John Riew’.
Novelle.
– 1884–1885. –
Alle Rechte vorbehalten.
Mein Haus steht auf dem Lande, in einer holzreichen Gegend zwischen einem Kirchdorf und einem kleinen, in breiten Kastanien-Alleen fast vergrabenen Orte, welcher allmälig um einen Gutshof aufgewachsen ist, von beiden kaum zehn Minuten fern. Fast täglich mache ich nach rechts oder links meinen Spaziergang, und im Frühling und Sommer ergötzt mich dann das Leben, das hier aus den Bauerngehöften, im Orte aus den kleinen Häusern der dort wohnenden Handwerker oder Handelsleute auf den Weg oder in die Vorgärten hinaus dringt; die Kinder des Gutsortes und ich, wir grüßen uns allzeit ganz vertraulich; um Weihnachten aber beehren sie mich von beiden Seiten, sei es als „ruge Klas“ oder als „Kasper und Melcher aus dem Morgenland“, und sind freundschaftlicher Behandlung sicher.
Deshalb plagte mich ein Haus am Ende des Gutsortes; ich selber hatte es theilweis bauen sehen,
und als ich einmal einige Monate fortgewesen war, stand es bei meiner Heimkehr fertig da; aber so oft ich später daran vorbei ging, es wollte mir nicht vertraut werden; denn in diesem Hause war kein Leben; niemals sah ich einen Menschen dort hinein- oder herausgehen, niemals regte sich etwas hinter den blanken Fenstern, die je zwei zu den Seiten des vertieften Säuleneinganges aus den rothen schwarzgefugten Mauern auf einen mit dunklen Coniferen vollgepflanzten Vorgarten hinausgingen; den Einblick wehrten ungewöhnlich hohe Vorsätze von schwarzblauem Drahtgewebe; dahinter sah man schattenartig und regungslos nur die weißen Gardinen herabhängen. Alles war sauber und wie unberührt; aber zwischen den gelben Klinkern, von denen ein breiter Fries um das Haus lag, und zwischen den drei Granitstufen der Haustreppe trieben die grünen Grasspitzen hervor. Und dennoch sollte das Haus bewohnt sein: ein Auswärtiger – so hörte ich – habe das früher dort gestandene geräumige, aber verfallene Gebäude in Erbgang oder sonstwie erworben und statt dessen durch einen fremden Maurermeister den jetzigen Bau dorthin setzen lassen; ja nicht er allein, es sollte außerdem von einer ältlichen kränkelnden Frau und von einem gar argen zwölfjährigen
Buben bewohnt sein; wie aber das Verhältniß der drei Personen zu einander war, darüber wußten die von mir Befragten nicht Bescheid zu geben; die Bewohner schienen nur mit einander zu verkehren.
Von dem Jungen freilich ging bald allerlei Gerede: er sollte aus der Volksschule wegen dort unzähmbaren Wesens fortgewiesen sein und seit einiger Zeit die vornehme Institutsschule besuchen, wo die Knaben Französisch und Englisch, sogar Latein und Griechisch lernen konnten; auch hier war er schon ein paar Mal eingesperrt gewesen; dennoch sollte der alte Riewe – diesen bei uns nicht ungewöhnlichen Namen trug der Hausherr – ihn zu seinem Erben eingesetzt haben. Bändigen sollte auch er ihn nicht können; ja, man erzählte, als nach einer neuen Schulstrafe der alte Herr mit liebreicher Ermahnung auf den Knaben eingedrungen sei, habe dieser plötzlich eine freche Geberde nach ihm hingemacht und, aus der Thür rennend, auf Plattdeutsch noch zurückgeschrieen: „Din Geld krieg’ ick doch, ohl Riew’“
Ich fragte wohl Diesen und Jenen, woher denn der Mann gekommen sei; die Einen meinten: aus Lübeck, die Andern: aus Flensburg oder Hamburg; auch wohl, was er denn sonst getrieben haben möge, und
diese machten ihn zu einem Makler, die Anderen zu einem früheren Schiffscapitän; ich hätte mich bei der Gutsobrigkeit erkundigen können; aber, obgleich die Dinge mich sonderbar interessirten, welche Veranlassung hätte ich zu solch’ officieller Erkundigung gehabt?
Der hohe, seitwärts von dem Hause fortlaufende und mit einem dichten Dornenzaun besetzte Erdwall begrenzte nach der Straße hin den durch alte Obstbäume verdüsterten Garten, welcher sich nach einer Waldwiese abwärts senkte. Im Sommer freilich war Alles durch den Zaun verdeckt; aber jetzt war es Herbst, die Drosseln fielen in die rothen Beeren, und eine Fülle bunten Laubes war von den Alleebäumen schon aus den Weg gefallen; als ich eines Spätnachmittags jetzt dort vorüber ging, gewahrte ich eine entblätterte Stelle in dem Zaun und blieb stehen, um einen Blick in das sonst unsichtbare Gartengrundstück hinein zu werfen. Ich hatte mich aus den Fußspitzen erhoben; aber ich erschrak fast: ein blasses und – so erschien es mir – wunderbar schönes Knabenantlitz mit dunkelgelocktem Haupthaar stand dicht vor dem meinen und sah von der anderen Seite mir starr und schweigend entgegen; ich gewahrte noch, daß die großen, gleichfalls dunkeln
Augen voll von Thränen standen; dann war es verschwunden, und ich hörte langsame Schritte in den Garten hinab.
War das der arge Bube, von dem die Leute redeten? Nachdenklich setzte ich meine Abendwanderung fort, denn das Gesicht, welches ich eben sah, einmal mußte ich es schon gesehen haben, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren – aber das ging ja nicht, der Knabe mochte jetzt kaum zwölfe zählen.
Noch am Abend dieses Tages hörten wir, in dem neuen rothen Hause liege die alte Haushälterin im Sterben; aber das Haus selbst war am Nachmittage, als ich dort vorbeigegangen, in seiner gewohnten wunderlichen Einsamkeit dagestanden, die Gardinen hatten, wie immer, unbewegt hinter den blauen Vorsätzen gehangen, keinen Laut hatte ich vernommen, selbst der schöne wilde Knabe hinter dem Gartenzaune war mir nur wie ein Gespenst erschienen; auch das Sterben wurde hier ganz still besorgt.
Als ich am andern Tage mit meiner Frau vorüber ging, sagte ich: „Im neuen Hause hier soll Eine zum Sterben liegen; zu leben scheint man nicht darin.“
„Dann wird sie schon gestorben sein,“ erwiderte
sie, indem sie durch die Zaunlücke in den Garten wies; „sieh’ nur, dort unter dem großen Apfelbaum stehen zwei Frauen und reden miteinander; das ist mir hier noch nimmer vorgekommen.“
Wir sahen sonst nichts weiter; aber meine Frau hatte recht geschlossen; noch am selben Abend lief es durch das Dorf, die Haushälterin, wie die alte Frau im rothen Haus benannt wurde, habe seit jenem Vormittag ihr Tagewerk auf immer eingestellt. Einige Tage später wurde ein Sarg auf der Landstraße an meinem Hause vorbeigetragen, hinter welchem nur ein weißhaariger Mann mit einem Knaben ging; aber der Zug war, als ich vor die Thür kam, schon zu weit entfernt, das Antlitz der Beiden konnte ich nicht mehr sehen; mein Nachbar, der zu mir trat, sagte: „Der arme Bursche sah aus, wie der Tod selber; es war seine Großmutter, die sie nun bei der Kirche da begraben; seine Mutter soll er nie gekannt haben.“
„Der arme Junge!“ dachte auch ich; „was wird aus ihm, wird der Alte sich allein nun mit ihm abgeben?“
Als ich mit Frau und Kindern am Nachmittagsthee saß, bei dem goldnen Herbstsonnenschein noch einmal im Freien auf der Terrasse, brach aus dem
Armenhausgarten, welcher derzeit mit dem unseren zusammenstieß, ein lautes Schreien und Toben, unterbrochen durch die scharfredende Stimme des Armenvaters, zu uns herüber, so daß das Gespräch aufhörte, und Alles dorthin horchte. Die schreiende Stimme kam offenbar von einem Knaben.
„Ich fürchte,“ sagte lächelnd unser Nachbar, der neben uns saß, „er wird nicht mit ihm fertig!“
„Mit wem?“ fragte ich. „Wer ist denn das?“
„Nun, das wissen Sie nicht? Der Junge von dem Riew’; er ist gleich vom Kirchhof in das Armenhaus gebracht. Er mag sich das wohl nicht gedacht haben; mit dem Erben ist es auch wohl eitel Wind!“
„Unglaublich! Empörend!“ rief meine Frau, während drüben das Geschrei noch immer fortging.
Der Nachbar zuckte die Achseln. „Ja, du lieber Himmel, der Bengel ist ein Ausbund, von den schlimmsten; erst gestern haben sie ihn wieder aus der Institutsschule fortgewiesen; was soll der Alte mit ihm ausstellen? Er hat die Frau nun auch nicht mehr zur Hülfe.“
Aber die Frauen an unserem Tische schüttelten gleichwohl die Köpfe.
Ob dann der Armenvater endlich das aufgeregte
Kind beruhigt hatte, oder ob die Scene nach einem anderen Theil des Hauses verlegt war, kann ich nicht sagen; aber der Lärm hörte auf und wir sprachen weiter nicht davon.
– – Einige Tage später, da ich von dem Jungen nichts mehr gemerkt hatte, fragte ich über unseren Zaun den Armenvater, der einige Weiber bei der Arbeit in seinem Garten überwachte. „Nun, wie geht es mit Ihrem neuen Alumnen?“
„Wen meinen Sie?“ fragte der Mann zurück und sah mich wie unwissend an.
„Wen sollte ich meinen? natürlich den Riew’schen Jungen; ich weiß nicht seinen Namen. “
„Oh, der! Der sitzt schon längst wieder im warmen Nest; der beerbt den Alten noch bei lebendigem Leibe. Ich hätte ihn nur behalten sollen!“ fügte er mit einer entsprechenden Handbewegung hinzu.
Ich dachte an das zarte Gesicht des Knaben und sprach zu mir selber. „Es ist doch besser so.“
Es war schon in den letzten Tagen des October, als ich eines Nachmittags wieder an dem Riewe’schen Garten entlang ging, wo der Zaun jetzt freie Durchsicht ließ; auch war dort heute wirklich was zu sehen; denn oben im Geäste eines großen Birnbaums hing der hübsche Knabe und langte mit ausgestrecktem Leibe nach ein paar goldgelben Birnen, die noch an einem fast blätterlosen Zweige hingen. Unter ihm am Stamm sah ich einen untersetzten Mann, der mir seinen breiten Rücken zuwandte; nur seinen weißen, seitwärts abstehenden Backenbart konnte ich außerdem gewahren. „Zum Teufel, Rick, so komm’ herunter!“ rief er; „das ist kein Mastkorb, worin Du arbeitest!“
„Wart’ nur, Ohm!“ erwiderte der Knabe; „ich krieg’ sie gleich; die allerletzten sollen doch nicht sitzen bleiben!“ und er reckte sich stöhnend noch ein Stückchen weiter.
„By Jove! Du brichst Dir um zwei Birnen noch das Genick!“ Und der Alte griff in die Tasche und schien ihm eine kleine Münze hinzuhalten. „Komm’ herunter und kauf’ Dir welche! Der Schuster hat dieselben. “
Der Junge hörte aber nicht danach; er suchte
droben den Zweig, woran die Birnen saßen, zu sich heranzubiegen. Ich stand in plötzlichem Besinnen; auch die alte Stimme war mir bekannt. Eine untersetzte grauhaarige Gestalt aus meinen Hamburger Schülerjahren tauchte vor mir aus, daneben ein Kinder-, ein Mädchenangesicht. „Wenn er es wäre!“ dachte ich bei mir selber; „und Riewe heißt er, vielleicht John Riew’!“
Da hörte ich einen Krach; und als ich ausblickte, sah ich es vor mir durch die Luft zur Erde fahren; ein gebrochener Ast baumelte oben von dem Baum herab; es war kein Zweifel, der Junge war herabgestürzt. „Man hat noch den Tod von Dir!“ schrie der Alte. „Sind denn die Planken heil geblieben?“ Und gleichzeitig hatte er sich gebückt und wollte dem Jungen auf die Beine helfen.
