Der „Friede“ als Neujahrsgruß. — Der Zar iſt
krank. — Angeblicher Zwieſpalt der Kirchenfürſten
Amerika’s. — Gegen den „Felſen Petri“. — Der
Kaiſerin letzte Fahrt. — Frankreich’s Kultusminiſter
und das Paternoſter. —
„Friede ſei ihr erſt Geläute!“ gebot der Meiſter
im „Lied von der Glocke“. Des Friedens Botſchaft
verkündeten als Antwort auf die Reujahrsgratula-
tionen der Diplomaten die Inhaber der europäiſchen
Thronſeſſel. Ja wohl, den Frieden haben die Mächtigen
auf der Zunge; aber „Betrug iſt überall und Heuchel-
ſchein“. Iſt das der Friede, wenn alle Staaten ohne
Ausnahme in Waffen ſtarren; wenn man ſieht, daß die
militäriſchen Vorbereitungen, die Waffenvermehrung, die
Heeresverſtärkungen alle Werke des Friedens in den Hin-
tergrund drängen? O, dieſe fürſtlichen Neujahrsorakel!
da werden einfach die alten ſtereotypen Cliches hervorge-
holt, die wahren Geſinnungen aber bleiben tief im Herzen
verborgen, oder gleichen wenigſtens den Kleidertrachten,
die der Tyrannei der Mode und der Schicklichkeit dienſt-
bar ſind. Wenn auch alle Hofreden am Neujahrstage
„friedlich“ klingen, ſo ſind es eben nur Worte und
Wünſche, hinter welche die thatſächlichen Kriegsvorberei-
tungen ein dickes? ſetzen. „Der Krieg wird“, ſagt Dr.
Zardetti — nunmehriger Biſchof von St. Cloud — aus
dem Völkerleben nie verdrängt werden können, ſo lange
der Krieg lebt im Individuum, d. h. der Zweikampf
zwiſchen Gut und Böſe, Gnade und Sünde“. Im „Spiele
des Lebens“ ſind eben überall die Leidenſchaften als
Triebfedern thätig: Stolz und Herrſchſucht. Habſucht,
Rachſucht, Neid und Mißgunſt, und immer wiederholt ſich
auf dem Welttheater, im Kleinen wie im Großen, was
der Dichter in jenem ſchönen Bilde ſchildert:
„Ein jeglicher verſucht ſein Glück,
Doch ſchmal nur iſt die Bahn zum Rennen;
Der Wagen rollt, die Achſen brennen,
Der Held dringt kühn voran, der Schwächling bleibt zurück,
Der Stolze fällt mit lächerlichem Falle,
Der Kluge überholt ſie Alle.“ —
— Was die Großen der Erde doch für arme Reiche
ſind! da liegt Rußlands mächtiger Kaiſer tief in den
Federn und der Krankheit Grund iſt in ein geheimniß-
volles Dunkel gehüllt; die verſchiedenartigſten Gerüchte
ſpinnen ſich um den düſtern Kaiſerpalaſt; nach den Einen
wäre der Kaiſer „influenzirt“, nach den Andern ſogar
vergiftet, und eine dritte Verſion läßt ihn das Opfer
eines jähen Schreckens werden. Vor einigen Tagen befand
ſich der Kaiſer mit ſeiner ganzen Familie in ſeinen Pri-
vatgemächern, als die Gaslichter plötzlich erloſchen und
Jedermann an ein nihiliſtiſches Attentat glaubte. Die
Kaiſerin fiel in Ohnmacht und der Zar einer ſo fürchter-
lichen Aufregung anheim, daß er beinahe den Verſtand
verlor. (Bekanntlich iſt die Zarin in Folge des aufge-
regten, angſtvollen Lebens in Petersburg geiſtesgeſtört.)
