markusprofils; ſondern nach der Thatſach’
ſeines Lebens und Wandels, ſo werdet ihr
ihn ertragen lernen, wie ich meinen Schaͤ-
fer.
Den Markus ließ ich herauf kommen.
Er hatte, duͤnkt mich, iezt eine ganz ande-
re Phyſiognomie; die ſchelmiſchen Zuͤg’ und
das ſtilltuͤckiſche Weſen ſchienen mir daraus
verſchwunden zu ſeyn. Redet deshalb
freundlich mit ihm, welches er von mir
eben nicht gewohnt iſt: erzaͤhl mir den ei-
gentlichen
gentlichen Verlauf der Sach, wie iſts,
frug ich, mit dem Hammeldiebſtahl zuge-
gangen?
Herr, ich vermerkt Unrath, ſprach er,
als ich geſtern Abend in die Hord’ vor dem
Wald eintrieb; ſpionirten etliche Laurer im
Wald herum, doch thaͤt ich, als haͤtt ich
kein’ Acht auf ſie, kroch in die Huͤtt’, in
der der Jung ſchon ſchnarcht’, und als es
recht dunkel war, ſchlich ich auf allen Vie-
ren aus der Hord’, und barg mich, auf
funfzig Schritt’ weit davon, hinter eine Dor-
nenheck’. ’S dauert’ nicht lang, ſo kamen
vier Kerl uͤbers Feld her; der erſt’ ſchwieg
den Hund durch Diebskuͤnſt, die andern ver-
ruachten die Huͤtt’ und trieben einen Theil
der Hammel fort. Jch merkt bald ab, wo
ſie damit hin wollten, macht’ mich eilends
in den Wald, gewann einen Vorſprung,
und paßt’ ihnen bey der Kneipſchenk’ auf.
Wie ſie da hinein trieben, lief ich raſch
ins naͤchſte Dorf, zeigt’s beym Richter an,
der both Mannſchaft auf, fiel damit ein
in die Diebsherberg, und verarreſtirt’ die
Hammel; aber das Diebsgeſindel hatte ſich
beym erſten Lerm davon gemacht.
M 5Was
Was iſt nun da zu thun? Meine phy-
ſiognomiſche Reputation kommt hier, merk
ich, ſehr ins Gedraͤnge. Soll ich beken-
nen, daß ich kein Seherauge hab? daß
mein Urtheil von des Markusphyſiognomie
ſo maͤchtig windſchief ſey, als des Beam-
ten Spoͤrtler ſeines von der meinen? Das
geht mir ſchwer ein! Wenn ich nicht ver-
moͤgend bin mittelſt der Phyſiognomik ins
menſchliche Herz zu ſchauen, und einen
ehrlichen Kerl mit einen Schurken eben ſo
leicht verwechſel als der Frank, was hilft
mir denn mein Studium? Hab’s Schand
und Spott vor meinen Nachbarn, wenn
ſie meinen Jrrthum innen werden. Wird
mich nicht ein Jeder, nach dem Ausdruck
des Gratarolus von Bergamo, fuͤr ’n bloſ-
ſen Vultiſpex halten? Meine phyſiogno-
miſchen Entdeckungen werden mir ſelbſt ſo
zweifelhaft, als es die Entdeckung des Alt-
vaters Ana in unſern Zeiten worden iſt;
’s kan leicht kommen, daß das warme Baͤ-
der ſind, was ich fuͤr Mauleſel angeſehen
habe. Jch wollt’, der Freund, der mir
zuerſt die Aehnlichkeit aus des Markus und
Ruͤdgerodts Profil heraus lorgnirt, waͤr
mit ſeinem Beobachtungsgeiſt daheim blie-
ben.
ben. Jndeß was ſchadet’s, ein Fehler
mehr oder weniger, auf Rechnung der
menſchlichen Schwachheit macht nichts aus.
Soll das auch meinen phyſiognomiſchen
Glauben ſo wenig irr machen, als die An-
wandlung von Toͤpferkolik, den philoſophi-
ſchen ienes Stoikers. Wie der ſich wand,
gleich einem Wurm, und doch bekannte,
der Schmerz ſey kein Uebel; ſo will ich
auch die Unfehlbarkeit der Kunſt ſtandhaft
behaupten, ungeachtet des Widerſpruchs
meiner Erfahrung.
Am
Am Tage Bartholomaͤi.
