Die Kammerjungfer.
Eine Stadtgeſchichte
von
Maria Nathuſius.
Verfaſſerin der Dorfgeſchichten: Martha die Stief¬
mutter, Lorenz der Freigemeindler, Vater,
Sohn und Enkel u. ſ. w.
Halle,
Verlag von Richard Mühlmann.
1851.
Es bleibt dabei, ich vermiethe mich! ſagte Klär¬
chen zu ihrer Mutter. Eine Schneiderin führt ein
trauriges Leben, ein Tag geht ſo grau und einförmig
hin wie der andere, keinen vernünftigen Menſchen
kriegt man zu ſehen, ſitzen muß man vom Morgen
bis zum Abend, und ſitzen bleiben und eine alte Jung¬
fer werden iſt das Ende vom Liede.
Du weißt ſelbſt nicht was Du willſt, ſagte ihre
Mutter. Weißt Du noch, was Du ſagteſt vorigen
Martinstag, wie Tante Rieke Dir den Rath gab, Du
ſollteſt in einen Dienſt gehen? Da haſt Du von Skla¬
verei geſprochen und die Naſe gerümpft, und ich war's
auch zufrieden: es wäre doch eine Sünde und Schande,
wenn eine alte Frau allein wohnen müßte ohne Hülfe
und Pflege. Aber ich ſage: Du weißt nicht was du
willſt. Kannſt Du's beſſer haben, wie Du's jetzt haſt?
Biſt Dein eigner Herr, kannſt thun was Du willſt,
und brauchſt Dich nicht von fremden Leuten traktiren
zu laſſen. Ach, wenn ich an meine Jugend denke!
Ja, ja, Deine Jugend kenne ich, fiel ihr Klär¬
chen ſchnippiſch in das Wort; ſo dumm wie Du werde
ich nicht ſein, Du hätteſt den Rechtsgelehrten nur feſt¬
halten ſollen. Tante Rieke ſagte vorgeſtern ſehr ſal¬
bungsvoll, wie Deine Schönheit Dein Unglück geweſen ;
da hätte ſie nur aufrichtig ſagen ſollen: Dein Un¬
geſchick. Ich ſage Dir aber, meine Schönheit ſoll
1 *
glücklicher ſein. — Hierbei lachte ſie, hüpfte an den
Spiegel und ordnete noch einmal zum Ueberfluß ihren
Sonntagsſtaat.
So gottvergeſſen wie Du habe ich nie geredet, ent-
gegnete die Mutter, und das Unglück iſt doch über
mich gekommen, ich weiß nicht wie.
Das iſt's eben, fiel ihr Klarchen wieder in die
Rede: Du weißt nicht wie. Gerade das nicht Wiſ-
ſen das iſt der Fehler, ich werde aber wiſſen! Und
nun um alles in der Welt, höre auf zu jammern.
Heute iſt Sonntag. Urſach dazu haſt Du nicht, und
ich ſehe nicht ein, warum ich zuhören ſollte. Mir
ſteht die ganze Welt offen, und die Welt iſt ſchön,
wunderſchön! Ich vermiethe mich, oder ich vermiethe
mich nicht, es muß immer gehen. Für jetzt ziehe ich
zur alten Frau Generalin, da habe ichs gut, und Geld
im Ueberfluß.
Und ich hungere, ſagte die Mutter in weinerli-
chem Ton.
Dafür wird Tante Rieke ſorgen müſſen, die hat
das Geld im Kaſten liegen. Es iſt ſchändlich genug,
daß ſie mich hat ſchneidern und ſticheln laſſen, damit
ich ihre einzige Schweſter ernähre. Das hört mm aus.
Ich muß für ineine Zukunft ſorgen, mein Lohn wird
geſpart; wenn man das Geld in großen Partieen ein-
nimmt, kann man's beſſer feſthalten, die einzelnen Vier-
groſchenſtücke trudeln unter den Händen fort. Tante
Rieke, die die chriſtliche Barmherzigkeit immerfort im
Munde führt, mag ſich auch mal mit den Händen re-
gen. Und kurz und gut, wenn kein Anderer da iſt,
iſt ſie die Nächſte. Und Mutterchen (ſetzte Klärchen
ſchmeichelnd hinzu), Du haſt nur den Vortheil davon,
wenn die Tante gepreßt wird, denn ich werde auch
für Dich ſorgen, da kommt's von zwei Seiten. Klage
nur hübſch, und rühre ihr Herz; aber gegen mich
höre auf damit (ſchloß ſie lachend), ich kenne Deine
Kniffe und bei mir helfen ſie nichts mehr. — Bei
dieſen Worten zog ſie eine ſchwarze ſeidene Mantille
aus einer Schublade, und einige Geldſtücke klapperten
daneben. Sie warf der Mutter ein Zweigroſchenſtück
in den Schooß und rief lachend: Hier, kaufe Dir
Kuchen und feiere Sonntag; aber ſchicke Kleiſt's Dort-
chen, dann denkt der Becker, es iſt für die Herrn Stu-
denten. Du verſtehſt mich doch?
Kleiner Tauſendſapperloter! ſagte die ſchwache
Mutter. Ihr Töchterchen hatte ſie völlig beruhigt.
Beſonders war das Letzte ein wirkſames Mittel; und
auch die Bemerkung über die Tante Ricke war ganz
richtig, dieſe mußte mehr geben, wenn Klärchen den
Haushalt nicht unterhielt. Sie konnte es auch, ſie
war eine reiche Wittwe und hatte nur eine Pflegetoch-
ter; und wenn Klärchen dann im Stillen doch noch
mit ſorgte, wie es ſich für eine gute Tochter geziemt,
ſo ſtand die Mutter ſich bei weitem beſſer.
Frau Krauter war die Wittwe eines Ginghan-
Webers. Sie war in ihrer Jugend ſchön und leicht-
ſinnig geweſen, und hatte nach vielen Abenteuern den
Mann geheirathet, der ſchon damals innerlich und
äußerlich ziemlich verkommen war. Es ward aber von
Jahr zu Jahr ſchlechter mit ihm, und er ſtarb, nach-
dem er beinahe zehn Jahr ſeine Frau in fortwähren-
dem Jammer und in Noth erhalten hatte. Zum Glück
blieb Klärchen ihr einziges Kind, und zum Glück hatte
ſie eine reiche Schweſter, die ihr in der Noth eine
Stütze war. Noth und Jammer aber hatten keinen
Einfluß auf Frau Krauter geübt; ſie war leichtſinnig
geblieben, war faul, unordentlich und genußſüchtig,
und wenn ſie auch reichlich Thränen über ſich und
ihre Schickſale vergießen konnte, die Thränen kamen
nicht tief aus dem Herzen; bei einer Taſſe Kaffee
und einem leichtfertigen Geſchwätz war bald Alles ver¬
geſſen. Klärchen war das Ebenbild der Mutter, nur
daß ſie noch ſchöner und zugleich ſchlauer war, und
ſo der Welt und dem Verderben noch mehr Preiß ge¬
geben.
Tante Rieke, auch Wittwe, und zwar die ſehr
wohlhabende Wittwe des ſeligen Seifenſiedermeiſters
Bendler, war ganz das Gegentheil der Schweſter.
Sie war eine gottesfürchtige, achtbare, ſchlichte Bürgers¬
frau. Sie hatte vergeblich ihren Einfluß auf Mutter
und Tochter zu üben geſucht; ſie erlangte nur das
eine, daß beide ſich vor ihr ſcheuten und ſich ſoviel
als möglich von der beſten Seite zeigten; und das
war freilich ſchlimmer, als wenn ſie ſich in ihrer wah¬
ren Geſtalt gezeigt hätten.
Nachdem Klärchen mit ihrer Mutter das mitge¬
theilte Zwiegeſpräch gehabt, rüſtete ſie ſich ſingend zu
ihrem Sonntagsvergnügen. Die ſeidene Mantille
ward umgethan, und das Geld, das da herausgepol¬
tert, in die Taſche geſteckt. Darauf ſuchte ſie aus ei¬
nem Wuſt anderer Sachen ein geſticktes baumwollenes
Taſchentuch hervor. Sie warf es wieder fort, denn
ein langes Ende abgeriſſener Spitze hing daran. Sie
griff nach einem zweiten, da waren einige Riſſe in
der Mitte.
Die infamen baumwollenen Tücher halten für gar
nichts! ſagte ſie ärgerlich.
Gieb her, Kind, ich hefte es gleich ein Bißchen
zu! tröſtete die Mutter, fädelte eine Nadel ein und
zog mit langen Stichen die Riſſe zu. Während deſſen
ſuchte Klärchen aus einem Häufchen heller Glaceehand¬
ſchuh das leidlichſte Paar heraus.
Wo in aller Welt nur immer die rechten Hand¬
ſchuh bleiben! klagte Klärchen wieder. Linke habe ich
wohl ſechs, ſieben, und rechte nur drei, und dumm
genug habe ich vergeſſen ſie waſchen zu laſſen, ſie ſe¬
hen aus wie die Mohren. Ach was! ſetzte ſie ent¬
ſchloſſen hinzu: ich hole ein Paar neue. Sechs Gro¬
ſchen mehr oder weniger! Zu meinem himmelblauen
Muſſelin-Kleide gehören reine Handſchuh.
Tante Rieke ſagte am vergangenen Sonntag: Soll¬
teſt lieber waſchlederne Handſchuh tragen wie Gret¬
chen. Denke mal an, die hat ihre Confirmationshand¬
ſchuh noch.
Wahrhaftig? ſtaunte Klärchen; nein, das Mira¬
kel muß ich meinen Freundinnen erzählen, es ſieht aber
akkurat aus wie Gretchen Bendler. Zur Kirche und
höchſtens zu einem ehrbaren Spaziergang in's Feld
werden die Handſchuh angezogen, aber eine Hand hat
Gretchen in den waſchledernen wie ein Eisbär. Nun
gut, ein jeder ſehe wie er's treibe, ein jeder ſehe wo
er bleibe, ſagt Göthe. Auch ſind die Gaben der
Menſchen verſchieden. — Bei dieſen Worten hatte ſie
die himmelblaue Hutſchleife zugebunden, das geflickte
Taſchentuch geſchickt über die ſchmutzigen Handſchuh ge¬
legt, und wollte nun mit einem leichten Adieu zur
Thür hinaus.
Warte, Klärchen! rief die Mutter, da kömmt
Dein Hemd an der Schulter zum Vorſchein und gerade
ein rechter Ratſch darin.
Stopf' es nur tief genug unter, ſagte Klärchen
gleichgültig, und nachdem das geſchehen, ging ſie fort.
Alle Schneiderinnen, ſagt man, ſind unordentlich,
weil ſie immer mit der Nadel für Andere beſchäftigt,
nie Zeit für ihre eigne Arbeit finden. Klärchen war
es aber nicht allein als Schneiderin, ſondern noch da¬
zu als unordentliche Tochter einer unordentlichen Mut¬
ter, und als über ihren Stand hinaus verwöhnte und
verbildete Jungfrau. Daß die Kleider ſechs Ellen
weit ſein mußten und wo möglich den Staub auf
der Straße kehren, war ihr von höchſter Wichtigkeit;
auch durften die Manſchetten nicht fehlen, Mantillen,
Kragen, geſtickte Taſchentücher und Unterröcke mit
Friſuren. Ob ihr Hemd zerriſſen, war ihr gleichgül¬
tig, ja, außerordentlich gleichgültig! Das ſah ja
Niemand. Unangenehmer war es ſchon, fehlte der
Hacken im Strumpf, oder die Sohle am Schuh, aber
auch das machte ihr nicht großes Bedenken, es wurde
geſchickt verborgen, die langen Kleider waren auch hier
von Nutzen. Mit der Muhme Gretchen hatte ſie neu¬
lich erſt einen derben Strauß gehabt; denn war Gret¬
chen auch nicht gebildet, ſo war ſie doch geſcheut und
derb und kurz angebunden. Sie ſah den Unterrock
mit den breiten Friſuren, und ſagte, das wäre ganz
verrückt nun, gar an einem Unterrock den überflüſſigen
Staat. Klärchen aber erklärte ſachverſtändig, daß eine
ordentliche Toilette — bei dieſem Worte hob Gretchen
etwas höhnend Klärchens Arm in die Höhe und zeigte
wie der Aermel halb aus den Nähten war; Klärchen
fuhr nach einer kurzen Entſchuldigung aber ärgerlich
fort: daß zu einer ordentlichen Toilette ſolch ein Rock
nothwendig ſei, um die Kleider unten gehörig breit zu
erhalten. Beſonders, fügte ſie ſchnippiſch hinzu, paßt
das für ſchlanke Leute; für Biertonnen iſt's nun mal
nicht nöthig. Gretchen wußte darauf keine verblümte
Antwort zu geben, ſie ſagte aber kurz: Schäme Dich
was mit deinen Grobheiten, dafür ſetz' Dich hin und
flicke und ſtopfe wo's Noth thut, und verthu' Dein
Geld nicht unnütz; mit den Friſuren am Rock lockſt
Du keinen Hund aus dem Ofen, und ich ſage Dir,
Du wirſt es noch mal bitterlich bereuen, daß Du ſo
eine Thörin wareſt. Du hältſt es ſo ſehr mit der
Welt, aber ich ſage Dir, ſie wird Dir noch mal ein
X für ein U machen; und Du denkſt, da iſt Dein
Himmelreich, aber ich ſage Dir, das iſt wo anders. —
Ach Gott! jetzt kriegt' es Klärchen mit dem Schreck,
gewiß wollte Gretchen mit ihrem Herrn und Heilande
kommen, denn von dem ſprach ſie, als ob die Sache
ganz ihre Richtigkeit hätte. Gretchen war überhaupt
ſo ſehr in der Zeit und Bildung zurück, ſie kannte
keine Romane, wußte nichts von Eugen Sue, von der
George Sand und von keinem Muſen- und Liebes-
Almanach, kannte nur nothdürftig die Claſſiker ihres
Vaterlandes dem Namen nach, und auch darüber
ſpottete Tante Rieke. Mutter und Tochter laſen nur
in der Bibel, in Andachtsbüchern, oder in andern Bü¬
chern, die ihnen vom Paſtor an der Stephans-Kirche
zugeſtellt wurden. Der Paſtor an derſelben war näm¬
lich ein Erzpietiſt, der predigte nichts weiter als vom
Heiland und machte den Leuten Himmel und Hölle
heiß. Klärchen aber, als ſie merkte, wo hinaus ihre
Muhme jetzt wollte, ſchnitt das Geſpräch ab und gab
gütlich nach. Sie wollte es doch mit Gretchen ebenſo
wenig als mit Tante Rieke verderben, und beide hin¬
gen aneinander wie die Kletten. Klärchen dachte hoch¬
müthig: Ein jeder ſehe wie er's treibe, und: Eines ſchickt
ſich nicht für Alle. Gretchen iſt nun mal ein haus¬
backenes Mädchen; ſie mag ſich drum gern ihre Hem¬
den ſelber ſpinnen, dunkelblaue Strümpfe, hohe lederne
Schnürſchuhe und waſchlederne Handſchuh tragen, ſie
macht auch keine Anſprüche für die Zukunft und ge¬
hört ſo recht in den Handwerkerſtand hinein. Dagegen
Klärchen? Sie ſeufzt, — ihr Herz ſchlägt gewal¬
tig, — was wird aus ihr wohl werden? jedenfalls
etwas ganz Beſonderes. O ſüße Zukunft: lachende
Kleider, lachende Geſichter, Liebe, Luſt und Wonne!
Jetzt zog ſie zur Frau Generalin: Da kam ſie in feine
Kreiſe, vornehme Perſonen gehen aus und ein, es iſt
ſo manches in der Welt paſſirt, es kann auch paſſiren,
daß ſie ihr Glück macht. Es kann? nein, es muß,
es wird, ſie hat eine ſelige Ahnung davon in ihrem
Herzen. Die nächſte Seligkeit, die zu erringen, iſt
ein ſeidenes Kleid, eine Broſche, ein unächter Shawl
und ein Eammethut — dann aber kann es ihr ganz ge¬
wiß nicht fehlen; dann kommen die wunderbaren Be¬
gebenheiten! Und ſie, die einem ſolchen Geſchicke ent¬
gegen geht, ſollte ſich mit ſtopfen und ſticken abgeben?
ein jeder begreift die Richtigkeit, nur das hausbackene
Gretchen nicht. Aber Gretchen iſt nicht nur haus¬
backen, ſie iſt auch ungebildet, denn ſie glaubt an einen
Herrn und Heiland, und ſagt, ſie könne keine Stunde
ohne ihn leben. Armes Gretchen! Klärchen hat den
Heiland nicht nöthig, ſie wüßte wahrlich in aller Welt
nicht, wozu ſie ihn nöthig hätte. Die Tante Rieke
ſagt zwar, er müßte uns von unſerer Sünde erlöſen,
und wir gingen ohne ihn in Nacht, in Wüſten, in
Unverſtand und wie ſie weiter ſagt; aber das konnte
Klärchen nicht faſſen, ſie wußte nichts von Sünde, von
Nacht und Dunkelheit und gar von Unverſtand. Eine
Chriſtin wollte ſie auch ſein; ſie hatte, was nöthig war,
gelernt, aber wozu, das ſah ſie noch nicht ein, es hatte
ſich noch keine Gelegenheit gefunden, um Gebrauch da¬
von zu machen. Nur vom Einfachſten und Verſtänd¬
lichſten zu reden, von den zehn Geboten, wozu war
das ſiebente für ſie da: „Du ſollſt nicht ſtehlen?“
Es fiel ihr gar nicht ein. Oder: „Du ſollſt nicht
andere Götter haben neben mir?“ Sie war doch keine
Heidin, die an Jupiter und Mars glaubte. Oder:
„Du ſollſt Vater und Mutter ehren?“ Ei, ſie that
mehr als ihre Pflicht: Tag und Nacht ſo zu ſagen
quälte ſie ſich, um ihre Mutter zu ernähren. Nein, ſie
hatte gar Nichts an ſich auszuſetzen; um ſie herum
war Alles licht und helle und ſie brauchte keinen Er¬
löſer. An den lieben Gott glaubte ſie wohl, ſie ver¬
ließ ſich zwar nicht auf ihn, als ob er ihr Schickſal
leiten und lenken könne, — das verlangte ſie gar nicht,
ſie wollte das allein thun; ſie war ſchön und jung
und klug und gebildet, ihr Glück verſtand ſich von
ſelbſt. Nur zuweilen kam es wie Furcht über ſie. Vor
nicht langer Zeit waren die ſchwarzen Pocken in ihrer
Straße, ein großer Schreck fuhr in ihre Glieder, ſie
ließ ſich aber ſchnell impfen und meinte nun wieder
ruhig ſein zu können. Als bald darauf die Cholera
kam und in ihrer Nähe Jung und Alt dahinraffte,
da ging das Bangen wieder an. So gut wie die
ſterben, kannſt Du auch ſterben, — das ſah ſie ein,
und ſterben war ein ſchrecklicher Gedanke. Was wird
dann aus ihr? ja was? Tante Rieke unterließ es
nicht, in der Zeit vom Sterben zu reden und von der
Strafe und vom ewigen Verderben. Klärchen hörte
ſolche Worte nicht gern, ſie ward bänger und bänger,
und war doch wieder wie gebannt zu lauſchen. Sie
konnt' es nicht faſſen, daß die Tante und Gretchen
ſo ruhig waren und vom Tode redeten als von gar
nichts Fürchterlichem; denn wenn ſie des Nachts auf¬
wachte und ſo allein mit ihren Gedanken war, da
befiel ſie oft eine Angſt, daß ihre Glieder bebten. Ob
du wohl ſterben mußt? dachte ſie. Und was dann?
Aber Gott ſei Dank, die Zeit war vorüber, das Leben
wieder roſenroth, Klärchen dachte nicht mehr an Tod
und Gericht, und wenn die Tante jetzt von ſolchen
Dingen redete, da hörte ſie mit offenen Ohren nicht,
ſie ſenkte den Kopf auf die Arbeit, und ihre Gedanken
gingen mit ihren tollſten Fantaſien durch.
Als ſie heut das Stübchen ihrer Mutter verlaſſen,
ging ſie einige Häuſer weiter um eine Freundin abzuholen.
Sie klopfte an ein niedriges Fenſter parterre. Der Brief¬
träger Vogler trank eben Kaffee und las die Zeitung da¬
zu. Als er Klärchen ſah, machte er das Fenſter auf.
Nun Ihr Jüngferchens — wieder ſchwitiſiren?
ſagte er ſpaßend.
Ei ja, iſt man doch nur einmal jung! entgegnete
Klärchen luſtig.
Ja ihr Schelme! verſetzte Vogler, ich wollte
auch, ich wäre noch jung.
Ach, Sie ſind ein Mann in Ihren beſten Jahren,
ſagte Klärchen ſchmeichelnd.
Ich denke es auch manchmal; aber wenn ich
denn meine Alte anſehe, wird mir ſchwarz vor den
Augen, lachte Vogler und ſah nach ſeiner Frau, die
ihm gegenüber blaß und elend im Lehnſtuhl ſaß.
Wenn ich todt bin, heiratheſt Du wieder, entgeg¬
nete dieſe bitter und holte dann ſchwerfällig Athem.
Und ſo lange Du lebſt, laſſe ich Dich keifen,
fügte Vogler wieder ſcherzend hinzu.
Wie ungebildet ſind dieſe Leute, dachte Klärchen;
wie kann ein Mann die Frau ſo roh behandeln! So
aber hat es der Vater mit der Mutter auch gemacht.
Aber ich, ich werde es einſt anders haben, ich nehme
mir einen vornehmen Mann, — und nun hinaus in
den lachenden Kaffeegarten!
Auguſte Vogler hatte ſich während der Zeit fertig
gemacht und ging nun etwas ſchwerfällig neben der
leichtfüßigen Freundin her. Auguſte war weder ſchön,
noch klug, noch fein; ſie hatte das plumpe rothe Ge¬
ſicht ihres Vaters, grobe Manieren und ſprach dabei
unglaublich albern. Aber das war gerade eine Freun¬
din für Klärchen. Sie war fügſam und folgſam,
durchſchaute nicht ihre Intriguen, war ganz zufrieden
mit der Nebenrolle, und hatte dabei immer als ver¬
zogenes Kind ihres Vaters die Börſe voll Geld.
Beide Mädchen verließen die Stadt und gingen
auf der Chauſſee entlang dem Orte ihres Vergnügens
zu. Klärchen bemerkte, daß ſie ein Gegenſtand der
Aufmerkſamkeit für Vorübergehende war: aber die
Leute waren ihr noch nicht die rechten, es waren mei¬
ſtens Geſellen, oder Soldaten, oder höchſtens ein Hand¬
lungsdiener; ſie gedachte höher hinaus. Bald kam
ihnen eine Reihe Studenten entgegen, mitten darunter
eine orangegelbe Mütze. Das war der rechte; ſie nahm
ihr ganzes Weſen zuſammen und erwiederte den Gruß
mit vieler Holdſeligkeit. Auguſte machte bald die
Entdeckung, daß die Studenten umgekehrt waren und
ihnen auf dem Fuße folgten. Klärchen zweifelte nicht,
daß es um ihretwillen war, und Auguſte gönnte der
Freundin den Triumph; ſie war zufrieden, an der au¬
genblicklichen Luſt theilnehmen zu können; feine Pläne
für die Zukunft machte ſie nicht. Nach einigen Minu¬
ten kam ihnen wieder ein junger Mann entgegen, der ſie
grüßte, aber ſehr beſcheidentlich mit nur halb hinge¬
wandten Augen. Wer war das nur? fragte Klärchen.
Ei das war ja Fritze Buchſtein, der iſt ſeit vor¬
geſtern aus der Fremde zurück, den mußt Du doch
kennen, er wohnt ja neben Tante Rieke.
Daß es ein Geſelle war, ſah ich an ſeinen gro¬
ßen rothen Händen, lachte Klärchen, ſonſt iſt's aber
ein hübſcher Menſch.
Aber in die Stephans-Kirche zu dem Pietiſten
geht er auch, ich habe ihn ſelbſt heute Morgen her¬
auskommen ſehen.
Na, Tante Rieke, freue Dich! ſagte Klärchen, das
paßt ja wie die Butter aufs Brod, der nimmt die
Grete, das iſt klipp und klar. Eine Angſt hatten ſie
immer, er möchte auf der Wanderſchaft ſeinem Glau¬
ben untreu werden, und wenn er dann einen ſalbungs¬
vollen Brief geſchrieben, kam der alte Buchſtein mit
der großen Brille und er wurde gemeinſchaftlich mit
Thränen und Seufzen genoſſen. Nun, ich gönne ihr
den Burſchen, obgleich er eigentlich zu hübſch für die
Grete iſt; die müßte ſo was Kurzes, Handfeſtes haben,
denn Schönheit hält ſie mehr für ein Uebel als ein
Glück, nota bene weil ſie ſelber nicht ſchön iſt.
Die Mädchen traten jetzt in den Garten. An ei¬
nem Tiſch fanden ſie ſchon eine Bekannte, eine von
den beſcheidenen Putzmacherinnen, die in die Häuſer
der Damen gehen und Hüte und Hauben in Ordnung
bringen, — und ſie ſetzten ſich zu ihr. Die Studen¬
ten nahmen einen Tiſch ganz in ihrer Nähe, wurden
beim bairiſchen Bier bald ſehr laut, und begannen
Blicke und Späße herüber zu ſenden. Doch der Oran¬
gegelbe blieb nicht dabei, er machte es ſich bequemer
und ſiedelte ganz und gar zu den Mädchen über.
Klärchen wunderte ſich nicht darüber, ſie hatte ſchon
längſt mit ihm auf der Straße koquettirt, ſie wußte
auch, daß er in einem Hauſe mit der Frau Generalin,
ihrer künftigen Herrin, wohnte, und er war eigentlich
die heimliche Veranlaſſung zu ihrem Entſchluſſe, ſich
zu vermiethen, geweſen. Er war ein Mediziner und
dazu ein Student von Bedeutung. Er hatte gute
Wechſel, hielt ſich einen großen Neufundländer Hund,
ritt ſpaziren, oder fuhr auch ſeine Freunde in einem
Zweiſpänner. Er war Senior ſeiner Verbindung und
überall zu finden, wo es luſtig herging, oder wo Spek¬
takel war. Seine Geſtalt war groß und klobig, ſein
gelbes Haar hing ſchlicht an dem rothen Geſicht her¬
unter, das breit und platt einen gewaltig rohen Aus¬
druck hatte. So wie ſeine Geſtalt war auch ſein
Weſen und waren ſeine Reden. Er ſaß jetzt den
Mädchen gegenüber; beide Ellenbogen auf den Tiſch
geſtützt, die blauen Dampfwolken aus ſeiner Cigarre
blaſend, machte er höchſt unmanierliche Späße. Klär¬
chen fand das nicht roh, nein, weil er reich und aus
angeſehener Familie war (ſein Vater war Präſident),
fand ſie es nur pikant, und hielt ſich nicht für zu gut,
ihn zu amüſiren. Sie ward immer lebendiger und
liebenswürdiger, und es war unverkennbar, daß ihre
Schönheit auf ihn Eindruck machte, und ſie in ſeinen
Augen höher ſtieg, denn er nahm die Ellenbogen von
dem Tiſch und nahm ſich in Wort und Weſen mehr
zuſammen. Für Klärchen war das ein neuer Triumph
und die beiden Freundinnen bemerkten es mit Ver¬
wunderung. Die Putzmacherin kannte den Studenten
längſt, ſie ging bei der Generalin aus und ein, und
das war Gelegenheit genug, um eine Studenten-Be¬
kanntſchaft zu machen. Sie hätte ihm ihr leichtſinni¬
ges Herz gern ſelbſt zu Füßen gelegt und beneidete
jetzt die Gefährtin um dieſe bedeutende Eroberung,
und Klärchen ward immer ſtolzer und glücklicher. Nur
eines ſtörte ſie. Ihr gerade gegenüber in einer einſa¬
men Laube ſaß Fritz Buchſtein. Ja, unbegreiflicher
Weiſe war er auch umgekehrt und ihnen in den Kaffee¬
garten gefolgt. Ob das wohl um ihretwillen war?
Sie erinnerte ſich aus ihrer Jugend, daß, wenn ſie
mit Greten in ſeine Tiſchlerwerkſtatt kam, um Spiel¬
ſachen zurecht zu leimen, er immer die ihrigen zuerſt
gemacht hatte und Grete oft darüber böſe geweſen
war. Alſo: damals hatte er ſie bevorzugt, heute war
er erſtaunt über ihre Schönheit, — ſo kalkulirte ſie,
— und war ihr hierher gefolgt. Obgleich ihre Eitel¬
keit nicht ganz ungerührt von dieſem Gedankengange
blieb, ſo war ihr diesmal die Eroberung doch unan¬
genehm. Erſtens war er nicht der Aufmerkſamkeit
werth, und ihr Herz würde ſich nie zu einem ſo ge¬
wöhnlichen Menſchen herablaſſen; und dann fürchtete
ſie, wenn er einmal ihren Schritten folgte, er möchte
den Spion ſpielen und die Tante Rieke davon benach¬
richtigen. Sie hatte ſich ſo viel als möglich ſo ge¬
ſetzt, daß er ihr nicht in das Geſicht ſehen konnte:
aber wenn ſie unwillkürlich hinſah, begegnete ſie jedes¬
mal demſelben bekümmerten und theilnehmenden Blicke,
der ihr wie ein Stich durch das Herz ging.
Es iſt unausſtehlich! rief ſie endlich und wandte
ſich heftig nach der anderen Seite. Der Student und
die Freundinnen ſahen ſie verwundert an, und ſie er¬
klärte die Urſache ihres Aergers.
Der Mediziner lachte. Er fand es von dem Bur¬
ſchen ganz natürlich, einem hübſchen Mädchen in das
Geſicht ſehen zu wollen, pflanzte aber darauf ſeine
breite Geſtalt ſo dazwiſchen, daß Klärchen vor den
läſtigen Blicken ſicher war; und kurze Zeit darauf be¬
merke Auguſte, daß Fritz fortgegangen war. Jetzt
fühlte ſich Klärchen freier, und das Vergnügen ward
immer lebhafter. Die Tanzmuſik lockte, Alle gingen
2
in den Saal, um in dem wilden Getümmel ſich zu
erhitzen und zu betäuben.
Fritz Buchſtein hatte auf ſeinem Spaziergange in
dem ſchönen Mädchen das kleine Klärchen Krauter wie¬
der erkannt, und die ſchönſten und ſüßeſten Jugender¬
innerungen gingen an ſeiner Seele vorüber. Jetzt noch
dachte er mit inniger Bewegung daran, wie ſie da¬
mals zu ihm in die Werkſtatt kam, um irgend eine
Kleinigkeit machen zu laſſen, und wie es ihm, dem
achtzehnjährigen Jüngling, ganz wunderbar ward, wenn
er dem zwölfjährigen Mädchen in die dunkelblauen Au¬
gen ſah. Er wollte es ſich ſelbſt nicht geſtehen, aber
es war ſeine erſte Jugendliebe. Ihr Bild begleitete
ihn auf der Wanderſchaft, er ſchloß ſie in ſein Abend-
und Morgengebet: der Herr möchte dies Blümlein
ſchön und rein bewahren, es behüten vor dem Schmutze
der Welt. Ob dies Blümlein einſt für ihn blühen
werde? das ſtand in Gottes Hand. Sein Herz war
geſund, er hatte auch nicht Romane geleſen und hing
nicht mit kränklicher Sehnſucht an ſeiner Liebe; friſch
und fröhlich ging er durch die ſchöne Gottes-Welt, er
ſah Berge und Thäler und Flüſſe und Fluren, manch
große Stadt, manch lieblich Dörflein, ſchöne Kirchen
und Schlöſſer und Burgen, ſchöne Bilder und Kunſt¬
werke, und Alles nahm er mit Aufmerkſamkeit in
ſich auf. Das war eine ſchöne Wanderung, die nicht
getrübt wurde durch ungeſunde Glieder, durch ein bö¬
ſes Gewiſſen, durch Armuth und Noth. Er hatte
das Gelübde gethan, nie einen Schluck Brantwein
zu trinken, hatte es mit Gottes Gnade und der Liebe
ſeines Heilandes gehalten. Das bewahrte ihn vor
manchem Elend und manchem Unheil des Wanderle¬
bens. Es führte ihn nie dahin, wo wilde Gelage
und Raufereien waren, er ſuchte nie ſeine Freunde
unter dergleichen Geſellen; ſo blieb er an Leib und
Seele rein, hatte auch immer Geld im Beutel, denn
weil er ein braver Geſelle war, fand er auch immer
gute Meiſter. Und auch Freunde fand er, die mit
ihm dieſelbe Straße zogen, die mit ihm den Herrn
lieb hatten; ſelten verließ er eine Stadt, daß er nicht
mit Wehmuth darauf zurück ſah, weil er Freunde für
ſein Herz und ſeine Fürbitte darin gewonnen. Und
kam er zu Leuten, die ihn nicht verſtanden, die ſei¬
ner ſpotteten, ihn zu verführen ſuchten, ſo waren
auch das heilſame Tage für ihn, Tage des Kummers
und der Prüfung, in denen er noch mehr die Nähe
des Tröſters, ſeine Liebe und Gnade fühlte. So
ward ſeine Seele immer feſter, ſeine Erfahrung im¬
mer reicher, ſeine Hände immer geſchickter. Und wie
war es mit ſeinem Herzen? Das durfte ſich auch zu¬
weilen regen. Wenn er an einem ſchönen Sommer¬
abend auf der Höhe am Rand des Waldes ſaß, die
Sonne legte ihr Gold über die Gegend hin, Duft
zog über Städte und Dörfer, die Abendluft wehte
weich in den Zweigen und in den Blumen rund um,
am Grasrain dort zog der Schäfer langſam mit der
Heerde, und die Schwalben hoch oben am lichtblauen
Himmel: — da ward es ihm ſo wunderbar ſehnſuchts¬
voll zu Sinne, und durch Abendgold und Duft und
Schönheit und Stille ſchauten ihn die dunkelblauen
2 *
Augen des kleinen Mädchens aus der Heimath an.