Wie wenig beneidenswerth doch Thron und Szepter der
Moskoviten ſind! In einem Gewölbe leben, in ſtetem
Argwohn gegen ſeine vertrauteſten Freunde, ſelbſt gegen
ſeine Verwandte, bei dem geringſten Geräuſche erzittern
— das iſt das klaſſiſche Leben des Tyrannen. Für ihn
gilt nicht des Dichters Ermahnung
„In des Herzens heilig ſtille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang!“ —
Der Beherrſcher aller Reußen hat keinen Quadratfuß
Boden, wo er mit Frau und Kindern ohne Todesgefahr
weilen zu können glaubt. Und in des „Herzens ſtille
Räume“ dringen tauſend Todtengrüße aus den Gräbern
und tauſend verzweifelte Flüche aus — Sibirien!
Wie viel Erfreuliches vernimmt man nicht immer
von der Größe und dem Gedeihen der katholiſchen Kirche
in den Vereinigten Staaten Nordamerika’s! Wun-
derbar iſt das Wachsthum und der äußere und — gei-
ſtige Aufſchwung des Katholizismus in jener gewaltigen
Republik, wo man den Konfeſſionen wahre und volle
Freiheit zu ihrer Entfaltung geſtattet. Jetzt macht
das „Vaterland“ in Luzern plötzlich einen ſchwarzen
Strich durch das ſchöne Gemälde: es läßt ſich aus New-
York ſchreiben: es gehe ein Riß durch die katholiſche
Kirche Amerika’s; denn die deutſchen und iriſchen Bi-
ſchöfe Amerika’s ſeien aus Eiferſucht und Egoismus
Todfeinde auf einander und ſuche jeder Theil ſeiner
Nationalität die ausſchließliche Herrſchaft zu erringen.
Das Luzerner Blatt iſt bekanntlich kein Evangelium und
geht es in ſelbiger Gegend oft recht menſchlich zu; wun-
dern muß man ſich aber doch, daß ein katholiſches Blatt
ſeinen Leſern derlei amerikaniſche Bären zu ſerviren
wagt; denn ſchon die Vorſtellung iſt geradezu ungeheuer-
lich, daß die Spitzen und Vorbilder des Klerus ſelbſt
die Kardinaltugenden der kirchlichen Disziplin und des
irdiſchen Glückes: Friede und Eintracht, um niedriger
Beweggründe willen ſtören und ſich ſelbſt zerfleiſchen.
Wahrſcheinlicher wäre denn doch, daß ein Feind der blü-
henden kirchlichen Gemeinſchaft Amerika’s von jener Seite
entſtünde, die unſer berühmte Landsmann Dr. O. Zar-
detti, nach ſeinem erſten längeren Verweilen in der über-
ſeeiſchen Republik, in ſeiner Broſchüre: „Maryland, die
Wiege des Katholizismus und der Freiheit Nordamerka’s“
(1881) in den Worten andeutete: „Parallel neben der
univerſellen Gotteskirche wirkt aber auch und verbreitet
ſich in Amerika das internationale Gewebe der Frei-
maurerei; es zeigen ſich zumal ſeit einigen Jahren im
öffentlichen Leben der Veremigten Staaten Symptome
von einer zunehmenden geheimen Vereinigung gegen das
Umſichgreifen und Wachſen katholiſchen Lebens und Ein-
fluſſes.“ — Bis jetzt erwies ſich zum Glück auch dieſe
Befürchtung als unbegründet, indem die katholiſche Kirche
in der Staatenrepublik mit den jeweiligen Behörden ſtets
auf beſtem Fuße ſteht, wie es ſich eben noch anläßlich
der hundertjährigen Jubiläumsfeier der Errichtung des
erſten katholiſchen Bisthums der Vereinigten Staaten in
Baltimore, dem katholiſchen Kongreſſe und der Einweihung
der katholiſchen Univerſität zeigte. Der Präſident der
Vereinigten Staaten, Mr. Harriſon, wohnte einem Theile
dieſer katholiſchen Feſtlichkeiten bei und ſprach ſich, ob-
wohl Proteſtant, voll Wohlwollen für katholiſche Inſtitu-
tionen und Beſtrebungen aus.