Der aber war schon ausgesprungen. „Thut nichts!“ sagte er, sich zuckend seine Hüfte reibend. „Unkraut vergeht nicht, Ohm!“
Der Alte brummte etwas, das ich nicht mehr verstand; denn ich fürchtete, auf meinem Platz entdeckt zu werden, und hatte deshalb meine Wanderung fortgesetzt. Aber sein Gesicht war mir zugewandt gewesen, und ich wußte nun, es war mein alter Capitän John Riew’, der sich dies Haus gebaut hatte. Noch
jetzt blühten ihm seine guten rothen Wangen, nur Bart und Haare waren weiß geworden; denn wohl achtzehn Jahre mochten verflossen sein, seitdem wir uns zuletzt gesehen hatten. Damals aber – es war zur Zeit meiner Selectanerschaft aus dem Johanneum zu Hamburg – hatten wir fast täglich uns gesehen; denn dort, unweit des nun verschwundenen Kaiserhofes, an dessen reich ornamentirter Façade mein Schulweg mich vorüber führte, wohnten wir beide als einzige Miether in einem zweistöckigen Häuschen, das zwischen himmelhohen Speichern aus alter Zeit zurückgeblieben war. Unsere Wirthin war eine Schifferwittwe, deren trunkfälliger Mann im Rausch durch einen Unfall sein Leben verloren und seiner Frau wohl kaum Anderes als den kleinen Fachbau hinterlassen hatte, in welchem ich eine Stube unten neben der Hausthür inne hatte. John Riewe, damals schon ein ergrauter Mann, bewohnte oben die einzige Etage; und so eines Sommerabends, auf der Bank vor der Hausthür, hatten wir Bekanntschaft gemacht. Er war lange als Capitän zur See gefahren; nach Rio, Hongkong, auch weniger fern nach Lissabon und London; kurz, er hatte mehr gesehen, als wir studirten Leute, und wußte davon zu erzählen. Endlich war er seemüde und dann hier Makler geworden. „Es
ist commoder,“ sagte er, „den Sturm vom Bette aus zu hören.“
Unsere Wirthin war eine einfältige Person; er mußte ihr in Allem Rath ertheilen, ja es war, als habe sie Alles auf ihn abgeladen; ich weiß nicht, weshalb er sich so von ihr plagen ließ. Das Beste an der Frau war jedenfalls ihre zwölfjährige Tochter Anna; braun, feingliedrig, mit dunklem Haar und, oh, mit welchen Augen! Es war etwas Begehrliches in dem Mädchen; aber Alles, was sie that, und mochte sie in einen Apfel beißen, geschah mit einer Art von froher Anmuth. Wie jetzt mit dem Jungen, so hatte der Capitän es damals mit dem Mädchen; er wußte selbst nicht, was er dem verzogenen Ding zu Willen thun sollte; er kaufte ihr seidene Schürzen und rothe Tüchelchen, mit denen sie dann auch sogleich erschien; er stopfte ihr Marzipan und gebrannte Mandeln in die Taschen, und wenn sie vergnügt zu schmausen anfing, dann lachte er über sein ganzes gutes Angesicht. „Nicht wahr, schlecken und Dich putzen,“ sagte er und schüttelte das hübsche Ding an beiden Schultern, „das möcht’st Du wohl Dein Leben lang; aber wart’ nur, Rackerchen, es wird noch anders kommen!“ Und sie sah mit lachenden Augen zu ihm auf und nickte nur; denn sie hatte ihr Mäulchen noch
voll von seinem Futter. „Naschkatze Du!“ rief dann der Capitän, und schaute, die Hände in den Taschen, ihr voll Vergnügen zu.
Auch ins Theater, als einmal ein Zauberstück gegeben wurde, hatte er sie mitgenommen. Dort aber hatte sie nur auf die silbernen Sternen- und Meernixenkleider gesehen, wenn auch sonst die glänzendsten Helden über die Bühne schritten; sie hatte nur davon geredet und ihn immerfort gezupft und angestoßen, und zuletzt gesagt, wenn sie groß wäre, wolle sie auch Comödiantin werden und solche Kleider tragen, John Riew’ war in Todesangst gerathen: „Daß Du Dich nicht unterstehst!“ hatte er so laut gerufen, daß das ganze Parterre die Köpfe nach ihm umgewandt; „weißt Du wohl, wenn sie todt sind, die kommen alle in die Hölle!“ Seitdem hatte er sie nicht mehr in die Comödie gebracht.
Auf sein Zimmer aber kam das Kind mehrmals am Tage; denn die Mutter hatte es so eingerichtet, daß sie selber mich, ihre Tochter aber, wenigstens außerhalb der Schulzeit, den Capitän bediente. Es ist mir wohl später eingefallen, daß dies, bei aller Ehrenhaftigkeit des Mannes, auch kein Zeugniß für die Verständigkeit der Frau gewesen sei; denn die Herzensgüte unseres Capitäns war doch mitunter
derart, daß sie mehr zu einem handfesten Schiffsjungen, so zwischen See und Sturm, als zu einem zierlichen halbgewachsenen Mädchen passen mochte.
Als wir eines kalten Octoberabends wieder einmal plaudernd aus der Straßenbank saßen, fuhr der Nordwest uns endlich so eisig in den Nacken, daß er mich einlud, mit in seine Cabine hinaufzusteigen, wo wir behaglicher unser Gespinnst abwickeln könnten. Ich hatte nichts dagegen und saß dort kaum in einem guten Polsterstuhl, den er mir hingeschoben hatte, als ich ihn auch schon, die Hand am Schlüssel, vor einem Wandschränkchen stehen sah. „Nun, Nachbar,“ rief er, „wir müssen, däucht mir, ein Quantum heizen. Rum oder Cognak? Für Prima-Qualität wird garantirt.“
Von den Schätzen dieses Schrankes hatte ich schon gehört: „Das wird Ihnen überlassen, Capitän!“ rief ich.
„Also Rum!“ erwiderte er. Dann schloß er auf, und nachdem er an der Klingelschnur gerissen hatte, stellte er eine Flasche und zwei tüchtige Glashumpen auf ein daneben stehendes Tischchen.
Nach einer Weile flog ein leichter Schritt die Treppe herauf, und Anna trat mit einem Kesselchen voll heißen Wassers in die Stube; sie nickte uns
vertraulich zu, entzündete dann die auf dem Tisch stehende Spirituslampe und setzte den Kessel darüber.
„Nachbar,“ flüsterte der Capitän, „was sagt Ihr zu meinem kleinen Maat?“
Der kleine Maat aber stand, die Hände in den Schooß gefaltet, und neigte das dunkle Köpfchen nach dem Kessel. Als er zu sausen anhub, wandte sie sich und wollte gehen.
„Oho!“ rief der Capitän, „Du meinst wohl, wir sollen uns unser Glas heut’ selber machen!“
Sie blieb stehen, schüttelte den Kopf und wurde purpurroth. Dann aber ging sie lautlos nach dem Schrank, hob ihre schmächtige Gestalt auf den Zehen und holte vom obersten Bord eine Schale mit Zucker herab.
„So recht, Anna!“ rief der Capitän. „Nun zeige, was Du von mir gelernt hast!“
Und das feine Ding nickte wieder ein paar Mal; nur so in den Schrank hinein, aber doch, als sollt’ es heißen: „Ohne Sorge; soll schon werden!“ Dann begann sie die drei Elemente sorgsam zu mischen, schaute auch einmal durch das Glas, indem sie es mit dem etwas hageren Aermchen gegen die jetzt über unserem Tische brennende Ampel hielt, und goß noch ein paar Feuertropfen in dasselbe, ohne aber
vorher weder mit noch ohne Löffelchen daraus gekostet zu haben.
„Wenn’s gefällig ist!“ sagte sie dann, indem sie uns die Gläser aus einem Tablettchen darbot.
Ich nahm das meine, und schon an dem Dufte merkte ich, es war ein steifes Seemannsglas. Der Capitän aber, als sie zu ihm trat, legte beide Arme vor sich auf den Tisch. „Nun?“ sagte er und sah lachend unsere kleine Schenkin an; „ich muß wohl heut’ um Alles betteln gehn!“
Sie stand einen Augenblick wie verlegen.
„Oder scheust Du Dich vor unserm jungen Herrn?“ fügte der Capitän hinzu.
Da hob sie das Glas an ihre Lippen. „Wohl bekomm’s!“ sagte sie leise; dann trank sie, und es schien mir, daß sie mit Behagen trinke.
„Halt, halt, Jüngferlein!“ rief der Alte lachend; „ei, seht doch, schickt sich das für ein so zartes Manntje?“
Aber schon hatte sie das Glas vor ihn auf den Tisch gesetzt, und wir hörten, wie sie draußen wiederum die Treppe hinunterflog.
„Eine Wetterhexe!“ sagte der Capitän; „wenn die ein Junge wäre, mit dem ginge ich noch einmal auf die alten Planken!“
Ich aber weiß noch sehr wohl, wie ich ihn um sein Glas beneidete, an dem der süße Mädchenmund geruht hatte.
– – Wie eine Bilderreihe zog das Alles jetzt in mir vorüber; plötzlich aber stolperte ich, mein Stock flog mir aus der Hand und ich sammelte mich geduldig vom Erdboden auf; denn ich war mitten im Walde, der mir soeben seine dicken Buchenwurzeln vor die Füße gestreckt hatte. Langsam kehrte ich um und ging nach Hause; doch die Gedanken wollten mich nicht lassen. Das anmuthige Kind, von dem ich später nie wieder etwas gehört hatte, sie mochte jetzt etwa dreißig Jahre zählen, – was war aus ihr geworden?
Es ließ mir doch keine Ruhe: wie kam der Capitän hierher? Was war das mit dem Jungen?
Tages darauf ließ ich den Abend herankommen; es mochte schon neun Uhr sein, als ich vor dem rothen Hause stand. Alles war dunkel; aber eben vorher hatte ich von der Hinterseite aus einen Lichtschein auf den kahlen Gartenbüschen wahrgenommen. Ich drückte die Hausthür auf, an der keine Glocke läutete, und stand in einem dunklen Flur, in den
jedoch, scheinbar durch das Schlüsselloch der Thür einer Hinterstube, ein schmaler Lichtstreifen hineindrang. Es rührte sich aber nichts im Hause, und ich tastete weiter, bis ich mit den Händen an die Thüre stieß.
„Herein! Wer ist da?“ rief es drinnen, als ich eben eintrat.
Der Capitän saß neben einer Lampe an dem Sophatische und las in einer großen Zeitung, die ich später als den „Hamburger Correspondenten“ erkannte, – außer ihm war nur der schöne Knabe in dem Zimmer; er stand mit einem brennenden Lichte vor dem Spiegel und schnitt Gesichter, die er einigen Fratzen im Kladderadatsch nachzumachen schien; wenigstens lag aus dem Spiegeltischchen ein Exemplar davon.
„Guten Abend, Capitän!“ sagte ich kräftig; „da Sie nicht zu mir gekommen sind, so haben Sie wohl nichts dagegen, daß ich Ihnen meinen Antrittsbesuch mache?“
Er war aufgestanden, während der Junge seine Unterhaltung mit unbekümmerter Geschäftigkeit fortsetzte, und ich konnte den Alten im Schein der Lampe ungestört betrachten. An Haar und Bart sah man freilich, es war Winter geworden; aber seine Wangen
blühten noch immer, und die guten Augen darüber sahen mich, wie einstens, hell und freundlich an. Ich wollte reden; aber er legte seine Hand schwer auf meine Schulter. „Halt! – Halt!“ sagte er. „Ich werfe Anker! Hamburg – beim Kaiserhof – das Häuschen – meine Cabine! Alle Millionen Windrosen, Herr Nachbar, und Sie wohnen hier?“
„Ja, ja, Capitän; und Sie wohnen hier?“
„Ei, freilich,“ rief er lachend, „und so wohnen wir alle beide hier! Rick!“ und er wandte sich zu dem Knaben, „zünde die Spritflamme an und nimm eine Flasche aus dem Schränkchen. – Junge, hörst Du denn nicht!“
„Ja, Ohm, ich höre ja schon!“ rief der Knabe, setzte den Leuchter auf das Spiegeltischchen, daß das Licht aus der Röhre sprang, und vollbrachte dann das aufgetragene Geschäft. Meine Augen folgten ihm, und mit Verwunderung sah ich hier im neuen Hause ein gleiches Schränkchen, wie in der Hamburger Baracke.
Der Capitän hatte indessen mein Gesicht gemustert, als wolle er die Züge des einstigen Gymnasiasten herausstudiren. „Sie also sind der Doctor, der sich das große Haus dort aus der Höhe gebaut hat?“
„Ja freilich, Capitän; und was für Abenteuerlichkeiten
habe ich nicht hinter Ihrem stillen Neubau wittern müssen; aber freilich …“ meine Augen fielen aus den Knaben und ich schwieg.
Er hatte eben den kochenden Kessel nebst Flasche, Gläsern, und was sonst nöthig war, vor uns hingestellt. „Dank, mein Junge,“ sagte der Alte. „Aber nun geh mit Deinem Licht in Deine Koje; es ist Kinder-Bettzeit.“
Aber der Junge fiel ihm um den Hals und flüsterte ihm eifrig bittend in das Ohr.