Bewegungsgruͤnde zur Reiſe.
Morgens um 4 Uhr.
Ein ſchoͤner heitrer Tag! Jſt mir gar
wohl zu Muth’, bin heut fruͤher aufgeſtan-
den als die liebe Sonn, und ſeh mit Luſt
wie meine Wachskerz ſich vor den Tages-
licht ſcheut, und ihren ganzen Schimmer,
der vorher das Gemach erleuchtet’, nun de-
muͤthig in ein klein halb ſichtbar Flaͤmm-
lein ſammlet. Jn meiner Seel beginnt’s
auch immer mehr und mehr zu tagen: was
mir zuvor ſchwarz vor den Augen lag, wie
die egyptiſche Finſterniß, daß wird mir in
einer heitern phyſiognomiſchen Morgen-
ſtund’ Lichthell und klar, wie Sonnen-
ſchein. Bald haͤtt ich dem Markus Un-
recht gethan, und ihn fuͤr die ehrlichſte
Haut unter dem Mond geachtet; haͤtt’
der Schalk ſchier meinen phyſiognomiſchen
Glau-
Glauben wankend gemacht, daß ich ſchon
meine Jnterpretation ſeiner Geſichtsform
zuruͤknehmen wollt’: doch nun hab ich ei-
nen neuen Strebpfeiler an mein Syſtem
angeſezt, und da ſteht alles wieder Fel-
ſenfeſt.
Spricht der Kunſtmeiſter irgendwo: wel-
cher reine, edle, feingebaute, leicht reiz-
bare Menſch, mit der zarteſten Engelsſee-
le, hat nicht ſeine Teufelsaugenblicke, wo
nichts als die Gelegenheit fehlt, zwey,
drey ungeheure Laſter in einer Stunde ihn
begehen zu laſſen? Dieſer Saz, mein ich,
ſey in der Phyſiognomik ſo unentbehrlich,
als das dictum de omni et nullo in der
Syllogiſtik. Laͤßt ſich derſelb’ ganz be-
quem alſo umkehren: welcher verworfne,
rohe, wilde Menſch voll zaͤher nervenloſer
Unempfindlichkeit, hat nicht ſeine Engels-
augenblicke, wo er, wenn ſich die Gelegen-
heit dazu begiebt, zwey, drey gute Hand-
lungen in einer Stunde beginnt? So ſchließ
ich ex aequo und nun iſt mirs kein Raͤth-
ſel, warum der Markus nicht mit ſeinen
Erbverbruͤderten, den Hammeldieben gemei-
ne Sach gemacht, und noch ein Dutzend
Schoͤps dazu fortgetrieben hat: naͤmlich
ſeine
ſeine Diebskameraden verpaßten die rechte
Zeit, kamen angezogen, da der Kauz eben
ſeinen Engelsaugenblik hatt’, — ia, da
kamen ſie freylich unrecht. Meine Aus-
deutung des Markusgeſichts iſt deßhalb’
unwiderruflich; der Kerl taugt in der Wur-
zel nicht und wenn er ſich noch ſo ehrlich
hielt; ia wenn ihm ein Heiligenſchein ums
Haupt floͤß, ſo ſpraͤch ich doch, der Gal-
gen ſey ihm vor die Stirn geſchrieben.
Denn daß mir ſein Geſicht bey der Wider-
kehr von der Kneipſchenk ſo gut und bieder
vorkam, beweißt nichts fuͤr ihn, ſondern
beſtaͤtigt nur die Wahrheit des goldnen
Spruchs vom Tripus des Meiſters, daß
grade vor oder nach einer edlen That, gra-
de nach oder unmittelbar vor einer ſchaͤnd-
lichen That, derſelbe Menſch eine ganz
andre Phyſiognomie habe. Dulden will
ich ihn wohl, bis er einen ſeiner boͤſen
Schwaͤnk ausgehen laͤßt; ob ich ihm gleich
nie vertrauen werd.
Um 8 Uhr.