Am 30. Dezember abhin hielt der hl. Vater Leo
XIII. im Conſiſtorium eine Anſprache, die als eine der
bemerkenswertheſten des Pontifikates dieſes Kirchenfürſten
gehalten wird. Mit großer Mäßigung in der Form,
aber mit ebenſo großer Klarheit und Beſtimmtheit in der
Sache ſelbſt hob der Papſt die ſo zahlreichen und ſchweren
Eingriffe in die Rechte der Kirche hervor, denen ſich das
Königreich Italien ſchuldig machte, um ſeine Beraubungen
und Ungerechtigkeiten voll zu machen. Die amtliche und
halbamtliche Preſſe Italiens, abgeſehen von der unab-
hängigen Revolutionspreſſe, ſpeit Feuer und Flammen
gegen die päpſtliche Allokution. Die Raſenden warten ja
nur den Augenblick ab, um den Papſt ſammt dem Papſt-
thum „für immer“ zu beſeitigen. Die Thoren! Sie
lernen nichts aus der Vergangenheit Roms und ſind blind
für die Zeichen der Zukunft, die den wankenden Thron
Humberts mit großer Wahrſcheinlichkeit vom Sturme hin-
wegfegen laſſen. Die Thoren! Der Papſt wird bleiben
und das Papſtthum auch! „Wohl zeigen die Päpſte“,
ſagt Dr. Höhler, „hie und da menſchliche Schwächen,
Mißgriffe, Fehler; denn auch die größten Päpſte waren
und blieben Menſchen; aber das Geſammtergebniß ihrer
Geſchichte iſt die unumſtößliche Wahrheit, daß das Papſt-
thum, vom Welterlöſer ins Daſein gerufen, um das
Fundament ſeiner Kirche zu ſein, auch das Funda-
ment des großen Baues der moraliſchen Welt-
ordnung iſt, mit welchem dieſe ſelbſt ſteht und fällt.“
Ein Unglück kommt ſelten allein und der Dulder Job
ſagt: „du ſucheſt ihn am Morgen heim und prüfſt ihn,
ehe er’s denkt!“ Auch die Großen dieſer Erde bekommen
dieſe Wahrheiten zu fühlen: Dom Pedro’s Thron iſt im
November von der Revolution weggefegt worden und
nun raubt ihm der Tod auch noch ſeine treue Lebensge-
fährtin, ein Schlag, der den entthronten Kaiſer von Bra-
ſilien noch tiefer erſchüttert als ſelbſt den jähen Sturz
aus der Höhe ſeiner Lebensſtellung. Die Revolution im
ſüdamerikaniſchen Kaiſerreiche Amerika kam ebenſo uner-
wartet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kann aber
doch nicht überraſchen, wenn man bedenkt, daß Dom Pe-
dro’s Land eine der beliebteſten Zufluchtsſtätte der Frei-
maurerei iſt. Laut dem Jahrbuche des „Groß Orients“
für 1882 gibt es in Braſilien nicht weniger als 390
Freimaurerlogen; dieſe aber waren noch immer die Haupt-
wühler gegen Thron und Altar. — Die jetzt in der
Verbannung verſtorbene Kaiſerin Thereſia war eine Nea-
politanerin von Geburt, eine Frau von hohem Geiſte und
ſtarker Willenskraft, die ihrem Manne eine ausgezeichnete,
aufopfernde Gattin geweſen. Sie hatte ihren Gemahl
ſchon mehrere Male auf ſchwankendem Schiffe nach Eu-
ropa herüber begleitet, dießmal um nicht mehr zurückzu-
kehren — ein wechſelreiches Leben, das ſich unbewußt in
folgenden Verſen eines in Braſilien wirkenden deutſchen
Jeſuiten ſpiegelt:
„Hinüber, herüber:
So woget das Leben,
Das irdiſche Streben,
Das wechſelnde Spiel.
Herüber, hinüber,
Doch einmal dann landet
Die Barke geſtrandet,
Kehrt nimmer herüber,
Dann ſteht ſie am Ziel“.