„Nein, nein, Rick, heute nicht,“ sagte der Alte; „der Herr kommt schon ’mal wieder, und früher als die Hühner auf die Wiemen müssen.“
„Doch! doch!“ rief der Knabe. „Ohm! Alter John, nur eine Viertelstunde!“ Und er würgte ihn fast mit seinen Armen.
Da riß der Alte ihn heftig von sich und hielt ihn, nach des Knaben Gesicht zu urtheilen, nicht eben sanft an beiden Handgelenken vor sich. „Calculire,“ sagte er im ruhigen Commandoton; „Du gehst jetzt augenblicklich in Deine Koje!“ Dann ließ er ihn los, und der Knabe nahm, ohne ein Wort zu sagen oder uns nur anzusehen, sein Licht und ging zur Thür hinaus; ich hörte, wie er eine Treppe nach dem Oberhaus hinaugfstieg.
John Riew’ zog jetzt die Gläser an sich und begann den heißen Trank für uns zu mischen; als er aber die Flasche aufgezogen hatte, spürte ich an dem Duft, daß es Madeira oder Xeres sei, welchen er hineingoß. „Ei was, Capitän,“ sagte ich; „Sie trinken ja wie ich! Hat der Jamaica Sie jetzt verlassen?“
„Ich trinke ihn nicht mehr,“ erwiderte er ernst; „doch wenn’s Ihnen lieber, es wird noch eine alte Flasche da sein.“
„Ich danke, es ist mir so eben recht. Aber Sie? Vertragen Sie ihn nicht mehr? Sie sehen doch aus, als hätten Sie zeitlebens zusammenhalten müssen!“
„Es wär’ auch sonst wohl so gewesen; aber – seit der Junge da geboren, haben wir uns geschieden. Doch – Sie schwiegen vorhin; jetzt ist frei Wasser; wonach wollten Sie denn fragen?“
„Nun, Capitän; zunächst freilich nach dem Jungen! Waren Sie inzwischen verheirathet? Sind Sie Wittwer? Ist der Junge Ihr eigen, oder wo haben Sie ihn aufgelesen? Und wie kommen Sie dazu, sich hier auf dem völlig trockenen Lande anzubauen?“
„Holla!“ rief er dazwischen, „nun ist’s genug für einmal!. Aber Sie erlebten mit mir den Anfang, so mögen Sie auch das Ende wissen!“
„Wenn ein Mensch zu viel’ Tugenden hat“ – so begann er sein Gespinnst, indem er mir eins der dampfenden Gläser zuschob – „dann ist der Teufel allemal dahinter. “
Ich mochte wohl gelacht haben. „Nein, Nachbar,“ fuhr er fort, „das ist die simple Wahrheit; es ist gegen die Natur des unvollkommenen Menschen, den unser Herrgott nun einmal so geschaffen hat; denn irgendwo in unsrem Blute sitzt er doch, und je dicker er mit Tugenden zugedeckt wird, desto eifriger bemüht er sich, die Hörner in die Höh’ zu kriegen. Ich hatte so einen Freund, Rick Geyers hieß der Junge, und wir fuhren auf einem Schiff; glaubt nicht, daß er ein Duckmäuser war; nein, im Gegentheil ein wilder Kerl; aber dabei ein wahres Nest von Tugend; seine halbe Heuer, so lange sie noch lebte, schickte er an seine Mutter, und saß und schrieb an sie, während wir an den festen Wall gingen und unsern Thalern Flügeln machten. Hatte ein armer Teufel Unheil angerichtet, Rick wollte an Allem Schuld sein; aber man glaubte ihm zuletzt nicht mehr; denn er verstand fast ohne Wind zu segeln, unser großmäuliger Capitän ging selbst bei ihm zu Rathhaus; und dabei war er ein halb Dutzend Jahre kürzer aus der Welt als ich. Vor
den Weibern, wenn er einmal mit uns andern an Land war, konnte er sich kaum bergen; in Hongkong, da ist eine Gasse, freilich ehrbare Leute sollen dort nicht kommen; Ihr hättet nur sehen sollen, als wir einmal mit ihm hindurch gingen, wie das niedliche schlitzäugige Gesindel um ihn herum war. Rick Geyers aber sah mit seinen großen braunen Augen über sie weg, und wenn sie zu dicht an ihn herantänzelten und ihre Locktöne machten, dann räumte er sie schweigend wie eine Schaar von Ungeziefer mit den Armen von sich. Die Dirnchen – denn sie sind zart und gelenkig – schlenkerten ihre feinen Händchen gegen ihn und flogen mit Angstgekreisch an ihre Hausthüren, wo sie ihm wieder mit den feinen Fingern winkten; uns andere plagte, by Jove, die Eifersucht. Rick aber ging stumm und zornig neben uns. „Ein ander Mal, wenn ich bitten darf, gehen wir nicht durch die Menagerie hier!“ sagte er, als wir hindurch waren.
Und so dauerte es denn nicht lange, und er war Capitän, als ich noch das Rad am Steuer drehen mußte. Aber Freunde blieben wir auf Noth und Tod, und der Wind wechselte nicht allzu oft, da hatte ich auch mein Schiff; aber trafen wir uns am Wall, so waren wir gleich beisammen.
Nun fand sich derzeit in Hamburg bei einer vornehmen alten Senatorstochter eine Art Mamsell, so gegen die dreißig schon; Riekchen hieß sie und war ehrlich und zuverlässig, allzeit wie mit eben geplätteten Kleidern angezogen und, ganz egal, mit einer gelbblonden langen Locke hinter jedem Ohr; sie konnte kochen und braten, sagte nie ein Wort entgegen und hatte niemals eine Meinung; die alte Dame behauptete, es gäbe aus der Welt keinen Mann für diese Perle; und wirklich, es begehrte sie auch keiner.
Und das war das Schicksal, für Rick Geyers mein’ ich; denn in dieses Unmuster von Tugend mußte der unselige Junge sich vergaffen; und noch mehr, er wollte sie heirathen, und kaufte sich sogleich zum Schauplatz seines Eheglückes die Baracke, wo wir beide, Herr Nachbar, später einst gewohnt haben. Nun, Sie haben ja das Riekchen selbst noch gekannt. – Ich packte den Rick eines Tages unter den Arm und ging mit ihm durch die Stadt und dann nach dem Stintfang hinauf, wo unten im Hafen seine stolze Brigg lag und die roth und weißen Wimpel im leichten Morgenwinde wehten. „Rick! Rick! sagte ich, besinne Dich doch! Du bist verblendet, bete vierundzwanzig Vaterunser, und es wird vorübergehn!
Was willst Du das einfältige Tugendmensch heirathen; Du hast ja selbst die volle Ladung davon; unter so viel Tugend geht Dein Schiff zu Grunde. Kann’s nicht anders sein, so nimm Dir eine schmucke wilde Katz’, an der Du Deine Plage und doch auch Dein Vergnügen hast! Was meinst Du, Rick?“
Aber er lüpfte nur den Hut, daß die Luft durch seine braunen Locken ging, und sah mich lachend aus seinen hellen Augen an. „Dank für Deine Weisheit, John,“ sagte er; „aber was Einer muß, das kann nur Einer wissen.“
Da sah ich wohl, daß er weit ab von aller Vernunft sei, und so hat er die Perle Riekchen zu seinem Unheil dann geheirathet. Aber ich sage Ihnen, Nachbar, auch derzeit, da sie jünger war – zehn Jahre auf einer Robinson-Insel!“ und der Capitän spreizte abwehrend seine Hände vor sich. „Doch,“ rief er dann wieder, „das Getränk, nicht zu vergessend! God bless you, Sir!“
– – Schon einige Mal hatte ich ein Rühren an der Thürklinke vernommen; jetzt, während wir mit den Gläsern anklirrten und tranken, sah ich, daß die Thür, der ich zugewandt saß, um einen schmalen Spalt geöffnet wurde.
„Capitän,“ sagte ich, „es ist Jemand vor der Stube. “
Er wandte sich: „Das ist Rick!“ sagte er. „Jungen, warum schläfst Du nicht!“
Aber die Thür öffnete sich weiter. „So komm herein,“ rief er, „wenn Du was auf dem Herzen hast!“
„Ich kann nicht;“ kam es von der Thür; und ich gewahrte jetzt freilich, daß der arme Schelm baarfuß und im blanken Hemde draußen stand.
Da stieß der Alte einen Seufzer aus, erhob sich und schritt nach der Thür: „Nun Rick, was willst Du denn?“
„Ohm,“ sagte der Knabe leise und vor Kälte zitternd, doch so, daß ich’s verstehen konnte, „ich hab’ Dir ja noch gar nicht gute Nacht gesagt.“
„Und deshalb konntest Du nicht schlafen?“
Ich glaubte nur zu sehen, wie Rick stillschweigend mit dem Kopfe schüttelte. Und der Alte gab ihm einen herzhaften Schmatz. „Gute Nacht, mein Kind! Aber nun schlaf, und bitt’ vorher unsern Herrgott, daß er Dein weiches Herz allzeit bei Deinem harten Kopfe lasse!“
Da hörte ich, wie der Knabe behend die Treppen hinauslief; der Alte aber setzte sich langsam wieder
an seinen Platz. Wir saßen eine Weile schweigend. „So ist er immer,“ sagte er dann; „der Grund ist gut; ich dacht’ schon, daß er kommen würde.“
„Und doch,“ erwiderte ich – ich konnte es nicht zurückhalten – „haben Sie ihn neulich recht hart behandelt, Capitän!“
Er blickte mich an: „Sie meinen das mit dem Armenhause! Ja, ja, es mag auch so aussehen; aber er mußt’ einmal erfahren, wohin er ohne mich gerathen würde.“ Er trank einen Schluck und starrte vor sich hin. „Doch,“ hub er wieder an, „ich wollte Ihnen von meinem alten Rick erzählen; der Junge ist ja noch gar nicht auf der Welt.“
Da fiel’s mir bei, ich frug. „Ist er der Sohn von Ihrem Freunde? Ich mein’, es war doch nur das Mädchen da?“
„Geduld, Nachbar,“ sagte der Capitän und legte seine Hand auf meinen Arm; „der Junge wird, leider, auch geboren werden; Ihr sollt Alles noch erfahren! Also – wie in den ersten Ehejahren von Rick Geyers der Seegang gewesen ist, das weiß ich nicht; denn ich war überall, nur nicht in Hamburg. Dann aber, in einem Junimonat, kam ich wieder heim und hörte, auch Rick sei dort, er habe Havarie gehabt; sein Schiff liege auf der Werfte, er selber
warte in seinem Hause die Zeit ab. Wer war fröhlicher als ich! Ich konnt’ es nicht erwarten, bis ich bei ihm war. Als ich die Thür seiner Baracke aufstieß, by Jove, da standen die beiden Tugendmenschen schon auf dem Flur; aber freilich, allzu lustig sahen sie nicht aus. Einen Augenblick noch, dann fiel Rick mir um den Hals: „Hurrah for John!“ rief er; „gieb ihm die Hand, Riekchen.“ und mit einem wunderlichen Blick auf seine Frau: „Aber, nicht wahr, verteufelt elend sieht der Capitän doch aus?“
Ich glaubte, er sei toll geworden; denn ich platzte derzeit vor Gesundheit.
„Meinst Du, Rick?“ sagte die Frau und nickte mir halbtraurig zu; „ja, so rothe Backen sind auch oft nicht von den besten.“
„So? – Meinst Du?“ rief Rick ingrimmig. „Ich meine das nicht. Sieht er nicht aus wie ein Berserker?“
Die Frau gab mir die Hand. „Freuen wir uns,“ sagte sie, „daß Sie so gesund wieder ans Land gekommen sind.“
Ich dankte ihr; Rick aber warf seine kurze Pfeife, die er in der Hand hielt, gegen die Wand, daß der Porzelankopf in hundert Stücken über die Fliesen flog, und ich hörte, wie er mit den Zähnen knirschte.
„Oh Rick!“ rief die Frau; „der schöne Pfeifenkopf; das hättest Du nicht thun sollen!“
„Endlich! Danke, Riekchen!“ sagte er, und ich sah, wie er ihr voll Hohn die Hand preßte; „aber freilich, Scherben müssen erst gemacht werden.“
Dann gingen wir in die Wohnstube, während das Weib, als wäre nichts geschehen, die Porzellanbrocken auf dem Flur zusammensuchte.