O weh! Wie verſteh ich das? Die So-
phie mit ihrer Engelsphyſiognomie, die
Heva aus einer Unſchuldswelt hat ſich —
unſicht-
unſichtbar gemacht? Lag mir die ſchlaue
Dirn’ deßhalb ſo an, bey des Gerichtshal-
ters Mutter ihr Quartier in der Stadt zu
beſehen, daß ſie ſich bey dieſer Gelegenheit
aus’m Staub macht’? Hat keinen Fuß in
der ehrbaren Matron’ Haus geſezt, iſt un-
terwegs im Gaſthaus an der Straß’, von
einem irrenden Ritter weggekapert, wel-
ches, wie der Augenſchein lehrt, ein abge-
legter Handel war. Wenn ſie von mor-
lackiſcher Abkunft geweſen waͤr, ſollt’ mich
die freywillige Entfuͤhrung nicht Wunder
nehmen, denn dort ſoll’s Entfuͤhrenlaſſen,
nach des Abbate Fortis Bemerkung, ein
Nationalfehler der iungen Dirnen ſeyn;
aber bey uns iſts, denk ich, noch zur Zeit
nicht Sitt’ im Lande. — O du Schlang!
Hab ich das um dich verdient? Unter den
vierhundert und neun und dreißig Schlan-
genpraͤparaten des Petersburger Natura-
lienkabinets, duͤrfte ſchwerlich ſo eine be-
truͤgliche Paradiesſchlange, wie du, anzu-
treffen ſeyn.
Sophie! Sophie! noch ſchmeichelt dein
Nam meinem Ohr; — auch du hatteſt alſo
deinen Fiſchſchwanz? Trugſt den Schalk
im Herzen, den der Zauberreiz deiner Ge-
ſtalt
ſtalt ſo meiſterlich verbarg? Wie konnt’ ei-
ne ſo gleißneriſche, falſche, krumme, hoͤcke-
rige Seel, in dieſem edlen, freyien, nach
dem richtigſten Ebenmaaß gebarten Koͤrper
wohnen? Wie war’s moͤglich, daß dieſe
Giftſpinn’ ein ſo herrlich Gewebe von Fa-
ſern und Muſkeln ausſpinnen konnt’? Und
wie war’s moͤglich, daß ſie nicht mit einem
ihrer acht mißgeſtalteten Fuͤß, an irgend
einem dieſer Faͤden ruckt’ und zuͤckt’, daß
man ihr Daſeyn im Mittelpunkt, durch ei-
nen einzigen verzerrten Zug haͤtt von auſſen
her vermerken moͤgen? Kauns nicht faſſen,
wie ein ſo heterogenes Ganzes, in die
Harmonie der Schoͤpfung eingewebt ſeyn
konnt. — Undankbare! haſt den ſchoͤnſten
Plan meines Lebens vernichtet, verachteſt
ſtolz die Aeuſſerungen meiner redlichen Ge-
ſinnung, als ſich in iener ſeligen Stunde,
mein Herz dir oͤfnete unter meinem Lieb-
lingsbaum’ im Felde. O wie ſchwoll dein
falſcher Buſen von erdichteter Zaͤrtlichkeit;
wie ahmten deine Krokodillsthraͤnen, die
ich fuͤr eitel Perlen achtete, innre Herzruͤh-
rung ſo kuͤnſtlich nach, als du mich bereit
fandeſt, dir meinen Stammbaum aufzu-
opfern, mein Vaterland zu verlaſſen, wie
Herr
Herr Oheim in der Schweiz ein gluͤcklicher
Bauer zu werden, und nach dem Beyſpiel
des Mannes vom Berge, dich zu meiner
Antoinette zu machen.
Um 10 Uhr.
Jmmer beſſer! Hat die Frau Gertrud das
ledige Neſt umgeſtoͤhrt, nachdem der Vo-
gel ausgelogen iſt, und alles wohl auf-
geraͤumt gefunden. Jſt das Schmuck-
kaͤſtlein aus dem geheimen Schubfach der
Schreibkommode, die die Sophie zum
Gebrauch gehabt, und woraus ich nichts
weggeraͤumt, weil ich ihr vertraut, mit
allen Reliquien des Geſchmeides mei-
ner Mutter ſelger uͤber alle Berg. War
darinn:
Ein goldnes Kettlein, woran das An-
haͤngſel ein verwundet Herz vorſtellt’,
das ich der Sophie ohnehin zugedacht
hatt’.
Ein paar Ohrengehaͤng von Elends-
klauen, mit Bamlotten in Gold ge-
faßt.
NEine
Eine ſilberne Doſe, mit einen immer-
waͤhrenden Kalender auf dem Deckel,
gehoͤrt zu meiner Mutter Mahl-
ſchatz.