Frankreich’s Kultusminiſter und das „Pater
noſter“. In den vielen Pariſer Theatern darf bekannt-
lich alles „geſpielt“ werden, was die Sitten verletzt und
die Religion und ihre Inſtitutionen verhöhnt, die Ehre
des Landes in den Koth zieht; nur beileibe nichts, was
einen religiöſen Anſtrich hat! Das kennzeichnet das herr-
ſchende Regiment der Franzoſen. Nun hat ſich aber der
freiſinnige Kultusminiſter Fallieres in ſeiner übertriebenen
Vorſicht ſelbſt vor den frivolen radikalen Pariſern un-
ſterblich blamirt, indem er einem Drama des Dichters
Coppee die Erlaubniß zur Aufführung verſagte. Der
Verfaſſer hatte ſein Werk «Le Pater» („das Vaterunſer“),
das nicht bloß chriſtlich geiſtert, ſondern geradezu chriſtlich
iſt, dem Miniſter zur Genehmigung eingereicht. Es hat
aber, wie bemerkt, die Zenſur nicht beſtanden. „Aus
Haß gegen den Katholizismus oder Antiklerikalismus des
Miniſters“ ſagen die Einen; Andere ſagen aus Rückſicht
für die Kommunarden. Erzählen wir aber lieber, um
was ſich’s in dem gefährlichen Theaterſtück handelt: das
Ereigniß ſpielt in den letzten Tagen der Kommune (Mai
1871) in einem Hauſe an der Straße Haxo zu Paris.
Der Kampf zwiſchen den Kommunarden und den Re-
gierungstruppen war entſetzlich; die Kommunarden hatten
die Geiſeln, die im Gefängniſſe La Roquette untergebracht
waren (der Erzbiſchof von Paris, eine Anzahl Kleriker,
Mönche und Private) bereits ermordet; unter dieſen auch
einen Prieſter, Bruder einer ſehr religiöſen Frau, welche
der Dichter dem Leſer vor Augen führt. Nun flüchtet
ſich der Offizier, welcher die Erſchießung der Geiſeln an-
geordnet hatte, zu eben dieſer Frau: todtenblaß, außer
ſich, wird der gewiſſensgeängſtigte Kommunarde von den
ſiegenden „Verſaillern“ gehetzt — das Erſchoſſenwerden
kommt jetzt an ihn. . . . . Er fleht die Schweſter des von
ihm füſillirten Prieſter an, ihm das Leben zu retten.
Fräulein Roſa zögert einen Augenblick beim Anblick des
Mörders ihres Bruders, erinnert ſich an ihr vorhin be-
gonnenes, aber unterbrochenes Vaterunſer und betet es
dann zu Ende: „Und vergib uns unſere Schulden, wie
auch wir vergeben unſern Schuldnern rc.“ — Sie ver-
zeiht, wirft dem Kommunarden die Soutane ihres Bru-
ders über, und als der Berſailler Offizier dem Flüchtigen
auf dem Fuße folgt, ſpricht ſie, auf den verkleideten
Kämpfer der Kommune zeigend: „Mein Herr, ich wohne
hier allein mit meinem Bruder“. — Der Offizier der
Regierung zog ſich verbeugend zurück, und der Offizier
der eben in ihren letzten Zügen liegenden Kommune iſt
gerettet. — Und jetzt urtheile Einer über die Weisheit
der radikalen Machthaber: Während täglich die unrein-
lichſten Sachen über die Bretter gehen, welche in Paris
die Welt bedeuten, bringt der Dichter des „Pater“ nichts
auf die Bühne, was mit der Moral auf geſpanntem Fuße
ſteht, oder nicht nachgeahmt werden dürfte. Der drama-
tiſche Konflikt, um welche ſich die Poeſie Coppee’s dreht,
iſt vielmehr ein rein ſeeliſcher, hoch-pathetiſcher: der Sieg
über ſeine eigene Natur, der chriſtlichen Liebe über die
Rachſucht im Herzen der tief gekränkten Schweſter. —
Die Lehren des Heidenthums haben Freiplätze im jetzigen
Frankreich — das Chriſtenthum iſt geächtet.