„Nimm Dich in Acht, Rick,“ sagte ich, „daß Dein Teufel nicht die Hörner hoch kriegt!“
Aber er stieß ein Lachen aus, so fröhlich, als hätt’ ich ihn nur mit dem Kinder-Butzemann erschrecken wollen. „Komm,“ sagte er, und zog mich in die Schlafstube nebenan, „Du weißt noch nicht, daß ich einen Engel in der Wirtschaft habe!“
Wir waren an sein Ehebett getreten, von dem er jetzt das schwere Deckbett zurückschlug. „Nun, John Riewe?“ rief er triumphirend.
Und freilich, da lag – ich dacht’ im selben Augenblick: ein Engel; aber es war doch nur ein schönes Kind, im tiefen Schlaf; ein Mädchen von kaum zwei Jahren wohl; die eine Wange hatte es gegen sein Fäustlein gedrückt, über das die braunen Haare fielen; es war fast nackt, denn das Hemdlein hatte sich über die Brust hinaufgeschoben, und es
glühte gleich einem Christkind wie von innerem Rosenlichte.
„Nun, John?“ sagte Rick wieder, „Du schweigst? Ja, Alter, dem müssen alle Teufel weichen!“
Und mit demselben schlug das Kind seine dunklen Augen aus und, die Aermchen nach dem Vater streckend, rief es: „Papa, mein Papa!“
Da riß Rick es ungestüm aus den Kissen und preßte das schöne Ding an sein Herz und küßte es vielmal und flüsterte ihm heimliche Worte in sein Ohr, so leise, daß ich nichts davon verstand. Ich sah es wohl, sein Herz war voll, und was er seinem Weib nicht geben konnte, das verschwendete er an das unvernünftige kleine Wesen.
Und doch, Nachbar; in späteren Jahren, und auch jetzt noch kommt es mir oftmals, es habe derzeit das Kind ihn dennoch wohl verstanden und sei nichts davon verloren gegangen.
– – Am andern Tage kam ich nach dem Abendbrote zu ihm, er saß am Stubenfenster mit untergeschlagenen Armen und schaute auf die enge stille Gasse; das Riekchen hatte ich bei meinem Eintritt in der Küche rumoren hören.
„Nun, Rick,“ rief ich, „was fängst Du für Mäuse?“
„Ich fange gar nichts, John,“ sagte er.
„Warum hast Du denn Deinen Engel nicht bei Dir?“
„Das ist’s, John; der schläft allezeit von jetzt bis übers Morgenroth; aber für mich ist’s noch nicht Schlafenszeit.“
„So gehen wir ein Stück am Hafen!“ sagte ich. „Du bist noch nicht aus meinem Schiff gewesen.“
Er schien eine solche Aufforderung nur erwartet zu haben, denn er sprang sogleich auf und riß seinen Hut vom Thürhaken.
„Gehst Du aus, Rick?“ frug die Stimme seiner Frau, als wir durch den Flur gingen, und ihr geduldiges Haupt erschien aus der Küchenthür.
„Ja, Riekchen; ich nehme den Schlüssel mit; wirst Du müde, so schließe mit dem andern zu!“
Sie nickte: „Gute Nacht, Rick! Gute Nacht, Capitän Riewe!“
Wir gingen noch auf mein Schiff; aber es fing bald an zu dämmern, und so wanderten wir nach St. Pauli und gingen nach dem Trichter, wo wir bald zwei steife Gläser vor uns dampfen ließen.
Wir sprachen erst von alten Zeiten; dann aber erzählte Rick von seinem Kinde, nur von seinem Kinde; er lachte selber wie ein Kind, es war wie eine
lachende Freude, wenn er nur ihren Namen nannte; ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß sie „Anna“ hieß.
Als die Gläser leer waren, wollte ich aufstehen; aber er hielt mich zurück und zog seine Uhr. „Noch nicht, John!“ sagte er „es ist erst Zehn: sie schläft noch nicht.“
Ich verstand ihn wohl; und so tranken wir noch weiter, und es war nach Elf, als wir davon gingen.
Noch an ein paar anderen Abenden saßen wir dort; aber jedesmal ein Viertelstündchen länger; und auf meine zwei Gläser trank Rick allemal drei; ich sah so viel, er war schon satt von seinem Tugendmuster und schätzte sie am höchsten, wenn sie schlief „Rick,“ sagte ich, „nimm Dich in Acht, das dritte Glas, das ist des Teufels!“ Aber er lachte. „Es ist nur ein Zeitvertreib, John; um ein paar Wochen ist mein Schiff wieder flott; und dann giebt’s wieder Arbeit und guten Schlaf!“
Am Tage darauf war meine Zeit in Hamburg abgelaufen; wir schüttelten uns die Hände, das Riekchen nickte sanft, und auch die kleine Anna gab mir ihr Patschchen und sagte kläglich: „De, Ohm Jiew!“ Dann begleitete Rick mich auf mein Schiff.
Noch einmal nach ein paar Jahren – es war in der Kapstadt – habe ich Rick Geyers wiedergesehen; aber er war es nicht mehr selber, es war nur noch ein Trunkenbold, der unter seinem Namen umging. Ich dachte damals, das sei mein größtes Leid, das ich erlitten, und vielleicht auch ist es jetzt noch so; nur daß über einen Mann uns das Erbarmen nicht so bitter faßt … aber ich will der Reihe nach erzählen.
Als ich an der Bai nach meinem Schiff hinuntertrabte, denn in der Nacht noch sollte ich die Anker lichten, sah ich einen Mann vor mir am Wasser stehen, der mich trübselig aus seinem gedunsenen Gesichte zu betrachten schien. Ich stutzte; „Rick,“ rief ich, „Du bist es, Rick! Was fehlt Dir? Bist Du krank? Du siehst sehr übel aus!“
Doch er schüttelte den Kopf und sagte schwerfällig: „Mir fehlt nichts, John. Bleibst Du noch lange hier?“
„Nein, Rick; nur bis heut’ Nacht, und ich muß noch wieder nach dem Gouvernementshaus. Aber sag’ mir schnell wie geht es bei Dir zu Hause, Deiner Frau, Deinem kleinen Engel? Kommst Du bald wieder zu ihnen?“
„Ganz wohl, alles wohl!“ Weiter antwortete er
nicht; aber er seufzte tief, als ob er sie verloren hätte.
„Du fährst noch immer die Fortuna?“ frug ich wieder.
„Ja, John, ich fahre sie noch; wir sind erst gestern angekommen.“
„So lebe wohl, Rick! Ich habe leider keine Stunde mehr für Dich; lebe wohl!“
Ich ging, ganz vernichtet durch dies Wiedersehen. „Er schämte sich,“ sprach ich zu mir selber; „Rick Geyers, der beste aller Jungen, ist verloren.“
Da fühlte ich mich plötzlich zurückgehalten: er war mir nachgelaufen; er lag in meinen Armen: „John, John, Freund! Noch einen Augenblick, wir sehen uns zum letzten Mal!“
Und als er mich in seiner alten Liebe ansah, da waren seine Augen wieder jung und schön. „Das nicht, das wolle Gott nicht, Rick!“ rief ich; „aber auf ein baldig Wiedersehen in der Heimath, in Deinem Hause und bei Deiner kleinen Anna!“
Er wiegte langsam seinen Kopf. „Leb’ wohl, John Riew,“ sagte er, und leise, als ob auch hier es niemand hören dürfte, setzte er hinzu: „Und wenn Du einmal heimkommst, dann frage nicht mehr nach Rick Geyers!“
Er riß sich los und war mir bald in einer Menschenmenge, die von der Stadt herkam, verschwunden. Das weiß ich noch, die heitere Sonne, die vom Himmel strahlte, hat mir damals weh gethan.
– – Nach ein paar Jahren – es war in Rio, und ich fuhr derzeit für eine Lübecker Firma das Schiff „die alte Hanse“ – nahm ich einen deutschen Matrosen in Heuer, der krankheitshalber dort zurückgeblieben war. „Wo stammst Du her?“ frug ich.
„Mein Vater,“ erwiderte er, „wohnt am Johannisbollwerk!“
„In Hamburg?“
„Ja, Capitän. “
„So kennst Du auch wohl Capitän Rick Geyers?“
„Ja, Herr; ich bin ein Jahr als Leichtmatrose mit ihm gefahren; aber – –“
„Was aber?“
„Er ist kein Capitän mehr!“
„Hat er sich zur Ruh’ gesetzt? Er ist noch jung!“
Der Bursche schüttelte den Kopf. „Es ging nicht mehr!“ Und er warf den Kopf zurück und machte mit der Hand die Bewegung, als ob er ein Glas an den Mund setze. „Er fährt jetzt mit dem Blankeneser Postewer.“
Ich nahm den jungen Menschen auf mein Schiff; aber ich hatte genug vom Fragen.
– – Ein paar Jahre später kam ich denn doch wieder nach Hamburg; ich hatte Ueberdruß am Seefahren, und mein Kopf war leidlich grau geworden. Ich ging nach Rick’s Hause; aber Rick lag draußen aus dem Petri-Kirchhof; er war eines Nachts über eine in Reparatur begriffene Flethbrücke gegangen und durch eine Oeffnung in das Wasser und in den Tod gestürzt. Ich denke wohl, er war mit einem schweren Kopf gegangen, der ihn hinabgerissen hatte; aber – Allen Gerechtigkeit! – seine Frau hat nie davon geredet; nur die Nachbaren und der alte Doctor Snittger haben es später mir bestätigt.
Ich war inzwischen Makler geworden und miethete, nachdem ich mit meinem alten Herrn zu Lübeck ins Reine gekommen war, die kleine Oberetage; schön war sie nicht; aber sie genügte, und Rick Geyers Weib und Kind kam es zu Gute. Ein halb Jahr darauf fand sich auch noch ein Schüler des Johanneums für die untere Stube rechts, und das waren Sie, Herr Nachbar; ich denke, wir haben uns, bis Sie zur Universität gingen, leidlich genug in dem engen Haus vertragen!
Sie wissen, die Anna war damals schon ein gestrecktes
Mädchen, nach dem wohl ein so junger Gesell, wie Sie es damals waren, sich einmal umschauen mochte!“
Der Capitän sah mich schelmisch an, und es mag wohl nicht gefehlt haben, daß ich roth geworden bin.
„Du lieber Gott!“ fuhr er dann fort, „wir wollen nicht darüber scherzen; aber ich darf wohl sagen, daß das Kind die Liebe zu seinem Vater auf dessen alten Freund übertragen hatte, und mir war oft, als sähe sie mich mit seinen jungen Augen an, wenn er – wie oftmals! – mich herzhaft auf die Schulter schlug und dann rief. „Ja, John, Du bist’s, auf den man sich verlassen kann!“
Der Capitän seufzte und schlug sich gegen die Stirn: „Das aber war zu viel gesprochen,“ sagte er; „denn Dummheit ist auch eine arge Sünde! Ich plagte mich viel mit dem lustigen Mädchen; Sie haben es ja selbst gesehen, der Unband war mir lieb als wie mein eigen Blut, und wenn nach etwas ihr Gelüsten stand, Ohm Riew’ mußte allzeit Rath wissen. Das alte Riekchen hatte seine unschuldige Freude daran, und das Kind übernahm bald fast meine ganze Bedienung; Ihnen, Nachbar, blieb nur das alte Weib: ich habe manches Mal
darüber lachen müssen; aber der Kaffee von der Anna hätte Ihnen doch noch besser geschmeckt!“
Der Alte schwieg plötzlich und horchte nach oben hinauf. „Ja, der Junge schläft,“ sagte er; dann trank er den kleinen Rest aus seinem Glase und machte sich daran ein neues für sich zu mischen; denn der kleine Kessel sauste immerfort. Mir war, als ob ihm das Erzählen plötzlich widerstehe, oder als ob er sich besinnen müsse, wie er fortzufahren habe.
Aber er saß schon wieder auf seinem Platz, und ohne das dampfende Glas zu berühren, hub er aufs Neue an. „Es sieht manches aus wie ein Kinderspaß; aber auch der Strauß hat erst in einem Ei gelegen! Sie wissen, Nachbar, es war meine alte Seemannsart, zwischen Nachmittag und Abend ein gutes Glas zu trinken, und was den Rum anlangt, so hatte ich allzeit was Echtes in meinem Schränkchen. Ich hatte die Anna gelehrt, nach meinem Maaße mir das Glas zu mischen; aber wenn sie den Rum in das heiße Glas goß und nun der Dampf ihr in das feine Näschen stieg, dann begann sie ein Gehüstel, bog den Kopf zurück und machte allerlei Gesichter des Abscheues gegen mich.
Ich lachte darüber und sagte. „Probir’ es nur!“ oder: „Es wird Dir doch noch schmecken!“
Aber eines wie das andere Mal erwiderte sie: „Ich habe es schon geschmeckt, Ohm; es ist abscheulich!“ und schob mit ausgestrecktem Arm das Glas mir zu.