So hatte er noch ganz kürzlich vor einer Höhe am
Thüringer Walde geſeſſen; jetzt war er ja ſeiner Hei¬
math ſo nahe, jetzt war aus dem Jüngling ein Mann
geworden und er durfte an eine Geſtaltung ſeiner Zu¬
kunft denken. Sein Vater war alt, ſeit vergangenem
Winter plagte ihn dazu ein Bruſtübel, er konnte dem
Handwerk nicht mehr vorſtehen, es fehlte an allen
Enden, und Fritz mußte des Vaters dringenden Auf¬
forderungen zur Rückkehr folgen. Er that es auch
gern, er war nun 25 Jahr alt, nach dem langen
Umherwandern und heimathloſen Leben ſollte es ihm
zu Hauſe wohl behagen. Er ſollte nun Meiſter wer¬
den und dem Haus, dem Acker und der Kundſchaft
allein vorſtehen. Dazu gehörte auch nothwendig eine
Hausfrau, und der Gedanke war es, der ihm be¬
ſonders an das Herz ging. Und als er ſich dieſe Haus¬
frau dachte, ſo war ſie ſchlank, mit lichtbraunem Haar
und dunkelblauen Augen. Mit ſo ſchönen Ahnungen
verließ er den Thüringer Wald und wanderte einige
Tage ſpäter durch die Thore ſeiner Vaterſtadt. Es
war ſpät des Sonnabends Abends; ſein Vater ſaß
ſchwach und krank im Lehnſtuhl, aber Dank- und Freu¬
denthränen glänzten in ſeinen Augen, als der Sohn
nach ſo langer Abweſenheit wieder in die Thür trat,
und Fritz mußte ihm am ſelbigen Abend noch das
Buch Hiob und den 136. Pſalm vorleſen.
Der alte Vater war trotz der Bruſtſchwäche ſehr
geſprächig, und in ſeiner Geſprächigkeit konnte er es
nicht laſſen, von ſeiner und der Frau Bendler liebſten
Hoffnung zu reden, nämlich daß Gretchen möchte hier
im Haus Frau Meiſterin werden. Frau Bendler
hatte Gretchen ganz und gar adoptirt, und mit Aus¬
nahme einiger Legate ſollte ſie einſt ihre alleinige Er¬
bin ſein.
Fritz ward es gar eng um das Herz als er
das hörte, und hatte er ſchon vorher wenig Muth
gehabt, nach Klärchen Krauter zu fragen, ſo wagte
er es jetzt gar nicht. Am Sonntag nun ſollte er hin¬
über zur Frau Nachbarin gehen, aber er bat den Va¬
ter, gar nicht von der Sache zu reden, da er nicht
wiſſe, wie er dem Gretchen gefallen möchte. Der
Vater ſchmunzelte. Das ſei nicht gefährlich, meinte
er, Gretchen habe bei ſeinen Briefen die ſchönſten
Thränen geweint. Fritz ſchmunzelte nicht, ſein Herz
ward immer ſchwerer; denn wenn Gretchen auch ein
braves Mädchen war, ſo hatte ſie doch nicht dunkel¬
blaue Augen, war nicht ſeine Jugendliebe, und hatte
ihn nicht auf ſeiner ganzen Wanderſchaft begleitet.
Als er am Sonntag Morgen aus der Kirche kam und
unter den Kirchgängern Frau Bendler in Begleitung
einer jugendlichen Geſtalt erkannte, konnte er ſie un¬
möglich anreden; er ſchlich ſich von der Seite, er hatte
dem Vater auch nur verſprochen, gegen Abend ſeine
Bekanntſchaft drüben zu erneuern. Am Nachmittag
aber trieb ihn ſeine Unruhe und Sehnſucht vor Klär¬
chens Fenſter vorüber. Er konnte ſie nicht entdecken,
nur ihre Mutter ſaß am Fenſter, und zum Glück
ſchaute ſie nicht auf, ſonſt hätte ſie wohl ſeine Ge¬
danken auf ſeiner Stirn leſen müſſen. Er ging zum
Thore hinaus, und kehrte, nachdem er eine Strecke auf
der Chauſſee entlang gegangen war, wieder um. Da
kam ihm die Erſehnte wirklich entgegen. Es war ja
noch daſſelbe Kindergeſicht, nur die Geſtalt war auf¬
geſchoſſen und hatte ſich jungfräulich entfaltet. Er
grüßte ſie und ſein Herz ſchlug vor Glück, aber nur
wenige Augenblicke. Er ſah die Schaar Studenten
hinter ihr umkehren, er hörte ihre Witze und ſah ſie
den Mädchen nachfolgen. Es würde ihm nie einge¬
fallen ſein, ebenfalls umzukehren; aber Spannung
und Zorn trieben ihn. Im Nothfall wollte er die Mäd¬
chen ſchützen, er ahnete nicht, daß ſie durch das Nach¬
folgen der Studenten mehr erfreut als geängſtigt wür¬
den. Doch bald ſollte er ſich von der Wahrheit über¬
zeugen. Er ſaß ihnen gegenüber und beobachtete der
Mädchen leichtfertiges Spiel. Klärchen ſpielte die
Hauptrolle dabei, bis ſie ihn endlich durch ihre ver¬
ächtlichen und erzürnten Blicke forttrieb. Mit welchen
Gefühlen ging er nun nach Hauſe! Das Geſchehene
zerſtörte zu hart ſeines Herzens Pläne. Die Freude
an der Heimath, an der Meiſterſchaft, an Haus und
Hof war zertrümmert; er hätte am liebſten den Wan¬
derſtab wieder in die Hand genommen. In dieſer
Stimmung konnte er unmöglich zu Frau Bendler ge¬
hen, nicht einmal in die Stube zum Vater; er ging
leiſe an dem Dienſtmädchen, die feiernd in der Haus¬
thür ſaß, vorüber nach dem Garten und ſetzte ſich in
die Weinlaube an der Scheunenwand. Der Nachbars¬
garten, der nur durch ein Stacket getrennt, war leer.
Das war ihm gerade recht, und ungeſtört konnte er
ſeinen Gedanken nachhängen. Wie war die Welt heut
ganz anders als geſtern! Die verwilderten Roſen und
Goldveiglein hatten ihn geſtern ſo traulich und heim¬
lich angeſehen, er hatte dabei gedacht: wenn erſt
Frauenhände hier walten, werdet ihr noch ſchöner blü¬
hen. Die düſtere Weinlaube erſchien ihm gar nicht
düſter, er dachte: bald wirſt du nicht mehr allein
hier ſitzen. Heut war ihm Alles wüſt und leer, und
es lag ihm auch gar nichts daran, daß es anders ſei.
Er ſchaute durch die Weinranken hindurch zum blauen
Himmel hinauf. Lieber himmliſcher Vater, es wird
ja wieder anders werden; jetzt aber erſcheint das Kreuz
meinem jungen Herzen ſchwer, und nun bitte ich Dich
doch wieder und immer wieder: erlöſe ſie vom Uebel;
wenn ich ſie auch für mich aufgeben muß, laß Du
ſie nicht. Aufgeben? ja das iſt wohl ſchwer, und
daß es ihm ſo ſchwer ward, ward ihm auch zum
Troſt, denn wenn es ſeinem ſchwachen, menſchlichen
Herzen ſo ſchwer ward, mußte es ja dem Erlöſer
droben noch ſchwerer werden, eine geliebte Seele auf¬
zugeben; und je tiefer er in den blauen Himmel ſchaute,
je zuverſichtlicher warb es ihm, und ſein Schmerz lö¬
ſete ſich in feuchten Augen auf. Da hörte er plötz¬
lich eine Stimme im Nachbarsgarten ſingen; hell
und lieblich, und doch weich und wehmüthig dran¬
gen die Töne, und ganz deutlich die Worte zu ihm
herüber:
Will ich nicht, ſo muß ich weinen,
Wenn ich mir es recht betracht,
Weil verlaſſen mich die Meinen,
G'nommen eine gute Nacht.
Ach, wo iſt mein Vater und Mutter?
Ach, ſie liegen ſchon im Grab.
Ach, wo ſind mein' Brüder und Schweſtern?
Keinen Freund ich nirgends hab.
O, mein allerliebſter Jeſu,
Schau mich armes Waislein an,
Du biſt ja mein liebſter Vater,
Sonſt mir Niemand helfen kann.
Weil mein' Eltern ſein geſtorben,
Leben nicht auf dieſer Welt,
So hab ich Dich, liebſter Jeſu,
Für mein'n Vater auserwählt.
Fritz lugte durch die Weinblätter hindurch und
ſah drüben auf dem alten ſchrägen Birnbaum Gretchen
ſitzen. Es war ihm, als ob er nur geträumt hätte
von Wandern und Fortſein, als ob er wieder acht¬
zehn Jahr, und Gretchen ein Kind ſei. Damals war
der alte Birnbaum den lieben Sommer über faſt Ihr
alleiniger Wohnſitz. Des Nachmittags ging ſie mit
dem Strickzeug hinauf, und jedesmal wenn ſie eine
Tour herum geſtrickt, rief ſie es dem alten Benjamin
zu. Benjamin aber war ein Flickſchuſter, der ſchon
faſt dreißig Jahr bei Buchſteins im Hinterhäuschen
über der Werkſtatt wohnte. Er war der Kinderfreund
der Nachbarſchaft, und Gretchen war ſein beſonderer
Liebling. Für ſie war ihm keine Mühe zu groß, und
jedesmal, wenn ſie ihm die Tour zurief, machte er
einen Kreideſtrich auf eine ſchwarze Tafel, und immer
zählte er, wie viel noch fehlten an der Zahl; und wenn
es ſo weit war, rief er: nun Gretchen mach Schicht!
Gretchen wand ſich dann an einem Bindfaden ein
Körbchen mit dem Vesperbrod in die Höhe und meinte,
da oben ſtricke und eſſe es ſich beſſer. Benjamin
legte auch den Pfriemen für ein Weilchen aus der
Hand, ſchaute zum Fenſter hinaus, ſein Staarmatz
ſchnarrte „Gretchen, ſo recht, ſo recht,“ und ſein Dom¬
pfaffe ſang „Lobe den Herrn o meine Seele“. Wenn
dann Gretchens Kinderſtimme einfiel, ſagte Benjamin:
„Gretchen, ſo recht,“ und der Staarmatz ſchnarrte:
„Gretchen, ſo recht.“
Auch jetzt ſah Benjamins weißer Kopf zum Fen¬
ſter hinaus; der Staarmatz aber rief: „Jungfer Gret¬
chen,“ und Fritz ward dadurch erinnert, daß es doch
andere Zeiten ſeien.
Ei Gretchen, ſagte Benjamin, Du ſingſt einem
heut ordentlich das Herze weich; was iſt Dir denn?
Wenn ich wußte, daß Du heim warſt, hätte ich
nicht geſungen, ſagte Gretchen; ich glaubte, ich wäre
ganz allein hier in der Welt. Jetzt komm aber herü¬
ber und bring die große Bilderbibel mit, ich weiß
nicht recht, was ich ſo mutterſeelen allein mit dem
Sonntag-Nachmittag beginnen ſoll.
Gretchen war nämlich von ihrer Pflegemutter, die
einige Krankenbeſuche machen wollte, als ſie Nachmittags
aus der Kirche kamen, allein nach Hauſe geſchickt; und
weil ſich Gretchen eigentlich gefreut hatte, zu verwand¬
ten Gärtnersleuten vor dem Thor zu gehen, ſo war
ihr das zu Hauſe bleiben gar nicht recht. In der
Stube war es ihr einſam, ſie nahm mancherlei in
die Hand, ein Buch, ein Arbeitszeug, — nichts be¬
hagte ihr. Der Nachmittag wollte nicht kürzer wer¬
den, und ſie begriff nicht, warum ſie ſo unruhig
war. Sollte es ſein, weil Fritz Buchſtein ſich zum
Abend angemeldet hat? Sie ward feuerroth bei dem
Gedanken. Warum aber ſollte ſie ſich freuen ihn wie¬
der zu ſehen? ſie war wenigſtens begierig zu ſehen
was aus ihm geworden, und ob er ſo ausſähe wie
ſie ſich ihn nach ſeinen Briefen gedacht. Sie ging in
den Garten. Bei Buchſteins war alles ſtill, und un¬
geſtört ging ſie in dem geraden Stachelbeerwege auf
und ab. Hinter den Büſchen hatte ſie als Kind mit
Luischen Buchſtein und anderen Freundinnen Schaf
und Wolf geſpielt; Luischen Buchſtein war todt, die
anderen Freundinnen zerſtreut, und ſie mußte zum Sonn¬
tag-Nachmittag ſo allein hier wandeln. Auf der Bank
unter dem alten Birnenbaume hatte ſie auch oft ver¬
gnügt geſeſſen, noch lieber aber oben auf dem Baum:
da konnte ſie doch ein Bischen weiter in die Welt
ſchauen, in die Nachbarsgärten, einem Böttcher auf
den Hof, dem Benjamin in die Stube. Nach der
andern Seite hin war der Garten zwar durch eine
hohe Mauer begränzt, aber ſie ſah doch die blühen¬
den Flieder- und Goldregen-Wipfel, auch zuwei¬
len die weiße Spitzenhaube der Frau Stadträthin
und die bebänderten Strohhüte der Fräulein. Gret¬
chen konnte nicht widerſtehen; ſie ſtieg auf den Baum.
Heut war aber gar nichts zu ſehen, an den Gold¬
regen hing trockner Samen, die Fliederbüſche ſa¬
hen dunkel und glanzlos aus, weder Haube noch
Strohhüte ließen ſich ſehen, Stadtraths waren in ein
Bad und die Fräulein längſt verheirathet. In den
anderen Nachbarsgärten war es auch ſtill, nicht ein¬
mal Benjamin war am Fenſter. Da ward es dem
Gretchen immer enger um das Herz, immer ſehnſüch¬
tiger ſchaute ſie zum Himmel hinauf. So iſts. Wenn
der Herr uns die Welt einſam und öde macht, ſo
zieht er uns deſto mächtiger zum Himmel hinauf. Und
der Himmel war heute ſo licht, die Wolken daran
von der ſinkenden Sonne mit Gold umſäumt. Gret¬
chen ſchaute, wie ſie über den dunkelen Dächern am
blauen Himmel langſam hinzogen und im Ziehen Ge¬
ſtalt und Farbe wechſelten. Da zog ein Schwan, bald
eine Roſe, ein Schloß, bald Engelsflügel, bald gar
eines Engels Angeſicht. Sie dachte an ihre Eltern,
an ihre Brüderlein, deren ſie ſich noch ganz leiſe aus
früheſter Jugend erinnern konnte, und mit ſehnſuchts¬
vollem Herzen ſang ſie das Lied, das Benjamin an
das Fenſter lockte.
Benjamin kam mit der großen Bilderbibel herun¬
ter, ſchwang ſich unten an der Scheuer und am al¬
ten Hollunderſtamm noch ganz rüſtig über das Stacket,
und war nun in Bendlers Garten. Da trat Fritz
aus der Laube, er wollte nicht ſchuldiger Weiſe den
Horcher ſpielen. Gretchen erſchrak, denn er hatte ſie
ja auf dem Baume geſehen und hatte ſie ſingen hören;
er aber reichte ihr freundlich die Hand über das Stak¬
tet hinüber. Das war nun Gretchen mit dem blon¬
den Haar, den Sommerflecken, den runden braunen
Augen und dem runden rothen Mund. Sie war nicht
groß nicht klein, nicht ſchlank nicht ſtark, und ſtand
mit dem braunen Kattunkleide und weißen Kragenſtrich
gar ſittig vor ihm. Er ſprach einige verlegene Worte
des Willkommens, ſie merkte ſeine Verlegenheit nicht,
ſie hörte kaum, was er ſagte, ſo gewaltig ſchlug ihr
Herz, aber einſam kam ihr die Welt nicht mehr vor;
und als er fragte, ob er auch hinüber kommen dürfe,
nickte ſie ein freundliches Ja und machte einen höfli¬
chen Knix.
Aber nicht den Weg, den ich gekommen bin,
ſcherzte Benjamin; jungen Burſchen muß man ſolche
Schliche nicht zeigen. Du gehſt in die Hausthür,
wie es ſich gehört.
Fritz hatte gar nicht daran gedacht; denn wenn
er auch ganz ſtattlich in der ſchwarzſeidenen Weſte, dem
ſeidenen Halstuch und dem Sonntagsrock ausſah, ſo
hatte er doch die Mütze und die Handſchuh im Hauſe
liegen, und überhaupt mußte der erſte Beſuch etwas
feierlich gemacht werden. Er kam aber nicht ſo bald
als Gretchen gehofft hatte; ſie hatte ſchon einen gro¬
ßen Theil der Bilderbibel mit Benjamin durchgeſehen,
als es an der Hausthür klopfte. Sie ging zu öffnen
und fand außer Fritz auch noch die Mutter vor der
Thür. Dieſe war beiden jungen Leuten ſehr erwünſcht.
Gretchen hätte gar nicht gewußt wie ſie als Wirthin
thun ſollte, und Fritz mochte mit ſeinem ſchweren Her¬
zen dem Gretchen am wenigſten allein gegenüber ſein.
Frau Bendler übernahm nun das Sprecheramt, aber
auch das Frageamt, und Fritz mußte wohl oder übel
geſprächig werden. Daß es ihm ſchwer ward, merkte
Frau Bendler nicht, wohl aber Gretchen. Der tiefe
Ausdruck der Trauer, der ihm zuweilen unbewußt über
die Züge glitt, ging ihr wie ein Schwert durch das
Herz. Was mag er nur haben? iſt er traurig, wie¬
der daheim zu ſein? zieht es ihn zurück in die Ferne?
Wenn er nur nicht unglücklich iſt! dachte ſie bange, und
wie mag es zugehen, da doch ſein letzter Brief ſo fröhlich
war? Als ſie ſpät am Abend allein in ihrem Käm¬
merlein war, ſchaute ſie hinauf zu den Sternen mit
gefalteten Händen; hinein in ihr Abendgebet miſchte
ſich Fritzens trauriges Geſicht, und ſie empfahl es Dem,
der da Freud und Leid auf die Herzen der Menſchen legt.
Die Frau Generalin von Trautſtein ſaß mit ei¬
ner jüngeren Dame in eifrigem Geſpräch.
Ich verſichere Sie, ſagte die jüngere, das Mäd¬
chen paſſt ganz beſonders für Sie, und ich kann ſie
Ihnen mit vollem Herzen empfehlen. Seit zwei Jah¬
ren näht ſie mir alle Kinderſachen und ſie iſt wirklich
die Liebe des ganzen Hauſes, immer freundlich, gefäl¬
lig, ſehr gewandt und fleißig, und aus einer ſehr
rechtlichen Familie. Ihre Tante iſt die Frau Bendler,
die dem Wöchnerinnenverein an der Spitze ſteht, eine
außerordentlich geachtete Frau. Von der iſt Klärchen
eigentlich erzogen, die hat ſie auch das Schneidern
lehren laſſen, denn Klärchens Mutter iſt kränklich.
Warum will ſie ſich aber vermiethen? fragte die
Generalin.
Um einmal unter andern Leuten zu ſein, war
die Antwort. Ich finde es recht vernünftig. Die
Mutter nämlich ſoll das Mädchen ſehr beherrſchen
und ihr jeden Groſchen aus dem Beutel nehmen.
Sie deutete es mir neulich mit Thränen an, daß ſie
ſehr ſchlecht mit der Wäſche beſtellt ſei, weil ſie dazu
kein Geld habe erübrigen können und nur immer froh
geweſen ſei, der Kundſchaft wegen für das Aeußere
zu ſorgen.
Das ſind eben meine Bedenken. Die Mutter
ſoll unordentlich ſein und gern jeden Groſchen durch
den Mund ſpediren; zweitens iſt das Mädchen zu
jung und wird mir auch wahrſcheinlich zu hübſch ſein,
— entgegnete die Generalin.
Die Jüngere lachte. Gerade darum wünſche ich
ſie Ihnen, weil ſie ſo liebreizend iſt. Bei jedem Un¬
wohlſein wird ſie Ihnen die angenehmſte Geſellſchaft
ſein; ſie kann Ihnen vorleſen, denn ſie ſpricht ſehr
hübſch; aber vor allen Dingen — Sie müſſen ſie ſe¬
hen, theuerſte Frau!
Die Sprecherin war die Lieutenant von Reiſen,
Klärchens beſondere Gönnerin. Sie ſuchte ihr jetzt den
Dienſt bei der Generalin zu verſchaffen und hatte Klär¬
chen deßhalb hinbeſtellt; vorher aber bemühte ſie ſich
ſie in das beſte Licht zu ſtellen. Es währte nicht
lange, ſo wurde Klärchen gemeldet. Sehr nett ange¬
zogen, zugleich aber ſehr beſcheiden und anſpruchslos
ſtand ſie vor den Damen. Die Generalin war wirk¬
lich erſtaunt über die Schönheit des Mädchens, aber
die Anmuth in Worten und Weſen machte jedes Be¬
denken verſtummen — und ſie ſchloß den Miethsvertrag.
Vierzig Thaler Gehalt, ein Louisd'or zu Weihnach¬
ten, außerdem Geſchenke, das war für Klärchen ſehr
erfreulich. Aber nicht allein das: der ganze Haus¬
halt der Frau Generalin entzückte ſie, ja ſo ſehr, daß
der Mediziner faſt darüber vergeſſen ward. Die gro¬
ßen Zimmer, prächtigen Teppiche und Meubeln, Equi¬
page und Dienerſchaft, ſo etwas fand man nicht oft
beiſammen. In dieſem Haus war ſie als Kammer¬
jungfer engagirt, ſo zu ſagen als Kammerjungfer, denn
eigentlich — redete ſie ſich vor — ſollte ſie doch Ge¬
ſellſchafterin der Dame ſein, ſie ſollte ihr des Abends
vorleſen und in traulichen Zirkeln den Thee ſerviren.
Sie unterließ auch nicht, ihren Bekanntinnen die Sache
ſo vorzuſtellen. Als ſie zu Tante Rieke kam, machte
die ein ernſthaftes Geſicht. Du haſt nun meinen
Wunſch erfüllt und Dich vermiethet, ſagte ſie, der Herr
mag Dir Kraft zu Deinem neuen Berufe geben, den
Du Dir nicht zu leicht denken mußt. — Klärchen,
die voll der ſchönſten Hoffnungen und ſehr guter Laune
war, verſprach alles Mögliche, und die Tante war zu
gutmüthig, um das nicht glauben zu müſſen. Auf
die Fragen über den Zuſtand ihrer Wäſche, hatte ſie
geſchickte Antworten; ſie hätte unmöglich die Wahr¬
heit ſagen können, und ihre Angſt war ſchon längſt
geweſen, die Tante möchte ſich einmal ſelbſt davon
überzeugen wollen. Für das Nöthigſte ſei geſorgt,
ſagte ſie, und ſie freue ſich, von dem ſchönen Lohn
ganz beſonders Wäſche anzuſchaffen. Die Mutter muß
ſich einſchränken lernen, fügte ſie hinzu: Du weißt,
wenn ich Geld hatte, konnte ich es als Tochter nicht
abſchlagen; wenn ich keines habe, kann ich keines ge¬
ben: und bekomme ich mein Lohn, gebe ich ihr ein
Theil, kann aber vom Uebrigen gleich ordentlich an¬
ſchaffen. — Das klang vernünftig, und die Tante
war damit einverſtanden. Gretchen ging vor die Schub¬
lade und holte ein halbes Dutzend leinene Taſchentü¬
cher und zwei Paar Strümpfe.
Das darf ich Dir ſchenken, ſagte ſie; zum Strik¬
ken haſt Du nicht viel Zeit gehabt, und die Taſchen¬
tücher ſind geſäumt und für Dich gezeichnet. Wenn
Du zu uns kommſt, nimmſt Du nun aber auch die
leinenen, ſcherzte Gretchen: Du weißt, wir können
die baumwollenen nicht leiden.
Klärchen war gerührt von dieſer Güte. Du meinſt
es doch wirklich gut! ſagte ſie herzlich.
Das kannſt Du glauben, entgegnete Gretchen treu¬
herzig, und beide Couſinen waren jetzt ſehr freundlich
auf einander geſonnen.
Am Michaelis-Tage zog Klärchen an. In ihrer
Stube ſtand eine Kommode und ein Kleiderſchrank,
dahinein wurden ihre Sachen ſo weitläuftig als mög¬
lich geordnet. Einige Sommerkleider und dünne wol¬
lene Kleider, Mantillen, Mäntelchen, ein Friſuren-
Unterrock in den Schrank; in die Kommode, außer der
wenigen Wäſche, Bänder, Schleifen, Kragen, Hand¬
ſchuh, Taſchentücher; die ſechs leinenen Taſchentücher
und zwei Paar ganzen Strümpfe von Gretchen bilde¬
ten den guten Grund dieſer leichten Geſellſchaft Au¬
ßerdem aber ſtellte ſie einige Blumentöpfe in das Fen¬
ſter, hing ein Porzelan-Bildchen an die Scheiben,
ein anderes Bild unter den Spiegel und eine Blumen¬
vaſe auf die Kommode. Der Bediente hatte in die
Stube geſehen und gegen die Köchin bemerkt: man
ſähe dem Geſchmacke des Mädchens an, daß ſie von
guter Erziehung und Bildung ſei; nur ſchlimm, daß
das Stübchen im Nebenhaus, und der Mediziner ge¬
rade hineinſehen könne, da möcht' es am Ende eine
Liebelei im Hauſe geben. Die Köchin aber nahm
Klärchens Partie. Ihre Küche lag gerade gegenüber
im anderen Seitenhaus; ſie hatte geſehen wie Klär¬
chen das Rouleau niederließ, als der Mediziner mit
der langen Pfeife aus dem Fenſter ſah. Klärchen aber
hatte die Köchin geſehen und gedacht: Du mußt dich
in Reſpekt ſetzen, und etwas Sprödigkeit gegen den
Mediziner kann nicht ſchaden.
Es kamen nun für ſie unterhaltende Tage. Das
Haus der Generalin war vielfach belebt, die verheira¬
thete Tochter mit den Kindern 4 Wochen dort, und
dies gab Gelegenheit zu mancher Geſelligkeit. Außer¬
dem ward Klärchen in die eleganten Läden der Stadt
geſchickt, um Beſorgungen zu machen, und das war
ihr beſonders unterhaltend. Sie war bald mit allen
Commis befreundet und hatte ihre leichte Commoden¬
geſellſchaft um manches bereichert. Freilich waren ihre
wenigen Groſchen, die ſie in den Dienſt mitgebracht,
auch ausgegeben, aber die Paar Groſchen lohnten
kaum der Mühe zum Sparen. Daneben ward das
Spiel mit dem Mediziner gar eifrig betrieben. Die
Generalin hatte meiſtens nur Damenverkehr: von der
Seite war alſo für ihre Zukunft nichts zu hoffen.
Bald merkte ſie, der Mediziner war in Feuer und
Flammen und ein recht demüthiger Liebhaber. Wenn
ſie das Rouleau einen Tag nicht aufzog, ſang er die
ſchwermüthigſten Lieder; oder wenn ſie ſonſt ſpröde ge¬
gen ihn war, nahmen ſeine rohen großen Züge einen
gar ſanften Ausdruck an. Sie that das mit Wohl¬
bedacht, denn ehe er nicht in die rechte Höhe der Lei¬
denſchaft kam, würde er nicht Ernſt aus der Sache
machen. Sie berechnete freilich nicht, daß ſie auch
mit der Zeit warm wurde, und ein verliebtes Herz iſt
ein ſchwaches Herz, und der Mediziner war nicht ohne
Erfahrung, das zu wiſſen und zu merken.
So war Weihnachten herangekommen, der Beſuch
der Generalin war abgereiſt und den unruhigen Ta¬
3
genw arengen waren ruhige gefolgt; aber immer war Klärchen
gleich aufmerkſam und liebenswürdig, und die Genera¬
lin verſicherte ihre Freundinnen, eine ausgezeichnete
Kamm erjungfer zu haben, was ihr gern geglaubt
wurde, da Klärchen ja gegen Jederman ſich liebens¬
würdig zeigte. Nur ſchien es, als ob ſie ſeit einiger
Zeit etwas zerſtreuter wäre und oft nicht ganz unbe¬
fangen aus den Augen ſähe; doch tröſtete ſich die
Generalin mit ihrer übertriebenen Angſt vor Liebesge¬
ſchichten und ließ ſich nichts merken, und Weihnachten
ward Klärchen außerordentlich reich bedacht. Das
war aber auch gut, denn Klärchen gebrauchte viel.
Sie ſah ſo manches bei den vornehmen Damen, das
ihr gefiel und das ſie haben mußte. So bemerkte ſie
mit Erſtaunen, als ſie ihre Schulden überſchlug, daß
vom Lohn und vom Louisdo'r kaum etwas für ihre
Mutter übrig blieb. Sie tröſtete ſich aber bald. Al¬
ler Anfang iſt ſchwer, dachte ſie, für Wäſche wird
ein andermal geſorgt; hatte ſie doch den unächten
Shawl, die Broſche und den Sammethut ſich wirklich
angeſchafft! Doch ſollte das alte Jahr nicht hingehen
um ſie nicht ganz und gar von dieſen kleinlichen Sor¬
gen zu befreien. Als ſie am Sylveſterabend von einer
Beſorgung in der Dämmerung zurückkam, ſah ſie eine
wartende Geſtalt unten im Hausflur. Sie erkannte bald
den Mediziner. Sie hatte hier öfters mit ihm flüch¬
tige Worte gewechſelt, ſeit einiger Zeit hatten ſie ſich
nie allein gefunden, und auch heute waren Schritte
auf der Treppe hörbar. Er kam eilig auf ſie zu,
drückte ihr einen Brief in die Hand und eilte die
Treppe voran. Klärchen konnte nicht ſchnell genug
ihr Lämpchen anſtecken, um dies Dokument zu leſen,
ein Dokument wie Millionen geſchrieben werden, um
thörichte Mädchen zu täuſchen und noch thörichter zu
machen. Nichts iſt lächerlicher als dieſe Art Liebes¬
briefe, einer iſt dem andern wie aus den Augen ge¬
ſchnitten. Die Schreiber finden in jedem Mädchen
eine Göttin, einen Engel, ein höheres Weſen; die
Empfängerin aber meint, das paſſe nur ganz allein
auf ſie; ihre Bruſt hebt ſich ſtolzer, denn ſie iſt vor
vielen Tauſenden beglückt. Ferner ſteht in den Brie¬
fen von heißer Liebe, von unerträglichen Qualen und
ewigen Gefühlen. Das iſt Alles ſehr glaubwürdig,
denn man iſt ja wirklich ſo liebenswerth, man müßte
aber ein Herz von Stein haben, den Armen ſo leiden
zu ſehen, man muß ihn wieder lieben. Schmerz oder
Unglück kann ſich nie nahen, denn ſeine Gefühle ſind
ewig, und ihr Glück wird auch ewig ſein. Daß dieſe
Ewigkeit der Liebesbriefe ſelten über ein Jahr hinaus
reicht, glaubt man nicht; man hat zwar ſchon oft
davon reden hören, aber dieſe Verſicherungen, dieſe Schil¬
derungen müſſen Wahrheit ſein. So glaubte auch
Klärchen, als ſie ihren Brief geleſen. Ihr Herz hüpfte
vor Entzücken, durch ihre Klugheit hatte ſie es ſo weit
gebracht, daß er Ernſt machte; nun wollte ſie ihn auch
nicht länger ſchmachten laſſen und ihm ihre Liebe zei¬
gen. Sie hätte gern gleich geantwortet, aber ſie war
heut Abend zu Tante Rieke eingeladen und hatte ver¬
ſprochen um 6 Uhr die Mutter abzuholen, und ſo ein
Liebesbrief war keine Kleinigkeit, der mußte mit Be¬
dacht geſchrieben werden. Sie ging alſo, wenn auch
in höchſter Unruhe. Den empfangenen Brief trug ſie
natürlich auf dem Herzen.
3 *
Zum Sylveſter war ſie immer am liebſten zu
Tante Rieke gegangen. Da gab es Punſch und Kuchen,
und außerdem, daß man wohl ernſthaft ſprach und
ſang, ging es doch auch ſehr vergnüglich her, und für
die jungen Leute gab es mancherlei Spaß, denn die
Tante war trotz aller Pietiſterei doch ſehr heiter, konnte
ſelbſt recht drollig ſein und hinderte die jungen Leute
nicht, es ebenſo zu machen. Heute war ihr das freilich
ganz egal, und als ihre Freundinnen ihre Schweig¬
ſamkeit bemerkten, that ſie etwas erſchrocken, ſchmun¬
zelte aber doch dabei, daß alle behaupteten: dahinter
müſſe etwas ſtecken. Fritz Buchſtein, der auch unter
den Gäſten war, ſah ſie ſcharf an bei dieſen Scherzen,
und der Blick war ihr wieder ſehr fatal. Doch ward
man lebhafter bei einem Gläschen Punſch und be¬
merkte Klärchens Schweigſamkeit nicht mehr. Selbſt
Fritz ward ungewöhnlich redſelig und erzählte ſehr un¬
terhaltend von ſeiner Wanderſchaft. Gretchen hing
an jedem Worte, das er ſagte: ſelbſt Klärchen mußte
geſtehen, daß er ein ausgezeichneter Tiſchlergeſelle
ſei: die Worte gingen ihm gewandt von den Lip¬
pen, ſeine Augen waren lebendig, ſeine Wangen ge¬
röthet, ſie wußte ſelbſt nicht wie, aber es fielen ihr
die Helden aus den Ritterromanen ein, wie ſie be¬
ſchrieben werden, ſo ſanft und mild und dabei ſo edel
und männlich. Sie begann faſt, ihn dem Gretchen nicht
zu gönnen, obgleich ſie ſelbſt himmelhoch über ihm
ſtand; denn es war doch nur ein ungebildeter Mann,
und ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben, wie
ſie ihn auf dem Herzen trug. Darin hatte ſie Recht,
ſolch einen Brief konnte er nicht ſchreiben: er war
nicht gewiſſenlos genug und hatte nie gewagt, ei¬
nem Mädchen den Unverſtand zuzutrauen, ſolchen
Unſinn, der in jedem ſchlechten Romane zu finden iſt,
für Wahrheit zu nehmen. Mehrere Stunden waren
ſo ſchnell vergangen, da erinnerte Vater Buchſtein Frau
Bendler an ihr Verſprechen.
Ei freilich! Heute laſſen wir Schiffchen ſchwim¬
men, ſagte dieſe ſcherzend; es liegt mir ſelber daran,
zu wiſſen, wie es mit der Freundſchaft meiner guten
Freunde ſteht. Ich muß aber auch die Erſte ſein,
weil ich doch wohl die Neugierigſte bin.
Die jungen Leute ſtimmten fröhlich in den Vor¬
ſchlag ein. Gretchen holte einen großen Napf mit
Waſſer, Wallnüſſe und einen Wachsſtock. Fritz theilte
ſehr geſchickt die Nüſſe auseinander, machte die Frucht
heraus und klebte dafür kleine Wachslichte hinein.
