Herrn Prof. Wh.Whilhelm Scherer in Berlin.
Höchst geehrter Herr,
Es ist ein eigenthümliches Spiel des Zufalls, daß, gerade in dem
Augenblick, wie ich daran gehen will, einige Zeilen an Sie zu richten, meine
Frau mir die National-Zeitung bringt, um mich – der ich gewöhnlich
die „Familien-Anzeigen“ nicht lese – darauf aufmerksam zu machen, daß
Ihnen ein Sohn geboren ist.
So lassen Sie mich, denn (Ihnen) in erster Reihe – zugleich
mit im Namen meiner Frau – Ihnen und Ihrer Gemahlin dazu
von Herzen Glück wünschen. Möge der neue Anköm̃ling Ihnen zur
Freude und zum Glück gedeihen, heranwachsen und sich entwickeln!
Amen!
Ich kom̃e nun auf die Angelegenheit, die mich zum Brief-
schreiben veranlasst und die uns vor Jahren zusam̃engeführt.
Ich darf wohl voraussetzen, daß Ihnen meine jünsten Arbeiten,
eine das gesam̃te Deutschland umfassende einheitliche Rechtschreibung
mit Verwindung jeder Kluft zwischen Schule und Leben herbeizu-
führen vollständig bekañt sind, namentlich auch meine darauf
bezüglichen Aufsätze in der (Augsburger) „Allgemeinen Zeitung“ in der
Beilage
Beilage No. 344 v. J.vorigen Jahres und No. 36 u.und 42 von d.J.diesem Jahr
Eigentlich kañ das Minoritäts- der orthographischen Kon-
ferenz, d.h.das heißt Sie, Dr. Toeche und ich, sich in dem jetzigen Stand der Angelegen-
heit eines errungenen Erfolgs rühmen, da von dem, was wir gegen
die Mehrheit (und unter dieser gegen Raumer selbst) bekämpften mussten,
in der bairischen und der preußischen Schulorthographie kaum irgend die
Rede ist. Über das mir in dem Kampf angethane Unrecht, worauf
ich – der Verteidiger der ursprünglichen Raumer‘schen Vorlage gegen Raumer
selbst – als Gegner dieser urspürnglichen Vorlage hingestellt werde, kañ ich
mich freilich um so leichter trösten, als alle Kundigen sofort die Falschheit
dieser Darstellung erkeñen werden oder erkañt haben. Was mich schmerzt,
ist nichts Persönliches, sondern rein sachlich die Wahrnehmung, daß
die allseitig erstrebte und erwünschte Einheit auf diesem Gebiet
so schnöde in die Brüche zu gehen droht und daß ein so großer
Bildungsstaat wie Preußen den Schulen ein so schmächlich gesu-
deltes, in sich widerspruchsvolles Machwerk (von wem mag es aus-
gearbeitet sein?) aufzuzwingen bestrebt ist. Meine letzte Hoff-
nung stützt sich hauptsächlich auf den Reichstag, in welchem gewiss
die Angelegenheit zur Sprache kom̃en wird und muss. Aber es
thut dazu dringend noth, die Mitglieder des Reichstages über
die preußische Schulorthographie gehörig aufzuklären. Ich an
meinem Theile habe gethan, was ich koñte, und werde auch
– so weit meine Kräfte reichen – noch weiter das Meinige
thun; aber zugleich wollte ich auch Sie dringenst bitten, durch
einen – weñ auch nur kurzem, aber schlagenden – Aufsatz viel-
leicht in der „National-Zeitung“ (die sich freilich bisher in ein
tiefes Schweigen gehüllt hat) oder in der „Magdeburgischen Zeitung“ oder, wel-
ches Blatt Sie sonst für besonders wirksam erachten, eine Lanze für
eine allgemeine deutsche, die Gewähr einer längeren Dauer in sich
tragende Rechtschreibung einzulegen. Bis jetzt f bin ich fast im̃er
allein in die Schranken getreten und es wäre mir nicht bloß um
-, sondern noch wird mehr um der Sache willen hoch erfreulich, wenn
ein so berufener und anerkañter Kämpfer mich unterstützte oder,
noch lieber, ablöste.
Ich weiß ja sehr wohl, daß auch zwischen unsern Ansichten kleine
Unterschiede obwalten; aber darüber kom̃en wir gewiss leicht überein,
ich köñte z.b. in die vollständige Ausmerzung des h in den bisherigen
th tausendmal eher einstim̃en (weil damit jedenfalls eine wesent-
liche Erleichterung des Unterrichts gewoñen würde) als in die unselige
Halbheit, der Unterscheidung zwischen Tau uund Thau m. aufzuheben, aber
die zwischen Ton u.und Thon bestehen zu lassen, Teil vorzuschreiben, aber
daneben Thal, uund daneben Thor u.und Thür; tum Ungethüm
u.und daneben: thun, that u.s.w. Und ich zweifel anderseits nicht, daß
Sie solcher unseligen Halbheit (welche die Schüler nur noch mehr ver-
wirren muss man – als den Stempel der Haltlosigkeit an der
Stirn tragend – doch unmöglich dem Buchdruck u.und Buchhandel zu-
muthen darf), – daß, sag‘ ich, Sie solcher unseligen Halbheit den
Beibehaltung der jetztigen Zustands entschieden vorziehen worden.
Und was soll man z.b. von der Lehre über die Silbenbre-
chung sagen (der – nebenbei gesagt – der wiederholt mit Empha-
se vorgebrachten Behauptung von der vollen Übereinstim̃ung der
bairischen mit dem preußischen Regelbuch so entschieden ins
Gesicht
Gesicht schlägt ppp.)? Doch wozu Ihnen dgl.dergleichen mittheilen, was Sie besser sehen
und wissen als ich?
Und weñ Sie in Ihrem Aufsatz auch meiner (von 425 Druckfirmen
angenom̃enen) Rechtschreibung hier und da tadeln, – im̃erhin! Es liegt
mir ja durchaus nicht daran rechthaberisch meine Ansichten durchzu
setzen, wo sie besseren entgegenstehen, – nur die möglichste ein-
heitliche Rechtschreibung für Deutschland möchte ich gewoñen und
gesichert wissen. Und dazu (so bitte ich eben so freundlich wie
dringend) halten Sie mir als Kampfgenosse mit, wie Sie es in der
orthograp.orthographischen Konferenz gethan.
Darf ich Sie bitten, diesen Brief vielleicht auch unserem
Dritten im Bunde, Herrn Dr Toeche, mitzutheilen, an
den besonders zu schreiben ich nicht die Zeit finde?
Weñ Sie oder er, die Sie doch einen besseren Einblick in
die dortigen Verhältnisse haben als ich, mir über etwa meiner-
seits mit der Auskunft auf Erfolg zu thuende Schritte einen Wink
geben köñen, so werde ich Ihnen auch dafür dankbar sein.
Ich schließe mit den wiederholten besten Wünschen
für Sie und die Ihrigen und bitte, mich möglichst bald
von Sich hören zu lassen. Treulich ergebenst der Ihre
Dan. Sanders.
Altstrelitz, 28/2 80.