Es wurde allmälig eine stehende Neckerei zwischen der Jungen und dem Alten. „Du sollst doch noch probiren!“ rief ich endlich; „ist das ein Koch, der nicht probiren kann?“
„Ich bin kein Koch!“ sagte sie schnippisch.
„So bist Du doch mein Mundschenk!“
„Ich thu’s aber doch nicht!“ rief sie und flog mir aus der Stube und die Treppe hinab.
Ich alte Thor, ich muß jetzt denken, daß ihre Natur uns habe warnen wollen; aber ich ging wie mit vebundenen Augen.
Nun war’s an meinem Geburtstage, und ich hatte, mir selber zur Festfreude, dem Kinde ein Dutzend Schnupftücher von einer Extra-Qualität geschenkt, da ich ihre Lust an feinem Linnenzeuge kannte. Und wirklich, sie leuchtete vor Freude, als sie zur Mutter lief und ihr die schöne Waare zeigte; und über ein Kleines saß sie auch schon am Fenster, um ihr kunstvolles Monogramm hineinzusticken. „Mein Ohm!“ rief sie mir zu; „ich thu’ Dir Alles zu Gefallen!“
„Das ist schon mein Gefallen,“ sagte ich, „daß Du Dich freust.“
„Nein, noch was Anderes, Ohm!“ Sie sah mich geheimnißvoll mit ihren dunklen Augen an, und stickte weiter an ihren Monogrammen.
Abends brachte sie mir, wie gewöhnlich, das Kesselchen mit heißem Wasser aus mein Zimmer; sie nickte mir zu, und als es kochte, begann sie mir mein Glas zu mischen. Sie that das wie in Freude zitternd und doch so feierlich, als solle sie ein Opfer bringen. Dann hielt sie das dampfende Glas hoch vor ihrem Angesicht: „Ohm,“ sagte sie, indem sie auf mich zutrat, „mein Ohm, mögst Du noch vielmal diesen Tag erleben!“ Der herzlichste Strahle den meine arme Seele je getrunken, flog aus ihren Kinderaugen in die meinen. Dann setzte sie das Glas an ihren Mund und that einen starken Zug daraus.
Aber es war zu viel gewesen, was sie sich zugemuthet hatte: wie im Krampf spieen die jungen Lippen den scharfen Trank hinaus und das Glas fiel aus ihrer Hand zu Boden, daß der Inhalt und die Scherben umherflogen; dann stürzte sie in den Alkoven, an meinen Waschtisch; ich hörte, wie sie Wasser in ein Glas goß, ein und zwei Mal, und
wie sie gurgelte und sprudelte, als gelte es, einen Gifttrank wegzuspülen.
Ich ging ihr nach; da fiel sie mir um den Hals: „Ohm, mein süßer Ohm … ich konnte nicht dafür … verzeih’ mir, sei nicht bös!“
Das Kind war außer sich; dennoch wollte sie mir ein neues Glas bereiten; aber ich litt es nicht, ich nahm sie aus meinen Schooß. „Sei ruhig, Anna; Du weißt es ja, wir Beide können einander gar nicht böse sein!“
Da preßte sie meinen Hals mit ihren Armen, als ob sie mich ersticken wollte. „Du bist gut, mein Ohm; ich weiß es, Du bist gut!“ und dann weinte sie sich noch ein braves Stückchen.
Aber auch das, Nachbar, öffnete mir nicht meinen vernagelten Verstandeskasten. Am andern Abend kam sie wieder mit ihrem Kesselchen. „Zünd’ nur die Lampe an,“ sagte ich; „hernach mach’ ich mir’s schon selber.“
Ich wollt’, Sie hätten ihr bittend Angesicht gesehen. „Laß mich, Ohm!“ sagte sie. „Ich weiß, ich kann es heute. “
Ich wollte es dennoch wehren; aber jetzt stampfte sie mit ihrem Füßchen: „Ich muß aber, Ohm; das ärgert mich, das von gestern.“
So litt ich’s denn; und als sie ihr: „Zur Gesundheit!“ sprach und dann ein Schlückchen ans dem Glase trank, hielt sie den Athem an und Mund und Augen gewaltsam offen; aber, ich sah es wohl, ein paar Thränen sprangen doch heraus. Bald danach sind Sie ins Haus gezogen, und – Sie haben es ja selbst gesehen, wie zierlich sie uns zu credenzen wußte. Gott verzeihe mir! Das Kind steuerte Backbord; aber ich hätte Steuerbord halten sollen.
– – Im Winter, nachdem Sie fort waren, suchte mein Lübecker Rheder mich wiederum zu ködern; der schlaue Alte hatte es heraus, daß ich zu früh mich landfest gemacht hatte; er meinte, ich könnte wohl noch ein paar Jahre wieder laden und löschen. Von dem dazwischen sprach er nicht; aber er bot mir ein neugebautes Vollschiff und einen Part darin. Mir gefiel das schon; aber was sollte dann aus Riekchen Geyers und meiner Anna werden? Denn auch Ihr Quartier im Unterhause stand unvermiethet. Da, als ich eines Tages in der Januarsonne mit Anna über den Gänsemarkt promenirte, blieb sie vor einem Weißwaarengeschäft stehen und betrachtete begierig die Sauberkeiten, die hier alle in dem Ladenfenster ausgelegt waren. Ich wollte ungeduldig werden; aber sie hatte trotzdem immer
ihren Finger noch nach etwas Neuem. Auf einmal kam mir die Erleuchtung: „Komm’,“ sagte ich, „was meinst Du, wenn Ihr selber solchen Laden hättet?“
Sie wurde schier dunkelroth vor Freude; aber gleich darauf sagte sie traurig, ihr dunkles Köpfchen schüttelnd: „Das ist ja nicht möglich, Ohm!“
„Nicht möglich, Anna? Aber, was meinst Du, wenn Dein Ohm es dennoch möglich macht! Komm’ nur, wir wollen gleich nach Hause, und Mutter soll ihren Segen geben!“
By Jove, ich hatte Noth, daß sie mir nicht vor allen Leuten um den Hals fiel.
Und so kam es denn in Ordnung. Freilich, mein Maklerverdienst ging so circa wohl darauf; aber wen hatte ich denn sonst, für den ich sorgen konnte! Die Stube rechts, wo Sie Ihre Lateiner studirt hatten, wurde zum Laden umgewandelt; die Einkäufe waren schon gemacht, Näherinnen außer dem Hause wurden in Arbeit genommen und eine Glocke über der Hausthür angebracht; Anna selbst war das behendeste Ladenjüngferchen und saß fleißig mit der Nadel in der Hand. Wie ich nach ein paar Jahren aus einem Briefe der Mutter sah, gewann sie später noch besseren Verdienst, indem sie in fremde Häuser
schneidern ging; damals aber warteten wir noch auf Käufer; und sie kamen auch, erst die Nachbarn und die Apothekertöchter, mit denen Anna damals wohl zusammenlief, dann auch von den Gästen aus dem Kaiserhofe. Ich hörte mit Behagen unsere Glocke läuten, wenn ich oben auf meinem Zimmer saß.
Und endlich eines Abends nahm ich muthig einen großen Briefbogen und schrieb darauf an meinen alten Herrn Richardi in Lübeck, daß ich sein neues Schiff, „die alte Liebe“, führen würde.
„Die alte Liebe“ war so gut wie ihr Name; und wir hatten Glück, mein alter Herr und ich! Fünf Jahre lang bin ich gefahren, wie noch nie zuvor – aber wir haben noch andere Abende, davon zu reden – nur bei der letzten Fahrt, in den englischen Nebeln, zwischen Plymouth und Southampton, da hätten wir bald, trotz Nebelhorn und Schüssen, das Schiff und auch uns selbst verloren. Das machte mich kopfscheu; mir schien’s nun endlich doch genug vom Wasser und besser, das Bischen Lebensrest im Trocknen zu verzehren. Doch, mein Herr Richardi in Lübeck war nicht solcher Meinung, und da er mich halten wollte, so wußte ich wohl, weshalb er
mit unserer Abrechnung immer noch nicht fertig wurde. „Herr, “ sagte ich endlich, „ich besuche meinen alten Ohm in Holstein; indeß wird hier wohl Alles klar?“
Er brummte etwas, und ich fuhr am andern Tag hierher. Es war aber ein rechtes Doppelwrack, was ich hier fand: den geizigen Greis und sein großes verfallenes Bauernhaus, worin einst eine weitläufige Wirthschaft war betrieben worden. Zwei Stuben mit vollen Schränken und hohen Wandbetten standen bestaubt und unberührt; der Eigenthümer und eine verrunzelte zahnlose Magd hausten jetzt allein in einer Kammer; freilich, auf dem Boden jungten die Marder in den Ecken und schleppten des Nachts ihre Beute heim und sprangen durch die Löcher des alten Strohdachs auf die Bretter, daß in der Stube unten nicht zu schlafen war. In eine Nacht, wir waren gegen August, kam unerwartet ein Sturm auf; das ganze Dach schüttelte sich, und ich hörte, wie ein Fach Mauerwek herauspoltete; da sprang ich auf und ging die Nacht spazieren. „ Ohm,“ sagte ich am andern Morgen, „mein Schiff war doch noch sicherer als Euer Haus; Ihr müßt bauen, sonst begräbt’s Euch noch!“
Aber er lachte, indem er sich sein schlotteriges
Wams über seinen hageren Leib zuknöpfte. „Das verstehst Du nicht, John; die alten Häuser sind zäh. Du kannst es flicken lassen, wenn sie mich hingetragen haben.“
Ich hielt’s nicht länger aus, mich überkam ein plötzliches Verlangen nach unserer kleinen Anna, und ich schrieb an Riekchen Geyers, daß ich kommen würde.
Am zweiten Tage danach fuhr ich mit dem Wochenwagen ab. Als mein Ohm mit seiner Magd, die ich mit einem unmäßigen Trinkgeld erfreut hatte, mich hinaus begleitete, gab er mir die Hand: „Aber John!“ sagte er, „das in dem Canal, das will mir nicht gefallen; bleib’ schmuck im Lande nun! Wenn Du versöffest, ich müßt’ mein Testament ummachen lassen; das sind theure Sachen!“
Damit fuhr ich ab. Als ich vors Millernthor in Hamburg kam, ging just der Tag zu Ende; ich konnt’s nicht lassen, stieg ab und spazierte nach dem Stintfang hinauf; da sah ich am Hafen längs den ganzen Mastenwald im braunen Abendroth. Langsam ging ich dort hinunter, und da überfiel’s mich: „Haus oder Schiff? Land oder See? Ich schlenderte am Bollwerk entlang, den Kopf voll melancholischer Gedanken; da kam der Sohn unseres Nachbarn,
des Apothekers, mir entgegen; er war in Californien gewesen, kam aber jetzt von Hause und wollte nun wieder in die Minen. Die beiden Schwestern hatten den wilden Jungen weich gemacht, ich glaube, am liebsten wär’ er mit mir umgekehrt; zuletzt aber häkelte er zwei Klümpchen Goldes los, die er als Berlocks an der Kette hängen hatte. „Good bye!“ sagte er, „bringt’s den Dirnen; wenn ich wieder käme, sollt’s ein Pfund sein. “ Und damit drehte er ab und ging davon.
Ich steckte die Berlocks in die Tasche und wanderte jetzt rascher in die Stadt hinein. Als ich Rick’s Häuschen erreicht hatte, brannte im Flur schon eine Lampe. Ein dunkelköpfiges Mädchen flog aus dem Laden, nicht groß, aber schlank; ein zierliches Stutznäschen und über der Stirn, nicht was die Frauenzimmer Simpelfransen nennen, nur so die feinen Stirnlocken, die mit dem Kamm nicht mehr zu bändigen waren; und vor der Brust hing ihr ein sauber Spitzentuch.
Ich zog sehr höflich meinen Hut und wußte nicht, war das feine Ding sie oder war’s nur eine fremde Jungfer? Freilich, so auf Siebzehn schien auch die zu stimmen, die mich da mit ihren großen braunen Auen ansah; aber ich war doch nicht auf Nummer
Sicher und sagte lieber vorsichtig: „Guten Abend; wär’ Frau Geyers wohl zu sprechen?“ „Guten Abend;“ sagte sie – und mir war’s, als ob sie innerlich lache – „treten Sie nur näher.“ Aber ich kehrte mich zu ihr. „Um Verzeihung, liebes Kind,“ sagte ich, „wie heißen Sie denn?“ Sie neigte den Kopf, daß ich vom Gesicht nur noch die Stirnlöckchen sehen konnte und sagte: „An-na.“
Sie sagte das so eindringlich, so very engaging; es sang ordentlich was in den beiden Silben, und wieder auch, als wär’ ein Mädchenlachen noch dahinter.