Gar niedlich tanzten die brennenden Lichterſchiffchen auf
dem Waſſer, der Tante Schiffchen in der Mitte, die
anderen ſtellten den Vater und Sohn Buchſtein, die
Frau Organiſtin und Gretchen und Klärchen vor; ſo
war es von Frau Bendler beſtimmt. Der Hauptſpaß
war nun, wie die anderen ſich zur Hauptperſon ver¬
hielten. Blieben ſie fern ſo war es mit der Freund¬
ſchaft ſchlecht beſtellt. Und wirklich drückten ſie ſich
alle ziemlich fern an den Seiten herum. Frau Bend¬
ler ſcherzte und neckte, bis plötzlich Fritzens Schiffchen,
durch eine leiſe Waſſerbewegung angeregt, auf die
Tante zu ſchoß und nicht wieder von ihr ließ, was
auch am Napfe gerüttelt und geſchüttelt ward. Das
Schütteln aber hatte zur Folge, daß die anderen vier
Schiffe ſich zu einem Häufchen geſellten, und nun
wie zwei feindliche Parteien ſich die Flotte gegenüber
ſtand.
Weil der Fritz es ſo gut mit mir meint, ſoll er
jetzt der Erſte ſein der die Herzen ſeiner Freunde prüft,
ſagte Frau Bendler. Fritz aber war gar nicht begierig
danach, er wollte den Andern durchaus den Vorrang
laſſen; doch half es ihm nichts, die Alten übernah¬
men es, den Schiffchen Namen zu geben, und die
Sache ging los. Gretchens Herz klopfte gewaltig, und
ſie beſann ſich ſchon, was für ein Geſicht ſie machen
wolle und was ſagen, wenn das Schiffchen die Ge¬
danken ihres Herzens verrathen ſollte. Zwei andere
junge Mädchen, die ganz unbefangen waren, ſcherzten
mit Fritz und meinten: das paſſe ſich gar nicht, wenn
er da großartig in der Mitte ſtehe, und ſie ſollten ſich
um ihn bemühen, dieſe Prüfung ſei eigentlich nur
für Mädchen. Klärchen aber war ganz erhoben über
dieſen Spaß, ihre Gedanken waren längſt nicht mehr
hier; je ſpäter es wurde, je größer ward ihre Unruhe
und Sehnſucht, den Brief zu beantworten. Doch ſelt¬
ſam genug, ihr Schiffchen nahete ſich zuerſt der Mitte,
Fritz ſchien ihr auszuweichen, aber ſie zog hinter ihm
her, vereinigte ſich mit ihm und ſchiffte dann mit ihm
zuſammen auf dem kleinen Meere umher. Das gab
ein Lachen, aber Klärchen warf die Lippen auf und
warf einen verächtlichen Seitenblick auf den Tiſchler¬
geſellen, ſo daß Allen die Geſinnung ihres Herzens
kund werden mußte. Gretchen ward vor Aerger ganz
roth und hatte ſchon ein derbes Wort auf den Lippen,
doch ſcheute ſie ſich vor Fritzens Gegenwart und
wollte es ſich lieber aufſparen. Die beiden andern
Mädchen ſtießen ſich an, Klärchen hatte ihnen ſchon
den ganzen Abend zu vornehm gethan, und die Frau
Organiſtin ſagte ſpitz: Ei Klärchen, brauchſt den
Mund nicht zu verziehen, biſt in ganz guter Geſell¬
ſchaft hier. Doch die Tante wollte keinen Ernſt ge¬
macht haben; ſie entgegnete leicht: In der Hinſicht
muß ein jedes Mädchen ſtolz und ſpröde thun, die
jungen Burſchen ſollten ſonſt eitel werden. Dann
wurden die Namen der Schiffchen wieder geändert,
und die Sache war abgemacht. Fritz aber behielt den
Stachel im Herzen. Wenn er auch längſt Klärchens
Beſitz aufgegeben, ſo konnte er ihr doch heut nicht
ohne innere Bewegung gegenüber ſitzen, es war ihm,
als ob aus ihrem Weſen bald ein guter bald ein
böſer Engel ſchaue; er hätte den guten ſo gern feſt¬
halten und in ihre Nähe bannen mögen. Die dun¬
kelblauen Augen hatten ihn zuweilen ſo kindlich an¬
geſchaut, ganz ſo wie ſie auf ſeiner Wanderſchaft vor
ſeiner Seele ſchwebten. Er wußte zwar mehr als alle
die Anderen von ihrem Leben und Treiben — die Augen
der Liebe ſehen ſcharf —, auch wußte er daß der Medi¬
ziner im Hauſe der Generalin wohne, aber immer
noch konnte er den guten Engel in ihr nicht aufgeben,
und ſein theilnehmendes und trauerndes Herz ward
von ihrem verächtlichen Weſen ſchmerzlich berührt.
Die Zeit war mit den Späßen vergangen, es
ſchlug zehn Uhr, man wurde ernſthafter. Die Alten
erzählten, die Jungen hörten ſtill zu. Fritzen war das
ſehr lieb, er war wahrlich nicht zur Freude aufgelegt
und er übernahm es auch ſpäter gern, etwas aus der
Bibel vorzuleſen. Er begann mit dem 90 Pſalm.
Er las langſam und feierlich, ſeine Stimme ward im¬
mer voller, die Worte quollen immer mehr aus ſei¬
nem Herzen. Als er die Worte las: Lehre uns be¬
denken daß wir ſterben müſſen, auf daß wir klug wer¬
den, — ſchaute er auf und ſah Klärchen an. Nieman¬
dem fiel das auf, nur Klärchen konnte den Blick nicht
vertragen und es wurden ihr dadurch die Worte erſt
bedeutſam. Dem Pſalm folgte ein Abendgebet, auf
den Jahresſchluß paſſend, und dann das ſchöne Lied:
Jahre gehn und fliehen,
Blumen, die da blühen,
Welken traurig ab!
Was da grünend ſtehet,
Wandelt und vergehet
In ein düſtres Grab!
Bleiben wir wohl ewig hier? —
Was genommen iſt von Erden,
Muß zur Erde werden.
Eines unter Allen
Kann nicht fliehn und fallen,
Wenn auch Alles fällt:
Was aus Gott geboren,
Gehet nicht verloren
In dem Grab der Welt;
Seine Zeit heißt Ewigkeit —
Selig, wer in guten Stunden
Dieſes Eine funden.
Der für uns geſtorben,
Hat es uns erworben
Einſt mit ſeinem Blut;
Jeſus, unſer Leben,
Kann dem Sünder geben
Dieſes Eine Gut;
Seine Kraft bewirkt und ſchafft,
Daß geweihet ſei die Seele
Mit dem Lebensöle.
Weichet, Luſt und Sünde!
Einem Gotteskinde
Habt ihr nichts mehr an.
Denn dem Gott der Ehren
Muß mein Herz gehören,
Ihm dem Schmerzensmann.
Ihm erkauft, auf ihn getauft,
Steh ich in dem Grund der Gnaden.
Was kann da mir ſchaden?
Tage, Jahre, fliehet!
Luſt und Glanz, verblühet!
Gräber, öffnet euch!
Wenn die Glieder ſterben,
Werd ich ja ererben
Meines Heiland's Reich!
Wär ſie nah', ach wär ſie da,
Jene Zeit, da ich erſtritten
Gottes ew'ge Hütten!
Klärchen bemühte ſich ſo viel als möglich, nicht
hinzuhören und ſich mit anderen Gedanken zu zer¬
ſtreuen; es war ihr aber unmöglich. Fritzens Stimme
klang wie Glöckentöne in ihr Herz, ſo mächtig, ſo
ernſt, ſie mußte hören, und je länger er las, deſto
aufmerkſamer hören. Von Sterben — Grab — und
Verblühen war die Rede, es ward ihr bange dabei,
und ihr abergläubig Herz nahm die Bangigkeit für
böſe Ahnung. Nur nicht ſterben! dachte ſie. Der Hei¬
land, von dem ſie reden, hilft mir nichts, ſein Reich
reizt mich nicht und nicht die ewigen Hütten; nein,
über den Tod hinaus geht keine Hoffnung. O, ſo
häßliche Gedanken verbittern einem das ſchöne Leben,
und gerade heute das anzuhören iſt ſehr ſtörend.
Die Andern ſehen dabei ſo ruhig und freudig aus,
als ob ſie Recht hätten, und Fritz iſt ſo voll von der
Wahrheit, ſein Geſicht leuchtet, und wie Gretchen ſo
demüthig zu ihm aufſchaut — ſolche Blicke müſſen ſein
Herz rühren.
Es ſchlug zwölf. Alle falteten die Hände, beug¬
ten ſich zum Gebet. Auch Klärchen mußte ſo thun,
aber in ihrem Herzen war es dunkle Nacht, der Teu¬
fel hielt ſeine Hand über ſie. Fort, fort von hier!
ſeufzte ſie, und der Liebesbrief zog ſie gewaltig hinaus
aus dem Ernſt und dem Frieden in die Luſt und Un¬
ruhe der Welt.
Beim Heimgehen fand es ſich, daß Frau Krauter
mit den Andern einen Weg hatte, und nur Klärchen
allein nach einer ganz entgegengeſetzten Seite mußte;
es wurde beſchloſſen, Fritz ſollte ſie nach Hauſe füh¬
ren. Sie aber ſträubte ſich, denn nichts wäre ihr
drückender geweſen, als ein einſamer Weg mit dieſem
ſonderbaren Menſchen. Aber es half nichts. In der
Sylveſter-Nacht, wo der Trunkenbolde nicht wenige
auf den Straßen zu finden ſind, darf kein junges
Mädchen allein gehen, hieß es, und Klärchen mußte
ſich fügen. Fritz war gar nicht verlegen, er hatte ſich
eben zu ſehr in eine Gottes-Welt vertieft, als daß
ihn die kleinen Bewegungen der irdiſchen Welt hätten
berühren können. Er ſah Klärchen ruhig und feſt in
die Augen und ſprach zu ihr mit unbefangener Stimme:
doch wehten außen Sturm und Regen ſo ſehr, und
Klärchen ging ſo raſch, daß er ſchweigen mußte.
Jetzt ſtanden ſie vor der Hausthür. Klärchen nahm
den Schlüſſel und ſchloß auf. Der Mond brach eben
durch Wolken und warf ſein helles Licht auf Fritz
und Klärchen, ſie ſah unwillkürlich auf zu ihm: da
ruheten ſeine dunklen Augen ſo traurig auf ihrem
friſchen Geſicht, er reichte ihr die Hand, ſie mußte ihre
hineinlegen. Klärchen, ſagte er mit bewegter Stimme,
wir ſtehen jetzt am Anfang eines neuen Jahres. Der
Herr wolle uns ſegnen, daß wir am Ende deſſelben
mit reinem Herzen und ruhigem Gewiſſen und unbe¬
fleckter Ehre mögen darauf zurückſchauen. Der Herr
behüte Sie!
Er wandte ſich ſchnell von ihr, ſie trat in das
Haus, aber mußte erſt einige Augenblicke ſich vom
Schrecken erholen.
Was will er nur? dachte ſie. Meine Ehre? da
will ich ſelbſt für ſorgen. Und das Gewiſſen? ich
werde doch kein Verbrechen begehen? — Sie ſuchte
mit Gewalt den Eindruck von Fritzens Worten abzu¬
ſchütteln, und das ſollte ihr leider nicht ſchwer werden.
Als ſie die erſte Treppe hinauf war und eben den Zu¬
gang, der zur Etage bei Generalin führte, öffnen wollte,
kam Jemand von oben herunter. Sie zögerte, — ja
es war der Mediziner. Er hatte den Sylveſter-Abend
etwas lauter und wilder gefeiert als Klärchen, ſein
Geſicht glühte von Wein und Punſch, und ſeit geraumer
Zeit hatte er mit Ungeduld auf Klärchens Rückkehr
gewartet. Jetzt floſſen ihm die Worte wie Feuer von
den Lippen. Dieſe Liebes- und Treueverſicherungen,
dieſe Ausdrücke von erhabenen Gefühlen — Klärchen
konnte nicht widerſtehen. Sie erwiederte flüſternd ſüße
Liebesphraſen, duldete, daß er ſie küßte, und als ſie
ſich endlich losriß, mußte ſie ihm das Verſprechen ge¬
ben, für eine recht baldige ungeſtörte Zuſammenkunft
zu ſorgen. Das war gar nicht ſchwer, bei ihrer Mut¬
ter konnten ſie das haben; denn die wird dem Glück
der Tochter nichts entgegenſetzen. Und, fügte Klär¬
chen hinzu, es iſt auch nöthig daß wir beſprechen, wie
es mit unſerer Verlobung werden ſoll, es iſt doch da
manches zu thun. —
Närrchen! unterbrach ſie der Mediziner, wer wird
denn an ſo alberne Dinge denken? Wir leben in der
Gegenwart, das andere fügen die Götter. — Dann
fügte er einige zärtliche Worte hinzu und ging die
Treppe hinauf.
Dieſe letzten Worte gingen Klärchen eiſig über
die grünen Auen ihres Glückes, doch dachte ſie nicht
weiter darüber nach und legte ſich in ſüßer Betäubung
zur Ruhe.
Am anderen Morgen wachte ſie ſpäter auf als
gewöhnlich. Ihre gütige Dame hatte ſie nicht zur ge¬
wöhnlichen Zeit wecken laſſen, damit ſie den verſäum¬
ten Schlaf nachholen möge. Und dennoch konnte ſie
ſich nicht zurecht finden. Es war ihr ſo wüſt im
Kopfe und ſo nüchtern im Herzen, ſie mußte ſich or¬
dentlich erſt klar machen, daß ſie ſehr glücklich ſei,
und trotz des Vorredens blieb ſie unruhig. Wird er
Ernſt machen? Wird er ſich öffentlich verloben? Wird
er es ſeinen Eltern ſagen? Solche Fragen war ſie
thöricht genug ſich vorzulegen, und es galt von ihrer
Seite immer noch große Vorſicht, das Alles zu errei¬
chen. So dumm wie ihre Mutter, der der Rechts¬
gelehrte unter den Händen entwiſcht iſt, wollte ſie
nicht ſein, dachte Klärchen; und ſo denken alle thö¬
richten Mädchen, die leichſinnige Liebſchaften anknüpfen.
Sie ſehen zwar rund um ſich, wie die Sachen mei¬
ſtens ablaufen, aber ſie wollen es ſchon anders zu
Ende bringen, bis ihnen dann das reine Herz, Ehre,
und gutes Gewiſſen ſammt dem Liebhaber unter den
Händen entſchlüpft ſind.
Als Klärchen zur Frau Generalin ging, um ihr
wie gewöhnlich bei der Toilette behülflich zu ſein,
fand ſie dieſelbe ſchon fertig angekleidet beim Früh¬
ſtück, und neben ihr ſaß bei demſelben ein junger
ſchöner ſchlanker Mann in Gardeuniform. Klärchen
entſchuldigte ſich wegen des ſpäten Kommens; die
Generalin aber war ſehr freundlich und ſagte neben¬
bei: Ich habe geſtern Abend auch eine große Ueber¬
raſchung gehabt, mein Sohn kam unerwartet an. —
Der junge Mann war bei Klärchens Eintreten aufge¬
ſtanden, ihre Schönheit und ihr feines Weſen be¬
ſtimmten ihn, höflicher zu grüßen, als er es gethan
haben würde, hätte er gewußt daß ſeiner Mutter
Kammerjungfer vor ihm ſtand. Jetzt ward er etwas
verlegen, Klärchen merkte Alles, — ein koquettes Mäd¬
chen iſt ſehr feinfühlend in ſolchen Dingen — und ihr
ganzes Benehmen wurde augenblicklich dem jungen
Manne angepaßt. Sie ging ordnend im Zimmer hin
und her, that, was in der Schlafſtube nebenan zu
thun war, und ging dann um Sonntagstoilette zu
machen. Sie wußte ſelbſt nicht recht wie ſie dazu
kam, aber ſie begann Vergleiche zu machen zwiſchen
dem Gardelieutenant und dem Mediziner. Der Medi¬
ziner war wirklich häßlich dagegen zu nennen, und
wie plump war ſeine Sprache und ſein ganzes We¬
ſen! Freilich, tröſtete ſie ſich, er iſt ein Student, und
die meinen, ſie müſſen burſchikos ſein; wenn er bei
ſeiner Mutter, der Frau Präſidentin ſitzt, wird er auch
anders ſein. Aber er ſoll auch gegen mich anders
ſein, dachte ſie weiter, er ſoll fein und nobel werden
wie der Gardelieutenant!
Das Haus war durch die Neujahrs-Glückwün¬
ſchenden ſo belebt, daß es dem Mediziner unmöglich
ward, Klärchen zu ſehen. Auch den Abend war große
Geſellſchaft, der Flur hell erleuchtet und faſt immer¬
fort Bewegung auf der Treppe. Er war ſehr unge¬
duldig und wußte kaum wie er die Zeit hinbringen
ſollte. Klärchen ging es nicht ſo, ſie war heut ſo
beſchäftigt und hingenommen, daß ſie kaum Zeit hatte
an ihre Liebe zu denken. Bis jetzt hatte ſie faſt nur
alten Damen den Thee ſervirt, heute aber waren junge
Herren, die Freunde des Lieutenants, in der Geſell¬
ſchaft. Klärchen, im hellblauen Muſſelin-Kleide mit
freiem Hals und freien Armen, ſtand vor der ſingen¬
den Theemaſchine und ſchwebte dann in den hell er¬
leuchteten und wohl durchdufteten Zimmern hin und
her. Ein ſolcher Triumph war ihr noch nie geworden:
die Blicke der jungen Leute folgten ihr, wohin ſie
ging, bis leider die Generalin ſehr ernſte Blicke auf
ſie warf und ihr huldreich ſagte, ſie möchte ſich nicht
weiter bemühen, der Bediente ſolle allein aufwarten.
Sie ging, und trat erhitzt und aufgeregt in ihre Stube.
Kaum hatte der Mediziner Licht darinnen geſehen, als
er ſein Fenſter öffnete und leiſe mit den Händen klappte.
Klärchen hatte eigentlich nicht große Luſt ihn jetzt zu
ſprechen, ſie ſah aber ihr Bild im Spiegel und fand
ſich gar zu ſchön, der Mediziner mußte ſie ſehen,
mußte ſich überzeugen, daß ſie mit ihrer Erſcheinung
in die Salons einer Präſidentin paſſe, ja ihr Hoch¬
muth und ihre Eitelkeit waren heut ſo ſehr gewachſen,
daß ſie meinte, er müſſe ſich glücklich ſchätzen ſie zu
gewinnen. Man konnte gar nicht wiſſen ob ihr nicht
noch ein größeres Glück beſtimmt geweſen. Der junge
Graf, der heut mit in der Geſellſchaft war, hatte ſie
nicht aus den Augen gelaſſen, und der Generalin
Sohn, der außer ſeinem Lieutenantsgehalt noch ein Gut
in Schleſien hatte, dazu adelig war, hatte ſich gewiß
ſchon ſterblich in ſie verliebt. Klärchen hatte viel Ro¬
mane geleſen, ſie wußte, daß nicht ſelten arme Mäd¬
chen vornehme Partien machen, und ſie hatte die be¬
ſtimmte Ahnung einer großen Zukunft. Mit ſolchen
Gedanken trat ſie auf den Flur, der Mediziner ſtand
ſchon unten an der Treppe. Als er ihr vornehmes,
herablaſſendes Weſen ſah, dazu ihre Schönheit, ver¬
ſchluckte er die groben ungeduldigen Liebesvorwürfe,
die ihm in der Kehle ſtaken, und beklagte ſich nur,
daß er ſie heut den ganzen Tag nicht geſehen. Klär¬
chen entgegnete, dies ſei ein unſchicklicher Platz ſich
zu ſprechen, und beſchied ihn zum nächſten Abend zu
ihrer Mutter. Daß er ſie küßte und zärtlich ward,
litt ſie wohl; Hochmuth und Eitelkeit ſchützen nicht
vor böſen Herzensgelüſten, nein, es ſind gerade ſehr
verträgliche Schweſtern, die ſich gegenſeitig hegen und
pflegen.
Am andern Morgen ſaß Klärchen, wie gewöhn¬
lich, nähend im Vorzimmer. Der Lieutenant trat ein
und bat ſie, einige Maſchen an ſeiner Geldbörſe wie¬
der zu befeſtigen. Während ſie es mit den feinen ge¬
ſchickten Händen that, ſtand er ſchweigend vor ihr.
Auch Klärchen ſchwieg, aber ihr ganzes Weſen redete.
Wie ſie den Kopf hielt, wie ſie die Finger bewegte,
wie ſie aufſchaute, ihm dann die Börſe gab — es mußte
das Alles das Herz des Lieutenants beſtürmen. Klär¬
chen merkte, daß er gern eine Unterhaltung mit ihr
angeknüpft hätte, doch die Schritte der Generalin wa¬
ren im Nebenzimmer hörbar, und er verließ ſie mit
einem kurzen verbindlichen Danke.
Der Tag verging mit Plänen für heut Abend;
und wenn auch das Bild des Lieutenants ſich zuwei¬
len dazwiſchen drängte, ſo ſchob ſie es mit Gewalt
zurück. Der Mediziner muß ſich heut Abend feierlich
mit dir verloben, wo möglich müſſen wir heut Abend
noch Brautviſite bei Tante Rieke machen. Was wird
die ſagen! Und Grete! Nun, ſie werden Reſpekt be¬
kommen vor der Schwiegertochter einer Frau Präſiden¬
tin. Der Mediziner mußte morgen früh ſelbſt die
Frau Generalin um ihre Entlaſſung bitten, oder we¬
nigſtens ihr eine andere Stellung geben; die Hälfte
des Wechſels mußte er ihr gleich überlaſſen, um für
Toilette und Wäſche zu ſorgen; ſie war nun aus al¬
ler Noth, konnte ſich die Hemden Dutzendweis fertig
kaufen und ſo alle Sachen. In dieſer Weiſe flogen
ihre Gedanken, ſie konnte kaum den Abend erwarten,
und es war ihr recht unangenehm, daß ſie ihrer Her¬
rin noch von 6 bis 7 Uhr vorleſen ſollte. Die Frau
Generalin aber war ganz allein, erwartete den Sohn
erſt zum Abend zurück, und Klärchen mußte wie ge¬
wöhnlich ihn auf dieſe Weiſe die Zeit vertreiben. Sie
las heut beſonders ſchlecht, und die Generalin war
eben im Begriff, dies zu tadeln, als die Thür ſich
öffnete und der Sohn eintrat. Er winkte, ſetzte ſich
in eine dunkle Ecke, und die Mutter bemerkte: ſie
wolle nur dies kurze Kapitel ausleſen laſſen. In
Klärchen ſchien plötzlich eine andere Kraft gefahren,
ſie las beſonders ſchön und mit ganz anderer, bewegter
Stimme. Der Lieutenant wandte keinen Blick von ihr,
und die Generalin ſah ſie bedenklich an. Als ſie das
Zimmer verlaſſen, wandte ſich dieſe zu ihrem Sohne.
Lieber Alfred, ſagte ſie lächelnd, ich glaube, ſo
lange Ihr jungen, leichtfertigen Leute hier bei mir
ein- und ausgeht, muß ich das Mädchen aus dem
Haus thun.
Und wenn ich mich auch ein wenig verliebte,
entgegnete Alfred, Du fürchteſt doch nicht —
Nein, ich fürchte nicht, daß Du leichtfertig genug
wäreſt, ein Mädchen thörichter zu machen, als es
ſchon iſt, aber Deinen Freunden traue ich nicht.
Alfred lachte. Sie ſind alle außer ſich über dieſe
Schönheit, und Graf Bründel, glaube ich, früge aller¬
dings nicht viel danach, ob er ein thöricht Mädchen
thörichter mache.
So bitte ich Dich, vermeide es, daß er ſie ſieht,
— entgegnete die Mutter beſorgt. Und Du, lieber
Alfred, biſt vorſichtig. — fügte ſie zögernd hinzu.
Gewiß, ſagte Alfred treuherzig und reichte der
Mutter die Hand; und ſollte es wirklich gefährlich
werden, da bitte ich Dich, mich fortzuſchicken, — ſchloß
er ſcherzend.
4
Dieſe Unterredung hatte Klärchen durch das
Schlüſſelloch mit angehört, denn Horchen war in den
zehn Geboten nicht verboten. Sie haben ſich Alle in
dich verliebt, und Alfred iſt doch der Schönſte und
Edelſte. Seinen Spaß würde er nie mit dir treiben:
zeigt der dir Liebe, ſo wäre es Ernſt. Sie ſeufzte.
Ja, hätte ſie mit dem Mediziner noch nicht angefangen,
ſie hätte es wahrlich jetzt gelaſſen; aber ſie hatte ſich
küſſen laſſen, hatte eine Liebſchaft an der Treppe ge¬
habt; Frau von Trautſtein konnte ſie nicht werden.
Alſo nur kühn den Mediziner feſtgehalten, er iſt auch
ein Mann von Bedeutung und ſo ſehr verliebt, es
läßt ſich Alles mit ihm machen.
Mit ſolchen Gedanken machte ſie in ihrer Mutter
Stube die Vorbereitungen zur Verlobung. Zwei Lich¬
ter brannten außer der kleinen Lampe, Taſſen und
Kuchen ſtanden auf dem Tiſch, die Theekanne in der
Röhre, die Mutter ſaß im Lehnſtuhl am Ofen, und
Klärchen mit der Guitarre am Arm ſaß im Sopha.
Der Student kam, die Thür ward verſchloſſen und
nun ward geplaudert, geſcherzt, gekoſet. Die Mutter
war ganz glücklich. Der Mediziner hatte ſchon eine
volle Börſe deponirt zu Sachen, die für Klärchen
nothwendig angeſchafft werden ſollten. Sie mußte ſich
geſtehen, daß Klärchen es weit klüger angefangen als
ſie: Klärchen that ſpröder und vornehmer und kom¬
mandirte mehr. Sie bedachte nur nicht, daß das Ende
einer klugen Sünderin ein gleiches iſt, als das einer
dummen. Klärchen kam zuletzt mit Vorſchlägen zur
Veröffentlichung ihrer Verlobung heraus, die für heute
darin beſtanden, noch zu Tante Rieke zu gehen. Der
Mediziner ſah ſie erſt verblüfft an und brach dann in
ein helles Lachen aus. Er hatte ſchon viel Lieb¬
ſchaften gehabt, das aber war ihm noch nie paſſirt.
Närrchen! ſagte er, wie kannſt Du ein ſolcher
Philiſter ſein! Bei uns iſt wohl von Lieben die Rede,
aber nicht von Verloben. Wenn die Welt erſt zuſieht,
hört aller Spaß auf.
Klärchen ſtand auf, ſie zitterte an allen Gliedern.
Wenn es ſo gemeint iſt, ſind wir geſchiedene Leute,
ſagte ſie in höchſter Erregung.
Der Student war wieder verblüfft, lachte darauf
aber nicht. Er merkte, daß er mit dem Mädchen an¬
ders verfahren müſſe, als er es bisher gewohnt ge¬
weſen, und da er unglaublich in ſie verliebt war, be¬
gann er zu kapituliren. Das aber half ihm nichts,
ſie war zu klug und durchſchaute ſeine gleißenden
Worte. Dazu liebte ſie ihn eigentlich gar nicht mehr,
ſie dachte an den Lieutenant, an den Grafen, ſie
konnte ja nur zugreifen; ja, mit einemmal war es ihr,
als müſſe ſie ſich von dem Studenten losreißen, um
einem höheren Geſchicke entgegen zu gehen. Das gab
ihr Muth, jetzt die Tugendheldin zu ſpielen. Sie
hielt die ſchönſten Reden; ſelbſt als er verſicherte, Oſtern
wolle er mit ſeinen Eltern reden und nur bis dahin
müſſe die Sache geheim bleiben, blieb ſie ſtandhaft,
— und als er ſie beſtürmen wollte mit ſeiner Liebe
und ſeinem Unglück, verſchloß ſie ſich in die Kammer.
Die Mutter ſpielte eine traurige Rolle dabei, ihr Herz
war weicher, als das der Tochter, ſie hätte den Un¬
glücklichen gern glücklich gemacht, — dazu die ſchöne
volle Börſe auf dem Tiſch, — und verſuchte ihn zu
4 *
beruhigen, verſprach mit der Tochter zu reden, und
entließ ihn ſo nicht ganz ohne Hoffnung. Klärchen
aber that ſtolz wie eine Königin. Siehſt Du, ſagte
ſie zu ihrer Mutter, ſo muß man es machen, ſpaßen
laſſe ich nicht mit mir! Und weil ſie doch im Inne¬
ren eine große Demüthigung fühlte, daß ihr der Me¬
diziner entſchlüpfte, wie der Mutter Rechtsgelehrter,
ſo that ſie mit Worten beſonders groß, ließ ihr Glück
bei den adeligen Herren ahnen, und um die Mutter
vollſtändig mit dem erſten Abenteuer auszuſöhnen, dul¬
dete ſie es, daß dieſe die volle Geldbörſe des Medi¬
ziners in Verwahrung nahm.
Auf ihrem Stübchen aber brach ſie in Thränen
aus, nicht Thränen der Reue über ihren Leichtſinn,
nein, ſie weinte über ihre Dummheit, ſich mit dieſem
rohen Menſchen ſo weit eingelaſſen zu haben. Wenn
es die Generalin, wenn es der Lieutenant wüßte!
Aber ſie wiſſen es nicht und werden es nie erfahren,
war ihr Troſt; du willſt vorſichtiger ſein, dich nie
mit ſo rohen Menſchen einlaſſen. Um ſich vollſtän¬
dig zu tröſten, wiederholte ſie ſich die Unterredung der
Generalin mit ihrem Sohne. Es konnte ihr nicht
fehlen, — ſie taumelte ſich in einen neuen Himmel
der Zukunft und ſchlief beruhigt ein.
Ihr Rouleau kam nun den ganzen Tag nicht
mehr in die Höhe, und die Köchin, die ſchon ange¬
fangen, aufmerkſame Augen auf ſie und den Medizi¬
ner zu werfen, ward wieder ganz ruhig.
Die Generalin aber war nicht ruhig, ſie ſah die
Augen ihres Sohnes fortwährend auf Klärchen ge¬
richtet, und dieſe war ganz beſonders ſanft und hold¬
ſelig. Der Graf hatte geſagt: das Mädchen ſei ganz
verteufelt ſtolz und ſpröde, und Alfred hatte das mit
Triumph der Mutter erzählt und dabei fallen laſſen,
daß ihre Bildung eigentlich über die eines Kammer¬
mädchens hinausgehe. Klärchen hatte das glücklicher¬
weiſe wieder erlauſcht, denn wenn Mutter und Sohn
allein in der Stube waren, kam ſie nicht viel vom
Schlüſſelloch fort. Das waren ſelige vierzehn Tage,
und ihr Kopf war voll der tollſten Pläne und Träu¬
mereien.
Aber die Tage vergingen und die Zeit der Tren¬
nung kam; ja, der Lieutenant war eines Morgens ab¬
gereiſt, ohne daß Klärchen etwas davon geahnet. Sie
war plötzlich eine andere, ſie war zerſtreut und träge,
erſt der Generalin ernſte Blicke mußten ſie wieder et¬
was zu ſich bringen.
Nach einigen Tagen ſaß die Generalin einen gan¬
zen Morgen am Schreibtiſch mit Schreiben beſchäftigt:
dazwiſchen ging ſie ſinnend in der Stube auf und ab.
Klärchen kalkulirte richtig: ſie ſchreibt an ihren Sohn.
Um Alles in der Welt hätte ſie den Brief gern gele¬
ſen. Wenn er nur heut nicht fortgeſchickt wird, ſo iſt's
möglich, dachte ſie. Und wirklich ward er nicht fort¬
geſchickt; der Nachmittag war unruhig, den Abend
war die Generalin in Geſellſchaft, ſie fand nicht Zeit,
ihn zu vollenden. Mit klopfendem Herzen hörte Klär¬
chen ihre Dame fortfahren, der Bediente hatte ſie be¬
gleiten müſſen, ſo war jetzt die beſte Zeit, ihren Plan
auszuführen. Was ſie an kleinen Schlüſſeln finden
konnte, ſuchte ſie zuſammen und verſuchte das Schloß
zu öffnen. Ihre Hände zitterten, und zehnmal wohl
lief ſie nach dem Vorſaal, um zu hören, ob auch
Niemand komme. Sie fühlte zum erſtenmal eine hef¬
tige Gewiſſensangſt, aber zum erſtenmal auch ging ſie
von der Stufe der Thorheit und des Leichtſinns eine
weiter hinunter zum Verbrechen. Gleich einem Diebe
ſtand ſie zitternd vor dem verſchloſſenen Tiſch, ſie war
ja wirklich im Begriff zu ſtehlen.
Doch das Schloß wollte nicht weichen, der Wa¬
gen der Generalin kam zurück, Klärchen verließ haſtig
und ſcheu das Zimmer.
In ihrem Stübchen überlegte ſie ſich die Sache
ruhiger, ja ſie machte ſich Vorwürfe über ihre Angſt,
beredete ſich, daß es gar nichts Großes ſei, einen
fremden Brief zu leſen, und hätte gern gleich ihre
Verſuche wiederholt. Sie mußte aber warten, bis
der Bediente fort fuhr, um ſeine Dame wiederzuholen.
Jetzt ging ſie ſchon getroſter daran. Uebung macht bei
ſolchen Dingen bald den Meiſter, darum heißt es:
Hüte dich vor dem erſten Tritte, mit ihm ſind bald
die anderen Schritte zu einem nahen Fall gethan!
Aber auch jetzt bei größerer Ruhe ging das Schloß
nicht auf, und Klärchen mußte die auf's Höchſte an¬
geregte und unbefriedigte Begierde mit zu Bett nehmen.