Ein goldner Ring mit aͤchten Steinen in
Silber gefaßt, die Faſſung ſchwarz
emaillirt.
Einer dito, auch von Gold, mit drey
Sieben ſtatt des Kleinods von
Schmelzarbeit.
Mein ſaͤmtliches Pathengeld.
Eine Kinderklapper von Silber, mit
Schellen und einem Wolfszahn.
Haͤtt ſie doch den Plunder all hinnehmen
moͤgen, bis aufs Pathengeld, nur nicht
heimlich; aber diebiſcher Weiſ’ es zu ent-
wenden — pfuy der Schande! doch was
fragt ſo ’n Balg nach Schand’ oder Ehr. —
O ihr guten frommen Schattenbildlein ge-
gen mir uͤber, wie darf ich meine Augen
aufheben zu euch, denen mein Herz ſo ge-
afterredet und boͤſen Leumund gemacht hat!
Auf die Knie vor euch niederfallen will ich,
und Abbitt thun ob der Laͤſterung. Wenn
ich nach euch, ihr lieblichen freundſchaftli-
chen
chen Schatten, von der Seiten ein wenig
hinblinz, denn aufzuſchauen ſchaͤm ich mich,
daͤucht mich, ich leſ’ eure Geſichter wieder
wie zuvor, wie ſie im phyſiognomiſchen Ma-
nual verzeichnet ſind; die Varianten ſchwin-
den wie die biſarren Traumbilder, wenn
einer durch’n derben Ribbenſtoß, ploͤtzlich
aus’m Schlaf geweckt wird. Wohl mir,
daß der Molch, der meine Geſinnungen
gegen euch vergiftet hat, uͤber die Graͤnz
iſt.
Um 11 Uhr.
Das laß ich gelten, doch wenigſtens et-
was! Ein Brief aus’m Gaſthaus an der
Straße, den das Luftvoͤglein, wie’s aus’m
Bauer gehuͤpft war, daſelbſt hinterlaſſen
hat. Lautet alſo:
Was Sie auch, verehrungswerther Mann,
zu meinem Entſchluße, Jhr Haus ohne Ab-
ſchied zu verlaſſen, denken oder ſagen moͤ-
gen; ſo habe ich mich in der Nothwendig-
keit geſehen, ihn befolgen zu muͤſſen, um
Jhnen Kraͤnkungen zu erſparen, die mein
laͤngerer Aufenthalt bey Jhnen unvermeid-
N 2lich
lich gemacht haͤtte. Beurtheilen Sie mich
nicht zu ſtrenge, ich unterwerfe mich dem
Ausſpruche Jhres guten Herzens, und ohne
den Schritt, den ich gethan habe, zu recht-
fertigen, oder mich deßwegen anzuklagen,
will ich Jhnen die Urſache meines Ent-
weichens entdecken. Jch bin eine Ungluͤk-
liche, durch ein allzu empfindſames Herz
und die Folgen einer unwiderſtehlichen Lei-
denſchaft ungluͤklich. Meine Geſchichte iſt
nicht ganz, die ich Jhnen erzaͤhlte, und die
Sie die Gefaͤlligkeit hatten mir aufs Wort
zu glauben. Ohne Umſchweife, ich be-
fuͤrchtete einen Thomas Jmgarten in das
Haus meines Wohlthaͤters zu verpflanzen
und entfloh. Eine elende Huͤtte mag mei-
ne Schande verbergen, ich will ſie nicht
auf das Haus verbreiten, wo ich eine men-
ſchenfreundliche Aufnahme genoſſen habe.
Die mißliche Lage, in der ich mich befinde,
hat mich genoͤthiget, einige Kleinigkeiten
an Schmuck und Gelde, aus der Schreib-
kommode meines Wohnzimmers mir zuzu-
eignen. Jch erbiete mich zur Wiedererſtat-
tung des Werthes, ſo bald es ein milderes
Schikſal erlauben wird; mein Herz hat kei-
nen Antheil an dieſem Raube, den das aͤuſ-
ſerſte
ſerſte Beduͤrfniß mir zu begehen auferlegte.
Mit dem waͤrmſten Gefuͤhl des Dankes und
der Hochachtung ſchrieb dieſes Blatt die un-
gluͤkliche Sophie.