Dann aber, als Frau Riekchen jetzt aus der Stube trat, da lachte sie wirklich und warf den Kopf empor. „Mutter,“ rief sie jubelnd, „da ist Onkel Riew’, und er kennt mich nicht mehr!“ Und sie flog mir an den Hals, die junge Katze! In mir aber rief es: „Land, Land! Nicht nochmals auf die Planken!“
Ich wohnte schon wieder oben in meinem alten Quartier und hatte aus Lübeck und vom Schiff schon meine Sachen um mich. Es war fast wie früher, nur daß, weil die Frauen Anderes zu thun
hatten, eine kleine Magd mich jetzt bediente, und ich Abends meist mein Glas im Kaiserhofe trank. Da fielen die goldenen Berlocks mir eines Vormittages in die Hand, die ich noch immer abzuliefern hatte, und ich machte mich sogleich jetzt auf den Weg.
Als ich eintrat, fand ich im nur die beiden Mädchen, die vor einem Tische emsig an großen bunten Lappen nähten; da ich aber mein Gewerbe anbrachte und die Goldklümpchen in ihre Hände legte, by Jove, da ging das Gejammer los: „Ach der Herzensbruder, o mein Peter, Peter!“
Wisset, Herr Doctor, ich kann die Frauenzimmerthränen nicht leiden; denn sie machen mich boshaft, was ich von Natur nicht bin; aber so wie eine wilde Gans aus der Thür rennen, das war doch auch nicht schicklich; ich blieb also vor der Hand noch sitzen. Da öffnete sich die Thür und eine alte Näherin trat herein, die mir von früher wohl bekannt war; sie hatte wieder solchen Lappen in der Hand, wie die hier drinnen; es mußte also miteinander wohl ein Kleid ausmachen; auch paßten sie es zusammen und strichen es sich an Hals und Schultern. Als die Alte fortgegangen war, dachte ich für die Anna ein Wort einzulegen und sagte. „Ist das Ihre Näherin? – Die könnten Sie ein
Pfundsmaaß hübscher haben! Ich meinte, daß die Anna Geyers bei Ihnen nähte?“
„Ja,“ sagte die Aelteste und wischte sich den Thränenrest von ihren Backen, „die ist freilich hübscher.“
- „Steht Ihnen das Mädchen denn nicht an?“
„O, – wir haben sie ja schon gehabt.“
- „Und Sie wollen sie nicht wieder haben? Das thut mir leid, sie ist so halbwege ja mein Ziehkind.“
„Ja; aber …“ Sie bückte sich über ihre Näherei und kam nicht an Bord mit ihrem Satze.
- „Schießen Sie los, Mamsellchen.“ sagte ich. „Helles Feuer ist das Beste. Die Anna soll doch ihre Arbeit gut verstehen; hat sie gestohlen, oder wo steckt denn sonst der Fehler?“
„Nun, Herr Riew’,“ sagte die Jüngere und luvte mich mit ihren kleinen unverschämten Augen an; „gestohlen nun wohl nicht; es ist nur Eins!“
Die Aeltere winkte ihr zu und schüttelte den Kopf; aber das schwarze Ding ließ sich nicht übersegeln. „Ich will es Ihnen sagen, Herr Riew’, sie hat für uns zu vornehme Bekanntschaften; wir sind ehrliche Bürgermädchen; mit Grafen und Posamentiergesellen haben wir nicht gern zu thun; auch nicht mal durch die dritte Hand. Und das noch nicht allein!“
„Liebes Mamsellchen,“ sagte ich, da sie innehielt, „sparen Sie die Worte nicht; ich bin bereit zu hören.“
Hieraus, während die Aeltere sittsam auf ihre Arbeit sah, rückte das beredte Mädchen sich einen Schemel unter die Füße und setzte sich ordentlich in Positur. „Es war im vorigen Herbste, Capitän Riew’,“ sagte sie, „und die Centralhalle war eben eröffnet; man konnte in Familie an kleinen Tischen sitzen, seinen Thee oder eine Tasse Chokolade trinken und dabei eine Komödie oder was es sonst denn gab, mit ansehen, und die Kosten waren auch nicht schlimm. Alle gingen hin, und groß wurde davon gesprochen. Wir, Herr Riew’, gehören nicht zu denen, die nach allem Neuen laufen; aber die Gummi-Elasticum-Kerle, als die angekündigt wurden, die mußten wir doch sehen! Wir beide gingen also eines Abends in die Centralhalle, unsere Mutter war natürlich bei uns; der alten Dame schwindelte der Kopf, und sie hätte bald ihren Zufall bekommen, als wir in den ungeheuren Saal traten; doch es gab sich zum Glück, als wir erst an einem Tischchen unsern Thee tranken und dann der Vorhang aufging. Die Elasticum-Kerle waren freilich besser auf dem Zettel als auf der Bühne; aber als der Eine
sich rückwärts um den Tisch wickelte und der Andere als Schlange über ihn wegkroch, ihre Faxen sahen sich lustig an. – Da, als wir im besten Lachen waren, entstand an einem Tische, ein Stückchen von uns, ein Rumoren, daß wir unwillkürlich unsere Augen dahin wenden mußten. Zwei Frauenzimmer hatten dort schon länger mit dem Rücken gegen uns gesessen; nun langten noch zwei leidlich junge Herren an; der eine sah wirklich vornehm aus; aber wer weiß das! Das Gesicht war ziemlich vercommerschirt, und die vielen Haare, die nicht mehr da waren, hatten wohl auch umsonst sich nicht empfohlen. Das gab ein Reden und Complimentiren, ein Schurren mit den Stühlen; dann rief der Kleinere von den Beiden nach dem Kellner. Ein blasser Schlingschlang mit weißer Binde drängte sich an den Tische „Befehlen?“ – „Ja, was?“ – Und der Kellner zählte her, was er zu bieten hatte. - Dazwischen rief der Cavalier: „Genug, Kellner. Zum Vorschmack vier Gläschen schwedischen Punsch.“ - Kennen Sie es, Capitän? Es soll furchtbar stark sein!“
Ich nickte.
„Nun, die Gläser kamen, und die Herren hatten’s immer nur mit dem einen Frauenzimmer, als wenn
die Gummi-Elastiker sie gar nichts angingen, und sie gingen auch mich bald nichts mehr an: denn ich sah immer nur nach diesen vier Menschen. Da stößt meine Mutter mich in die Seite: „Du, “ sagt sie, „kennst Du das Frauenzimmer in der Lila-Haube?“ Und da ich nein sage – „Frau Geyers,“ flüstert sie mir zu, und als die Andere just den Kopf wendet, „Herr Jesus!“ ruf ich; „und da ist auch die Anna!“
In diesem Augenblick stand der vornehmere der Herren aus. „Ihr Glas ist leer, Fräulein,“ sagt er zu der Anna; aber, indem er sich wendet: „Freund Jack, das war wohl eigentlich kein Getränk für Damen!“
Der Andere lachte: „Nur ein gustus, Edmund!“ – „Verzeihen Sie, meine Damen!“ begann der Vornehmere wieder; und: „Kellner! Kellner!“ rief er so laut, daß sie von allen Tischen ihn zornig ansahen und zu brummen anfingen; denn aus der Bühne ging jetzt ein Lustspiel vor sich. Aber er kehrte sich nicht daran und als der Schlingschlang wieder vor ihm stand mit seinem athemlosen „Herrschaften befehlen?“, rief er: „Champagner! Zwei Flaschen auf Eis!“
Nun, Capitän, das kann ich Sie versichern, Anna
hat nicht am wenigsten davon getrunken! Ihr schmuckes Lärvchen brannte ordentlich, und daß sie mit der linken Hand sich auf den Tisch stützte, wenn sie sich erhob und mit den Herren anstieß, das war auch nicht von ungefähr! Hätte die Mutter nicht mit ziemlich trockenem Munde dabei gesessen, sie wäre nach dem Schauspiel wohl, Gott weiß, wohin gekommen; denn der am vornehmsten aussah, der schien viel Gutes nicht mit ihr im Sinn zu haben!“
Als das lustige Mädchen mit ihrem Gespinnst zu Ende war, sagte ich nichts; denn mir war nicht eben wohl ums Herz, Nachbar; ich hörte nur, daß jetzt die ältere Schwester der jüngeren beistimmte: „Wir reden natürlich nicht davon,“ sagte sie, „aber ins Haus nehmen, das geht doch nicht!“
Und die Jüngere warf den Kopf zurück: „Ich danke – wenn der Herr Graf sie Abends vor unserer Hausthür erwartete, – da könnte am Ende ich noch in den Geruch einer Gräfin kommen!“
„Sie haben völlig recht, Mamsell Nettchen, und das wäre wenig passend,“ sagte ich und empfahl mich höflichst.
– – Daß ich beim Nachhausekommen mir unsere alte Tugendhafte auf mein Zimmer bat, und was der Inhalt unseres Gespräches gewesen, brauche
ich Ihnen wohl nicht zu erzählen; aber soviel sah ich, die Apothekermädchen hatten jedenfalls nur mäßig übertrieben; die Herren aus der Centralhalle aber waren freilich Biedermänner, der eine ein Graf, der andere ein Baron.
„Riekchen, geht in Euch!“ rief ich, „besinnt Euch! Biedermänner, und Grafen und Barone, und mit Euch in der Centralhalle?“
Das war zu viel. „Ohm Riew’,“ sagte sie, „unsere Anna ist ein Kind; – ich aber bin mein langes Leben hindurch eine ehrenwerthe Frau gewesen. Wir werden sie nicht verunehrt haben!“
Du lieber Gott! sie wußte nicht einmal, weshalb Rick Geyers in sein frühes Grab getaumelt war.
Nicht lange darauf kam ich eines Abends spät nach Hause; da die Straßenthür noch offen stand, so trat ich, ohne daß es schellte, in den Flur. Es war schon dunkel hier, nur durch das Guckfenster in der Ladenthür fiel ein Schein heraus. Ich stand einen Augenblick, denn ich hörte, wie drinnen eine Herrenstimme sprach, und allerhand, was ich erst nicht reimen konnte.
„Verzeihung, Madame,“ sagte der Jemand, „die Toilette ist keinesweges kostbar; nur ein weißes, weiches Gewand und weiter nichts! Es darf sich keine vor der andern auszeichnen; die Blumen wird die Gesellschaft den Damen liefern; und ich würde hier“ – er sprach das wie mit einer zärtlichen Verbeugung – „um die Erlaubniß bitten, dem Fräulein blaßrothe Rosen anbieten zu dürfen!“
Es entstand eine Pause; dann schien unsre tugendhafte Mutter eine leise Bedenklichkeit zu äußern, die ich nicht verstehen konnte. Aber der Unbekannte sprach sogleich: „Pardon, madame; das ist es ja; nicht Rang und Stand, denen unsereiner gern einmal entflieht, soll hier den Ausschlag geben; sondern Schönheit und gute Sitten; doch da dieselben selten bei einander sind, so wird der Cirkel nur ein kleiner sein, ein Dutzend Paare etwa. Sie wissen, in den richtig konstruirten Familien ist stets die Mutter die Schöpferin der Tugend ihrer Kinder; und nicht jede Tochter, Madame, ist so glücklich, wie die Ihre!“
„Dammend scoundrel!“ brummte ich bei mir selber; denn mir war, als sähe ich durch die Thür ihn jetzt sein nichtsnutziges Compliment gegen unsre Alte machen. Und wer war denn der Monsieur? - Am Ende der Versucher in eigener Person; nur in
Monaco beim Pharao und beim Roulett’, unter dem vornehmen nichtsnutzigen Volk war mir solche Menschenstimme vorgekommen.
Unwillkürlich trat ich dem Guckfenster näher; denn ich hörte schon die Alte sagen. „O, Herr Baron, wenn doch Alle Ihresgleichen solche Grundsätze hätten!“
Aber der Versucher war schon wieder da. „Ich bitte, Madame, beurteilen Sie uns nicht voreilig! Der Präsident unsrer Gesellschaft ist von einer Strenge, daß man sich ihm gegenüber um sich selber, ja fast um unsre Damen bangen dürfte; aber – enfin, er wurde gewählt, und zwar mit allen Stimmen!“
Ein Ruf des Erstaunens entfuhr unserem alten Tugendmöbel, als ich eben in das Fenster sah. Ein großer, eleganter Herr saß beinbaumelnd vorne auf dem Ladentisch; wahrhaftig, Herr Nachbar, ich weiß noch heute, daß das Bein in perlgrauen Hosen steckte! Im Uebrigen Alles, wie man’s nur verlangen konnte; dünnes aber modisch frisirtes schwarzes Haar, ein kleiner Schnurrbart in einem glattrasirten Angesicht; die eine Hand, in hellem knappen Handschuh, lag mit dem Augenglas auf seinem Knie. Er sah nicht übel aus, bei Leibe nicht! Aber um Mund und Augen zuckte etwas – ich kannt’ es
wohl, Herr Nachbar – es macht die Weiber fürchten und fängt sie endlich doch, wie arme Vögelchen! Man soll nur wissen, daß nichts, als böse Lust dahinter steckt.“
Die Alte stand mit übergeschlagenen Händen vor ihm und sah in dummer Anbetung zu ihm auf. Für mich, das muß ich sagen, hatte der Geselle eine verflucht konfiscirte Physiognomie. Er hatte stets nur zu der Mutter geredet; aber Anna, die dort im Winkel stand, sah mit brennenden Augen auf ihn hin. War das am Ende ihre vornehme Bekanntschaft, von der jene Mädchen gesprochen hatten?