Am andern Morgen ging ſie, wie gewöhnlich, im
Schlafzimmer der Generalin einzuheizen. Wie gewöhn¬
lich lag auf dem Tiſchchen neben der Nachtlampe der
Schreibtiſch-Schlüſſel. Ruhig hatte ihn Klärchen im¬
mer dort liegen ſehen, heute trieb ſie der Teufel an,
ſie nahm den Schlüſſel, verließ das Schlafzimmer,
ſchloß die Thür hinter ſich, auch die nach dem Vor¬
ſaal, obgleich der Bediente nie um dieſe Zeit hier et¬
was zu thun hatte, und nun ſchloß ſie mit Leichtig¬
keit das Schlößchen auf. Da ſtand ein volles Geld¬
käſtchen, daneben lag der Brief; das Gelb reizte ſie
nicht, wohl aber der Brief. Sie durchflog ihn mit
Haſt, aber erfuhr genug. Die Mutter warnte den
Sohn vor dem eignen Herzen: ſie möchte ihn vor
einer Liebe bewahren, die ihn, wenn auch nicht für
Jahre, doch für Tage unglücklich machen könne. Dar¬
auf ſchilderte ſie Klärchens Weſen und Gedanken mit
ſolcher Wahrheit, daß Klärchen feuerroth beim Leſen
dieſer Worte wurde. Ja, die kluge Frau hatte ſie in
ihrem koquetten Treiben und verdrehten, überbildeten
Träumereien durchſchaut. „Sie iſt ehrlich und treu,
geſchickt und fleißig,“ ſchloß die Generalin dieſe Schil¬
derung, „darum werde ich ſie jetzt nicht gehen laſſen,
ich werde es mir aber zur Pflicht machen, ſie beſſer
zu überwachen, was mir bei meinem jetzigen ſtilleren
Leben nicht ſchwer werden ſoll.“
Klärchen war in großer Aufregung. Sie legte den
Brief wieder an dieſelbe Stelle, ſchloß den Kaſten
und legte den Schlüſſel zurück an ſeinen Platz. Die
Sache war herrlich geglückt, und wenn ſie auch man¬
ches Unangenehme aus dem Briefe erfahren, ſo doch
auch das Erfreuliche: der Lieutenant liebte ſie, die
Mutter fürchtete. Ihre größte Begierde war von jetzt
an, die Antwort des Sohnes zu leſen; mit höchſter
Aufmerkſamkeit kontrollirte ſie die Briefe, die zu ihrer
Dame kamen. Acht Tage vergingen, da endlich ent¬
deckte ſie das Poſtzeichen von Berlin und das Fami¬
lienwappen. Die Generalin nahm den Brief in höch¬
ſter Spannung aus Klärchens Hand und erbrach ihn
ſchnell. Klärchen aber räumte den Frühſtückstiſch ab,
ordnete hier, wiſchte dort, und warf dabei manchen
forſchenden Blick auf die Leſerin, deren Züge erſt ſehr
ernſt waren, aber immer freundlicher wurden und ſich
endlich in eine fröhliches Lächeln auflöſten. Dies
Lächeln war ein Dolchſtoß in Klärchens Herz, und
noch nie war ihr ein Tag ſo lang geworden als die¬
ſer, denn vor dem anderen Morgen konnte ſie daß
Kunſtſtück mit der Eröffnung des Tiſches nicht wieder¬
holen.
Doch der Morgen kam, Klärchen heitzte eine halbe
Stunde früher als gewöhnlich ein, die Generalin lag
noch im ruhigen Schlummer. Klärchen nahm den
Schlüſſel, der Brief lag ganz oben in der Mappe, ſie
öffnete ſchnell und las:
„Wenn ich Dir, theuerſte Mutter, Sorge machte,
ſo thut es mir herzlich leid, ich kann Dir aber mit
feſtem Herzen verſichern, daß es unnöthig war. Ich
leugne nicht, daß mich im Anfange das hübſche Mäd¬
chen intereſſirte und ich neugierig war, ob wirklich
hinter der ſchönen Hülle das verborgen ſei, was man
wünſchen und vermuthen mußte. Ich ſtimme aber
ganz mit Dir im Urtheil über ihren Charakter ein;
in den letzten Tagen habe ich Blicke in ihr Weſen ge¬
than, die mich von einem gemeinen und koquetten
Sinn überzeugten. Ich fürchte faſt, es wird Dir
ſchwer werden, ſie zu überwachen. Graf Bründel iſt
ernſtlich verliebt und wird nicht Geld und Mühe ſpa¬
ren, ein Verhältniß anzuknüpfen,“ —
Jetzt regte es ſich im Nebenzimmer, Klärchen fuhr
erſchrocken zuſammen. Sie lauſchte, es ſchien ihr wie¬
der ſtill; aber ihre Angſt war groß und ſie ſah nur
noch nach dem Ende des Briefes:
„Ja, liebe Mutter, mein Herz war ſchon leiſe
beſchäftigt, ehe ich zu Dir kam. Die edle Reinheit
meiner Adelheid hat mich von neuem überwältigt, ich
hoffe Dir bald eine würdige Tochter“ —
Hier regte es ſich abermals im Schlafzimmer der
Generalin, Klärchen legte den Brief ſchnell in die
Mappe, ſchob den Geldkaſten wieder zurecht und ſchloß
eiligſt den Kaſten. Welch eine Entdeckung war das!
Schmerz und Zorn bewegten Klärchens Herz.
Hier war alſo nichts zu machen, der Menſch war
nicht poetiſch, nicht romantiſch genug, um etwas Un¬
gewöhnliches der Welt gegenüber zu thun! Alle Qua¬
len unglücklicher Liebe, die ſie je in einem Romane
beſchrieben gefunden, kamen über ſie. Zum Glück
nicht für ſehr lange.
Es war ein ſehr kalter Winter. Selbſt Mitte Fe¬
bruar begann er noch einmal mit aller Strenge zu
regieren. Der Himmel war klar, die Sonne glitzerte
hell auf den weißen Dächern, die Leute trippelten an
einander vorüber, konnten ſich der rothen Ohren und
Naſen nicht erwehren, und die Blumen an den Fen¬
ſtern thauten kaum um Mittag ein wenig ab.
Gretchen verlebte hinter den Eisblumen ſtille Tage.
Sie ſaß ihrer Mutter gegenüber und ſpann, und ſpann
und ſann, und hauchte ſich zuweilen ein Fenſterchen
in den Eisgrund, ſchaute, daß der Himmel blau, die
Sonne golden war, dachte an den Frühling, an Blü¬
then, Bäume und Vögelgeſang und andere ſchöne
Dinge, und das Herz ſchlug ihr warm hinter den
kalten Eisblumen. Zuweilen entdeckte ſie auch durch
ihr Fenſterlein das rothe Geſicht eines Handwerksbur¬
ſchen, der ſie bittend anſchaute, da reichte ſie ihm eine
Gabe; oder ein Vogel hüpfte auf dem Fenſterſims,
dem ſtreute ſie Krümlein hin. Aber auch die Vögel
im Garten wurden gefüttert; ein Stückchen Brod war
ja immer übrig vom Frühſtück und auch vom Mittag,
und jedesmal wenn ſie hinaus kam, rief Benjamin
einen „guten Tag“ aus dem Schiebfenſterchen, oder
ſonſt ein gutes fröhliches Wort.
Seit zwei Tagen aber hatte ſich das Schiebfen¬
ſterchen nicht geöffnet, und die Eisblumen regten und
rührten ſich nicht. Gretchen ſagte es der Mutter, es
wurde Rath gehalten; Benjamin war jedenfalls krank,
man mußte ſich nach ihm erkundigen. — Der Ver¬
kehr mit dem Nachbarhauſe war leider dieſen Winter
ſehr eingeſchlafen; Frau Bendler empfand es ſchmerz¬
lich, daß Fritz Buchſtein ſich ihrem Gretchen gar nicht
nähern wollte. Ihr Zartgefühl erlaubte es nicht, von
ihrer Seite nur die leiſeſte Andeutung zu geben; aus
dieſer Aengſtlichkeit erfolgte dann faſt das Gegentheil.
Der alte Buchſtein, der ſonſt ſo eifrig die Freundſchaft
betrieben, war jetzt verlegen. Fritz wich ſeinen Auffor¬
derungen aus, und ſehr zureden wollte er dem Jungen
nicht, und wußte nur nicht, was zur Frau Nachba¬
rin ſagen, mit der er früher die Sache in allen Ein¬
zelheiten beſprochen hatte. — Heute aber war von
all' den Rückſichten nicht die Rede, Benjamin mußte
gepflegt werden und Gretchen ſich auf den Weg zu
ihm machen. Sie that es ſo gern, und doch hatte
ſie Scheu zu gehen, denn ihr Weg führte durch die
Werkſtatt. Während dem ſie eine warme Suppe
kochte, ſchaute ſie wohl zehnmal auf die Straße, ob
ſie nicht Jemand vom Nachbarhauſe ſähe; und wirklich
es glückte, die alte Magd kam daher und Gretchen
konnte ihre Erkundigungen einziehen.
Benjamin ſei wirklich krank, berichtete die mür¬
riſche Magd, er verlange aber gar nichts, er wolle
die Sache ausſchwitzen. Das hielt Gretchen nicht ab,
ſich zu rüſten. Das Näpfchen mit der warmen Suppe
unter dem Mantel ging ſie hinüber zu dem alten
Freunde. Die Sonne ſchien ſo hell in die Werkſtatt,
die Blumen von den Fenſtern waren etwas abgethaut,
Fritz in weißen Hemdsärmeln und ſchwarzer Tuchweſte
ſtand mit Geſellen und Lehrburſchen rüſtig bei der
Arbeit. Als die Thür ſich öffnete und Gretchen mit
dem friſchen Geſicht und der ſchwarzen Sammetmütze
hineinſchaute, erſchrak er faſt, aber er trat ihr entge¬
gen und reichte ihr freundlich die Hand.
Ich will zum kranken Benjamin, ſagte Gretchen
etwas ſcheu.
Zum kranken Benjamin? wiederholte Fritz und
ſeufzte: ja er iſt krank, und es iſt recht ſchlecht von
mir, ich habe ihn ganz vergeſſen. Soll ich das Näpf¬
chen tragen? ſetzte er mit weicher Stimme hinzu.
Gretchen ließ es ſich gefallen und folgte ihm nun
die Treppe hinan. Aus der warmen Werkſtatt traten
ſie in eine eiskalte Stube; Benjamin ſteckte tief in den
Federn, der Staarmatz ſtand auf dem Tiſch vor dem
Bett mit trauriger Miene, der Dompfaff pickte eben
vergebens am zugefrorenen Trinknäpfchen.
Armer Schuſter! ſchnarrte der Matz, als die
Thür ſich öffnete, — armer Schuſter!
Benjamin's Nachtmütze bewegte ſich jetzt, und ſein
freundlich Geſicht kam zum Vorſchein.
Dacht' ich's doch, daß Du kommen würdeſt, ſagte
er zu Gretchen, und nun gieb erſt den Vögeln Futter.
Dorthe iſt ſchlechter Laune und iſt ſeit geſtern Abend
nicht herauf gekommen.
Gretchen ſah ſich nach ungefrorenem Waſſer um,
aber vergebens; Fritz merkte, was ſie ſuchte, und
verließ das Zimmer. Eilig kam er wieder mit einem
Töpfchen voll warmem Waſſer und einer Schippe
Kohlen. Schweigend reichte er ihr das Waſſer, ſchwei¬
gend machte er Feuer in den Ofen und ſah dann,
wie Gretchen die Trinknäpfe der Vögel aufthaute, wie
ſie ihnen friſches Futter gab, wie ſie dem Benjamin
die Kiſſen zurechtlegte, ihm den Tiſch vor dem Bette
deckte und die Suppe darauf ſtellte. Fritz ſah ſinnend
und traurig aus, und als Benjamin jetzt das Tiſch¬
gebet ſprach und Gretchen mit gefalteten Händen dabei
ſtand, faltete auch er die Hände und betete mit. Nach¬
dem ſie geendet, trat er zu Benjamin, reichte ihm die
Hand und ſagte mit bewegter Stimme:
Benjamin, verzeihe mir, daß ich Dich ſo vergeſſen
konnte, ich bin recht traurig darüber.
Benjamin nahm ſeine Hand in beide Hände und
drückte ſie herzlich. Dann wandte ſich Fritz zu Gretchen:
Verzeihe auch Du mir, Gretchen, ich ſchäme
mich vor Euch und vor Gott, daß ich ſo lieblos ſein
konnte und nach dem armen Benjamin nicht einmal
fragen.
Eben fiel ein feiner Sonnenblick durch eine thauende
Fenſterſcheibe und auch ein Lichtblick fiel in Fritzens
Herz. — Herr, dein Wille geſchehe! — Gretchen
ſtand vor ihm ſo friſch und hold und rein, mit ſo
verſöhnlichem Blick. Fritz fühlte ſeine Zukunft ent¬
ſchieden, er fühlte, wohin der Herr ihn haben wollte
und wo er ſeinen Frieden ſuchen ſollte. Die wilden
Ranken ſeines Herzens mußte er abſchneiden. Schade
um die Zeit, die er ſie hatte wuchern laſſen!
Gretchen nahm Abſchied von ihrem alten Freunde,
mußte aber das Verſprechen geben, wieder zu kommen.
Ja, darum bitte ich Dich auch, ſagte Fritz, Du
ſollſt nicht kommen, um Benjamin zu pflegen, nein,
Du ſollſt Dich nur überzeugen, daß ich meinen Fehler
gut gemacht habe.
Benjamin machte Scherz aus der Sache, Gret¬
chen ſtimmte ein und die jungen Leute verließen ihn.
Unten in der Werkſtatt ſagte Fritz noch in aller Eile,
um doch etwas zu ſagen: Ich habe ſchon längſt ein¬
mal zu Euch kommen wollen, — aber das böſe Wet¬
ter, — man iſt ſo eingeſchneit.
Bei uns wird jeden Tag gekehrt, entgegnete
Gretchen.
Ja, es iſt auch meine Schuld, fuhr Fritz fort;
und als nun Gretchen im Vorbeigehen ihre Finger
auf einen halb vertrockneten und vernachläſſigten Ge¬
ranientopf legte, ward er noch verlegener. — Den
armen Topf habe ich auch vergeſſen, aber ich will
ihn doch begießen. — Gretchens Hand fuhr erſchrocken
zurück, ſie hatte ihn ja nicht von neuem beunruhigen
wollen. In dieſem Gefühle ließ ſie auch ein Bierglas
dicht an der Tiſchkante ſtehen, obgleich es ihr in
den Fingern zuckte, es ſicherer zu ſtellen. Der geringſte
Anſtoß mußte es hinunter ſtoßen.
Fritz aber, als ſie an der Wohnſtubenthür vor¬
bei kamen, nöthigte Gretchen, den Vater zu begrüßen.
Er machte die Thür auf, der Alte lag im Lehnſtuhl
mit geſchloſſenen Augen. Heller Sonnenſchein lag
auf dem friedlichen Geſichte, er ſchlug die Augen auf,
und als er Gretchen und Fritz vor ſich ſtehen ſah,
meinte er, ſein Lieblingstraum ſei Wirklichkeit gewor¬
den; ſein Geſicht verklärte ſich. Ach Gretchen! rief
er aus und ſtreckte ihr beide Hände entgegen. Fritz
aber wandte ſich zum Fenſter. Sein Vater hätte ja
ſchon ſo glücklich ſein können, wer weiß denn, wie
viele Tage er noch zu zählen hat! Aber er ſoll glück¬
lich ſein, Gretchens Hand ſoll ſeines Lebensabends
pflegen. Ja, ja! ſprach ſein Herz, und ſein Auge
folgte dem Sonnenſtrahle hinan zum blauen Himmel,
und alle Qual und Unruhe war aus ſeinem Herzen
verſchwunden.
Daß Fritz in den letzten Tagen beſonders unru¬
hig, zerſtreut und traurig geweſen war, hatte ſeinen
Grund. Eines Nachmittags hatte er in einer der
Hauptſtraßen neue Meubel abzuliefern. In demſelben
Hauſe war unten ein Buchladen, und als Fritz oben
ſein Geſchäft beendet, trat er unten in den Laden.
Die Herren darin kannten den jungen Tiſchlermeiſter
wohl, und ſahen es gern, wenn er ſich hin und wie¬
ter hübſche Bücher anſah, denn nicht ſelten kaufte er
auch davon. Heute hatte er ſich beſonders feſtgeblät¬
tert und feſtgeleſen, und es war ſchon tiefe Dämme¬
rung, als er den Laden verließ. Sein Weg führte
ihn vor dem Schauſpielhauſe vorbei. Trotz der Kälte
war es hier ziemlich belebt, und zu ſeinem Schrecken
erkannte er zwiſchen den Leuten Klärchen am Arme
eines Mannes. Er konnte nicht widerſtehen, er mußte
erfahren, wer das ſei. Nach einigem Hin- und Her¬
wenden gelang es ihm, das Geſicht des Mannes zu
ſehen, er war jung und ſchön mit dunkelblondem Haar
und einem großen Schnurrbart. Plaudernd ging das
Paar in das Haus, Fritz folgte ihnen, er ſchämte
ſich, aber er konnt‘ es nicht laſſen. Vom Parterre
aus entdeckte er bald Beide in einer halbdunkeln Par¬
quetloge. O wie vertraulich ſie mit einander waren!
Er blieb nicht lange, er hatte bald genug geſehen.
Im Hinausgehen fragte er einen Zettelträger, wer
der blonde Herr mit dem Schnurrbart ſei. Graf
Bründel, war die Antwort. Graf Bründel! wieder¬
holte ſich Fritz. Den Namen hatte er wohl gehört: es
war der leichtſinnigſte, tollſte Offizier der Garniſon, —
Klärchen ſeine Geliebte! — Dieſe Gedanken hatten
ihn in den Tagen beſchäftigt, als Benjamin krank
war; darüber hatte er Alles um ſich her vergeſſen.
Aber ſein Herz ſollte nun geheilt werden, und er ſann
nur auf Mittel, wie der Armen wohl noch zu hel¬
fen ſei.
Klärchen aber fühlte ſich nicht arm, nein, un¬
endlich reich, ſie liebte und ward wieder geliebt —
und von einem vornehmen Manne ward ſie geliebt.
Wie ſchön, wie fein und galant war ihr Graf; er
hing an ihren Blicken, ſie hatte nur über ihn zu be¬
ſtimmen! — Als der Sohn der Generalin ſie damals
ſo plötzlich aufgegeben, war ſie — wie ſchon erzählt —
ſehr unglücklich, doch nicht lange. Sie ſah ſich bald
nach Troſt um, ihr Herz war einmal des leichtfertigen
Spiels gewohnt, es konnte jetzt nicht mehr ohne daſ¬
ſelbe beſtehen. In dieſer Stimmung traf ſie der erſte
Brief des Grafen Bründel. Mit Entzücken ward die
Sache angeknüpft, ihr heißes Herz war lange nicht
ſo ſpröde, als mit dem Mediziner, ſie meinte es dies¬
mal auf eine andere Weiſe verſuchen zu müſſen, und
hatte die feſte Ueberzeugung, es könne ihr diesmal
nicht fehlen. Vier Wochen waren im ſüßen Taumel
vergangen. Frau Krauter machte ſich kein Gewiſſen
daraus, die Zuſammenkünfte der jungen Leute zu be¬
günſtigen. Der Graf hatte meiſtens eine volle Börſe,
und ſie führte ein herrliches Leben dabei. Er hatte
auch verſprochen, ſich mit Klärchen trauen zu laſſen,
und Mutter und Tochter glaubten daran; ja, Klärchens
Klugheit war dem Sinnenrauſche ganz gewichen. Sie
dachte nicht an die Zukunft, ſie wollte nicht an die
Zukunft denken, die Gegenwart war zu ſüß. Im
Theater war ſie öfters geweſen, und in künftiger
Woche wollte der Graf ſie auf eine Redoute im Thea¬
terlokale führen. Das war der Höhepunkt alles Ver¬
gnügens. Seit vierzehn Tagen ſtudirte Klärchen in allen
Modeblättern und durchſtöberte Läden, wo Masken¬
anzüge verliehen wurden. Endlich hatte ſie ſich für
eine Diana entſchieden, aber unbedingt mußte dazu
ein grüner Sammetüberwurf angeſchafft werden, der
eigens ihrer ſchlanken Geſtalt angemeſſen war. Woher
aber das Geld dazu nehmen? Es war gerade Ebbe
in allen Kaſſen, die Mutter hatte ſchon einige Male
nach neuen Zuſchüſſen geſeufzt, aber der Graf hatte
keine Anſpielung verſtanden, weil er gerade ſelbſt nichts
hatte. Borgen konnte Klärchen nicht mehr, denn in
allen Läden faſt hatte ſie Plemperſchulden, auch Au¬
guſte Vogler bekam beinahe zwei Thaler. Die Schul¬
den machten ihr weiter keine Sorgen, ſie hätte es
längſt bezahlen können und würde auch bald wieder
Geld die Fülle haben, es war nur dieſe augenblick¬
liche Verlegenheit. Den ächten Sammetüberwurf hatte
ſie ſchon aufgegeben, es brauchte auch nur ein un¬
ächter zu ſein, und dazu gehörten kaum einige Thaler.
Bei dieſem Grübeln führte ihr der Teufel immer den
vollen Geldkaſten im Schreibtiſch der Generalin vor.
Stehlen? nein! ſie entſetzte ſich vor dem Gedanken.
Vermiſſen würde freilich die Generalin eine ſo kleine
Summe nicht, denn ſchon öfter hatte ſie mit Klärchen
geſonnen, ob ſie nicht einige Poſten in ihr Haushalts¬
buch einzutragen vergeſſen hätte, und ſich bald beru¬
higt, wenn ſie die Summe nicht finden konnte. Der
Gedanke kam wieder und immer wieder, je näher die
Zeit der Redoute heranrückte. Für einige Tage we¬
nigſtens könnteſt du das Geld nehmen und legſt es
wieder hinein, flüſterte ihr der Böſe zu. Sie wider¬
ſtand nicht, was hätte auch in ihr widerſtehen ſollen?
Die Klugheit, ihre einzige Waffe, mit der ſie ſich vor
Sünde und Untergang ſchützen wollte, rieth ihr gerade
den Schritt. Du entlehnſt es nur, du nimmſt es
nicht, ſagte dieſe Klugheit; dazu erfährt es Niemand,
und das grüne Sammetgewand iſt nothwendig zu dei¬
5
nem Glücke. Am anderen Morgen machte ſie das
bekannte Manöver mit dem Schlüſſel. Ihre Hände
zitterten, als ſie in den Kaſten griff, und angſtvoll
ſchlug ihr Herz. Doch als ſie den Abend bei der
Mutter war und vor dem Spiegel den grünen Sam¬
met probirte, zitterte ſie nicht mehr. Ja, als ſie einige
Tage darauf an des Grafen Arm durch die Reihen
flog, als ihre Geſtalt laut bewundert, ihre Schönheit
geprieſen ward, da ſchwieg das Gewiſſen ganz und
gar. Der Graf gab ihr den Abend noch einiges Geld,
denn ſie geſtand ihm, daß ſie Schulden hätte, und
Guſtchen Vogler war ſchon ungeduldig geworden. Zu¬
erſt ſollte aber die Summe in den Schreibtiſch der
Generalin gelegt werden, ſo war es ihre Abſicht. Da
ſie am andern Morgen ſpäter als gewöhnlich aufſtand,
mußte ſie es bis zum nächſten verſchieben. Den Tag
aber überlegte ſie ſich die Sache noch einmal. Die
Generalin hatte nichts gemerkt, ſie war gleich freund¬
lich und gütig, von der Seite war Klärchen ſicher.
Sie nahm ſich daher vor: lieber erſt die kleinen Schul¬
den in den Kaufläden zu bezahlen, um bei nächſter
Gelegenheit wieder borgen zu können. Als ſie mit
dem Reſt ihrer Summe im letzten Laden ſtand, be¬
merkte ſie mit Schrecken, daß dieſe Summe nicht aus¬
reiche. Noch dazu hatte ſie groß gethan, von Bezah¬
len geſprochen, und der älteſte Diener gerade hatte
ihr die Summe ausgezogen, mit der höflichen, aber
doch ernſten Bemerkung: daß es eigentlich nicht erlaubt
ſei, Damen in ihrer Stellung ſolche Vorſchüſſe zu
machen. Klärchens Hochmuth regte ſich gewaltig, die
Summe mußte um jeden Preis bezahlt ſein. Sie, die
künftige Gemahlin eines Grafen durfte ſich ſo etwas
nicht gefallen laſſen. Sie nahm die Rechnung und
verſicherte, in einigen Minuten wieder da zu ſein.
Zu Guſtchen Vogler ging ihr Weg. Guſtchen mußte
das Geld geben. Sie verſprach heilig, es ihr am an¬
deren Morgen um zehn Uhr wieder zu übergeben.
Guſtchen war gutmüthig; ſie gab das Geld, verſicherte
aber, wenn ſie am anderen Morgen es nicht wieder
bekomme, mache ſie Lärm bei der Generalin. Mit
Triumph bezahlte Klärchen die Rechnung und bemerkte
ſchnippiſch: es gäbe Läden, wo Damen ihrer Stellung
ganz gern geſehen würden. Darauf ſchrieb ſie gleich
bei der Mutter einen Brief an den Grafen, den dieſe
eiligſt beſorgen mußte. Es war das erſte Mal, daß
Klärchen Geld forderte, aber Noth bricht Eiſen, und
dieſer Aufforderung konnte er gewiß nicht widerſtehen.
Mit klopfendem Herzen wartete ſie auf der Mutter
Rückkehr; dieſe aber brachte den traurigen Beſcheid:
der Graf ſei nicht zu Hauſe. Die Mutter verſprach:
ſo oft hinzugehen bis ſie ihn ſpreche, und bis mor¬
gen früh um zehn das Geld anzuſchaffen. Der Abend
verging, der Morgen verging, die Mutter kam nicht.
Endlich brachte ſie den Beſcheid, der Graf ſei geſtern
ſpät Abends nach Haus gekommen, aber heut früh
verreiſ't. Klärchen war außer ſich, Guſtchen kam dazu
und wurde mit den heiligſten Verſprechungen bis mor¬
gen vertröſtet. Noth bricht Eiſen, dachte Klärchen,
morgen früh hole ich Geld aus dem Schreibtiſch; hat
ſie es einmal nicht gemerkt, wird ſie es das andere
Mal auch nicht merken. Den Abend mußte die Mut¬
ter noch einmal nach dem Grafen ausſehen. Er war
5 *
noch nicht zurück, und Klärchen ging am andern Mor¬
gen mit großer Beſtimmtheit an ihr Werk. Diesmal
war ſie kühner. Sie nahm nahe an drei Thaler und
wollte eben den Kaſten wieder ſchließen, als ſich die
Thür hinter ihr öffnete, und die Generalin herein trat.
Klärchen ſchrie laut auf. — Alſo doch! ſagte die
Generalin. Klärchen hielt beide Hände vor das Ge¬
ſicht. Ihre Sinne wollten ſchwinden.
Klärchen! ſagte die Generalin, ich habe ſchon
vor acht Tagen gemerkt, daß Jemand bei meiner
Kaſſe geweſen; ich war aber meiner Sache nicht ge¬
wiß und beſonders wollte ich nicht glauben, daß Sie
der Dieb ſeien.
Dieb! ſchluchzte Klärchen, ich wollte nicht ſtehlen,
ich wollte das Geld wieder hineinlegen.
Thörichte Reden! entgegnete die Generalin be¬
ſtimmt. Sie haben geſtohlen, haben auf ganz abſcheu¬
liche Weiſe mein Vertrauen gemißbraucht; nichts kann
Sie jetzt vor einer gerichtlichen Unterſuchung retten,
als wenn Sie mir ganz der Wahrheit gemäß ihren
Frevel geſtehen und auch die Beweggründe dazu. Ue¬
berhaupt muß ich jetzt Ihren ganzen Lebenswandel
kennen lernen, von dem ſich in der letzten Zeit ſehr
ſchlimme Gerüchte verbreitet haben.
Klärchen war in einer entſetzlichen Lage. Aller
Hochmuth, aller Stolz war dahin. Die Sünde iſt
feig, Furcht folgt ihr auf den Ferſen. Furcht war
es, die Klärchens Weſen durchzitterte; ſie dachte an
ihre Liebe, an den Grafen, freilich ihm zu Liebe war
ſie ja eine Diebin geworden; ſie dachte aber an ihre
Freundinnen, an Tante Rieke. Ja ſie bekannte, ſie
ſchilderte ihre erhabene Liebe zum Grafen. Wenn er
nicht verreiſt war, hätte ſie das zweite Geld nicht ge¬
nommen, ja ſie würde das erſtgenommene Geld wieder
hinzugelegt haben. Seine Liebe war ſo großmüthig
gegen ſie. Alles, was ihm gehörte, war auch das
Ihre; ja er hatte verſprochen, ſie zu heirathen.
Die Generalin erwiederte ihr, daß ſie ein armes,
getäuſchtes Mädchen ſei, daß es aber allen Leichtſinni¬
gen ſo gehe. Wie würde ein achtbares Offiziercorps
es je dulden, daß der Graf ein Mädchen heirathe,
wie ſie!
Klärchen ſah die Sprecherin groß an bei dieſen
Worten. Wie ich? fragte ſie leiſe.
Ja wie Sie! wiederholte die Generalin. Sie
haben ſich des Abends auf der Straße umhergetrieben,
Sie gelten in der Stadt als eine leichtfertige Koquette,
und der Graf iſt nicht Ihre erſte Liebe.
Klärchen ward roth. Sollte die Generalin vom
Mediziner wiſſen? Oder wollte ſie nur verſuchen, die
Wahrheit zu erfahren? Zu jeder andern Zeit würde
ſie geleugnet haben, jetzt aber war ſie von der Furcht
beherrſcht: ſie ſchwieg zu dieſer Beſchuldigung und be¬
gann nur, die Generalin wegen ihres Fehlers, wie
ſie die Entwendung des Geldes nannte, um Verzei¬
hung zu bitten.
Die Generalin hielt ihr eine lange Rede, ſtellte
ihr die Folgen eines ſolchen Lebenswandels vor, die
allerdings anders ausſchauten, als Klärchens Bilder
von der Zukunft. Zugleich aber verſprach die nach¬
ſichtige Dame, von der Sache nicht zu reden und Klär¬
chen bis Oſtern ruhig im Dienſt zu behalten. Da
Sie aber wahrſcheinlich zu ſchwach ſind, ſchloß ſie
dieſe Unterredung, das Verhältniß mit dem Grafen
aufzulöſen, ſoll das von ſeiner Seite geſchehen; er
ſoll es erfahren, wohin ſein Leichtſinn ein armes un¬
glückliches Mädchen gebracht hat, er ſoll es erfahren,
daß er Sie zur Diebin machte.
Dies Letzte brachte Klärchen faſt zur Verzweiflung,
ſie flehte, ſie bat, — aber vergebens, die Generalin
blieb bei ihrem Vorſatz, und Klärchen mußte endlich
das Zimmer verlaſſen. Ihr Erſtes war nun, ſelbſt an
den Grafen zu ſchreiben; ſie ſchilderte ihr Unglück,
ihre Liebe, ihre Verzweiflung, wenn er ſie verließe.
Sie benetzte den Brief mit Thränen, daß die Schrift
kaum zu leſen war, und gerade als ſie ihn geſiegelt
hatte, trat ihre Mutter ein.
Du kommſt wie ein Engel des Himmels, ſagte
Klärchen, Du mußt ſchnell den Brief zum Grafen
tragen.
Iſt nicht nöthig, ſchmunzelte die Mutter, ich
habe das Geld ſchon.
O Gott, ſtammelte Klärchen, ſo wäre es gar
nicht nöthig geweſen! Sie bedeckte das Geſicht mit
beiden Händen und weinte heftig. Hätte ſie doch nur
noch eine Stunde gewartet, ſo wäre das Unglück nicht
über ſie gekommen! Die Mutter war außer ſich über
den Schmerz der Tochter, ſie forſchte, ſie tröſtete, ſie
erzählte, wie ſie geſtern Abend noch ſpät zum Grafen
gelaufen, wie ſie ihn auch da nicht gefunden, wie ſie
ihn aber heut früh im Bette getroffen, und er das
Geld habe herausrücken müſſen. Er brummte freilich
ein Bißchen (ſetzte die Mutter hinzu), und meinte,
das ginge über ſeine Kräfte.
Sagte er das? entgegnete Klärchen heftig. O
trage ihm das Geld wieder hin, und meinen Brief
dazu; ſage ihm: ich wolle nichts weiter, als ſeine
Liebe, und er ſolle gleich antworten. Aber geh' gleich,
Mutter, und komm gleich wieder.
Die Mutter verſtand von Allem nichts, ſie ſchüt¬
telte den Kopf, ſie wußte nur: Guſte Vogler würde
kommen, um das Geld zu holen, und die würde nicht
wenig Lärm machen, wenn ſie nichts bekäme. Sie
redete alſo der Tochter zu. Ihr Liebesleute, ſagte
ſie, da zankt Ihr Euch nun und macht Euch unnöthig
Noth. Nimm ruhig das Geld und bezahle Deine
Schulden, ich will ihn heut Abend zu uns beſtellen,
da könnt Ihr Euch verſöhnen. Klärchen, laß Dich
die Liebe nicht verblenden! Der Graf entſchlüpft Dir
noch wie mein Rechtsgelehrter.
Klärchen wollte eben auffahren, als es an der
Thür klopfte. Guſte! ſagte ſie leiſe und ſah dabei
unwillkürlich auf das Geld in der Mutter Hand.
Soll ich? fragte dieſe.
Ja, entgegnete Klärchen ſeufzend, bezahle nur,
aber geh' vor die Thür, ſag', ich ſei krank.
Die Mutter ging und die Sache war bald abge¬
macht. Jetzt aber mußte ſie die Beſorgung des Brie¬
fes an den Grafen übernehmen; ſie verſprach, gewiß
nicht ohne Antwort wieder zu kommen.
Aber ſie kam doch ohne Antwort. Der Graf
war ſchon im Dienſt geweſen, und Frau Krauter zum
Nachmittag wieder hinbeſtellt. Klärchen verlebte qual¬
volle Stunden, ſie hatte ſich zu Bett gelegt, um nur
nicht Leuten in das Geſicht ſehen zu müſſen. Hier
lauſchte ſie jedem Fußtritt auf der Treppe. Sie machte
ſich wunderliche Phantaſien. Wenn er ihren Brief
lieſ't, wird ſein Herz zerſchmelzen, er wird ihr Unglück
nicht ertragen können, er wird ſelbſt zu ihr kommen,
er wird trotzen der Welt und der Generalin und wird
ſie ſelbſt tröſten, beruhigen und ihr aus dem Wirr¬
warr helfen. — Aber wie ward ihr, als die Mutter
in der Dämmerung zu ihr eintrat mit dem kalten Be¬
ſcheid: Der Graf ſei ſehr verdrießlich geweſen, er habe
von einem zweiten Briefe geſprochen, von ſchrecklicher
Unvorſichtigkeit, von kaum zu löſenden Unannehmlich¬
keiten, er müſſe ſich die Sache überlegen und wolle
morgen Beſcheid ſchicken.
Das war ein Todesſtoß für Klärchen. Sie fühlte
ſich in einer ſolchen Nacht des Unglücks, daß ſie kei¬
nen Gedanken faſſen konnte, ſie fühlte nur, die Sache
mit dem Grafen ſei aus. Sie blieb auch den folgen¬
den Morgen im Bett liegen, ſie konnte nichts anders
thun, als weinen und das ſollte Niemand ſehen. Zu¬
weilen kam der Hoffnungsſchimmer: die Mutter könne
doch noch einen tröſtlichen Brief bringen, ſie dachte
wenige Tage zurück, wie ſeine Liebe da ſo heiß, ſeine
Verſprechungen ſo heilig, ſo für die Ewigkeit geweſen;
aber ſie bedachte nicht, daß alle ſolche Betheurungen
nur Teufelswerk ſind, die wie Seifenblaſen verwehen;
ſie gehörte zu den Tauſenden von thörichten Jung¬
frauen, die ſolchen Verſicherungen trauten.