Laß fahren dahin! Das arme mitleids-
werthe Geſchoͤpf bedarfs; ’s lag doch als
ein tod Kapital im Kaſten, mag ſie’s hin-
nehmen, als ein Allmoſen, iſt in guten
Haͤnden. Bin dem Maͤdchen noch immer
gut: ihr offenherzig Bekenntniß und ihre
Silhouett’, die ich vor mir hab’, hat mich
mit der kleinen Schlang ganz wieder ausge-
ſoͤhnt. Wenn ich ihr Profil beſchau, find
ich nach allen phyſiognomiſchen Regeln,
mein erſt Urtheil, laut Buch, dennoch be-
ſtaͤtiget. Noch immer die reine, gute, in
ſich ſelbſt wohnende Seele, die Stirn ſo
Eindrucksfaͤhig — Getroffen in Wahrheit!
daher eben die unwiderſtehliche Leidenſchaft,
die ſie ſelbſt bekennt. — Aber wie? Die
Naſe einer reinen iungfraͤulichen Seele, und
das Auge hinſchmachtend in Wonnegefuͤhl
unkoͤrperlicher Liebe: die Liebe hat ſich
doch traun hier verkoͤrpert. — Demun-
geachtet ia! ia! ia! alles richtig, reine
goldlautere Wahrheit: der Phyſiognomiſt
N 3urtheilt
urtheilt nicht blos aus einer, nicht einmal
aus mehrern Handlungen, er beobachtet
die Anlagen, den Charakter, die Grund-
kraͤfte, die Hauptſtaͤrke, denen ſehr oft ein-
zelne Zufaͤlligkeiten durchaus zu widerſpre-
chen ſcheinen. Die zaͤrteſte Engelsſeele hat
ihre Teufelsaugenblicke, ſollte die Sophie
deren nicht auch haben? Ungluͤklicher Weiſ’
hat ſich eben die Gelegenheit bey denſelben
gefuͤgt, daß das Boͤſe aus dem actu primo
in den actum ſecundum uͤbergegangen, wie
die Philoſophi zu reden pflegen. Jch ver-
muth’, daß die gute Sophie in ihrem Le-
ben nicht mehr als zwey Teufelsaugen-
blick’ gehabt hat; aber die hat ſie denn
doch auch gewiß gehabt. Einmal in der
ungluͤklichen Schaͤferſtund, die den armen
Dingern, den iungen Maͤdchen uͤberhaupt
gar fatal iſt, daß ſie ſich davor mehr
als vor Feuer und Waſſer wahren ſollten;
das andremal, als ſie den Diebsgriff in
mein Pathengeld thaͤt, da hieß es wohl
recht: Gelegenheit macht Diebe. Jnzwi-
ſchen kan damit die Engelſeel gar wohl be-
ſtehen.
Um
Um 1 Uhr.
Hat mir kein Biſſen zu Mittag ſchmecken
wollen. Macht’s daß die Sophie, mit
ihrer niedlichen Hand mir nicht mehr vor-
legt; oder iſt mir der Schreck uͤber ihre
Flucht in Magen gefahren? Will ’naus
unterm Schatten des wilden Birnbaums,
meinem Herzen Luft zu machen.
Um 6 Uhr.
Die Kur hat nicht anſchlagen wollen. —
Komm ſo ſchwermuͤthig vom Feld’ wieder
nach Haus als ich hinaus gegangen war.
Hab meinem verſchwiegnen Buſenfreunde,
dem einzigen, dem ich vielleicht noch auf
Erden vertrauen kan, mein Leid geklagt.
’S war nicht anders als wenn aus dem
ehrwuͤrdigen Wipfel ſein Mitleid auf mich
herab ſaͤuſelte. Verſchaͤmt bewegten ſich
ſeine belaſteten Aeſte niederwaͤrts, als
wollt’ er den Namen der Ungetreuen damit
bedecken, den ich in einer gluͤcklichen Stun-
de tief in ſeine Rinde grub; doch tiefer iſt
er mir ins Herz geſchrieben. Und wenn
nach manchem Sommer, die kenntbaren
Zuͤge dort verwachſen und hier verloͤſchen,
wird
wird dennoch Herz und Baum immer die
Narbe davon tragen. Muß flugs ein
wirkſamer Mittel brauchen, daß das Ding
ſich nicht in den Hypochondern einni-
ſtet. — — So mags denn dabey blei-
ben, Philipp ſoll einpacken. — Morgen
reiß ich!
Hier hat das Tagebuch ein End’.