Ich ging zurück an die Hausthüre und stieß sie zu, daß die Glocke läutete; dann trat ich in den Laden. Mein Erscheinen mochte den drinnen eben kein groß Plaisir machen: Anna kam aus ihrer Ecke und ging daran, einige Bänder und Spitzen vom Tische in einen Pappkasten zu räumen; der fremde Musjö hob sein Glas an die Augen und sah auf mich herab, als ob ich unter seinem Blick verschwinden müßte.
Aber ich verschwand nicht; sondern setzte mich auf einen Stuhl neben der Thür und sagte: „Schön warm hier drinnen; guten Abend, meine Herrschaften!“
Das alte Weib drehte sich hin und her: „Unser
Onkel Riewe, Herr Baron!“ sagte sie. „Er wohnt bei uns im Hause.“
„So?“ erwiderte er gleichgültig und streckte das Kinn vor; und ich hörte ordentlich, wie das kleine Wort zu Boden fiel. „Sehr angenehm.“
„Lüg’ du und der Teufel!“ dachte ich; aber ich nickte ihm zu und sagte höflich: „Dito, mein Herr; gleichfalls!“
Und damit war unsere Unterhaltung zu Ende. Und da ich nun meinen Hut auf meinen Stock hing, und diesen neben mir an die Wand stellte, so mochte er zu der Meinung kommen, ich sei so leicht nicht zu verjagen; wenigstens glitt er bald vom Ladentisch herunter: „Madame!“ sagte er, und mit einem langen Blick auf die Anna: „Mein Fräulein! Sie gestatten mir wohl, zu gelegenerer Zeit wieder vorzusprechen!“ Dann, ohne mich auch nur anzusehen, war er bei mir vorbei und zur Thür hinaus, und die Alte mit: „Sehr angenehm!“ und: „Allzeit willkommen, Herr Baron!“ hinter ihm her. Anna hatte nur eine stumme Verbeugung gemacht; aber es war gut, daß ihre Augen fest saßen in ihrem heißen Angesicht.
Als die Alte wieder eintrat, waren wir drei denn nun allein beisammen. „Hmm,“ sagte ich endlich,
da die andern beiden schwiegen, „ein feiner Maat, der Euch da beehrt hat!“
Die Alte nickte. „Ein sittsamer, edler, junger Herr! Aber ich glaube, Onkel John, Ihr habt ihn fortgetrieben!“
„Was hab’ ich Riekchen?“ rief ich; denn so sanft sie das auch vorbrachte, solch’ eine Anklage hatte ich noch nie von ihr gehört. „Ich habe ja in aller Ehrbarkeit auf diesem Stuhl gesessen!“
„Ja, Riew’, das haben Sie wohl; aber – Sie saßen so, als wollten Sie den Herrn Baron zur Thür hinaus haben!“
„Und das wollt’ ich auch, Riekchen!“ rief ich, „und er ist denn auch gegangen; und wisset Ihr weshalb? – Weil er ein schlecht Gewissen hatte! Weil er keinen Mann gebrauchen konnte beim Auswerfen seiner Angel, womit nur junge Dirnen und alte dumme Weiber zu ködern waren! Und wenn Ihr noch etwas Mutterwitz im Kopfe habt, so beißt Ihr nicht daran!“
Die Alte stieß einen sanften Klageton aus und ging händeringend auf und ab; ich aber war zornig geworden, Nachbar, und wollte es nicht noch mehr werden; deshalb nahm ich Hut und Stock und stieg hinauf nach meiner eigenen Wirthschaft.
Am andern Morgen mußte ich nach Lübeck, um endlich mit meinem alten Rheder rein zu werden. Er ließ, als ich ankam, nicht ab, ich mußte bei ihm Quartier nehmen, in seinem großen Hause in der Wahmstraße, wo die braun getäfelten Zimmer danach aussahen, als seien Marx Meyer und Herr Jürgen Wullenweber dort noch aus- und eingegangen; der lange Hausflur stieg in das erste Stockwerk hinauf, und oben lief eine Galerie herum, auf welche viele Thüren, auch die von meinem Schlafkabinett hinausgingen. Das Alles hatte ein gar stattlich Ansehen.
Der alte Herr selber war etwas gebrechlich schon; ein wenig steif im Rücken und die Finger vom vielen Schreiben krumm; aber er saß noch immer an seinem Pult; denn er war der Letzte, er hatte keinen Sohn. Wir beide waren aber noch allzeit mit einander fertig geworden; nur etwas langsam ging es, und Geduld mußte man haben. So zog es sich denn auch jetzt wieder von einem Tag zum andern. Die Sache war aber eigentlich, ihm fehlte noch immer der Capitän für „die alte Liebe“; er dacht’ wohl, hätte er mich im Hause, so wär’ ich noch zu halten.
Als ich eines Morgens aus meiner Kammer getreten war, und über die Galerie in den steinernen
Flur hinabsah, schritt er eben aus einer der hinteren Stuben hervor, in seinem grauen Röckchen, das spärliche Haar zu einem dünnen Pull emporgekämmt. „Nun Capitän Riew’,“ rief er hinaufblickend, „hat die letzte Nacht Euch bessern Rath gebracht?“
„Nein Herr; es muß bleiben, wie es ist,“ rief ich hinab.
„Ich glaube, Riew’, Ihr wollt ein Weib nehmen!“ sagte er lachend.
„Auch das nicht; ich habe Familiensorgen ohne das.“
Da drohte der alte Kaufherr mir schelmisch mit dem Finger: „Ja, ja, Ihr alten Capitäne! Ihr habt Familiensorgen in aller Welt, an jedem Ankerplatz, John Riewe! Seid Ihr denn auch von denen? Das wußte ich noch nicht!“
„Daß ich selbst nicht wüßte, Herr,“ sagte ich; „aber es ist ein Freundeserbe, und das hat auch sein Freud’ und Leid.“
„So, so! Vezeihet! Aber kommt nun herunter, daß der Kaffee uns nicht kalt werde!“
So gingen wir denn zum Kaffee, und der alte Mann fragte mich zum Schluß noch wacker aus und klopfte mir ein paar Mal nickend auf die Schulter: „Kann ich helfen?“
„Dank Herr; das mach’ ich schon allein.“
Am Abend – es war an einem Freitag – waren wir beide mit einander klipp und klar, und am andern Morgen befand ich mich wieder auf dem Weg nach Hamburg. Damals gab’s aber weder Chaussee noch Bahnzug; unser Wochenwagen, in dem wir wie die Heringe zwischen Ballen und Kisten verpackt waren, rumpelte auf dem verruchten Knüppeldamm, daß wir mitten auf dem Weg noch beide Stengen brachen; und so war’s schon gegen zehn Uhr Abends, da wir endlich in Hamburg einfuhren. Hundsmüde stieg ich sogleich die Treppe nach meinem Quartier hinauf, und im Augenblick kam auch das alte Riekchen hintennach. „Nun, seid Ihr es?“ frug ich.
„Ja, Onkel John; Ihr seid wohl müde? Soll ich Euch was zu essen machen, oder eine heiße Tasse Thee, oder ein Glas Grog? Das nehmt Ihr heut’ wohl lieber?“
„Nein, nein, Alte; geht nur und grüßt die Anna, wenn sie noch die Augen auf hat. Ich muß schlafen.“
Die Alte murmelte etwas und ging; ich kroch in meinem Alkoven unter die Decke, hörte noch, wie es von Michaelis elf schlug, und wie der Wind aufkam und zwischen die losen Dachpfannen fuhr; dann hörte
ich nichts mehr. Wie lange ich geschlafen, weiß ich nicht, aber es mußte mitten in der Nacht sein – mir träumte, ich fahre auf einem kleinen Schmack durch die norwegschen Schären, und ein Windstoß schlägt das Fahrzeug gegen einen Felsblock – wie von einem Ruck fahr’ ich in die Höhe, und auf einmal fühl’ ich, ich liege in meinem Bett und will mich eben behaglich wieder in mein Deckbett wickeln, da ruckt unten vor der Hausthür ein Wagen auf dem Steinpflaster, ein Kutscher klatscht mit der Peitsche und stößt einen Fluch über seine unruhigen Pferde aus; eine Art Getümmel ist dabei, als würde einer vom Wagen herabgehoben.
Da fiel’s mir plötzlich ein: „Warum, als du heimkamst, war die Anna denn nicht da? Und die Alte, sie war um dich herum, als wollte sie das Mädchen dich vergessen machen; am Ende ist heut der Musterball!“
Ich war aus dem Bett gesprungen und lief ans Fenster. Aber die Unruhe hatte sich schon ins Haus verloren, und ich sah nur noch, wie ein großer Herr im Mantel in den Wagen sprang.
„Vorwärts, Kutscher!“ rief er, und mit Gepolter rasselte das Gefährt davon.
Mit selbigem kam es auch schon die Treppe zu
mir herauf, daß ich mir kaum die Nothdurft über den Leib ziehen konnte, und wieder stand die Alte, aber mit einem wahren Jammergesichte, vor mir.
„Nun, Riekchen,“ rief ich, „was ist denn das für eine Comödie?“
„Ach, Onkel John, scheltet nur nicht! Der Herr Baron hat sie selber vom Ball zurückgebracht; aber sie ist krank geworden beim Tanzen; ohnmächtig, ganz ohne Besinnung; ach, Onkel John, schier wie eine Leiche sieht sie aus. Die alte feine Frau, die mitkam, ist noch unten; aber sie weiß ja hier doch nicht Bescheid.“
„Da soll ich wohl den Doctor holen?“ fragte ich.
„Ach, wenn Ihr wolltet, Onkel John?“
„Hol’ der Teufel Euere Bälle und Barone!“ rief ich; „aber geht nur hinunter zu dem armen Kind!“ – Ich hatte mich schon völlig angekleidet, nahm meinen Hut und lief hinaus.
Bald war ich auch am Doctorhause und klingelte den alten Doctor Snittger aus den Federn, der nur eine Straße von uns wohnte und mir vor Jahren einmal das Marschfieber vertrieben hatte.
Er war sogleich auch diesmal bei der Hand und fertig. „Sorget Euch nicht, Capitän,“ sagte er, als wir mit einander die Gasse wieder hinaufgingen;
„ja, wenn’s ein Mann wäre. Aber bei den jungen Frauenzimmern, da ist’s meist erschreckender, als schrecklich!“
Als wir ins Haus getreten waren, ging der Doctor unten zu den Frauen, ich in mein eigen Zimmer und wanderte, Gott weiß, wie lange, auf und ab. Da endlich hör’ ich unten wieder die Stubenthür knarren und das Riekchen auf dem Hausflur mit dem Doctor klöhnen. Als ich die Treppe hinabsteig’, ruft er mir noch zu: „Alles in Ordnung, Capitän; wir können schlafen gehn!“ und somit ist er zur Hausthür hinaus und das Riekchen zur Stubenthür hinein und Alles still und dunkel.
Also ich auch wieder hinauf in meine Cabine und schlafe bis in den Tag hinein. Da vernehm’ ich auf einmal aus meinem Alkoven, daß drinnen im Zimmer mein Kaffeegeschirr auf den Tisch gesetzt wird, und noch halb im Schlaf rief ich: „Bist Du es, Anna?“
Ich fuhr ordentlich zusammen, als es von drinnen antwortete. „Ja, Ohm.“ Aber es war, by Jove, ihre Stimme.
„Komm’ doch, mein Kind! “ rief ich wieder, „und sag’ mir guten Morgen!“
Und als sie nun kam und die Alkoventhüren
zurückschlug, die ich wegen des Straßenlärmes meist geschlossen hatte, – Herr, wie war ich erschrocken, da der Morgenschein auf das junge Gesicht fiel! - Zerstört, ja ganz zerstört schien es mir; ich suchte darin nach etwas, und ich wußte nicht wonach; die rothen vollen Lippen schienen wie zum Spott daraus hervor.