Doch lange blieb ſie nicht in Ungewißheit. Die
Mutter kam mit dem Briefe, und der war wie ſie
bei ſolchen Gelegenheiten auch zu Tauſenden geſchrieben
werden. Noch Verſicherungen heißeſter Liebe, aber
man muß der Nothwendigkeit, der Pflicht, der Ehre
weichen, wenn auch das Herz darüber bricht. — Klär¬
chen las und weinte, und weinte und las wieder, und
blieb den Tag im Bett liegen. So viel Beſinnung
nur hatte ſie, den größeren Theil der Goldſtücke, die
der Graf mitgeſchickt, für ſich zu behalten und der
Mutter nur den kleineren zu geben.
Der März war gekommen, der Schnee geſchmol¬
zen, und die warme Frühlingsſonne ſchien auf die
belebten Straßen. Klärchen hatte unter dem Vorgeben,
ſie ſei krank, das Haus 14 Tage lang nicht verlaſſen;
eigentlich aber fürchtete ſie ſich ihren Bekannten zu
begegnen, und beſonders der Tante Rieke. Die Mut¬
ter hatte vorläufig der Tante vom Dienſtwechſel ſagen,
und als Grund dazu angeben müſſen: Klärchen könne
das Sitzen nicht vertragen, ſie hätte ſich darum nach
einem Dienſt umgeſehen, wo ſie mehr Bewegung
hätte.
Eines Tages nun ging Klärchen aus, um Be¬
ſorgungen für die Frau Generalin zu machen. Die
Sonne ſchien ſo warm, Kinder ſpielten luſtig auf der
Straße, vom nahen Exerzierplatz klang laute Muſik
zu Klärchens Ohren. Klärchen aber war betrübt und
verbittert; gerade das fröhliche Treiben überall, das
luſtige Ausſehn der ganzen Welt war ihr unangenehm.
Noch unangenehmer aber war es ihr, daß Tante Rieke
ihr entgegen kam. Ausweichen konnte ſie nicht, ſie
mußte ſich alſo auf eine ernſte Unterredung gefaßt
machen. Die Tante war aber nicht ſo ſchlimm, als
ſie gefürchtet.
Du ſiehſt recht blaß aus, ſagte ſie theilnehmend,
mußt doch recht krank geweſen ſein.
Klärchen erzählte ſo gut wie möglich und fügte
hinzu, daß der neue Dienſt im Hotel Reinhard gewiß
paſſender für ſie ſein würde.
Aber ein Gaſthof! ſagte die Tante.
Ich habe mit dem Gaſthofsleben gar nichts zu
thun, entgegnete Klärchen, ich bin die Mamſell, die
allen Kaffee und Zucker unter ſich hat, ich habe das
Frühſtück auf die Zimmer zu ſchicken, und die Wäſche
unter mir. Dazu bekomme ich 60 Thaler Gehalt
und viele Geſchenke.
Es ward ihr nicht ſchwer die Tante zu beruhi¬
gen. Im Sprechen hatten ſie der Tante Haus erreicht.
Klärchen mußte mit eintreten. Gretchen ſtand in der
Stube und haſpelte. Was iſt das langweilige Arbeit,
wenn die Sonne ſo warm in das Fenſter ſchaut und
einen immer in das Freie ruft! ſagte ſie; aber es
iſt nun das Letzte und wir machen Schicht mit dem
Spinnen. — Bei den Worten beugte ſie ſich über
einen Topf mit blühenden Schneeglöckchen, als ob ihr
der Anblick neue Kraft zu ihrer Arbeit geben ſolle.
Wo haſt Du denn ſchon die hübſchen Blumen
her? fragte Klärchen.
Von Benjamin, entgegnete Gretchen, und ward
roth dabei, denn ſie wußte, daß Fritz Buchſtein die
Blumen in den Topf geſetzt hatte, und das war ihr
das Schönſte daran. Benjamin iſt wieder geſund, er
hat die Blumen in ſeiner Stube zur Blüthe gebracht
und ſie mir dann geſchenkt. Und ſieh nur die weißen
Blümchen, wie ſie ſo rein und zart daſtehen und ihre
Köpfchen ſo ſtill niederbeugen. Ich mag keine Blumen
lieber, als die Schneeglöckchen, und Benjamin hätte
mich durch nichts mehr erfreuen können.
Klärchen ſtimmte mit Worten ein, aber ihr Herz
war matt, ſie konnte ſich nicht über Blumen freuen.
Jetzt bin ich fertig! ſagte Gretchen fröhlich, nun
hilf mir, Klärchen, Erbſen legen und Salat ſäen.
Ein Hauptſpaß iſt es, die Sachen alle recht früh zu
haben. — Sie ſetzte einen Nankinghut auf, nahm
den bereit ſtehenden Samen und ging der Tante und
Klärchen voran.
Der Himmel war lichtblau, weiße Frühlings¬
wölkchen zogen daran, der Erdboden war braun und
friſch, die Veilchen legten ihre ſeidenen Blättchen aus¬
einander, die Stachelbeerbüſche hatten einen grünen
Schimmer, der Buchfink ſchlug, Spatzen lärmten, Tau¬
ben girrten auf den Dächern, und in den Nachbars¬
gärten ward gearbeitet, geplaudert und geſungen. Auch
Benjamin ſchaute zum Fenſter hinaus, der Matz ſaß
ihm auf der Schulter und rief: „Jungfer Gretchen,
ſo recht.“ Gretchen rief: er ſolle ſchweigen, ſeine
häßliche Stimme paſſe nicht zum Frühling. Benjamin
aber flüſterte dem Vogel etwas zu, und der ſchnarrte
ſein „Racker, Spitzbub“ mit ſo vielem Eifer, daß
ſelbſt Fritz Buchſtein das Fenſter ſeiner Werkſtatt auf¬
machte und Ruhe gebot. Doch er trat auch in den
Garten und ſah über das Staket hinüber, Gretchen
bei der Arbeit zu. Daß Klärchen dabei war, zog ihn
wohl auch hinaus, aber es machte ihn nicht mehr
verlegen, nein, der Herr hatte ſeine Gebete erhört und
ſeinem Herzen Ruhe gegeben; nur eine Theilnahme
für das arme unglückliche Mädchen fühlte er noch.
Er wußte ihr Schickſal mit dem Grafen ziemlich ge¬
nau. Wenn ſie doch jetzt noch umkehrte! dachte er,
ihre Bläſſe und ihr Stillſein waren ihm eine Beru¬
higung.
Doch Gretchen ließ ihn nicht lange bei dieſen
Gedanken, ſie war ſo friſch und fröhlich, ſein Herz
freuete ſich über ſie. Als Benjamin ſie neckte wegen
der ſchiefen Reihen auf dem Erbſenbeete, ſchwang ſich
Fritz am alten Fliederbaume über das Staket und
übernahm ſelbſt das Amt des Reihenziehens. Frau
Bendler ſtand glücklich dabei, und der alte Buchſtein,
der am Stock geſtützt, ſich von der Frühlingsſonne
wärmen ließ, ſchien ſich noch mehr zu erwärmen am
Anblick ſeines glücklichen Sohnes und des braven Gret¬
chens.
Klärchen konnte es nicht aushalten zwiſchen dieſen
glücklichen Menſchen. Fritz Buchſtein liebt die Grete,
das iſt richtig. Gretchen kam ihr heut ordentlich hübſch
vor. Und Fritz? den hatte ſie längſt zu gut für die
Grete gefunden. In dieſer Stimmung wandelte ſie
faſt etwas wie Reue an, den Fritz ſo ſchnöde behan¬
delt zu haben. Daß er ſie erſt geliebt, fühlte ſie zu
beſtimmt, und jetzt, wo ihr Glück in der vornehmen
Welt geſcheitert, konnte ſie ſich das Leben in einem
ſtattlichen Bürgerhaus an der Seite eines Fritz ſchon
möglich denken. Freilich müßte ſie ja dann ein from¬
mes, fleißiges, ordentliches Märchen wie Gretchen
ſein, flüſterte eine Stimme in ihrem Innern, und ihr
Gewiſſen regte ſich, Thränen liefen ihr über die blaſ¬
ſen Wangen.
Wieder einige Monate waren vergangen, der
Sommer war herrlich. Gretchen freute ſich erſt an
den Blüthenbäumen, dann an den duftenden Roſen.
Fritz hatte auch in ſeinem Garten Blumen gepflanzt
und geſäet, daß Alles luſtig durch einander blühte.
Benjamin hatte ſeine Freude an dem Paar, er neckte
ſie aber auch und war kühn in ſeinen Neckereien, denn
nach einem ſchönen, warmen Sommerregen brach plötz¬
lick ein F. und G. aus der braunen Erde heraus und
war bald in krauſer grüner Kreſſe ſehr deutlich zu
leſen. Seinen Staarmatz lehrte er heimlich eine neue
Rede, und ſein Dompfaff ſang lieblicher als je: Lobe
den Herrn o meine Seele.
Auch Klärchens Thränen waren wieder getrocknet,
ihre Wangen wieder aufgeblüht. Das Gaſthofsleben
gefiel ihr wohl. Sie ward von den Fremden bewun¬
dert, man war galant gegen ſie, man ſchmeichelte ihr.
Daß dies keinen weiteren Einfluß auf ihr künftiges
Leben haben würde, wußte ſie, es waren Fremde, die
nach ein oder zwei Tagen abreiſten, und ſich nur amü¬
ſiren wollten. Sie war daher ſehr zurückhaltend und
wollte überhaupt mit vornehmen Leuten nichts zu thun
haben. Ihre Phantaſien waren aus dem Hochroman¬
tiſchen zur Idylle hinabgeſtiegen. Nur ein fühlendes
Herz und Bildung mußte der Mann haben, mit dem
ſie in einem kleinen Stübchen leben ſollte. Und einen
ſolchen Mann hatte ſie bald gefunden. Es war der
Oberkellner des Hotels; ſeine Bildung war untadel¬
haft, er ſprach engliſch und franzöſiſch, ging immer
in ſchwarzem Frack und weißer Halsbinde, und hatte
in ſeinem Weſen etwas überaus Vornehmes. Daß
ſie gerade mit ihrer Liebe Schiffbruch gelitten, kam
Herrn Eduard zu gute, denn bald war er ihrer Liebe
gewiß. Natürlich hatte er ihr vorher ſeine Verhält¬
niſſe klar auseinander geſetzt. Eigentlich konnten ſie
jetzt ſchon heirathen, er hatte 200 Thaler Zinſen und
ſtand ſich beinahe ebenſo viel im Dienſte: aber ſein
Streben ging nach einem eigenen Hotel, ſeine Kennt¬
niſſe, ſeine Bekanntſchaften mußten es ihm leicht ma¬
chen eines zu erhalten, ja, er war ſchon nach verſchie¬
denen Seiten hin in Unterhandlungen geweſen. Er
malte Klärchen die herrlichſte Zukunft. Sie, die Dame
des Hotels, ſollte ein Leben wie eine Prinzeſſin füh¬
ren, und ſchalten und walten nach Wohlgefallen.
Klärchen vergaß ganz die Vergangenheit und ward
wieder kühn in ihrem Auftreten, und ſehr ſelbſtgefällig
und mit ſich zufrieden. Zum 10. Auguſt, Klärchens
Geburtstag, hatten ſie ſich vorgenommen, die Verlo¬
bung zu veröffentlichen. Der Bräutigam hatte ihr im
Voraus einen roſa Taffethut und eine ſchwarze Atlas¬
mantille geſchenkt. Beides lag auf dem Sopha in ihrem
Stübchen, ein ächtes Batiſttuch und gelbe Glaceehand¬
ſchuh daneben. Es war am Vorabend des Geburts¬
tages, ſchon ganz ſpät dämmerig, ihre Stubenthür
war nur angelehnt, — da hörte ſie zwei flüſternde
Stimmen auf dem Korridor.
Thee will er haben, ſo mach doch nur! Er iſt
beſoffen, hat aber noch ſo viel Verſtand, daß er weiß,
was ihm noth thut.
Der kann was vertragen! entgegnete die andere
Stimme, ein anderer ehrlicher Menſch wäre den gan¬
zen Tag beſoffen, wenn er ſo viel tränke wie der.
Und ein Spitzbube iſt er dazu, ſagte wieder die
erſte Stimme; alle Monat hundert Thaler ſchlägt er
gewiß unter, und der alte Eſel merkt's nicht und hat
den Narren an ihm gefreſſen.
Die Stimmen entfernten ſich jetzt, Klärchen war
in beſonderer Aufregung. Wen meinten ſie? Wer war
der Spitzbube, der Betrunkene? Eine ſchreckliche Ah¬
nung ging durch ihre Seele. Sollte es Eduard ſein?
Schon einigemal hatte er ſo nach Wein geduftet, daß
ſie ihn darauf angeredet; er aber hatte gelacht und
gemeint, er wäre ein ſchlechter Kellner, wenn er den
Wein nicht probiren wolle, auch wäre es durchaus
nothwendig bei ſeiner anſtrengenden Lebensweiſe, ſich
zuweilen mit einem guten Schluck zu ſtärken. Daß
der Wein aber auch nur die geringſte Wirkung auf
ihn geübt, hatte Klärchen noch nie gemerkt. Sie fing
an ſich zu beruhigen: er iſt es doch wohl nicht. Nun
gar der Spitzbube! das konnte ja nicht auf ihn gehen,
er ſah ſo nobel aus, er ſprach ſo ſchön. Freilich
leichtfertig konnte er auch zuweilen reden, und näher
kannte ſie ihn nicht, und wußte nicht, wie es mit ſei¬
ner Moral beſchaffen. Dazu ſchlug ihr eignes Ge¬
wiſſen; ihre eigne Moral war doch eigentlich auch:
wenn es nur die Leute nicht wiſſen. Dieß, daß es
die Leute wußten, daß gewiß zwei Kellner die Reden¬
den geweſen, war das Unangenehmſte bei der Sache.
Sie mußte den Grund dieſes Geſpräches wiſſen, ſie
mußte aus ihrer Ungewißheit kommen, und verließ
deshalb ihr Zimmer. Im Vorbeigehen faßte ſie an
ihres Bräutigams Thür, die war verſchloſſen. Dar¬
auf ſah ſie in den Salon. Hier war er nicht. Sie
ging in die Küche und erkundigte ſich, für wen der
Thee beſtimmt ſei. Für Herrn Eduard, ſagte die Kö¬
chin unbefangen. Der Laufburſche, der mit dem Brett
und der Taſſe dabei ſtand, grinſete bei dieſen Worten
die Küchenmagd ſehr verſtändlich an. Klärchen mußte
ſich ſehr zuſammen nehmen, um ihre Bewegung nicht
merken zu laſſen; ſie konnte den Abend auf ihrem La¬
ger keine Ruhe finden. Wie entſetzlich, wenn er trinkt!
Sie dachte an ihren verſtorbenen Vater, wie der die
Mutter dadurch ſo unglücklich gemacht hatte, ſie ſah
um ſich noch lebende Beiſpiele genug. Selbſt der
alte Vogler, der ſonſt im Haus Alles gehen ließ, wie
es wollte, — wenn er betrunken nach Hauſe kam, war
die kranke Frau und die verzogene Tochter nicht vor
ſeinen Schlägen ſicher. Und wie mag es vielleicht
mit dem Gaſthof ſtehen? Ob die vorgeſpiegelten Hoff¬
nungen wohl Wahrheit ſind? So allein mit der Nacht
und mit ihren Gedanken, ward ihr ganz bange, und
— wunderlich genug, — Fritz Buchſtein und Tante
Rieke ſtanden Beide mit ihren ernſten Geſichtern und
ſtrafenden Worten vor ihrer Seele. Wenn der Gott,
von dem ſie ſo viel reden, dich doch für dein leicht¬
ſinniges Leben ſtrafen könnte? Wenn die Tante Recht
hätte mit ihrem Sprüchwort: Wie man's treibt, ſo
geht's? — Aber was ſollte ſie machen? Jetzt wieder
zurücktreten — das war unmöglich, ihr Ruf würde
darunter noch mehr leiden und ihre Zukunft ganz ver¬
loren ſein. Auch wird Eduard ſie nicht laſſen, er
liebt ſie zu ſehr, und ſie liebt ihn auch zu ſehr. Ja,
das iſt ihr Troſt. Dieſe Liebe muß ihn, ſollte er wirk¬
lich Fehler an ſich haben, beſſern. O, wie erhebend
iſt der Gedanke! Er iſt ſo weich, ſo nachgebend, ſie
kann ihn um den Finger wickeln, er wird ihr Alles
zu Liebe thun, ſie wird einen Engel von Ehemann
aus ihm machen. Dieſer Gedanke hat ſchon manche
Mädchen zu unglücklichen Frauen gemacht. Sie wollen
ihn beſſern, ihn ändern, ſie trauen ihrer ſchwachen
Kraft gar Großes zu. Solche Liebe hat noch keinen
Mann geändert; und je weichlicher und ſchwächer ſie
dieſer Liebe zu Füßen liegen, je weichlicher und ſchwä¬
cher geben ſie ſich wieder den alten Sünden hin. Einen
Menſchen ändern, dazu gehört eine andere Macht,
gehört die Kraft von oben.
Klärchen aber hatte ſich mit dieſen Gedanken be¬
ruhigt, und als am anderen Morgen Eduard mit ſei¬
ner gewöhnlichen Gewandtheit und Liebenswürdigkeit
vor ihr ſtand, war ſie wieder friſchen Muthes. Aber
ſagen mußte ſie ihm von dem Geſpräch — zur heilſamen
Warnung, rieth ihre Klugheit. Auch gab es ihr eine
Art von Uebergewicht über ihn, wenn ſie um ſeine
Fehler wußte. Sie erzählte es zwar in dem Sinne,
als ob ſie nicht an die Möglichkeit ſolcher Dinge
glaube; aber er mußte jedes von den erlauſchten Wor¬
ten hören. Eduard ward feuerroth und ſichtbar ver¬
legen, aber Zornesworte mußten die Verlegenheit ver¬
bergen; er wollte die Schurken verklagen, er wollte
6
ihnen den gottloſen Mund ſtopfen, es ſei Neid, und
ſo weiter. Im Grunde aber war er recht froh, daß
ihm Klärchen die Perſonen nicht nennen konnte. Eine
genaue Unterſuchung wäre ihm doch nicht gelegen ge¬
weſen. Die Anſchuldigung des Betrinkens erklärte er
damit, daß er geſtern Wein abgezogen habe, und daß
die kalte Kellerluft, nach der Schwüle oben im Haus,
ihm nicht wohl gethan, ſodaß er ſchwindlich und ohn¬
mächtig geworden. O, er that ſo erzürnt und erboßt,
daß ihm Klärchen die ſchönſten Worte geben mußte,
um ihn wieder zu beruhigen. Er ließ ſich auch beru¬
higen, und Beide unterdrückten durch ſüße Worte ihre
gegenſeitigen beängſtigenden Gefühle.
Gegen Mittag wanderten Beide zu Tante Rieke.
Klärchen hatte die Freude, daß man ihnen überall
nachſah, — wirklich ein ſchönes Paar! Er ſah wenig¬
ſtens aus wie ein Baron, und ſie nicht minder vor¬
nehm. Was wird die hausbackene Grete, was Fritz
Buchſtein ſagen? Grete wird gewiß verlegen dem vor¬
nehmen Manne gegenüber, und Tante Rieke macht
einen etwas tieferen Knix.
Aber ſie irrte ſich. Tante Rieke war allerdings
verwundert, Klärchen am Arme eines fremden Mannes
zu ſehen; und als dieſe den Namen nannte und ihn
als ihren Bräutigam vorſtellte, machte ſie ein ſehr
ernſthaftes Geſicht. Gretchen aber ſah dem Bräutigam
erſt forſchend und dann ganz erzürnt in die Augen.
Dieſer ward ſichtlich verlegen dadurch und wandte ſich
ab. Klärchen bemerkte das und wußte gar nicht,
woran ſie war. Die Tante unterbrach zuerſt die pein¬
liche Pauſe.
Klärchen, ich hätte geglaubt, du hätteſt uns nicht
ſo ſehr überraſcht mit einer ſo wichtigen Sache, ſagte
ſie mit einem leiſen Vorwurf im Tone.
Klärchen entſchuldigte ſich damit, daß es ſo ſchnell
gekommen, und mit Aehnlichem. Der Bräutigam hatte
während deſſen ſeine Faſſung vollſtändig wieder gewon¬
nen und ſpielte den Beleidigten.
Ich hoffe, daß Sie gegen meine Perſon nichts
einzuwenden haben, — ſagte er gereizt, — und daß
ich Ihnen ein willkommener Neffe bin. Meine Ver¬
hältniſſe ſind von der Art, daß ich mich Ihnen getroſt
als ſolcher nahen darf.
Verzeihen Sie, Herr Günther, entgegnete die
Tante ſanft, ich wünſchte nur, Klärchen hätte mehr
Zutrauen zu mir gehabt. Gegen Sie bin ich ganz
unpartheiiſch, denn ich verſichere Sie, daß Sie uns
ganz unbekannt ſind; weder ich noch meine Tochter
haben je Ihren Namen gehört.
Ich kenne den Herrn wohl, — ſagte Gretchen
jetzt leiſe, aber mit unverkennbarem ſcharfem Aus¬
druck.
Ich wüßte nicht, ſtotterte Eduard; vielleicht ſo
vorübergehend, vielleicht im Theater oder in einem
Kaffeegarten.
Gretchen ſchüttelte den Kopf und ſchwieg, und
Eduard ging leicht darüber hin und knüpfte eine leb¬
hafte Unterhaltung an. Tante Rieke aber blieb ziem¬
lich ſchweigſam, und Gretchen und Klärchen ſchwiegen
auch, bis zu aller Erleichterung der Beſuch ein Ende
hatte.
6 *
Auf der Straße konnte Eduard ſeinen Zorn nicht
verhalten. Das mußt Du verſprechen, ſagte er eifrig,
mit dieſen rohen, ungebildeten Leuten darfſt Du keinen
Verkehr haben. Sie haben mich unter aller Würde
behandelt, und was dieſer Stockfiſch, dies Gretchen
von mir wollte, begreife ich nicht.
Klärchen war auch ganz außer ſich. Wo waren
die Triumphe, die ſie erwartet hatte? Von Gretchen
ward ſie nicht beneidet, das fühlte ſie, — eher bemit¬
leidet; und dahinter mußte etwas ſtecken. Und daß
auch die Tante ſo wenig Freude über den vornehm
ausſehenden Bräutigam gezeigt, war ihr entſetzlich, ja
das Weinen war ihr nahe; und doch mußte ſie ſich
vor dem zornigen Bräutigam jetzt zuſammen nehmen.
Es war den Tag ſehr unruhig im Hotel, ſo daß
Beide wenig Gelegenheit fanden, ſich zu ſprechen.
Klärchen war ſehr damit zufrieden. Sie wartete nur
auf eine paſſende Zeit, um zur Tante ſchlüpfen zu
können und den Grund von Gretchens ſonderbarem
Weſen zu erforſchen. Als Eduard bei der ſehr zahl¬
reichen Abendtafel beſchäftigt war, führte ſie ihr Vor¬
haben aus. Sie fand die Tante und Gretchen in der
dämmernden Stube. Erſt wußte ſie nicht recht, wie
ſie beginnen ſollte, aber es half ja nichts und ſie bat
mit etwas ſtockender Stimme, ihr zu ſagen, ob ſie
etwas Unrechtes von ihrem Bräutigam wüßten. Gret¬
chen ſah verlegen vor ſich nieder.
Klärchen! begann die Tante, vor allen Dingen
möchten wir es Dir recht begreiflich machen, daß wir
es gut mit Dir meinen. — Bei dieſen Worten nahm
ſie Klärchens Hand und ſah ſie mit den ſanften brau¬
nen Augen recht herzlich an. Klärchens Herz war
leichtfertig, aber für die Stimme der Wahrheit hatte
ſie doch noch Gefühl. Ich glaube es, entgegnete ſie
und erwiederte der Tante Händedruck. Dieſe fuhr fort:
Kennſt Du Deinen Bräutigam genau?
Ich kenne ihn ſeitdem ich im Hotel bin, verſetzte
Klärchen. Ich weiß, daß er dem Herrn des Hauſes
Ein und Alles iſt, daß er eigentlich das ganze Ge¬
ſchäft führt und in Kurzem ſelbſt einen Gaſthof über¬
nehmen wird. Er hat Konnexionen, Vermögen, dazu
iſt er gebildet und von Allen, die im Gaſthofe aus-
und eingehen, geachtet und geliebt.
Das iſt wohl gut, ſagte die Tante; aber es ſind
nur äußere Dinge, und Du könnteſt bei alle dem
kreuzunglücklich werden. Weißt Du, ob er ein recht¬
ſchaffener Mann iſt, ob er ein braver Mann iſt, der
Gott mehr fürchtet, als die Menſchen?
Freilich hoffe ich, daß er ein rechtſchaffener Mann
iſt, und habe keine Urſache, das Gegentheil zu glau¬
ben. Und wißt Ihr etwas von ihm, ſo iſt's Eure
Pflicht und Schuldigkeit, es mir zu ſagen.
Der Tante gefielen dieſe Worte wohl, ſie meinte,
Klärchen liege ihres Bräutigams Rechtſchaffenheit gar
ſehr an der Seele; aber von der war es nur die bren¬
nende Begierde, etwas zu wiſſen, zu hören; ihr Stolz
war gedehmüthigt, ſie war innerlich erboßt, ſie hätte
mit der ganzen Welt hadern mögen.
Ich will Dir nun erzählen, was wir von Deinem
Bräutigam wiſſen, begann die Tante, Du kannſt dann
überlegen, was Du zu thun haſt. Im vorletzten
Winter, als ich am gaſtriſchen Fieber lag, mußte
Gretchen für mich manche Krankenbeſuche übernehmen.
Unſere ſchwerſte Kranke war damals ein Mädchen,
die ein Vierteljahr vorher ein Kind gehabt hatte und
jetzt an der Auszehrung elend darnieder lag, ſo arm
und verlaſſen, daß es ihr am Allernothwendigſten
fehlte, und unſer Verein kaum anſchaffen konnte, was
ſie gebrauchte. Bei ihrer äußeren Noth hatte ſie aber
auch innerlichen Jammer, ſie ſprach viel von dem
Vater ihres Kindes, was der ihr vorgeſpiegelt und
verſprochen, und wie er ſie jetzt in Hunger und Kum¬
mer umkommen laſſe. Oft hat Gretchen ihre Klagen
über den Menſchen mit anhören müſſen, und die Ur¬
theile und Schilderungen von ihm waren nicht fein.
Als das Mädchen immer elender ward und ihren Tod
vor Augen ſah, war ihr größtes Verlangen, ihren
Geliebten, wie ſie ihn denn doch in manchen Stunden
noch nannte, nur einmal noch zu ſehen. Eine Frau,
die ſchon früher die Unterhändlerin des Liebespaares
geweſen, ward zu wiederholten Malen abgeſchickt, aber
immer vergebens. Als nun Gretchen eines Tages hin¬
kömmt und die Kranke beſonders ſchwach findet und
ihr Troſt und Theilnahme zuſpricht, iſt dieſe untröſt¬
lich und ſagt nur immer, ſie müſſe Günthern noch
einmal ſehen. Gretchen hatte den Namen des Man¬
nes nie gehört und auch nie viel von der Geſchichte
wiſſen wollen. Als ſie ihr nun vorſtellt, wie ihr
Herz an einem Menſchen hängen könnte, der ſie ſo
ſchmählich verlaſſen und verſtoßen habe, wie ſie ſich
lieber dem Himmel zuwenden ſolle und dem Heilande,
der ſie nicht verſtoßen und verſchmähen würde, und
ſo Aehnliches, um ihren Sinn zu bewegen, da kömmt
die Frau herein, die immer an Günther abgeſchickt
war, und ruft: Er kommt, er kommt! Gretchen will
ſchnell gehen, aber der Mann ſteht in der Thür, ehe
ſie ſich deſſen verſieht. Er geht an das Bett, die
Kranke hat ſich zu ihm gewendet und ſagt: Ich ſterbe
nun, — und dazu weint ſie bitterlich. — Das iſt
meine Schuld nicht! entgegnet er barſch, und ich bin
heute gekommen, damit die Lauferei endlich ein Ende
hat. Was willſt Du nun? ich habe nicht viel Zeit
hier zu ſtehen. — Du haſt mich ſo elend umkommen
laſſen, ſchluchzt die Kranke wieder. — Ich? ruft er
da und ſetzt ihr auseinander, was er alles gegeben;
ſeine Schuld ſei es nicht, daß ſie krank geworden, und
ſie habe Verwandte, die mehr hätten als er, die ſoll¬
ten ſich nur um ſie bekümmern. — Die Kranke kann
vor Weinen nicht ſprechen, ſie will ſeine Hand neh¬
men, er aber zieht ſich zurück. Da kann ſich Gret¬
chen nicht mehr halten, tritt zu ihm, nimmt ſeine
Hand und legt ſie in die der Kranken und ſagt: Das
ſind Alles unnütze Reden, die Arme wird nicht lange
mehr leben und wollte nur Troſtworte, und nicht ſo
harte Worte von Ihnen hören. — Er iſt ganz er¬
ſchrocken, denn er hat Gretchen im erſten Eifer nicht
geſehen, und führt nun eine andere Sprache und läßt
auch einiges Geld dort. Nach zwei Tagen war das
Mädchen todt.
Die Tante ſchwieg. Klärchen war in höchſter
Aufregung. Sprechen konnte ſie nicht; ſie reichte der
Tante die Hand und ſtürzte zum Zimmer hinaus.
Die Tante wollte ihr nachrufen, aber ſie hörte nicht,
ſie lief mit eilenden Schritten über die Straße und
verſchloß ſich dann in ihrem Zimmer. Hier brach ſie
in Thränen aus. Ein abſcheulicher Menſch! ſolch ein
Verhältniß vorher zu haben! Sie wollte augenblicklich
mit ihm brechen, ſie wollte einen Mann haben, der
geachtet und geehrt ward von der ganzen Welt und
der beſonders weit über Tante Rieke und über Greten
ſtand. — So gingen ihre Gedanken anfänglich durch
einander. — Als ſie aber eine halbe Stunde geweint,
und ihre Thränen verſiegten, ward ſie ruhiger. Und
wenn die ganze Geſchichte wahr wäre, dachte ſie, was
hat er eigentlich verbrochen? Daß ich ſeine erſte Liebe
nicht bin, konnt' ich mir vorher denken. Er iſt ja
auch deine erſte Liebe nicht, entgegnete ihr Gewiſſen,
und du haſt ihm auch von allen Abenteuern nichts
geſagt. Das iſt eben der Fluch der Sünde: um die
eigene zu beſchönigen, mußte ſie auch die des Andern
entſchuldigen und ſo die Laſt beider tragen. Daß das
Mädchen ſo dumm war, ſich verführen zu laſſen, fuhr
ſie fort, iſt traurig, und es iſt ſchändlich von ihm,
die Arme ſo im Stich zu laſſen; aber gewiß war ſie
ein ganz unbedeutendes Weſen, die ihn nicht feſſeln
konnte, dir hätte ſo etwas nie paſſiren können. Das
einzige Unglück dabei iſt nur, daß es nicht verborgen
blieb, und daß gerade ihre Verwandten ſo tief hinein
blicken mußten. Ihrem Glücke konnte die Sache nicht
mehr hinderlich ſein, Mutter und Kind ſind todt.
Wenn ſie einſt Herrin eines großen Hotels iſt, es
bequem wie eine Prinzeſſin hat, dazu von dem Manne
geliebt und angebetet wird, was ſie Alles nicht be¬
zweifelte, ſo fehlte ihrem Glücke nichts. Die Sache
mit dem Aufgeben mußte doch überlegt werden, und
wer konnte denn wiſſen, ob in Wahrheit die Bege¬
benheit ſo ſchwarz war, wie die Tante ſie vorgetragen?
Die Tante ſieht Alles mit ſo ſtrengen Blicken an; in
den Stücken war ihr nicht zu trauen. Aber beichten
ſollte ihr Bräutigam, erfahren, daß ſie Alles wiſſe,
und um ſo demüthiger werden und ergebener. Als
er wie gewöhnlich nach den beendigten Geſchäften zu
ihr kam, fand er ſie ſo getröſtet, aber die Thränen
floſſen von Neuem bei ſeinem Anblick. Er, mit dem
böſen Gewiſſen, war beſonders weichherzig, forſchte
nach den Thränen und erfuhr nun die ganze Ge¬
ſchichte. Da ſchien ſein Zorn keine Grenzen zu haben,
er nannte Alles die abſcheulichſte Verleumdung, und
Gretchen ſammt der Tante maliziöſe Perſonen, die
abſichtlich eine Sache ſo verdreht hätten, um ihm
Klärchen abſpenſtig zu machen. Wer weiß, in wel¬
chen Winkel ſie ſie ſtecken möchten; ſie ärgern ſich,
ſie vornehmer und ſchöner zu ſehen, und ſo mehr.
Von der Kranken erzählte er: ſie ſei Hausmädchen
hier geweſen, und er habe allerdings ein kleines Lie¬
besverhältniß mit ihr gehabt, ſpäter ſei ſie fortgekom¬
men, ſei liederlich geworden und ſo herab gekommen.
In ihrer Noth habe ſie ſich zu ihm gewandt, und er
habe ſie hin und wieder unterſtützt, ja, er habe ſich
durch ſeine Gutmüthigkeit verleiten laſſen, einmal hin¬
zugehen, weil die Perſon ihm keine Ruhe gelaſſen. —
Und das iſt die Geſchichte, die Deine vortreffliche
Couſine ſo verdreht hat! ſchloß der Erzürnte. Du
mußt mir jetzt aber heilig verſprechen, mit den abſcheu¬
lichen Menſchen ganz und gar zu brechen, denn bei
ihrer Schlechtigkeit ſind ſie auch roh und ungebildet
und paſſen für uns nicht. Es iſt mir eigentlich recht
lieb, daß ſie die Veranlaſſung zu dieſem Bruche gege¬
ben haben. Nun ſind wir ſie los. Nach dem, wie
ſie mich behandelt haben, können ſie nicht verlangen,
daß ich je wieder einen Fuß über ihre Schwelle ſetze. —
Hierauf begann er ſeine Pläne für die nächſte Zukunft
zu entwickeln. Die malte er ſo glänzend, ſo herrlich,
daß Klärchen ſich völlig befriedigt fühlte und in alle
ſeine Vorſchläge einging. Um allen ferneren Intri¬
guen zu entgehen, wollten ſie noch vor dem Winter
heirathen und die Annahme eines eigenen Hotels gar
nicht abwarten. Günther hatte ſich eine kleine neue
Wohnung gerade gegenüber ſchon angeſehen, die ſollte
mit Mahagoni-Meubeln und allen möglichen Luxus¬
ſachen ausgeſtattet werden, und Klärchen ſollte da
allein ihre Wirthſchaft haben. Vierhundert Thaler
ſollte ſie jährlich bekommen, außer den Sachen, die
hin und wieder aus der Gaſtwirthſchaft abfielen. Als
Klärchen erwähnte, daß die Tante ihr, im Falle ſie
ſich mit deren Genehmigung verheirathe, eine Ausſtat¬
tung verſprochen, brauſete Günther von Neuem auf.
Wir brauchen Deiner Tante Ausſtattung nicht, ich
werde ihr ſchreiben: ich bedankte mich ſowohl für ihre
Verleumdungen, als für ihre Hochzeitsgeſchenke, ich
könnte ganz und gar ohne ſie beſtehen, ich würde ſie
nie wieder beläſtigen, würde aber auch meiner Frau
nicht erlauben ein Haus zu betreten, das ſo hinterliſtig
meine Ehre angegriffen. — Klärchen machte einige
Einwendungen dagegen. Wenn ſie die Tante auch
immer mehr gefürchtet, als geliebt hatte, auf dieſe
Weiſe wollte ſie ſie doch nicht beleidigen, weil die Tante
es immer gut mit ihr gemeint. Günther verſprach
den Brief nicht ganz ſo arg zu machen, aber, ſetzte
er hinzu, wenn wir ſie bei dieſer Gelegenheit nicht los
werden, wird ſie uns das ganze Leben plagen. In
dem Sinn ſprach er noch Mancherlei. Klärchen ließ
ſich bereden, und die Sache ſchien abgemacht. Am an¬
deren Abend aber kam Frau Krauter mit ſehr bedenk¬
lichem Geſichte. Tante Ricke hatte ſie zu ſich kommen
laſſen, ihr das Vorgefallene erzählt und ihr den Brief
mitgegeben, den Günther heut Morgen an die Tante
geſchickt. Klärchen ward heiß und kalt beim Leſen
dieſes Briefes; der war wenigſtens ſo grob, als Gün¬
ther geſtern Abend ſich vorgenommen hatte zu ſchrei¬
ben. Frau Krauter trug den Mantel auf beiden
Schultern; bei Tante Ricke hatte ſie geklagt über das
Unglück und über den Leichtſinn der Welt; hier redete
ſie anders, weil ihr im Grunde dieſe Verheirathung
der Tochter ſehr erwünſcht kam. Schon jetzt kam man¬
cher Biſſen aus dem Hotel zu ihr hin, ſchon jetzt hatte
ſie zeitweiſe ein herrliches Leben geführt, ſie erwartete
nun den Himmel von Klärchens eigenem Hotel. Als
ſie die Tochter böſe auf den Bräutigam ſah, redete
ſie gütlich zu. Jeder Mann hat ſeine ſchwache Seite,
und die Tante wird nicht ohne Schuld ſein. Wenn
Du auch einen Andern genommen hätteſt, ſie wäre
doch nicht zufrieden geweſen; denn ihr Geſchmack iſt
nicht Dein Geſchmack, und Du mußt es mit Deinem
Manne halten. Klärchen ſeufzte, und mußte der Mut¬
ter doch theilweiſe Recht geben. Entweder! oder!
hieß es jetzt, und da ſie den Bräutigam nicht fallen
laſſen wollte, mußte ſie von der Tante laſſen. Die
Mutter mußte ihr aber verſprechen, zur Tante zu ge¬
hen und ihr zu ſagen, wie unglücklich ſie über ihres
Bräutigams Brief geweſen; aber da ſie ihn zu ſehr
liebe und auch das Beſte von der Zukunft hoffe, müſſe
ſie ſich in ſeinen Willen fügen und den Umgang mit
der Tante für jetzt abbrechen, — doch nicht für lange,
denn er werde gewiß bald ſeinen Fehler einſehen und
die Tante um Verzeihung bitten.
Es war der 25. September. Klärchen ſtand vor
dem Spiegel und legte die roſa Schürze um den wei¬
ßen Mullrock, ſetzte ein roſa Häubchen auf und war
nun bereit, die Gäſte zum Chokoladenfrühſtück zu em¬
pfangen. Geſtern hatte ſie Hochzeit gehabt, war ſtolz
im weißen Atlaskleide zur Kirche gefahren und war
als ſchönſte Braut bewundert. Herr Reinhard hatte
darauf ſeinem Oberkellner ein Diner gegeben, und die
Nachfeier dieſes Diners war eine Abendgeſellſchaft in
der Wohnung der Neuvermählten. Ein Privatſekretair
mit ſeiner Frau, ein Detailhändler mit ſeiner Frau,
ein Rendant, Guſtchen Vogler, einige Handlungsdie¬
ner und Mutter Krauter waren die Mitglieder der
Geſellſchaft. Klärchen mußte ſich geſtehen, daß dieſe
Leute nicht zu ihren eleganten Zimmern paßten, aber
auch Günther war in dieſer Geſellſchaft ein Anderer,
als gegen die vornehmen Leute im Hotel. Er lachte
anders, er ſprach anders und ließ ſich in ſeinem gan¬
zen Weſen auf eine unangenehme Weiſe gehen. Frei¬
lich hatte er den Tag ungewöhnlich viel getrunken, und
das iſt bei ſo ſeltenen feſtlichen Gelegenheiten nicht zu
umgehen, tröſtete ſie ſich. Dieſelbe Geſellſchaft ſollte
heut Morgen ein Chokoladenfrühſtück nehmen. Klär¬
chen hatte Alles auf's Schönſte vorbereitet, die feinen
Taſſen ſtanden bereit, auf gemalten Tellern war Ku¬
chen und Torte ſervirt, und ſie ſelbſt ruhte jetzt wie
eine vornehme Dame im Sopha und erwartete ihre
Gäſte. Die Mutter war die erſte, die kam; ſie ſah
ſchmunzelnd auf Kuchen und Chokolade, ſetzte ſich
wohlgefällig in die andere Sophaecke und ſagte:
„Hätt' ich doch im Leben nicht geglaubt, daß es
Dir noch ſo glücken würde, Du kleiner Brauſekopf.
Immer wenn ich dachte, es war ſo weit, dann ging
Dein heißes Blut wieder durch. Gott ſei Dank, daß
wir nun eingelaufen ſind in den Hafen!
Klärchen lächelte. So hatte ſie doch wenigſtens
die Mutter, die ihrem Schickſal Weihrauch ſtreute, da
ſelbſt das eigne Herz ſich nicht recht dazu bequemen
wollte. Günther trat etwas bleicher als gewöhnlich,
aber guter Laune ein. Die Gäſte folgten bald, es
ward Chokolade getrunken, Frau Krauter ließ es ſich
von Allen am beſten ſchmecken; dagegen verſchmähte
der Schwiegerſohn ganz und gar dies ſüße Getränk.
Mir iſt heut mehr wie Weintrinken, ſagte er ſcherzend,
verließ das Zimmer und kam bald mit einem Arm
voll Flaſchen wieder. Die Herren ſchmunzelten, die
Frauen neckten auf nicht ſehr feine Weiſe, und Klär¬
chen ſah ängſtlich auf ihren Mann. Jedenfalls war
er ſchon im angeregten Zuſtande herüber gekommen,
denn ſie ſah, daß beim Einſchenken der Chokolade ihm
die Hände zitterten. Sie hätte gern Einſpruch gethan
gegen das neue Trinkgelage, aber erſtens ſcheute ſie
ſich, als Wirthin etwas zu ſagen, und dann wußte
ſie, daß Günther in ſolchen Dingen ſich nichts ſagen
ließ. Die Herrengeſellſchaft ward immer lauter, die
Frauen ſahen ſich bedenklich an. Klärchen klagte, daß
ihr Mann ſchon ſeit einigen Tagen unwohl ſei und
daß ihm der Wein ſehr ſchlecht bekommen würde. Er
ward auch immer bleicher, ſeine Hände zitterten auf¬
fallend, ſeine Zunge lallte. Doch war er nicht der
Schlimmſte. In der Ecke des Mahagoniſopha's ſchlum¬
merte der Rendant, und einer von den jungen Kauf¬
mannsdienern hatte ſich ſchon entfernt. Die Frauen
drangen jetzt auf die Auflöſung der Geſellſchaft. Das
war mit den angetrunkenen Männern nicht leicht zu
bewerkſtelligen, aber es gelang ihnen endlich, und
Klärchen war mit dem Mann und der Mutter allein.
Günther hatte ſich nicht beſinnungslos getrunken,
weil er viel vertragen konnte; er wußte, daß ihm
Schlafen jetzt das Beſte ſei und legte ſich zu Bett.
Die Mutter ging nach Haus, weil ſie nicht Luſt hatte,
Taſſen und Gläſer zu waſchen und aufzuräumen, und
Klärchen ſaß nun in der eleganten Stube allein. Sie
hatte aber auch nicht Luſt zum Aufräumen, ſie mußte
ſich erſt beſinnen von der vielen Unruhe, ſetzte ſich
auf den Sitz im Fenſter und ſchaute hinaus auf die
Straße. Der blaue Himmel und helle Sonnenſchein
lockte Spatziergänger in das Freie, auch vor dem Hotel
war es ſehr lebendig, Wagen fuhren, Wagen kamen,
und es war ganz unterhaltend, das anzuſehen. Ja
unterhaltend, aber nicht für Klärchen. Ihr Herz war
ſchwer, ohne daß ſie recht wußte, was ſie wollte. Sie
war nun am Ziel ihrer Wünſche, ſie konnte herrlich
leben und die vornehme Dame ſpielen. Die Mahagoni-
Meubel, der Sopha-Teppich, die gewirkte Tiſchdecke,
die Blumenvaſen, die goldgerahmten Bilder, ſie hätte
ſich nie eine ſchönere Wohnung träumen können, —
und doch war ſie nicht befriedigt und das war ihr ſo
unerträglich, ſie hätte weinen können. In dieſer Un¬
luſt an der ganzen Welt griff ſie zu einem Roman,
der auf dem Arbeitstiſch lag und aus ihrer Stube im
Hotel mit herüber gewandert war, und ſuchte ſich we¬
nigſtens zu zerſtreuen.
Als Günther nach einigen Stunden wieder zum
Vorſchein kam, murrete er etwas, noch Alles ſo in
Unordnung zu finden. In ſeinem Kellner-Eifer räumte
er ſelbſt gleich Flaſchen und Gläſer bei Seite. Klär¬
chen verſicherte, im höchſten Grade angegriffen zu ſein,
und ſein böſes Gewiſſen hieß ihn ſchweigen, aber der
eheliche Himmel hing nicht ganz voller Geigen.
Fritz Buchſtein ging im Garten auf und ab. Die
Sonne warf ihre letzten Strahlen nur noch an das
blaue Schieferdach des Kirchthurmes, aber herrliches
Abendroth, wie es den Herbſtabenden eigen, flammete
über der Scheuer hinauf. Zwiſchen gelbem Laub und
verkommenen Zweigen blühten noch allerhand liebliche
Blumen, die Pflaumen hingen blau an den Bäumen,
Aepfel- und Birnenbäume ſenkten die ſchweren Zweige
und ſahen der Ernte entgegen, auf dem Nachbarshofe
ward ein Fuder Kartoffeln in den Keller geladen, und
Kinder hockten im Garten um ein Häufchen Kartoffel¬
ſtroh, deſſen blauer Rauch über die Nachbarsgärten hin¬
zog. Fritz ſchaute das Alles mit den Augen ſeiner
Seele an, und Freude und Friede durchzitterten ſein
Herz. Hier war ſeine traute Heimath und hier ſollt'
es ihm vergönnt ſein, ſeinen Heerd zu bauen und dem
Herrn zu Ehr' und Liebe Bürger und Hausvater ſein.
Geſtern hatte er Klärchen trauen ſehen. Klärchen
im weißen Kleide, grünen Kranze, mit den ſchönen,
blauen, kindlichen Augen hatte ſein Herz noch einmal
in Erinnerung und Theilnahme bewegt. Der ſchwarze,
bleiche Mann neben ihr ſchien ihm der Böſe zu ſein,
dem ſie ſich übergab, und ſein Herz konnte es nicht
laſſen, wiederum zu bitten: Herr, verlaſſe ſie dennoch
nicht, führe ſie, halte ſie; Weg haſt du aller Wege,
an Mitteln fehlt's Dir nicht.
Auf dem Heimwege war er mit Frau Bendler und
Gretchen zuſammen getroffen, und als er Gretchen ſah,
war Glück und Friede in ſeine Bruſt gezogen. Gret¬
chen hatte ihn angeſchaut mit den treuherzigen Augen
und der vielen Liebe darin, und auch ſeine Augen
ſprachen ſeine Gedanken aus. Ehen werden im Him¬
mel geſchloſſen. Gretchen, das fühlte er, war ihm
vom Himmel beſtimmt, mit ihr wollte er wallen den
Weg hinan, ſeine Liebe ſollte ſie führen, tröſten, ihr
dienen auf dem beſchwerlichen Weg, und ihr treues,
ſtarkes Herz ſollte ihn tragen mit allen ſeinen Fehlern.
Ja, ihr wollte er auch die Schmerzen ſeiner Jugend
ſagen, jetzt wo er ſie überwunden, wo Liebe und Freu¬
digkeit zu Gretchen ſein Herz beſeelte. In Sehnſucht
ſchaute er hinüber in den Nachbarsgarten, da trat Gret¬
chen ſingend drüben aus der Thür. Sie grüßte hin¬
über und ſchüttelte dann an einem Pflaumenbaum, daß
die blauen Früchte über ſie herfielen. Fritz ſchwang
ſich über das Stacket. Soll ich Dir helfen? fragte
er. Gretchen nickte, und er ſuchte die Pflaumen mit
in ihre Schürze. Als ſie mit ihrer Arbeit fertig wa¬
ren, nahm Fritz Gretchens Hand, ſah ihr bewegt in
die Augen und ſagte: Gretchen, Du weißt ſchon
längſt die Gedanken meines Herzens. — Gretchen
nickte.
Ich liebe Dich von ganzem Herzen, fuhr er fort,
und der Herr wird mir Kraft geben, Dich ſo glücklich
zu machen, wie Du es verdienſt und wie ich es ſo
gern möchte.
Gretchen neigte den Kopf und dachte: ich bin ja
nicht werth ſolches Glückes.
Jetzt wollen wir zur Tante gehen, ſprach er wei¬
ter, legte Gretchens Arm in den ſeinen, nahm ihre
Hand mit beiden Händen; ſo gingen ſie durch den
Garten. Da öffnete ſich oben ein Fenſterlein, der
Staarmatz hupfte auf das Brett und ſchnarrte: Jung¬
fer Braut! — Ja, Du alter Benjamin ſteckſt Deine
Naſe immer zuerſt in alle Dinge. Diesmal zankte ſich
Gretchen nicht mit dem Matz; ſie lächelte hinauf und
Beide blieben ſtehen, denn die weiße Mütze mit dem
fröhlichen Angeſicht ſchaute auch zum Fenſter hinaus.
Der Herr ſegne Euch! rief er herunter, dann neigte
er den Kopf hin und her vor dem Dompfaffen, und
der begann ſogleich: „Lobe den Herrn, o meine See¬
le“ — ja da konnten es Fritz und Gretchen nicht laſ¬
ſen, mit heller Stimme ſtimmten ſie ein und Benja¬
min ebenfalls:
7
Ich will ihn loben bis in Tod!
Weil ich noch Stunden auf Erden zähle,
Will ich lobſingen meinem Gott;
Der Leib und Seel' gegeben hat,
Werde geprieſen früh und ſpat.
Halleluja, Halleluja,
Selig, ja ſelig iſt der zu nennen,
Deß Hülfe der Gott Jacob iſt,
Der ſich vom Glauben läßt gar nichts trennen
Und hofft getroſt auf Jeſum Chriſt.
Wer dieſen Herrn zum Beiſtand hat,
Am beſten findet Rath und That.
Halleluja, Halleluja.
Die Tante kam gerade zur rechten Zeit heraus,
um die letzten Strophen mit zu ſingen, dann aber
mußte ihr weiches Herz erſt einige Freudenthränen
weinen. Und als nun Vater Buchſtein drüben in ſei¬
ner Hausthür erſchien, ward beſchloſſen, augenblicklich
einige Latten vom Stacket zu nehmen und eine Oeff¬
nung zur Thür zwiſchen beiden Gärten zu machen.
Benjamin kam flugs herunter und brachte dem Fritz
das Handwerkszeug entgegen, und mit fröhlichen Wor¬
ten und Mienen half die ganze Geſellſchaft bei der
Arbeit. Während der alte Buchſtein am Krückſtock
langſam herangeſchlichen kam, um den ſonderbaren
Lärm zu unterſuchen, war die Oeffnung ſchon fertig,
und Fritz führte Braut und Schwiegermutter dem Va¬
ter entgegen.
Klärchen verlebte ihre Flitterwochen in ungetrüb¬
tem Vergnügen. Günther ſuchte ihr den erſten Tag
vergeſſen zu machen. Er führte ſie in Kaffeegärten,
in Conzerte, in das Theater. Im Hauſe hatte ſie
faſt gar nichts zu thun, nur Kaffee und Thee mußte
ſie kochen, und dies, ſo wie die übrige wenige Haus¬
arbeit, that die Mutter gern, weil ſie dafür mittrin¬
ken und miteſſen konnte. Das Mittagseſſen bekam
Klärchen aus dem Hotel mit Erlaubniß des Herrn
Reinhard, dem es auf eine Perſon mehr oder weniger
nicht ankam, und Günther ſchien dafür nur um ſo
dienſtfertiger und ſeinem Herrn um ſo mehr zugethan.
Klärchen hätte jetzt ſchöne Zeit zum Flicken und Nähen
gehabt, aber es fehlte ihr an Luſt dazu. An ihren
alten Sachen, meinte ſie, wäre nichts mehr zu flicken,
und die wenigen neuen, die ſie zum kleinen Haushalt
angeſchafft, waren neu in einem Laden gekauft. Spä¬
ter, ſagte Günther, würde er doch das ganze Inven¬
tar eines Hotels annehmen, jetzt könnten ſie ſich be¬
helfen.
Daß er gegen Weihnachten hin öfter als gewöhn¬
lich nicht nach Hauſe kam, wunderte ſie nicht, da jetzt
mehr Beſuch als gewöhnlich drüben, und Günther ſehr
beſchäftigt war. Auch daß er zuweilen ſehr hohläu¬
gig ausſah und ihm die Hände leiſe zitterten, ſchob
Klärchen auf die großen Anſtrengungen. Ueberdem
hatte ihr Mann ſich ſo ſehr in ſeiner Gewalt, daß,
ſo wie er ſich beobachtet glaubte, eine Lebendigkeit und
Feſtigkeit in ſein ganzes Weſen fuhr, die Klärchen wie¬
der beruhigte.
Eines Abends kam ſie gegen zehn Uhr von der
Mutter zurück, die ſeit einigen Tagen krank war. Im
Vorbeigehen wollte ſie ſich etwas Geld vom Manne
holen, den ſie ſchwerlich heut zu Hauſe erwarten
7 *
konnte. Im Hotel war es noch ziemlich lebendig,
auf dem Flur traf ſie den kleinen Laufburſchen, der
im Sommer ihrem Manne den Thee beſorgen mußte,
und der auch jedenfalls damals das Zwiegeſpräch mit
einem Kameraden gehalten.
Wo iſt mein Mann? fragte Klärchen.
In ſeiner Stube, ich muß ihm wieder Thee ko¬
chen, ſagte der Junge ſpöttiſch.
Erſchrocken lief Klärchen dahin und fand ihren
Mann in einem Zuſtande, wie ſie ihn noch nie geſe¬
hen hatte. Er ſaß vor dem Tiſch, ſchlug mit beiden
Fäuſten darauf und lallte: Zehn tauſend Thaler, —
fünf tauſend Thaler, — das ſoll gehen, — das muß
gehen. — Klärchen ſchloß ſchnell die Thür hinter ſich.
Um Gottes Willen, Günther! rief ſie: Du biſt be¬
trunken !
Betrunken? wiederholte Günther erſchrocken und
wollte ſich in gewohnter Weiſe zuſammennehmen, aber
es ging nicht, er fiel zuſammen und lallte wieder un¬
verſtändliche Worte. Jetzt klopfte es an der Thür.
Klärchen fragte, wer da ſei.
Ich bringe den Thee, rief der Laufburſche, und
Herr Reinhard will den Herrn Eduard ſprechen.
Klärchen verließ die Stube, nahm dem Burſchen
den Thee ab und wechſelte mit Herrn Reinhard einige
Worte. Der ſchien die Fabel von dem Unwohlſein
zu glauben und entfernte ſich. Klärchen aber warf
ihrem Mann einen Paletot um, ſetzte ihm den Hut
auf und führte ihn, nachdem ſie gelauſcht, ob Nie¬
mand auf der Treppe und auf dem Flur ſei, zum
Hauſe hinaus. In ihrer Wohnung aber brachen ihre
Angſt und ihr Zorn in heftige Worte aus. Er glotzte
ſie mit ſtarren Augen an und ſagte kein Wort. Sie
ward immer heftiger und verlangte, er ſolle ſich zu
Bett legen. Sie faßte ihn an, um ihn dahin zu füh¬
ren, da machte er ſich mit einem mal los, gab ihr
einen tüchtigen Stoß und ſagte grimmig: Sei ruhig
und mach nicht ſolchen Lärm! Wer heißt Dich raiſon¬
niren? Hier, zieh meine Stiefeln aus! — Klärchen
ſtand erſchrocken, aber unmöglich hätte ſie ſich zu ſol¬
chem erniedrigenden Dienſt hergeben können. — Willſt
Du bald! rief er noch grimmiger, oder ſoll ich Dich
gehorchen lehren? Dabei trat er dicht vor ſie, ſtarrte
ſie an und ſchüttelte mit ſeiner ſchweren Hand ihr
Kinn gar unſanft. Klärchen ſchrie laut auf. — Al¬
lons! ſagte er, warf ſich auf einen Stuhl nieder und
ſtreckte ihr die Füße entgegen. Klärchen ſah, daß mit
dem betrunkenen Menſchen nicht zu ſpaßen ſei, daß
ſie Mißhandlungen erwarten könne, und entſchloß ſich
zu der Arbeit, aber mit lautem Weinen. Er gab ihr
noch einen Tritt mit dem Fuß, und ſchlug dann wie¬
der mit beiden Fäuſten auf den Tiſch. Zehntauſend
Thaler! lallte ſeine Zunge, — zehntauſend Thaler —
und dann links um kehrt! — Klärchen hatte ſich in
eine dunkle Ecke geſetzt; er hielt noch ein langes Selbſt¬
geſpräch, aber ſeine Worte wurden immer unverſtänd¬
licher, bis er ſein Haupt ſenkte und laut ſchnarchte.
Klärchen legte ſich mit den Kleidern auf das
Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken, ſie fürch¬
tete ſich vor ihrem Mann, es war ihr grauſig mit
ihm allein zu ſein, in ihrer Hülfsloſigkeit waren Thrä¬
nen ihr einziger Troſt. Sie weinte und weinte, bis
ſie vor Ermüdung einſchlief.
Gegen Morgen wachte ſie auf. Als ſie die Thür
nach der Wohnſtube öffnete, regte es ſich auch, ihr
Mann tappte in der dunkeln, eiskalten Stube umher.
Sie machte Licht; Günther ſah ſie ſcheu an, zugleich
aber flogen ſeine Glieder vor Schwäche und Froſt, er
ſah wirklich jämmerlich aus, und Klärchen hätte faſt
Mitleiden mit ihm gehabt; aber Zorn und Kummer
überwogen jedes andere Gefühl. Auch war ſie ſelbſt
von der entſetzlichen Nacht matt und elend. Gewiß
wird er ſich entſchuldigen und wieder ſüße Worte ma¬
chen, dachte Klärchen; aber das vergebe und vergeſſe
ich nicht; ich werde es ihm ſagen, wenn noch einmal
Aehnliches paſſirt, gehe ich von ihm. Als ſie ſchwei¬
gend nach dem Ofen ging, um Feuer zu machen, be¬
gann er zu reden.
Warum haſt Du mich geſtern hier in der Stube
ſitzen laſſen?
Klärchen ſah ihn verwundert an. Weißt Du,
was geſtern Abend paſſirt iſt? fragte ſie mit zittern¬
der Stimme.
Freilich weiß ich das, und es iſt ſchlecht genug
von einer Frau, wenn der Mann krank und aufgeregt
nach Hauſe kommt, ihn wie eine Xantippe zu behan¬
deln. Du haſt gelärmt und getobt, anſtatt mich ſanft
zu beruhigen, wie es einer ordentlichen Frau zu¬
kommt.
Weißt Du denn, daß ich Dich herüber geholt
habe? fragte Klärchen mit von Thränen erſtickter
Stimme, daß Herr Reinhard Dich ſprechen wollte, daß
die Kellner Dich höhnten wegen Deiner Betrunkenheit,
und daß ich Dich nur heimlich fortgebracht habe?
Das weiß ich Alles! entgegnete Günther kalt.
Das war ſehr weiſe von Dir, Du hätteſt nur hier
ſo fortfahren ſollen.
Klärchen konnte nicht weiter reden, der Kummer
ſchnürte ihr die Kehle zu. Er bereute alſo nicht ein¬
mal ſeine Unthaten, er klagte ſie an. Das war das
erſte Mal, daß er im nüchternen Zuſtande unfreundlich
war; jetzt mußte ſie jede Hoffnung, ihn je anders zu
ſehen, aufgeben. Er legte ſich zu Bett, ſie mußte
ihn bedienen, ſie mußte die abgeſandten Boten des
Hotels abfertigen, und als ſpäter die Mutter kam,
dieſer ihre Stimmung verbergen. Sie hätte ſich ge¬
ſchämt, ihr Unglück merken zu laſſen; trotz ihrer Klug¬
heit, trotz ihres Hochmuthes war ſie jetzt eben ſo weit
als die Mutter.
Nachdem das Ehepaar acht Tage nicht mit ein¬
ander geſprochen, Günther ſich faſt gar nicht oder nur
mürriſch gezeigt hatte, und Klärchens Augen faſt
nicht trocken geworden waren, ſchien er endlich wieder
beſſerer Laune zu werden. Er brachte mehr Geld,
denn auch das hatte ſie in den letzten acht Tagen faſt
gar nicht gehabt. Er fing an zu ſchmeicheln, ja, ſein
Unrecht einzuſehen, und Klärchen hielt es für das
Beſte, nicht zu unverſöhnlich zu ſein. So war äu¬
ßerlich das Verhältniß wieder hergeſtellt, aber der
Stachel ſaß in Klärchens Herzen, unmöglich konnte
ſie ſich über ihr Schickſal noch leichtfertige Phantaſien
machen, die Wirklichkeit war zu ſprechend.
Weihnachten kam, und Günther ſchien es darauf
abgeſehen zu haben, Klärchens leicht bewegliches Herz
wieder ganz zu gewinnen. Der Weihnachtstiſch prangte
von ſchönen Sachen. Ein ſeidener Mantel, ein Sam¬
methut, wie ihn nur die vornehmſte Dame wünſchen
konnte, lagen darauf, und außer andern Kleinigkeiten
auch ein Zwanzig-Thaler-Schein, um Kinderwäſche
zu kaufen. Klärchen war guter Hoffnung. Auch Frau
Krauter hatte Günther mit manchen hübſchen Sachen
bedacht, — ſo gab es nur fröhliche Geſichter.
Am Weihnachtsmorgen mußte Klärchen in die
Kirche gehen, um ihren Staat zu zeigen. Dieſer
Triumph ſollte nach den vielen trüben Tagen eine Er¬
quickung ſein. Aber hauptſächlich lag ihr daran, ſich
der Tante und Gretchen zu zeigen. Die hatten gegen
die Mutter ſo manche bedenkliche Worte, auch wegen
ihrer äußeren Lage, fallen laſſen; darüber ſollten ſie
beruhigt werden. Sie mußte freilich zu dem Pietiſten
in die Stephani-Kirche gehen, aber das war ihr
gleich; des Wortes Gottes wegen ging ſie doch nicht
hin. Ja, in der letzten Zeit hatte ſie ſich noch mehr
als je geſcheut, an den Herrn zu denken; es überfiel
ſie zuweilen eine Ahnung, als ob die Worte der Tante
Wahrheit werden und der Himmel ihren Leichtſinn
ſtrafen könnte. Heute war ſie aber zu vergnügt, um
ſo ernſte Gedanken haben zu können.
Sie hatte eigentlich die Abſicht gehabt, ſich ſo in
der Kirche zu ſehen, daß ſie von allen Seiten geſehen
ward, aber im Hineintreten gewann ihr beſſeres Ge¬
fühl die Oberhand, ſie ſchämte ſich und ſetzte ſich in
eine entfernte Ecke. Als nun die Orgel in vollen
Tönen die Kirche erfüllte, als viele hundert Stimmen
ſich damit vereinten, und „Vom Himmel hoch da
komm' ich her“ laut daher ſchallte, da ward es ihr
wunderbar zu Muthe. Sie vergaß Mantel und Hut,
und konnte es nicht laſſen, die Worte aufmerkſam mit
zu leſen und zu ſingen:
Es iſt der Herre Chriſt unſer Gott,
Der will euch führ'n aus aller Noth,
Er will eu'r Heiland ſelber ſein,
Von allen Sünden machen rein.
Er bringt euch alle Seligkeit,
Die Gott der Vater hat bereit't,
Daß ihr mit uns im Himmelreich
Sollt mit uns leben ewiglich.
Einen Führer aus aller Noth! ob du den auch
noch nöthig haben wirſt? dachte Klärchen. — O wie
glücklich war ich unverheirathet! ein Tag immer heller
und luſtiger als der andere, die Welt ſo lachend, —
warum bin ich nur in mein Unglück gelaufen? wer
weiß, wie es mir noch gehen wird? und ich habe
keinen Helfer aus der Noth. Der Heiland, den Tante
Rieke und Gretchen haben, iſt nicht dein Heiland, du
kennſt ihn nicht und magſt ihn auch nicht kennen,
ſetzte ſie muthlos hinzu. Die Stimme des Predigers
zog ſie wieder von ihren Gedanken ab.
„Dies iſt der Tag, den der Herr machet, laſſet
uns freuen und fröhlich darinnen ſein,“ ſo begann
er die Rede. Das Evangelium folgte, dann redete
er ſo warm und eindringlich vom Chriſtkindlein, war¬
um es herab gekommen von ſeinem hohen Himmel,
was es uns gebracht, was es wieder von uns ver¬
lange, daß Klärchen unwiderſtehlich ſeinen Worten
folgen mußte. — „Wie groß und unausſprechlich iſt
die Gnade für uns arme Sünder, die wir ſo elend
und ſo bloß, die wir im Dunkel des Todes ſitzen und
bangen vor dem ewigen Gericht, — unſer Gewiſſen
ſagt es uns, daß das Geſetz den Stab über uns ge¬
brochen, daß wir dem Zorne der Verdammung zuge¬
hören. Da erſcheint ein Licht in der Finſterniß, ein
Troſt in der Angſt, der liebe Heiland kommt, verkün¬
digt uns Freiheit von allen Sünden, Erlöſung von
Tod und Hölle, giebt uns die Hoffnung der ewigen
Seligkeit. O wie iſt doch die Liebe ſo groß, o wie
müſſen wir ihr entgegen jauchzen! O du liebliches
Kind in der Krippe, du kömmſt in unſere armſelige
Welt, nimmſt auf Dich alle unſere Schmerzen, ſtirbſt
für uns den bittern Tod, den Tod am Kreuze. Du
kommſt, Du ſuchſt mich, Du kannſt es nicht laſſen,
mich armen elenden Sünder an Dein Herz zu nehmen.
O ſo nimm mich denn hin, umfaſſe mich, halte mich,
ich will Dein ſein auf ewig!“ —
Klärchen war ergriffen, ſo etwas hatte ſie noch
nie gehört. Oder hatte ſie nicht hören wollen? war
ihr Herz hart geweſen, und hatte der Herr es jetzt
weich gemacht? Ja, der Herr kann Gnade geben, wie
es ihm beliebt, und aus Gnaden ſollen wir ſelig wer¬
den. — Doch beſtürmten heut auch heiße Fürbitten
ſeinen Thron. Fritz Buchſtein hatte oben vom Chor
Klärchen erkannt, und hatte Segen für ſie, für dieſen
Gang vom Himmel herab gefleht. Gretchen und ihre
Mutter ſaßen auch nicht fern und mit brünſtigem Ge¬
bet flehten ſie des Herrn Geiſt auf das verlaſſene
Klärchen.
Als dieſe zur Kirche hinaus ging, kam ſie mit
der Tante zuſammen. Sie ſchämte ſich faſt ihres
Weihnachtsſtaates, und mit einem ſanften und demü¬
thigen Ausdruck, wie ihn Niemand an ihr gewohnt
war, bot ſie den Verwandten einen guten Morgen
und ein fröhliches Feſt. Die Tante und Gretchen
reichten ihr Beide freundlich die Hand. Klärchen ging
im Geſpräche, aber ſehr verlegen, neben ihnen her,
bis vor Bendlers Haus. Beim Abſchied ſagte ſie:
Ich habe Euch längſt beſuchen wollen, und wenn
Ihr es erlaubt, komme ich bald. — Bei den letzten
Worten traten ihr die Thränen in die Augen und ſie
eilte hinweg.
Am Sylveſter-Abend ließ man bei Frau Bendler
wieder Schiffchen ſchwimmen, Gretchen aber war ohne
Angſt, daß ſich ihr Schiffchen mit Fritzens vereinigen
möchte; ſie war fröhlich und guter Dinge, es ward
erzählt und geſcherzt und auch ernſthaft geſprochen und
geleſen und geſungen und gebetet, bis der Wächter
das neue Jahr verkündete.
Bei Günthers ſah es anders aus. Seit Weih¬
nachten ſchon war er in ganz beſonders fröhlicher Auf¬
regung, und am Sylveſtermorgen ſagte er zu Klär¬
chen: Heut muß es hoch bei uns hergehen, es wird
der letzte Sylveſter ſein, den wir hier verleben, wer
weiß, wo wir im künftigen Jahre ſind! Wohl in
weitläuftigeren Räumen, und Du haſt Kuchen und
Zucker nicht ſelbſt zu holen. Aber heut hole ihn nur! —
Dabei legte er einen Fünfthalerſchein auf den Tiſch.—
Hole nur Alles, was zu einem feinen kalten Abend¬
brod nöthig iſt, und dann ſei eine vernünftige Frau.
Ich ſehe nicht ein, — wenn ich mich alle Tage vom
Morgen bis Abend quälen muß, will ich auch mein
Vergnügen haben. — Iſt denn das was ſo Schlim¬
mes, wenn es mal ein Paar Stunden drunter und
drüber geht? Sieh die Frau Rendantin an, die lacht,
wenn ihr Mann ein Bißchen angetrunken iſt, läßt ihn
den Rauſch ausſchlafen und dann geht das Leben wie¬
der ſeinen gewöhnlichen Gang. Man iſt darum kein
Trinker, aber bei beſonderen Gelegenheiten ſich an ei¬
nem Gläschen Wein erfreuen, iſt wohl erlaubt.
Klärchen ſah ein, wenn ſie allen Zank und Streit
vermeiden wollte, müßte ſie ſich in dieſe Theorien fü¬
gen, und wollte es einmal in Güte verſuchen. Auch
hatte die Mutter das Geſpräch mit angehört, und
war ganz auf des Schwiegerſohnes Seite. Klärchen
hat zu viel Romane geleſen, ſagte ſie weiſe, ſie hat
ſich vom Leben ſonderbare Bilder gemacht, denkt alle
Menſchen ſollen Engel ſein, und ſie iſt doch ſelbſt
kein Engel. — Günther ſtimmte lachend ein, und es
war ſehr gute Stimmung im Haus.
Die Gäſte kamen; erſt ging es ſcheinbar ſehr
fein und anſtändig her, doch Frauen und Männer
wurden gemüthlicher, dann lebhafter und lebhafter und
das neue Jahr ward mit tollem Lärmen begrüßt.
Nur Klärchen war ſchweigſam, ſo viel ſie auch
von den Andern geneckt und gereizt ward. Sie gab
Unwohlſein vor, was in ihrem Zuſtande ſehr glaub¬
lich ſchien. Im Grunde aber ekelte ſie dies rohe We¬
ſen an, ihre Natur war zu edel, um ſich in ſolcher
Gemeinheit wohl zu fühlen. Ihr leichtfertiger Sinn
hatte wohl nach Luſt und Vergnügen, nach vornehmen
und hohen Dingen geſtrebt, hatte ſich auch ſchlechter
Mittel dazu bedient; aber die Geſellſchaft, in der ſie
ſich jetzt befand, dieſe Art und Weiſe zu leben, konnte
ihr durch kein Schlaraffenleben angenehm gemacht wer¬
den. Auch war ſie in der letzten Woche ſehr nach¬
denklich geweſen. Der Kirchgang am Weihnachtsmorgen,
die Gefühle, die er angeregt, hatten ſeine Weihe aus¬
gegoſſen auch noch über die nächſten Tage; eine Un¬
ruhe hatte ſie erfaßt, daß ſie ſelbſt nicht wußte, wie
ihr war; aber das fühlte ſie, in Eſſen und Trinken,
in ſchönen Kleidern fand ſie die Befriedigung dieſer
Unruhe nicht.
Als der Rendant ſein Maaß getrunken hatte, und
die anderen Männer auf dem Höhepunkte der Ausge¬
laſſenheit waren, da verfügte die Frau Rendantin die
Auflöſung des Gelages und Niemand hatte etwas da¬
gegen. Günther legte ſich ohne Weiteres zu Bette,
ſchlief ſeinen Rauſch aus, und als er am anderen
Morgen bleich und mit zitternden Händen kaum die
Kaffeetaſſe halten konnte, demonſtrirte er ſeiner Frau,
wie unſchuldig ein ſolches Vergnügen ſei, und wie es
nur auf die Frauen ankäme, daß die Männer ver¬
nünftig blieben, und ſo mehr. Klärchen ſchwieg, die
Erinnerung an den geſtrigen Abend und der zitternde
Mann vor ihr waren ihr ſchrecklich, und immer und
immer wieder mußte ſie an den verlebten Sylveſter¬
abend bei Tante Rieke denken, an Fritz Buchſtein —
welch ein Mann er war gegen die Männer, die jetzt
in ihre Nähe kamen, wie getroſt und ruhig Gretchen
ſein konnte, das hausbackene Gretchen, und wie ſie
ſelbſt trotz des ſeidenen Mantels und des Sammethutes
in Angſt und Schrecken lebte. Daß die Zukunft ihr
nichts Beſſeres bringen könne, war ſie ſicher. Ja, ihr
bangte vor dieſer Zukunft, und das bitterſte Gefühl
dabei war, daß ſie ihr Schickſal ſelbſt verſchuldet.
Wie ſie jetzt noch ſich retten könne, wußte ſie nicht;
an den Helfer und Retter dort oben ſich zu wenden,
fehlte ihr Glauben und Muth; ihr Leben war nun
einmal ſo, ſie mußte ſehen, wie es abliefe.
Der Januar ging Klärchen mit Nähen von Kin¬
derſachen ſehr ſchnell dahin, ſie lernte da einen Genuß
kennen, der ihr ganz neu war, den Genuß des Still¬
lebens und des Fleißes. Ihre Gedanken waren bei
dem Kindchen, das einſt in dieſen Kleidern ſtecken
ſollte, und ſüße Freude durchſtrömte ihr Herz. Dieſe
Freude des Stilllebens aber ſollte ihr nicht lange blei¬
ben. Günther, der in der freudigen Aufregung, in
der er ſich ſeit Wochen befand, öfter als je eine Flaſche
guten Weines trank, that das in ſeiner eigenen Woh¬
nung, um ungeſtört und ſicher ſeinen Rauſch ausku¬
riren zu können. Oft ging das ganz ſtill ab, oft aber
tobte er und lärmte und Klärchen hatte Mühe und
Noth, ihn zur Ruhe zu bringen. So war es An¬
fang Februars geworden. Seit acht Tagen war Klär¬
chen unwohl und die Mutter Tag und Nacht bei ihr,
um die Hausarbeit zu verrichten, daneben aber auch
um den oft angetrunkenen Schwiegerſohn zu bedienen.
Sie verſtand das beſſer als die Tochter, ſie hatte Er¬
fahrung darin von ihrem verſtorbenen Manne her,
und ihr Gefühl war abgeſtumpft. Er dagegen war
erkenntlich auf jede Weiſe gegen ſie, und darum redete
ſie immer gegen die Tochter das Wort für ihn, ent¬
ſchuldigte ihn und beſchönigte ſein Laſter, wo ſie nur
konnte. Zur Faſtnacht beſtimmte Günther, trotzdem
Klärchen erſt wieder einige Tage aus dem Bett war,
eine Geſellſchaft, und zwar wollte er für diesmal nur
die Herren haben. Klärchen war es zufrieden, ſie
konnte mit der Mutter in der Schlafſtube bleiben, und
der Anblick von den betrunkenen Männern wurde ihr
erſpart. Daß es wild hergehen würde, war voraus¬
zuſehen.
Und es ging wild her, wilder als da die Frauen
dabei geweſen. Klärchen ward angſt und bange, wenn
ſie das Toben und Brauſen im Nebenzimmer hörte,
und die Mutter hatte genug zu beruhigen. Aber ſelbſt
dieſe machte bald ein bedenkliches Geſicht, denn Teller
und Gläſer klirrten durch einander, und das Geſchrei
war nicht mehr das des Uebermuthes, ſondern das
des Zornes. Beide Frauen ſtürzten heraus, zwei
Männer gingen eben zur Thür hinaus, der Rendant
lag an der Erde, und Günther ſchlug mit beiden Fäu¬
ſten auf ihn los. Klärchen verſuchte es ſeine Arme
feſt zu halten, denn ſchon floß Blut über des Ren¬
danten Stirn, die Mutter war dem Blutenden behülf¬
lich ſich aufzurichten, und mit Hülfe beider Frauen
kam er zur Thür hinaus. Jetzt aber richtete ſich die
Wuth des Betrunkenen auf Frau und Schwiegermut¬
ter; blindlings ſchlug er zu, und beide konnten ſich
nicht ſchnell genug in die Schlafſtube flüchten. Dem
Riegel waren ſeine Kräfte nicht gewachſen und er be¬
gnügte ſich jetzt, ſeine Tobſucht an Gegenſtänden in
der Stube auszulaſſen. Klärchen ſaß weinend und
mit blutender Naſe, — dahin gerade war ein Fauſt¬
ſchlag gefallen. Die Mutter hielt ihr ſchweigend das
Waſchbecken vor. Dieſe Mißhandlungen wußte ſie
freilich nicht zu entſchuldigen. Ja ſie mußte es jetzt
geduldig hören, wie Klärchen ſie mit Vorwürfen über¬
ſchüttete, das Laſter ihres Mannes ſo beſchönigt zu
haben. Klärchen machte in ihrer Heftigkeit viele Pläne.
Jedenfalls wollte ſie von dem Manne, vor deſſen Mi߬
handlungen ſie keine Minute ſicher ſei. Sie wollte
wieder Schneiderin werden, wollte lieber Salz und
Brod eſſen, und ſo weiter. Sie ließ ſich endlich von
der Mutter bereden, ſich zur Ruhe zu legen, und da
Günther nebenan laut ſchnarchte, konnten ſie für jetzt
ruhig ſein.
Am andern Morgen ſelbſt konnte Klärchen den
Mann nicht ſehen, die Mutter aber wollte neutral
bleiben und wenigſtens für eine warme Stube und
für Kaffee ſorgen. Günther ſah ſie mit böſem Gewiſ¬
ſen an; er hatte wohl eine Ahnung von dem, was
er geſtern gethan, aber Worte der Verſöhnung wollte
er nicht ſprechen. Er fand es viel bequemer, die
Schuld auf beide Frauen zu ſchieben. Künftig ſollten
ſie ihre Naſe nicht in Sachen ſtecken, die ſie nichts
angingen, der Rendant hätte ihn ſchändlich beleidigt
und ſeine Prügel verdient. So ungefähr ſprach er.
Die Mutter konnte es doch nicht laſſen, ihn an Klär¬
chens Zuſtand zu erinnern, und außerdem, daß ſie
ſolche Behandlung nicht gewohnt ſei. Günther aber
ließ ſich auf nichts ein, er war grob und wegwerfend
und wollte ſein Betragen als ganz gerecht hinſtellen.
Klärchen hörte durch die offene Thüre jedes Wort,
und ihr Herz wollte brechen. Mit dem Mann konnte
ſie nicht zuſammen bleiben. Aber wie von ihm los
kommen? Sie hatte ja Niemand in der Welt, der
ihr rathen und helfen konnte. An Tante Rieke dachte
ſie; aber hatte die ſie nicht gewarnt und ihr Unglück
vorhergeſagt? Zu der wagte ſie ſich nicht. Aus Furcht
auch hatte ſie den am Weihnachtsmorgen verſprochenen
Beſuch von Woche zu Woche aufgeſchoben, und, da
ſie die Entſchuldigung gehabt, daß ihr Mann es ver¬
boten, ſich dabei beruhigt.
Jetzt kamen für Klärchen trübe Tage. Daß Gün¬
ther ſich faſt gar nicht bei ihr ſehen ließ, war ihr
ganz recht, aber ſie war doch zu verlaſſen, ſelbſt die
Frau Rendantin und die anderen Frauen hatten ſich
ſeit dem Faſtnachtsabend zurück gezogen. An Gelde
fehlte es ihr oft, aber zum Glück war die Mutter
immer bereit, Günthern etwas abzubetteln; ſo waren
ſie wenigſtens nie in äußerer Noth. Dies letzte hob
die Mutter immer beſonders als Troſt hervor. Dein
Mann iſt wohlhabend und darum hat er ſeine Eigen¬
heiten, die Du tragen mußt. Dein Vater hat mich
weit ſchlechter behandelt, und dabei wußt' ich nicht,
wovon ich uns ſatt machen ſollte. Du kannſt in allen
Stücken ohne Sorgen leben und brauchſt die Hände
nicht zu rühren. — Klärchen entgegnete, ſie wollte
lieber Salz und Brod eſſen, ja verhungern, als ſolche
Behandlung dulden und überhaupt ſolch ein Leben füh¬
ren. — Du wohl! ſagte dann die Mutter wieder,
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aber Dein Kind? Ich kenne das, ich habe auch ſo
geſprochen; wie ich Dich aber erſt hatte, und wie ich
ſchwach und elend wurde, da kriegt' ich andere Gedan¬
ken. — Ja, das Kind! ſeufzte Klärchen. — Und
das war es auch, was ſie geduldig machte. Wohin
ſollte ſie mit dem Würmchen? Sie hätte kaum ſich
allein ernähren können, wie ſollte ſie dazu das Kind
noch pflegen und ernähren? Sie verſchluckte darum
manchen Aerger, ſie gewöhnte ſich ſogar, freundlich zu
ſcheinen, weil ſie merkte, daß ſo mit Günther noch
am beſten fertig werden war. Daß er oft ſchimpfte,
ſie auch wohl in der Betrunkenheit ſtieß, mußte ſie
ſich gefallen laſſen.
In der Kirche war ſie einmal wieder geweſen, in
der trübſten Zeit, bald nach Faſtnacht. Und zwar in
die Stephani-Kirche zog es ſie. Der wunderbare
Eindruck von Weihnachten war ihr wieder vor die
Seele getreten. — Aber der Prediger ſprach diesmal
ſehr ernſt. Er ſchilderte die Leiden unſeres Herrn und
Heilandes, die er erduldet, um uns arme elende Sünder
zu erlöſen vom ewigen Tode. Dann ſprach er vom
Zuſtande eines unbelehrten Sünders, von ſeiner Angſt
und Unruhe in der Gegenwart, von der Strafe und
dem Gerichte der Zukunft. — Klärchen ward durch
dieſe Predigt ſo ergriffen, daß ſie ſich mehrere Tage
nicht beruhigen konnte und froh war, als die Zeit
den Eindruck zu verwiſchen ſchien. Sie war ſeitdem
nie wieder in der Kirche geweſen.
Der Winter verging, der Frühling kam mit ſei¬
nen ſchönen Tagen, wo die Luft lau, wo die Veil¬
chen blühen, die Lerchen ſingen und die Saaten grü¬
nen. Klärchen ſah von alle dem nicht viel. Um die
Freuden der ſchönen Natur zu genießen, war ſie nie
gewohnt ſpazieren zu gehen, und in Kaffeegärten führte
ſie Günther nicht mehr; er ſchämte ſich ihrer Schwer¬
fälligkeit und ging lieber allein ſeinem Vergnügen nach.
Das war freilich auch anders, als ſich Klärchen in
romantiſchen Phantaſien die Liebe ihres Mannes ge¬
dacht hatte; gerade in dieſen Zuſtänden wollte ſie mehr
als je auf Händen getragen und vergöttert werden.
Aber die gewöhnliche Flitterliebe ohne den wahren fe¬
ſten Grund im Herzen hält nicht weiter hinaus.
Eines Sonnabends Abends —, es war Anfangs
Mai —, da ſaß Klärchen am offnen Fenſter und ſchaute
auf die rein gekehrte Straße und ſah dem fröhlichen
Spiel der Kinder zu. Eine Nachbarin drüben kam
eben mit zweien von einem Spaziergange zurück. Sie
waren ganz mit Blumen beladen. Weißdorn, Primeln
und Tulpen blühten lieblich in den kleinen Händen.
Klärchen ward bewegt von dieſem lieblichen Anblick.
Wenn du erſt ein Kind haſt, dachte ſie, gehſt du auch
mit ihm ſpazieren, pflückſt ihm Blumen, machſt ihm
Kränze. Ihr Herz ſchlug froh bei dieſen Bildern, und
überhaupt hing das Glück ihrer Zukunft jetzt eben ſo
leidenſchaftlich an dem Kinde, das ſie unter ihrem
Herzen trug, als früher an anderen Phantaſiegebil¬
den. — Doch ſpazieren gehen könnteſt du zuweilen
auch ohne Kind und dir ſo ſchöne Blumen holen! Ja,
heute war es zu ſchön! ſie nahm Hut und Umſchla¬
getuch und wanderte zum Thore hinaus.
Ihr Weg führte ſie zu einem Gärtner, einem
weitläufigen Verwandten, den ſie in ihrer Jugend,
8 *
ehe ſie in Kaffeegärten und Conzerte ging, oft mit
der Mutter, mit Tante Rieke und mit Gretchen beſucht
hatte. Es war ihr wohl, wie lange nicht, zu Sinne,
als ſie dem Grasrain entlang der blühenden Wei߬
dornhecke entgegen ging. O wie die Lerchen dem
blauen Himmel entgegen jubelten, und Duft und Lieb¬
lichkeit überall und tiefer Frieden! — Sie trat in den
Garten. Lichtblaue Irisſtreifen begrenzten die Rabat¬
ten, vor dem Haus blühten Tulpen, blaue Männer¬
treue, Ranunkeln und Hyazinthen. In den blühen¬
den Bäumen, dem jungen Grün der Spiräen und
Flieder hüpften und ſangen Vöglein, und hoch drüber
in einem knospenden Kaſtanienbaume ſchlug eine Nach¬
tigall in langen, weichen, gehaltenen Tönen. O wie
ſchön iſt des lieben Gottes Welt! mußte Klärchen ſa¬
gen und ſeufzend hinzuſetzen: wenn er doch auch dein
lieber Gott wäre! Sie wollte in einen Seitenweg ein¬
biegen, trat aber erſchrocken zurück, — in einer Flie¬
derlaube ſaßen Fritz und Gretchen traulich neben ein¬
ander. Fritz hatte ſeinen Arm um Gretchen geſchlun¬
gen und ſchaute ihr warm in die Augen, dieſe hatte
einen weiß blühenden Spiräenzweig um das Haar ge¬
ſchlungen und ſah ganz wie eine Braut aus. Jetzt
erſt dachte Klärchen daran, daß morgen Gretchens
Hochzeitstag war. Das bewegte ſie ſehr. Sie ſuchte
ſich in dem Bosquet einen einſamen Platz und ließ
den Thränen freien Lauf. Nicht aus Neid weinte ſie,
nein, aus Reue und Kummer über das eigene Unglück.
Wie glücklich mußte Gretchen ſein, zur Seite ſolch'
eines rechtſchaffenen Mannes! Ja, Rechtſchaffenheit
geht über alle Galanterie, dachte ſie jetzt. Wenn ich auch
rechtſchaffen und fromm ſein könnte, vielleicht ginge
es mir dann beſſer. Wie fange ich es aber an? Ich
weiß es nicht. Und ob mir der liebe Gott helfen
kann? ich weiß es auch nicht. Wer ſoll mir rathen?
Wenn ich an die Faſtenpredigt denke, wird mir angſt,
ich kann ſie immer nicht vergeſſen, und kann mir doch
auch nicht helfen. — Sie ſchlich ſich aus dem Gar¬
ten, brach ſich einige Weißdornzweige von der Hecke
und ging mit weichem Herzen und feuchten Augen
durch den dämmernden Abend. Morgen früh wollte
ſie in die Stephani-Kirche gehen; und wenn ſie auch
morgen keine Luſt dazu haben ſollte —, denn ſie kannte
den Wechſel ihrer Stimmungen —, ſie wollte doch gehen
und wenigſtens dem lieben Gott dies Verſprechen
halten.
Und ſie hielt Wort und nahm ihren alten Platz
in der Stephani-Kirche ein. Der Prediger hielt dies¬
mal eine Frühlingspredigt, er ſchilderte ſo warm die
Liebe und Freundlichkeit des Herrn und die Schönheit
des Frühlings, und knüpfte daran den Frühling einer
Seele, die auch dem Herrn entgegenblüht und ſproſſt
und nur von ſeinem Segen und Gnadenſchein Gedei¬
hen erwartet. Klärchen ward durch dieſe Predigt viel
getröſtet und geſtärkt. Der Herr iſt ſehr freundlich
und gütig gegen die Menſchen, vielleicht erbarmt er
ſich auch deiner und wendet noch das ſelbſtverſchul¬
dete Unglück von deinem Leben ab. Er ladet alle
Sünder ein, er wird auch dich nicht zurückſtoßen!
Aber wie ſollſt du es anfangen, zu ihm zu kommen?
Und wie ſoll er dir helfen? — Klärchen meinte,
wenn ſie an Hülfe dachte, immer nur die äußere, ſie
fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging,
in den er ſie mit hinein ziehen würde. Angſt in der
Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieb ſie Hülfe
zu ſuchen, und da ſie recht gut wußte, daß ihr Men¬
ſchen nicht helfen konnten, wollte ſie es mit dem Him¬
mel verſuchen. Die Predigt heut machte ihr neuen
Muth dazu, und der Prediger, der ſo mild und lieb¬
reich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm
näher zu kommen und ſich ihm anzuvertrauen, war
ihr höchſter Wunſch. Menſchen wußte ſie außerdem
nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke
ernſte Reden und Ermahnungen hatte ſie ſtets mit
Gleichgültigkeit, Widerſpruch und Lachen aufgenom¬
men; der ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu
geſtehen, fühlte ſie eine unüberwindliche Scheu.
Als der letzte Vers geſungen war, leerte ſich die
volle Kirche, nur im Chor ſammelte ſich eine kleinere
Anzahl, um das Brautpaar trauen zu ſehen. Auch
Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gret¬
chens Schickſal veranlaßte ſie dazu. Freilich kamen
ihrem Herzen gar ſonderbare Gedanken. Wo Gret¬
chen ſteht, könnteſt du auch ſtehen, und was iſt das
für ein Mann! Sie hatte ihn immer ſchon bewun¬
dert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer
eignen Thorheit war ſie verblendet und hatte ſeines
Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt ſtand
er da, ſo ſchön und männlich, mit ſo mildem, liebe¬
vollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die
Augen und ihr Herz war ſo bewegt. Als der Predi¬
ger die Verſammlung aufforderte, für das junge Paar
mit zu beten, faltete ſie die Hände und brachte zum
erſtenmal in ihrem Leben etwas wie ein ernſtliches
Gebet vor den Herrn. Als beim Hinausgehen Fri¬
tzens Augen ihrem weichen, theilnehmenden Blicke be¬
gegneten, fuhr ein freudiger Schreck in ſein Herz, und
wenn er dies Herz auch ganz und gar ſeinem Gret¬
chen geſchenkt, ſo war es doch immer, als ob er
Klärchens Seele mit auf ſeiner Seele tragen müſſe.
Die heißen Gebete ſeiner Jugend konnte er nicht verlo¬
ren geben.
Klärchen dachte darauf, wie ſie Bekanntſchaft mit
dem Prediger machen könne. So geradezu hinzuge¬
gehen war ihr unmöglich, es mußte ſich eine Gele¬
genheit darbieten, und dieſe hoffte ſie am leichteſten
in der Taufe ihres Kindes zu finden. Zu Günther
ſprach ſie noch nicht davon, obgleich ſie fühlte, ein
jeder Prediger würde ihm gleich ſein. Sie fürchtete
doch ſeinen Widerſpruch und wollte eine gelegenere
Zeit abwarten. Aber mit troſtvollen Hoffnungen und
Plänen beſchäftigte ſie ſich in den ſtillen Wochen bis
zur Geburt ihres Kindes.
Ende Juni genas ſie glücklich eines kleinen Mäd¬
chens. Günther war ſehr erfreut und ſehr aufmerkſam
gegen Mutter und Kind. Klärchen hatte zwar ſchon
in den Wochen vorher eine freudige, wenn auch oft
unruhige und zerſtreute Stimmung an ihm bemerkt,
jetzt kam aber unzweifelhaft die Freude an ihr und
dem Kinde dazu. Sie war ſchöner erblüht als je, und
das Kind hatte die großen, blauen Augen und feinen
Züge der Mutter. Günther war aufmerkſam wie in
den erſten Tagen ſeiner Liebe, ſchöne Geſchenke brach¬
ten ſeine Hände und ſchmeichleriſche Worte entglitten
ſeinem Munde, ja, in einer einſamen Stunde bat er
ſie ſogar um Verzeihung wegen der Vergangenheit und
verſprach ihr eine goldene Zukunft. Er deutete dabei
an, daß ſie bald ihren Wohnſitz ändern würden, und
forſchte dann, wie alt wohl ihr Kindchen ſein müſſe,
um mit ihm eine weitere Reiſe zu unternehmen. Klär¬
chen hätte ſich jetzt ganz glücklich träumen können, aber
die gemachten Erfahrungen ließen ſich nicht aus ihrem
Gedächtniß verwiſchen; auch waren Günthers Augen
zuweilen ſo unſtet, ſeine Worte ſo geheimnißvoll, daß
ſie Angſt vor ſeiner Nähe hatte. Als das Kind fünf
Wochen alt war, ward es in der Stephani-Kirche
getauft, Günther hatte nichts dagegen, er hörte kaum
hin, als ihm Klärchen den Vorſchlag machte. Aber
daß Gretchen Gevatter ſtehen ſollte, ſchlug er rund
ab, er wollte mit den Leuten nichts zu thun haben.
Nur das ſetzte ſie durch, daß die Kleine Gretchens
Namen bekam.
Zu Klärchens Geburtstag war das kleine Gretchen
ſechs Wochen alt, und lag ſüß ſchlummernd neben der
Mutter in der Wiege. Vor dem Sopha ſtand der
Geburtstagstiſch, den Günther am Morgen mit Ku¬
chen und Blumen geſchmückt. Außerdem hatte er ihr
30 Thaler in Scheinen geſchenkt mit dem geheimni߬
vollen Bemerken: ſie ſorgſam zu bewahren; ſie würde
bald Gebrauch davon machen müſſen. Klärchen hatte
ſchon zu oft ſolche Bemerkungen gehört, und hatte das
Geld, ohne weiter darüber zu forſchen, in ihr Näh¬
käſtchen geſchloſſen. Jetzt war es bald Abend, ſie ſaß
am offnen Fenster, die Luft in der Stube war ihr zu
eng geworden, aber auch außen war es nicht beſſer,
es war ein ſchwüler Tag geweſen. Klärchen hatte
ernſthafte Gedanken, ſie war plötzlich ſo weit glückli¬
cher als früher, Günther wie umgewandelt, — ſollte
der liebe Gott wirklich ihre Gebete erhört haben? Ihr
Herz war dankbar geſtimmt, und ſie machte ſich das
Gelübde, fromm und rechtſchaffen zu werden, knüpfte
daran aber unwillkürlich die Bedingung des Glücklich¬
ſeins, und dies Glücklichſein ſuchte ſie immer noch in
äußeren Dingen.
Verwundert ſah ſie mit einemmal Herrn Rein¬
hard mit noch zwei Männern aus dem Hotel und
eilig zu ihr hinüber kommen. Erſtaunt ging ſie ihnen
entgegen. Herr Reinhard fragte ernſthaft nach ihrem
Manne.
Ich meine, er iſt drüben, ſagte Klärchen unbe¬
fangen, und erwarte ihn jeden Augenblick. Es iſt
heut mein Geburtstag, fügte ſie, indem ſie auf den
Feſttiſch zeigte, hinzu, und er wollte noch mit mir ſpa¬
zieren gehen.
Der Schurke! murmelte Reinhard, und Klärchen
fuhr erſchrocken zuſammen. Sie müſſen erlauben, daß
wir den Sekretair öffnen, fuhr Reinhard fort, und
ſogleich machte er ſich mit Hauptſchlüſſeln an das
Werk.
Klärchen bat den Herrn Reinhard mit Thränen,
ihr zu ſagen, was vorgefallen, und Herr Reinhard
erzählte nicht mit den feinſten Worten, wie Günther
ihn wenigſtens um zehntauſend Thaler betrogen, wie
er ſchändlicher Weiſe ſein Vertrauen gemißbraucht, ſeine
Handſchrift nachgemacht, ſein Siegel benutzt, falſche
Wechſel ausgeſtellt, und jetzt wahrſcheinlich nach Ame¬
rika gegangen ſei. Klärchen, überwältigt von dieſen
Nachrichten, ſaß laut jammernd neben der Wiege, Frau
Krauter kam dazu, jammerte mit und vermehrte die
Verwirrung. — Im Schranke fand man nichts. Klär¬
chen erzählte, daß Günther vor kurzer Zeit viele un¬
nütze Papiere, wie er ſie genannt, verbrannt habe.
Während ſich zu den genannten Perſonen noch Wirths¬
leute und Mitbewohner des Hauſes eingefunden hat¬
ten, und das kleine Gretchen, vom Lärmen aufge¬
weckt, laut dazwiſchen ſchrie, kam der Poſtbote und
brachte einen Brief für Klärchen. Haſtig erbrach ſie
ihn und las:
Liebes Klärchen! Ich ſchreibe in großer Eile.
Wenn Du dieſe Zeilen lieſt, bin ich bald in Ham¬
burg und beſteige gleich nach meiner Ankunft ein Dampf¬
ſchiff, das mich nach London und dann weiter nach
Amerika bringt. Packe ſchnell Deine Sachen, Deine
Ausſtattung kann Dir Niemand ſtreitig machen, und
komm nach Hamburg mit unſerem kleinen Gretchen.
In der Vorſtadt St. Pauli Nr. 10. wirſt Du, wenn
Du Deinen Namen ſagſt, freundlich aufgenommen,
wirſt alles Uebrige erfahren und eine bequeme Ueber¬
fahrt nach Amerika haben. Ich beſchwöre Dich, laß
mich nicht im Stich, ich kann nicht leben ohne Dich
und ohne unſer liebes Kind, ich werde Dich mit offe¬
nen Armen empfangen und in unſer Hotel führen, da
ſollſt Du fürſtlich leben und die Bettelwirthſchaft, die
Dich jetzt drückte, bald vergeſſen. — Du kommſt!
ich zweifle nicht und bin ewig Dein Eduard Günther.
Klärchen ließ es willenlos geſchehen, daß auch
Herr Reinhard den Brief nahm und las. Er ward
noch zorniger, als er erfuhr, daß der Betrüger ihm
entgangen ſei, und fragte Klärchen mit beißenden Wor¬
ten, was ſie zu dem Vorſchlag ſage. Dieſe erklärte,
ſie wolle lieber mit ihrem Kinde verhungern, als dem
Manne folgen. Als Herr Reinhard merkte, daß Klär¬
chen ganz unwiſſend in der Sache ſei, als er ihren
Schmerz darüber ſah, ward er etwas milder gegen ſie
geſtimmt, aber die Wohnung mußte ſie räumen und
die ganze Einrichtung ihres Haushaltes zurücklaſſen,
denn ſie konnte nicht leugnen, daß Günther Alles an¬
geſchafft hatte; nur ihre eigenen Kleidungsſtücke und
Leibwäſche, das Bettchen und Zeug des Kindes nebſt
einigen Kleinigkeiten wurden ihr mitzunehmen erlaubt.
Klärchen ſaß wieder in der kleinen Stube ihrer
Mutter. Die zwei Jahre ihrer Abweſenheit waren ihr
wie ein Traum, ein Traum, der in Luſt und Herr¬
lichkeit begonnen und geendet in Jammer und Noth.
Dem ſchwülen Tage war ein Gewitter gefolgt, das
jetzt in einen leiſen Landregen endete. Die Mutter
war trotz des Regens ausgegangen, um Einkäufe zu
machen, denn ihr Haus war ganz leer; und ſeitdem
ihr Klärchen die 30 Thaler im Nähkäſtchen gezeigt,
war ſie guten Muthes. Sie lebte nur in der Gegen¬
wart und ſagte, wenn es ihr gut ging: der liebe
Gott wird weiter ſorgen. Denn ſie führte den lieben
Gott wenigſtens im Munde, wenn ſie ihn auch nicht im
Herzen hatte. Klärchen war nicht guten Muthes, ſie
ſaß in der dämmernden Stube am Fenſter, ſah auf
die grauen, naßgewaſchenen Häuſer und auf die fal¬
lenden Tropfen, und ihre Augen tropften ebenfalls.
Was werden die Nachbarn ſagen, dachte ſie, wenn
ſie dich hier wieder ſehen, und nun in Schande und
Noth; was Guſtchen Vogler, die ſie manchmal in
ihrer vornehmen Wohnung beſucht und ihr Loos ge¬
prieſen und beneidet hatte? Was wird Tante Rieke
ſagen, die ihr das Alles vorher geſagt? Aber Mit¬
leiden wird ſie doch mit dir haben. Hat ſie doch
neulich ganz freundlich zur Mutter von Klärchen ge¬
ſprochen, hat ſich gefreut, daß ſie ihr kleines Mäd¬
chen Gretchen genannt hat, und daß ſie Klärchen ei¬
nigemal in der Stephani-Kirche geſehen. Ja, die
Stephani-Kirche! — dachte Klärchen weiter, es hat
dir auch nichts geholfen; der liebe Gott hat deine Ge¬
bete nicht erhört, er hat dir die Strafe für dein frü¬
heres Leben bald geſchickt, er iſt ein ſtrafender Gott.
Klärchen konnte nicht zu ihm aufſehen, aber ihr ver¬
gangenes Leben ging jetzt vor ihrer Seele vorüber, die
zwei letzten Jahre kamen ihr wie ein langes Leben
vor. Es war jetzt Jahreszeit, als Fritz Buchſtein
zurückkam, als ſie mit Geringſchätzung auf ihn ſchaute
und um den Studenten buhlte. Was hätte ſie denn
gehabt, wenn ſie den errungen? O ſie wußte jetzt,
daß rohe, gottloſe Männer eben ſo gegen ihre Frauen
ſind, wenn ſie auch in den Liebesmonaten eine ſanfte
Sprache führen. Sie hatte es erfahren, daß ſchöne
Kleider und ein vornehmes, bequemes Leben keine
Freude ſind, wenn das Herz an Kummer und Ver¬
druß zehren muß. Sie dachte weiter an ihr Leben
bei der Generalin, wohin der Leichtſinn ſie dort ge¬
führt, und hielt beide Hände vor das Geſicht vor in¬
nerer Schaam. Wie ganz anders dachte ſie jetzt über
den Grafen, dieſen leichtfertigen, wortbrüchigen Men¬
ſchen, der ſie beinahe in den Abgrund getaumelt. Ja,
ſie fühlte ſo etwas wie Fügung Gottes, daß ſie vor
noch tieferem Fall und äußerſter Schande bewahrt ge¬
blieben. Mit welchem Leichtſinn aber hatte ſie ſich
ihrem Manne in die Arme geworfen! Sie hatte ge¬
wußt, daß er leichtfertig, ja ſie zweifelte eigentlich
nicht an der Tante Ausſage, daß er ſchlecht und herz¬
los ſei; aber ſie meinte damals, wenn es ihr äußer¬
lich wohl ginge, wäre ſie glücklich. Und wie unglück¬
lich und troſtlos hatte ſie ſich an ſeiner Seite gefühlt,
wie war jetzt ihre ganze Zukunft zerſtört! Ob dir der
liebe Gott dennoch helfen könnte? kam ihr ein heller
Gedanke in der Nacht ihres Herzens. Die Tante hatte
oft geſagt: Aeußere Noth iſt kein Unglück, der Herr
kann uns dabei doch Frieden und Freude ſchenken.
Sie ſchaute auf ihr Gretchen, das ſo ſanft in der
Wiege ſchlief, und fühlte eine Ahnung höherer Freude,
als alle irdiſchen Genüſſe ihr bis jetzt geboten. Für
das Kind leben, arbeiten, das ſoll mein Troſt ſein!
O wie ſüß es jetzt ſeine Aermchen ſtreckte und dehnte
und ſeine Aeuglein aufthat! Klärchen nahm das Kind
an ihre Bruſt und vergaß allen Kummer. Sie nahm
ſich vor, alle Schaam zu überwinden und morgen
gleich neue Kundſchaft als Schneiderin zu ſuchen, die
dreißig Thaler wollte ſie ſparen und für Nothfälle auf¬
heben, damit es ihrem Kinde nie am Nöthigſten ge¬
bräche.
Aber es ſollte anders ſein. Klärchens noch zarte
Geſundheit war von den letzten Stürmen ſo erſchüt¬
tert, daß ſie am anderen Morgen ihr Bett nicht ver¬
laſſen konnte; ja, nach einigen Tagen hatte ſich ein
ſo heftiges Nervenfieber entwickelt, daß ſie beſinnungs¬
los dalag. So vergingen vierzehn Tage, ſie wußte
nichts davon, wenn man ihr das Kind an die Bruſt
legte, ſie wußte nicht, daß Tante Rieke und Gretchen
oft pflegend an ihrem Bette ſaßen, ſie hörte nichts von
den Todesbefürchtungen, die der Arzt in ihrer Nähe
ausſprach. Endlich kam die glückliche Kriſis, Klär¬
chen erlangte ihr Bewußtſein wieder, die Tante und
Gretchen nahten ſich ihr vorſichtig; Klärchen konnte
vor Schwäche nicht reden, aber lächelte dankbar. Man
mußte ihr das Kind zeigen, ſie nahm es an ihr Herz,
ſie war ſo glücklich und fühlte einen Himmel in dieſen
Umgebungen. Von Tage zu Tage ward ſie kräftiger
und fühlte ſich bald wie neugeboren.
Aber auch für ihre Seele begann ein neues Le¬
ben. Eine Geneſungszeit iſt oft eine ſegensreiche, da
iſt der Boden locker und der Same findet eine gute
Statt. Frau Bendler wußte das, und benutzte es.
Sie ſprach ihr Troſt und Muth zu; Klärchen hörte
gern, denn kein Vorwurf, kein hartes Wort traf ihre
Vergangenheit, nur der Gegenwart, der Zukunft ſollte
ſie jetzt leben. Auch der Stephani-Prediger kam, ſie
hatte der Tante von ihrer früheren Sehnſucht nach
ihm geſagt. Warm und eindringlich ſprach er von
der Liebe und Gnade unſeres Herrn, und ſeine Worte
machten immer tieferen Eindruck auf Klärchens Herz.
Ja, der Herr gab dem Samen, der hier geſäet wurde,
ein gnädiges Gedeihen. Klärchen lernte ihren Heiland
kennen, ſie fühlte, daß ſie trotz ihrer vielen Sünden
ſich ihm doch nahen dürfe, ſie fühlte, daß alle Luſt
und Herrlichkeit der Welt nichts iſt gegen den Frieden,
den er uns beut. Dieſer Frieden ward nur geſtört
durch die Erinnerung an die Vergangenheit. Ihre Schuld
kam ihr oft gar groß vor, aber wenn ſie ſah, wie
die Tante und Gretchen, ſchwache Menſchen wie ſie
ſelbſt, ihr nur mit Liebe und Theilnahme ihren Leicht¬
ſinn, ihre Liebloſigkeit und Verſpottung vergalten, wie
vielmehr mußte ſie bei dem Herrn Verzeihung finden.
Ja, der Herr nimmt an ihr reuevolles Herz. Aber
auch allen Menſchen, denen ſie Unrecht gethan, möchte
ſie ihre Reue ſagen. Vor allen zogen ihre ſtillen Ge¬
danken ſie zu Fritz Buchſtein hin; ſie hätte wiſſen mö¬
gen, ob er ſie nicht gar ſehr verachte und gering
ſchätze, ob ſie Gretchens Worten trauen und je ſein
Haus beſuchen dürft, ſie hätte ihm gern ihr demüthi¬
ges Herz gezeigt und ihn um Verzeihung für ihr lieb¬
loſes Betragen gegen ihn gebeten. Doch nach ihm
zu fragen wagte ſie nicht, und als Gretchen einſt er¬
wähnte: Fritz warte nur auf Erlaubniß, ſeinen Kran¬
kenbeſuch zu machen, konnte ſie kaum vor innerer Be¬
wegung dieſe Erlaubniß geben.
Bald darauf, — Klärchen war allein mit ihrem
Kinde im Zimmer, — öffnete ſich die Thür und Fritz
trat ein. Klärchen hatte eben ſinnend in den letzten
Abendſchein geſchaut und gedacht, ob Fritz wirklich
kommen würde, als er plötzlich vor ihr ſtand. Sie
erhob ſich erſchrocken vom Stuhl, er aber nöthigte ſie
zum Sitzen und bot ihr einen freundlichen guten Abend.
Als er ihr ſo mild und theilnehmend in die Augen
ſah, ging ihr das Herz über, ſie konnte keine Worte
finden, nahm ſeine Hand mit beiden Händen und
weinte bitterlich. Das war zu viel für Fritz, er machte
ſich los und trat ſchweigend an das Fenſter. Die
Hand, die ſie mit Thränen benetzt, legte er auf ſein
klopfendes Herz und flehte um Kraft. Feſt und ernſt
ſetzte er ſich dann zu ihr, ſprach tröſtliche Worte
zu ihr, aber berührte mehr ihr äußeres Leben. Klär¬
chen, die da meinte, ſie hätte zu heftig ihre innere
Bewegung kund gethan und ihn dadurch verletzt, nahm
ſich zuſammen und verſuchte ruhig und gelaſſen zu ſpre¬
chen. Das kleine Gretchen ward der Gegenſtand der
Unterhaltung. Fritz ſagte, wie er und Gretchen auch
ſolcher Freude entgegen ſähen, wie dann die Kinder
zuſammen ſpielen und groß werden könnten. Die
Tante und Gretchen kamen jetzt hinzu, und Klärchen
athmete leichter, die Unterhaltung ward ganz unbe¬
fangen. Die Tante ſprach zu Fritz von Klärchens
Wunſch, die Scheidung von Günther ſo ſchnell als
möglich gerichtlich zu machen, was bei den vorliegen¬
den Umſtänden nicht ſchwer ſein konnte. Klärchen
ſprach dann von ihren Lebensplänen, daß ſie wieder
nähen wolle und mit Gottes Hülfe ihr Kind ernähren
und erziehen. Sie drückte bei dieſen Worten ihr Gret¬
chen innig und zärtlich an das Herz und bemerkte
nicht, wie der Tante Blicke wehmüthig auf dem Kinde
ruhten, deſſen Augen ſo groß aus dem kleinen weißen
Geſichtchen herausſchauten. Der Mutter ſchwere Krank¬
heit hatte natürlich auch das Kind halb verkommen
laſſen; alle Sachverſtändige fürchteten für ſein Leben,
und nur Klärchen ahnete nichts von dem gefährlichen
Zuſtande.
Am nächſten Sonntag ging ſie zuerſt in die Ste¬
phani-Kirche. Ihr Herz war voll ſeliger Dankbarkeit
und voll heißen Gebetes. Das war ein ſegensreicher
Morgen. Sie konnte getroſt dem Herrn nahen und er¬
wartete ihren Frieden nicht mehr von äußerem Wohl¬
ergehen, ſondern nur in der Gnade und Liebe des
treuen Herrn.
Nach der Kirche rüſtete ſie ſich zu ihrem erſten
Gang in die Stadt. Es war ein ſchwerer Gang. Sie
ſagte Niemandem wohin, ſie ging zur Generalin. Dieſe
Frau, gegen die ſie ſich am ſchwerſten vergangen, de¬
ren Güte und Freundlichkeit ſie mit ſchmählichem Un¬
dank belohnt hatte, mußte ſie um Verzeihung bitten.
Mit klopfendem Herzen ſtieg ſie die Treppe hinauf, zog
ſie die Klingel. Der alte Bediente, der ihr eigentlich
immer gut Freund geweſen, machte ihr jetzt durch ſei¬
nen freundlichen Gruß den beſten Muth. Als er ging,
ſie zu melden, ſtand ſie allein in dem ihr wohlbekann¬
ten Vorzimmerchen. Der Nähtiſch, vor dem ſie ſo
oft geſeſſen, ſtand noch an demſelben Platz, der wohl¬
bekannte Arbeitskorb darauf. Sie ſah ſich dort im
Geiſte ſitzen mit all ihrer Eitelkeit, mit ihren tollen
Gedanken und wunderlichen Plänen für die Zukunft.
Ein ſchnelles Roth flog über ihre Wangen. Wie ſchämte
ſie ſich der Vergangenheit, wie ſchnell hatte ſich die
Zukunft ſtrafend für ſie enthüllt, wie bangte ihr vor
den ernſten Worten der Generalin, und wie trieb es
ſie doch wieder, ihr Herz zu erleichtern!
Die Generalin war indeſſen ſehr ſchwankend, ob
ſie Klärchen annehmen ſollte oder nicht. Sie hatte
von ihrem Schickſale gehört, fand es wohl verdient
9
und glaubte, daß jetzt nur äußere Noth und Bitte um
Unterſtützung Klärchen hergetrieben. Sie ſchämte ſich
aber faſt vor dem Bedienten, der hatte ſo theilneh¬
mend Klärchen genannt, der ſchien gar nicht zu zweifeln,
daß ſie vorgelaſſen würde, und ſie gab die Erlaubniß.
Klärchen konnte vor Bangigkeit erſt nicht reden,
ſie nahm nur der Generalin Hand und küßte ſie. Dieſe
ſagte mit etwas kaltem Tone: Ich habe von Ihrem
Unglück gehört, und bedaure Sie.
Ich bin jetzt nicht unglücklich, gnädige Frau, un¬
terbrach ſie Klärchen ſchüchtern, nicht ſo unglücklich,
als da ich bei Ihnen war. — Die Generalin machte
ein verwundertes Geſicht, und Klärchen fuhr fort:
Ich bereue meinen Leichtſinn, und hoffe, ich werde
mit Gottes Hülfe anders werden, ich konnte es nur
nicht laſſen (bei dieſen Worten wurde ihre Stimme
zitternd und Thränen traten in ihre Augen), ich konnt'
es nur nicht laſſen, vor allem erſt Ihre Verzeihung
zu erbitten; ich wage es kaum, es war zu ſchlecht,
o Gott! ich habe Sie ja beſtohlen. — — Klärchen
konnte nicht weiter reden, und die gutmüthige Frau
Generalin war ſo bewegt von dieſer unerwarteten
Scene, daß ſich ihre Gefühle plötzlich wandten, und
ſie die bleiche, junge Frau in den herzlichſten Worten
ihrer Verzeihung verſicherte. Sie unterhielt ſich noch
weiter mit ihr, fragte nach ihren Plänen für die Zu¬
kunft, und als ſie hörte, daß Klärchen wieder ſchnei¬
dern wolle, erbot ſie ſich, ihr ſelbſt Arbeit zu geben
und ihr auch Kundſchaft zu verſchaffen. Klärchen war
gerührt von dieſer Güte. Sie pries es als eine Gnade
Gottes und als die Erhörung ihres Gebetes von heut
Morgen in der Kirche, wo ſie zum Herrn ſo dringend
gefleht, ihr doch die Theilnahme und Liebe guter Men¬
ſchen wieder zuzuwenden, weil ſie doch noch ein gar
zu ſchwankendes Rohr ſei und leicht muthlos werden
könne; aber die Freude, bei der Frau Generalin im
Hauſe arbeiten zu dürfen, müſſe ſie erſt mit der Zeit
verdienen, ſie müſſe ſich jetzt noch zu ſehr ſchämen und
fürchten, ihre Wohlthäterin könne ihr noch nicht trauen.
Dieſe aufrichtige Reue machte die Generalin im¬
mer gütiger, und Klärchen ſchied von ihr das Herz
voller Troſt und froher Hoffnungen. Aber der Herr
wollte ſie lehren, gar keinen Troſt bei Menſchen, ſon¬
dern bei ihm allein zu ſuchen, und führte ſie noch
ſchwere Wege.
Als ſie nach Hauſe kam, hatte ihre Mutter das
kleine Gretchen auf dem Arm, und Klärchen bemerkte
zum erſtenmal, daß ihr Kindchen nicht ſo ausſah wie
andere Kinder dieſes Alters. Ein jäher Schreck fuhr
durch ihre Seele, ſie nahm es, ſah ihm in die gro¬
ßen, blauen Augen, faßte die welken Hände und ſah
flehend zum Himmel auf. Nein, das kann der Herr
nicht thun, das könnteſt du auch nicht ertragen! dachte
ſie. Vielleicht will er nur deinen Glauben prüfen, und
du willſt nicht aufhören zu bitten.
Sie forſchte bei der Mutter und bei der Tante
und anderen Bekannten nach deren Meinungen über
das Kind, und es war ihr Balſam, zu hören, wie
ſchwächliche Kinder oft leichter über die erſten Jahre
hinkämen, als ſtarke und vollſäftige. Ach, dachte ſie,
du willſt es ſorgſam pflegen und hüten, und der liebe
Gott wird das ſegnen.
9 *
Daß ſie, als ſie wieder zum Nähen ausging,
Gretchen der Pflege ihrer Mutter überlaſſen mußte,
wurde ihr ſehr ſchwer; doch die dreißig Thaler waren
zu Ende, und die Tante und alle vernünftigen Men¬
ſchen erwarteten, daß ſie ihre hergeſtellten Kräfte zur
Arbeit benutzen würde. Es wurde ihr nicht ſchwer,
ſich einen Wirkungskreis zu verſchaffen: ja bald ward
er ſo groß, daß ſie nicht allen Anforderungen genügen
konnte. Frau Krauter war ſehr glücklich darüber;
zwar reichte das Geld gerade nur von der Hand in
den Mund, ſie war aber gewohnt, nicht weiter zu
denken. Klärchens Tage gingen einförmig hin: in der
Woche nähte ſie in den Häuſern, jeden Sonntag ging
ſie in die Stephani-Kirche, die Feierſtunden, die ihr
blieben, widmete ſie der Pflege ihres Kindes. Von
einer Sorge, die auf ihrem Herzen ruhte, der Schei¬
dung von ihrem Manne, hatte ſie der Herr ſelbſt be¬
freit. Das Schiff, auf welchem Günther ſich einge¬
ſchifft, war im Kanal geſcheitert, und er ſelbſt hatte
den Tod und das Ende ſeiner Pläne in den Wellen
gefunden. So hätte ſie ſich in ihrem Stillleben un¬
geſtört und mit jedem Tage glücklicher fühlen können,
wenn nur ihr Kind friſch und geſund geweſen; aber
die bange Sorge ſaß ihr wie ein Stachel im Herzen,
und ihr Glaube war noch zu jung und ſchwach, um
willig ihr Liebſtes zu opfern und wie Abraham zu ru¬
fen: Herr, hier bin ich.
Es war am erſten Adventsſonntag. Klärchen war
früh in der Kirche geweſen und noch erfüllt von der
herrlichen Predigt, erquickte ſie ſich an der ſonntägli¬
chen Ruhe. Ihre Mutter war zu Tante Ricke gegan¬
gen, ſie ſaß allein in der Stube, ihr ſchlummerndes
Gretchen auf dem Schooße. Schneeflocken fielen leiſe
nieder, Klärchen ſchaute ſtill hinein, es war ihr, als
ob ſie durch die weiße Decke doch die ganze Herrlich¬
keit des Himmels ſähe; ſie fühlte eine Glückſeligkeit
von da oben ſich in ihr Herz hinabſenken, wie ſie nie
gefühlt. Sie faltete die Hände: O Du lieber himm¬
liſcher Vater, halte mich ſo wie Du mich in dieſem
Augenblicke hältſt, ich fühle mich an Deinem Herzen,
ich könnte Dir Alles geben, ja auch das Liebſte hier.
Sie ſah auf ihr bleiches Kind, aber fühlte eine ſelige
Verklärung im Herzen. Da ſchlug das kleine Gret¬
chen die matten Augen auf, die Mutter drückte es
heiß an ihr Herz und ſchluchzte: O Herr, aber gieb
Du Kraft! ich bin ſchwach, ſehr ſchwach! Sie fühlte
die Verheißung vom Tode ihres Kindes, und ihr Herz
konnte ſich beugen.
Aber dieſer ſeligen Stunde folgten viele bange,
ſie fing wieder an zu zagen, zu ringen, zu hoffen,
auf Mittel zu ſinnen, wie dem Kinde zu helfen ſei.
Beſonders glaubte ſie, daß ihre eigne Pflege nöthig
ſei, und ging deswegen nicht zum Nähen aus, wie
auch Frau Krauter darüber böſe war; denn wenn Klär¬
chen meinte, im Hauſe eben ſo viel verdienen zu kön¬
nen, merkten ſie bald an der Kaſſe, daß dem nicht
ſo war. Stundenlang trug ſich Klärchen mit dem
Kinde, oder ſaß von Kummer und Wachen ermattet
mit müßigen Händen. Bis vierzehn Tage vor Weih¬
nachten ging es leidlich, der Hausſtand hatte noch
nicht Mangel gelitten, da trat aber ſtatt des bisheri¬
gen milden Wetters ſtrenge Kälte ein, und Holzman¬
gel machte ſich bitter fühlbar. Tante Rieke wagte
Klärchen nicht anzuſprechen, weil ſie ja durch eigne
Schuld in dieſe Verlegenheit gekommen war, und auch
die Mutter hatte nicht Muth dazu, weil Tante Rieke
ihr Weihnachten ſchon die Miethe geben mußte. So
ward denn für jetzt beſchloſſen, Klärchens Flitterſtaat
zu verkaufen, den ſie um Alles in der Welt doch nicht
wieder getragen haben würde. Frau Krauter war ſehr
zufrieden damit. Wir helfen uns noch einige Wochen
hin, dachte ſie, länger kann das Würmchen nicht mehr
leben, und dann iſt Klärchen doppelt fleißig und die
Noth hat ein Ende. Der ſchwarze ſeidene Mantel
und der Sammethut machten den Anfang, dann folg¬
ten allerhand Kleinigkeiten, für die aber ſehr wenig
eingenommen wurde, und da Tag und Nacht geheizt
werden mußte, auch außer Eſſen und Trinken noch
Medizin und allerlei andere Dinge zu beſchaffen wa¬
ren, ſo war bald die Kaſſe wieder ſo leer wie zuvor,
und Klärchen ſtand am dritten Weihnachtstage troſtlos
vor den leeren Kommodenkaſten. Noch fand ſich eini¬
ges Unbedeutende, das ſie ſich eigentlich ſchämte aus¬
zubieten, aber die Mutter brachte einen Thaler dafür.
Das Schlimme bei dieſem Verkaufen war nur, daß
Klärchen für den Flitterſtaat nichts Derbes und Feſtes
in der Stelle hatte. Ein Deckentuch war ihr einziges
warmes Kleidungsſtück und hatte auch bei dem milden
Wetter ausgereicht; jetzt hatte ſie weder einen Mantel,
noch ein warmes Kleid, und konnte kaum die warme
Stube verlaſſen. Aber auch dieſe Stube war nicht
mehr warm zu machen; am Sylveſter-Morgen blieb
Frau Krauter im Bett liegen, um nicht zu frieren,
und Klärchen ging in den Holzſtall, um noch einmal
Nachleſe zu halten, obgleich ſie geſtern Abend ſchon
ſehr genau eingeſammelt hatte. Sie fand einige Split¬
terchen, kochte noch einmal Kaffee und für Gretchen
einen Brei. Die Stube ward kaum warm. Klärchen
fragte nichts nach der Kälte, aber Hülfe mußte nun
geſchafft werden, das Kind durfte nicht frieren. Vor
allen Dingen zog ſie ſelbſt ihren einzigen wollenen
Unterrock aus, machte eine Kappe davon, hüllte das
Kind da warm hinein und trug es ſo im Deckentuch
in der kalten Stube. Um noch etwas unter dem dün¬
nen wollenen Mouſſelin-Kleide zu haben, hatte ſie den
weißen Unterrock mit der Friſur angezogen, der aus
ihrer Mädchenzeit, jetzt aber dünn und verwaſchen,
kaum noch zu Futter nutzbar, in einer Ecke lag. Sie
kämpfte lange, ob ſie zu Tante Rieke gehen ſollte,
oder vielmehr zu Buchſteins; denn ſchon ſeit acht Ta¬
gen war die Tante dort, weil Gretchen an einer bö¬
ſen Grippe niederlag. Sie entſchied ſich zum Gehen,
die Noth war zu groß, ihre Stube ward immer kälter,
die Mutter jammerte nach Eſſen, und ſie ſelbſt und
ihr Kind waren hungrig. O wenn ſie nur Kraft zum
Beten gehabt hätte! Aber ſie war matt und ſchwach,
konnte ſich nicht erheben und trug all dies Elend als
eine wohlverdiente Schuld.
Der Nordwind pfiff durch ihre dünnen Kleider,
an allen Gliedern bebend trat ſie zu Buchſteins in das
Haus. Fritz nahm eben dem Lehrjungen einen Korb
mit Spähnen und Holzabfällen ab, die er in der
Werkſtatt aufgeräumt. Klärchens Blicke ſahen unwill¬
kürlich verlangend darauf. Fritz, der für Klärchens
Augenſprache immer noch ein feinfühlendes Verſtänd¬
niß hatte, verſtand auch dieſen Blick. Ein heißes Weh
ging durch ſein Herz. Sie iſt in Noth, dachte er,
ſie ſieht bleich und kümmerlich aus, und ihr habt ſie
vergeſſen. Er führte ſie in die Stube. Gretchen hatte
zum erſtenmal das Bett verlaſſen und ſaß in Betten
und Mäntel gehüllt im Lehnſtuhl, Vater Buchſtein
und die Tante ſaßen neben ihr, freueten ſich ihrer
Geneſung, der ſie mit einiger Beſorgniß entgegen ſa¬
hen, weil der ſehr heftige Huſten in Gretchens Zu¬
ſtande was Angſtvolles hatte. Die Tante erſchrak, als
Klärchen als ein ſo ſprechendes Bild des Jammers
und des Elendes in die Stube trat. Fritz ſtellte ihr
einen Stuhl an den Ofen, ſie ſetzte ſich, aber immer
noch flogen ihre Glieder vor Froſt.
Wie geht's Euch denn? fragte die Tante beſorgt.
Die Mutter liegt im Bett, und mein Gretchen —
hier ſtockte Klärchens Stimme.
Warum haſt Du keinen Mantel um? — fuhr die
Tante fort — was haſt Du an? Sie hob unwill¬
kürlich das dünne Kleid und den wohlbekannten Fri¬
ſurenrock auf. Ach Gott! nichts weiter? ſagte die
Tante erſchrocken, warum denn keinen wollenen Rock?
Klärchen legte beide Hände vor die Augen. Ich
habe keinen, ſchluchzte ſie, und habe nichts, nichts!
Fritz trat an das Fenſter, er konnte ſeinen Augen nicht
gebieten. Gretchen bat die Tante, welche Kleidungs¬
ſtücke ſie für Klärchen holen ſollte; aber Klärchen ſagte
leiſe weinend:
O nichts für mich, nur etwas Holz und Eſſen
für meine Mutter und mein Kind.
Fritz eilte hinaus. Der Korb mit dem Holze ſtand
noch dort, alles mögliche aus der Speiſekammer packte
er hinzu und eilte nun voran in Klärchens Wohnung.
Wie fand er es hier! öde und kalt, das Kind wei¬
nend, die Großmutter klagend. Mit zitternden Händen
machte er ſelbſt Feuer, ſtellte Waſſer dabei, und als
Tante Rieke mit dem eingekleideten Klärchen in die
Stube trat, hörte dieſe wenigſtens das tröſtliche Kni¬
ſtern im Ofen. Sie ſah ihn ſo demüthig und dank¬
bar an, er konnte den Blick nicht vertragen, ſein Ge¬
wiſſen machte ihm Vorwürfe, daß er ſie darben ließ;
freilich war ſein Gretchen in den Tagen ſchwer krank
geweſen, und ſeine Zeit durch die Pflege hingenommen,
aber daran dachte er jetzt nicht, ſondern nur an ſeine
Schuld.
Als er darauf den Abend allein ſaß und dem
neuen Jahr entgegen wachte, — denn ſein alter Vater
war jetzt ſehr kränklich und auch die Tante von den
vorhergegangenen Nachtwachen angegriffen, — da gin¬
gen ſeine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Es
waren zwei Jahr, daß er zu Klärchen die warnenden
Worte geſprochen, — wie hatte ſich ſeitdem alles geän¬
dert! Er fühlte dankbar, daß der Herr ſeine Gebete
erhört, an der Seite ſeines treuen Gretchens war er
von aller Unruhe des Herzens geheilt, und wenn auch
die Jugenderinnerung zuweilen wunderlich durch ſeine
Seele klang, ſo hatte das nichts Schmerzliches mehr.
Klärchen war der Welt entfremdet und dem Himmel
gewonnen; Fritz flehte zum Herrn, daß er alle ihre
Herzen verklären möge, daß er ſie einen Weg führe
zum himmliſchen Jeruſalem und dort oben ewig ſelig
vereinigt halte.
Während Fritz ſo mit ſeinen Gedanken allein war,
ſaß Klärchen ebenſo an der Wiege ihres hinwelkenden
Kindes. Sie war matt und krank, ihre Glaubens¬
welt ſchwach und ohne Halt, das Leben war ihr trüb'
und der Himmel fern, ihr einziger Troſt war das
Kind, ihr einziger Gedanke: ſo grauſam kann Gott
nicht ſein, dir dies zu nehmen. Und doch kann er
es, dachte ſie angſtvoll, und du haſt es verdient! —
Das Leben lag wie eine ſchwere Schuld hinter ihr,
und der erlöſenden Liebe wagte ſie ſich nicht zu nahen.
In die Kirche war ſie nicht gekommen, die Tante und
Buchſteins hatte ſie lange nicht geſprochen, ſo fehlte
es ihr an jedem ſtärkenden Zuſpruch, und innerlich
und äußerlich welkte ſie dahin.
Am anderen Morgen ſtand Frau Krauter trotz der
warmen Stube nicht auf, ſie fühlte ſich wirklich krank,
und als es in den nächſten Tagen zunahm, ſchickte
die Tante einen Arzt. Der erklärte es für eine ner¬
vöſe Grippe. Klärchen hatte nun doppelt zu pflegen,
und da die Tante immer wieder an Gretchens Kran¬
kenbette gebunden war, ſtand ſie ganz allein. Nur
Fritz kam zuweilen; aber ernſt und ſchweigſam war
er, Klärchen hielt das für eine verdiente Nichtachtung,
wagte ihn kaum anzuſehen und zu danken für Alles,
was er ihr zur Erleichterung that und ſchickte. So
gingen ihr die Tage wie im dumpfen Traume hin.
Nach drei Wochen erklärte der Arzt den Zuſtand der
Mutter für beſſer, zugleich aber ward ſein Geſicht beim
Anſchauen des Kindes immer bedenklicher. Klärchen
empfand große Qualen; je mehr ſie das Kind hegte
und pflegte, je furchtbarer ward ihr der Gedanke ſei¬
nes Todes. Eines Abends wollte es die Bruſt nicht
mehr nehmen und hing matt das Köpfchen; wie ein
Schwert fuhr der Schmerz durch Klärchens Bruſt. Sie
wußte in der Angſt nicht was beginnen; der liebe
Gott will nicht helfen, vielleicht können es Menſchen.
Sie ſtürzte zur Tante, aber bei Buchſteins war Angſt
und Verwirrung, der alte Benjamin ſtand mit gefal¬
teten Händen im Hauſe, Gretchen lag in ſchweren
Kindesnöthen. Klärchen lief zu Guſtchen Vogler, lief
zum Arzt; der fand das Kind freilich ſehr krank, er
hatte es aber nicht anders erwartet. Guſtchen blieb
die Nacht, machte Thee, wärmte Tücher und hörte
Klärchens Klagen an. Die Nacht war ſo lang, dichte
Schneeflocken hielten die Dämmerung am Morgen noch
länger auf. Endlich ward es Tag. Klärchen hielt
laut jammernd das ſterbende Kind auf dem Schooße,
als die Thür ſich öffnete und Tante Rieke eintrat.
Eben ſtirbt mein Kind! rief Klärchen verzweif¬
lungsvoll.
Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genom¬
men, ſein Name ſei gelobt ewiglich, — ſagte die
Tante bewegt.
Nein, nein, rief Klärchen und küßte den letzten
Athemzug von des Kindes Lippen.
Ja, ja, ſagte die Tante. Klärchen, laß uns
beten, wir ſind jetzt beide kinderlos, — Thränen er¬
ſtickten ihre Stimme, — auch mein Gretchen iſt hin¬
übergegangen.
Klärchen ſtarrte ſie an. Ja, fuhr die Tante fort,
laß uns den lieben Herrn im Himmel bitten, daß er
uns Kraft giebt, daß er uns tröſtet.
Der liebe Herr im Himmel? ſtöhnte Klärchen;
aber ihre Hände falteten ſich, die ſeligen Stunden,
die ſie mit dieſem Herrn ſchon verlebt hatte, nahten
ſich ihr plötzlich wie ein Troſtes-Engel. Am erſten
Advent hatte ja ihr Kind eben ſo bleich auf ihrem
Schooße geruht; damals hatte ſie Kraft, es dem Herrn
willig hinzugeben. O Herr, hilf mir! flehte ſie,
und der Herr half. Ja wunderbar, ſchnell, augen¬
blicklich! eine ſelige Erhebung fühlte ſie im Herzen,
der düſtere Traum, die Angſt war vorüber. Sie
konnte mit der Tante beten, ſie konnte mit ergebenem
Herzen heiße Thränen weinen.
Und dieſe Thränen floſſen noch oft, aber ſie lö¬
ſten die Laſt ihres Gewiſſens und machten ſie zum
Kinde Gottes.
Klärchens äußeres Leben war bald wieder im
alten Geleiſe. Sie ging aus zum Nähen; weil ſie
geſund war, und nichts ſie mehr an's Haus feſſelte,
wollte ſie auch wieder arbeiten. So ſtill und einför¬
mig ihre Tage aber auch äußerlich hingingen, ſo warm
und lebendig war es ihr im Herzen: ihre Gedanken
zogen immer mehr dem Himmel zu, dahin, wo ihr
Kindchen mit den Engeln ſpielt, und der Himmel kam
zu ihr hernieder mit ſeinem Frieden, ſeiner Seligkeit.
Sie verlangte und hoffte von dieſem Leben nichts wei¬
ter, ja, wenn ſie des Abends oder des Sonntags bei
der Tante war, dieſe ſie mit Liebe und Vertrauen
überhäufte, und wenn gar Fritz dazu kam, mit ihnen
ſprach, ihnen vorlas, und ſie einen theilnehmenden
Blick von ihm erhaſchte, da meinte ſie, ſo glückliche
Tage nicht verdient zu haben, und bat Gott, ſie ihr
bis zum Lebensende ſo zu erhalten.
Der Sommer ging vorüber, auch der halbe Win¬
ter. Am Sylveſter-Abend ſaßen Klärchen, Fritz und
die Tante beiſammen, es wurde nicht geſcherzt und
fröhlich geplaudert, aber alle drei waren im Herrn
ſelig vergnügt. Fritz, obgleich er es nicht wagte, die
Wünſche ſeines Herzens in die Wirklichkeit hinaus zu
denken, ahnete doch, was der Herr mit ihm vorhätte.
Unter ſchweren Kämpfen hatte er ihm einſt ſein thö¬
richtes Herz und ſeine Jugendliebe übergeben, verklärt
ſollte er dieſe Liebe aus ſeiner Hand zurück erhalten.
Als er Klärchen gute Nacht wünſchte und den Segen
des Herrn zum neuen Jahr, da konnte er ſeiner
Stimme nicht gebieten, und Klärchen fühlte den Ton
in ihrer Seele. O Gott! ſie wagte es ja kaum, in
ſeine reinen, lichten Augen zu ſchauen, ſie hatte ihn
nur in ihr Gebet eingeſchloſſen und erſehnt, er möchte
ihr nicht länger zürnen.
Frau Krauter, die ſeit der ſchweren Krankheit ſich
nie wieder ganz erholt und immer gekränkelt hatte,
mußte ſich nach Neujahr legen, und Klärchen durfte
ſie nicht verlaſſen. Doch ward ihr eine lange Kran¬
kenpflege diesmal erſpart, ein Lungenſchlag machte der
Mutter Leben ſchnell ein Ende.
Klärchen war nun eine Waiſe. Und doch nicht, —
die Tante nahm ſie nicht allein an ihr Herz, auch in
ihr Haus, und ward ihr eine wahrhafte Mutter. Als
der Frühling draußen ſproßte, ſaß Klärchen in Gret¬
chens Fenſter neben blühenden Schneeglöckchen. Der
alte Benjamin hatte ſie ihr gebracht; ja, ſeine Liebe
zu Gretchen war auf Klärchen übergegangen, und
Klärchen hatte mit ihm wieder ſcherzen und plaudern
und fröhlich ſingen gelernt. Der Staarmatz rief: „Klär¬
chen, ſo recht“, und mit dem Dompfaffen ſang ſie:
Lobe den Herrn, o meine Seele! — Fritz arbeitete
rüſtig in der Werkſtatt, lauſchte zum Fenſter hinaus,
und ſein Herz ſchlug hoch auf, wenn er Klärchens
blaue Augen ſah, ſo rein, ſo kindlich und verklärt,
wie ſie ihm auf ſeinen Wanderungen vorgeſchwebt.
Als aber der Frühling immer ſchöner hervorbrach,
Blüthen und Blumen ſich entfalteten, konnte ſich auch
Fritz nicht länger halten, und Klärchen durfte den gan¬
zen Himmel ſeiner Liebe ſchauen.
Sie iſt jetzt Frau Meiſterin, ſie iſt ſtolz auf ihren
Stand und trägt nur dunkle Strümpfe, feſte Leder¬
ſchuh und ein einfaches Kleid. Sie iſt neu und ſchö¬
ner erblüht, iſt die Freude ihres Mannes und der Se¬
gen ihres Hausſtandes. Der alte Buchſtein ſitzt im
Lehnſtuhl und wiegt ſein jüngſtes Enkelchen auf den
Knieen, Benjamin führt ein kleines blondes Gretchen
zur Tante hinüber, Klärchen ſitzt unter dem offenen
Fenſter der Werkſtatt und ſingt mit ſchöner Stimme:
Lobe den Herrn, o meine Seele,
Ich will ihn loben bis in Tod!
Weil ich noch Stunden auf Erden zähle,
Will ich lobſingen meinem Gott;
Der Leib und Seel gegeben hat,
Werde geprieſen früh und ſpat.
Halleluja, Halleluja.
Selig, ja ſelig iſt der zu nennen,
Deß Hülfe der Gott Jacob iſt,
Welcher vom Glauben ſich Nichts läßt trennen
Und hofft getroſt auf Jeſum Chriſt.
Wer dieſen Herrn zum Beiſtand hat,
Am beſten findet Rath und That.
Halleluja, Hallelujah.
Druck von Ed. Heynemann in Halle.