„Guten Morgen, Ohm!“ sagte sie kaum hörbar; aber ihre Hände zitterten, womit sie mir die volle Tasse reichte, daß ein Theil mir auf das Deckbett floß.
„Kind! Anna!“ sagte ich und faßte ihre Hand; „wo bist Du gewesen? Du hast ja arge Havarie erlitten!“
Sie antwortete nicht; sie zitterte nur noch stärker; und als ich in ihre sonst so fröhlichen Augen sehen wollte, schlug sie sie nieder oder wandte sie zur Seite.
„Anna! Anna!“ sagte ich, „Du gehst mir nimmer wieder auf diese Bälle!“
Da mußte ich nach der Tasse greifen; denn sie wollte die Hände über ihren Kopf erheben. „Nein, Ohm!“ schrie sie, „nie – nie wieder!“ Ihre schlanke Gestalt wollte sich aufrichten; aber sie sank wie ohnmächtig an meinem Bett zusammen.
Ich hatte meine Hand auf ihren Kopf gelegt. „So ist es recht, mein Kind,“ sagte ich; „nun gräme Dich nur nicht; ich gehe mit Dir, wohin Du willst! Und wenn’s erst Sommer ist, dann reisen wir zu meinem alten Ohm, der auf dem Lande wohnt! Da sind große stille Stuben und draußen Wald und grüne Wiesen!“ By Jove! Ich hatte die Marder ganz vergessen!
Sie hatte meine Hände an ihre Stirn gepreßt, und nickte ein paar Mal leise ohne aufzusehen; dann aber richtete sie sich empor. „Laß mich nun, mein Ohm,“ sprach sie freundlich, „ich muß nach unten.“
Sie ging, und ich blieb, ohne meinen Kaffee anzurühren, noch lang auf meinem Bette; ich wußte in der Sache mich nicht zurecht zu finden.
Einige Zeit verging; das Aussehen des Mädchens wurde freilich besser; aber innerlich war das Kind verwandelt. Wenn sie sonst um Mittag so fröhlich unten an der Treppe rief. „Ohm! Ohm John! Servirt!“ – Du lieber Gott, wie träg und öde klang das jetzt! Mir war auch, als ob ihr Angesicht allmälig sich verändre; sie hatte sonst noch immer
wie ein Kinderspiel um Mund und Wangen; das war wie weggeblasen.
Es ging mir arg im Kopf herum; von dem Herrn Baron war nicht der Zipfel seines Rockes mehr zu sehen, und als ich zu dem alten Riekchen davon sprach, erhielt ich zur Antwort, der Herr Baron habe auf seine Güter in Mecklenburg müssen und komme erst im Sommer wieder; das Mädchen aber, das daneben stand, wurde bei dieser Rede wie mit Blut übergossen und ging rasch zur Thür hinaus.
„Ei,“ dacht’ ich, „liegt da der Has' im Pfeffer? Sind die Gedanken unsres Kindes noch immer bei dem confiscirten Kerl!“ Und es fraß ordentlich in mir.
– – Wieder waren ein paar Monate vergangen, als ich an einem Spätnachmittage im März, da schon das Dunkel in die Häuser kroch, von einem Geschästsgange zurückkam. Als ich am Laden vorüber wollte, sah ich durch das Guckfenster, daß dort die Lampe noch nicht brannte; aber, da ich still stand, hörte ich drinnen Jemand weinen. „Mußt einmal revidiren!“ sagte ich zu mir und ging hinein. Da fand ich die Anna in einer Ecke auf dem Ladentritt, mit beiden Händen vor den Augen. „Bist Du es, Anna?“ frug ich. „Wo ist Deine Mutter?“
„Ausgegangen,“ erwiderte sie leise.
„Aber Du mußt ja die Lampe anzünden!“
Sie stand langsam auf, und als die Lampe brannte, sah ich dicke Thränen über ihre Wangen rinnen.
„Bist Du krank, Anna? Oder fehlt es Dir sonst?“ frug ich, während sie sich abwandte und die Fenstervorhänge herabließ.
Sie schüttelte nur den Kopf.
„Aber was ist denn? Warum weinst Du?“
„Ich weiß nicht, Ohm; es kommt nur manchmal so.“
Da ergriff ich sie bei beiden Händen; „Du sollst mir Stand halten, Kind! Nicht wahr, Du härmst Dich nach Deinem Tänzer, nach dem Baron, der jetzt auf seinen Gütern ist?“
„Nein, nein, Ohm!“ rief sie heftig.
„Nun, was ist’s denn? Kannst Du’s Deinem alten Ohm nicht sagen? Wir wollen sehen, daß wir Hülfe schaffen!“
Aber ich sah nur, daß ihr die Thränen reichlicher aus den Augen rannen: „Ich kann nicht!“ Und sie stammelte das nur so. „O, lieber Gott! die Angst! die Angst!“ schrie sie dann wieder.
„Aber so sag’ Dir’s doch vom Herzen! Kind,
wirf den Ballast über Bord. Oder, wenn nicht mir, so sag’ es Deiner Mutter!“
Sie starrte mit ihren schmucken Augen vor sich hin, als ob sie in ein schwarzes Wasser sähe, und sagte rauh: „Nein, nicht der, nicht meiner Mutter.“
„Versündige Dich nicht,“ sprach ich; „Du hast ja nur uns Beide aus der Welt!“
Da warf sie sich auf die Kniee und schrie: „Mein Vater, o mein guter Vater! Ich will zu Dir!“
Und ich kniete neben ihr, und wußte mir nicht zu helfen; denn Nachbar, die Frauenzimmer haben nicht den Verstand, daß man ihnen damit beikommen könnte. Zum Glück klingelte jetzt die Hausthür, und ihre Mutter mit einem Korb voll Brod und Kohl und Rüben trat herein; und so ließ ich die Beiden und ging nach dem Römischen Kaiserhof und dort unten in das Gastzimmer. Aber mein Glas schmeckte mir nicht; denn immer sah ich das arme Kindergesicht in seiner Angst und Noth.
– – Sie hatte sich denn endlich doch der Mutter kund gethan; aber, Herr Nachbar, helfen konnten wir nicht; nur, wir wußten es denn nun – ein vaterlos Kind sollte geboren werden, von ihr, die ja fast selber noch ein Kind war.
Herr, du meines Lebens! Wie wurde die alte
Tugendcreatur lebendig! Wie hat sie geschrieen! Den Mund hab’ ich ihr verhalten müssen, daß nur die ganze Gasse nicht zusammenlief: sie wollte den Baron verklagen, von seinem Gelde wollte sie nichts; aber heirathen sollte er ihre Tochter; noch Frau Baronin sollte sie werden! Ja, das sollte sie!
„Ja,“ sagte ich, „Baronin! Aber wenn’s nun ein Posamentirgeselle oder ein Balbirer gewesen ist!“
Da schrie sie noch schlimmer. Und freilich, später erfuhren wir wohl, es war richtig so ein feiner Maat, ein Wasserschößling aus großer Familie gewesen, von denen, die von Schulden leben und deren Geschäft ist, anderer Leute Kinder zu verderben. Der Herrgott weiß, wo er geblieben ist; von seinen Gütern ist er nicht zurückgekommen.
Die Anna aber wurde immer stiller. Wenn die Mutter da war, besorgte diese den Laden, und sie saß im Hinterstübchen und nähte sich die Augen roth; war die Mutter aus dem Hause, so bediente das arme Kind die Käufer demüthig und wie eine Sünderin, sprach nur, was nöthig war, und ihre jungen Augen, die sonst so lustig in die Welt sahen, waren fast allezeit zu Boden geschlagen.
Nur, wenn jezuweilen Abends die Mutter auswärts war, kam sie die Treppe zu mir heraufgeschlichen.
Dann pochte sie leise an die Thür: „Darf ich ein wenig bei Dir sitzen, Ohm? Es ist so einsam unten.“
Und ich rückte ihr einen Stuhl zum Tisch; ich selber las die Zeitung oder schrieb, wenn so was vorlag. Gesprochen wurde nicht viel; von dem, der ihre Jugend gebrochen hatte, hat sie nie ein Wort geredet; dagegen waren ihre Gedanken oft bei einem Todten. So sagte sie einmal und hielt ihre Nadel müßig in der Hand. „Ohm, ich war doch schon sechs Jahre, als mein Vater starb; aber, wenn ich an ihn denken will, ich kann mir sein Gesicht nicht mehr vorstellen – das ist doch wohl keine Sünde?“
„Nein, Kind,“ erwiderte ich, „warum sollte das eine Sünde sein?“
„Ja, er hat mich doch so lieb gehabt; das fühl’ ich wohl noch immer; aber sein Gesicht, das kann ich nicht mehr sehen!“
Es that mir weh, Nachbar, als das arme Kind so sprach, ich weiß nicht mehr weshalb; ihr Vater konnte auch sein schmuckes Gesicht nicht mehr gehabt haben, als er verunglückte. Da fiel mir ein, ich bewahrte ja noch ein paar Briefschaften von ihm ans seiner besten Zeit aus Rio einen, den anderen aus Hongkong, die waren so hell und jung geschrieben,
als stünde er im Maiensonnenschein am Steuerrad und der Südwind wehte durch seine dunklen Locken. Die holte ich aus meiner Schatulle und legte sie vor ihr hin; „Da, Anna, hast Du Deinen Vater; es war, by Jove, derzeit ein herrlicher Junge!“
Ein heißes Roth flog über das blasse Gesicht, und ihre Augen strahlten für einen Augenblick. „Darf ich sie lesen!“ rief sie, und da ich nickte: „darf ich sie auch mit mir nach unten nehmen?“
„Gern,“ sagte ich, „wenn Du sie hier nicht lesen willst.“
Sie schüttelte den Kopf und sah mich mit ihren düsteren Augen bittend an; das hätte einen Stein erbarmen können. „So geh!“ sagte ich.
Da nahm sie die Briefe, raffte ihr Nähzeug zusammen, und ich hörte, wie sie draußen die Treppe hinabflog. Ich hörte die Stubenthür im Unterhause öffnen und schließen; sie war wohl dort nicht mehr allein nun; denn die Todten – wer kann’s wissen, wenn eine Kinderstimme so ins Grab hinunterschreit!
– – Es gingen wohl acht Tage hin, daß sie nicht zu mir kam; dann pochte eines Abends wieder ihre kleine Hand an meine Stubenthür. „Darf ich hineinkommen, Ohm?“
„Gewiß, mein Kind.“
Dann schritt sie leise herein. „Da sind die Briefe wieder,“ sagte sie beklommen; „ich danke Dir tausendmal.“
„Willst Du sie nicht behalten?“ frug ich.
„Darf ich?“ rief sie und bückte sich über mich und küßte mich und drückte krampfhaft meine Hände.
„Gewiß, mein liebes Kind; aber setz’ Dich nun und bleib’ ein wenig!“
„Ja, Ohm; ich will nur meine Arbeit holen!“ Und dann ging sie mit den Briefen aus der Thür; aber bald war sie zurück und setzte sich mit ihrer Näherei an meine Seite; du lieber Gott, ich sah wohl, daß es kleine Kinderjäckchen waren. Wir sprachen erst nicht; ich sah auf ihr liebes vergrämtes Angesicht, und sie saß wie grübelnd; aber ihre fleißigen Finger rührten sich dabei, als gehöreten sie nicht zu ihr.
„Ohm,“ sagte sie endlich und athmete stark dazwischen, „hat mein Vater einen gewaltsamen Tod gehabt?“
„Ja, Kind; er ist ertrunken, hier in Hamburg, in einem von den Flethen; weißt Du das denn nicht?“
Sie schüttelte den Kopf: „Nicht recht; Mutter
spricht ja nicht davon. Ohm, sag’ mir: that er das mit Willen?“
„Mit Willen, Anna? Was red’st Du denn! Er kam spät Nachts nach Hause; an der Brücke, wo er vorüber mußte, ward gebaut, und mit den Laternen war es noch nicht wie heutzutage; da ist er fehlgetreten und verunglückt.“
Sie schwieg, aber ich sah, wie ihre Brust sich vor innerer Aufregung hob, und wie sie heftiger ihre Nadel führte. „Ohm,“ hub sie wieder an und ließ nun ihre Hände ruhn, „hat mein Vater auch von dem Schrecklichen getrunken, was Du immer Abends trinkst, und – wo ich auch davon getrunken habe?“
Ich erschrak, aber ich antwortete scheinbar ruhig: „Das ist nicht schrecklich, Anna; das hat ja der Herrgott uns Seeleuten so recht zum Labsal gegeben: Hast Du danach bei mir was Schreckliches gesehen?“
„Bei Dir nicht, Ohm“ – und sie sah mich mit ganz großen Augen an; „aber Alle dürfen das nicht trinken; es bringt uns um den Verstand; die Bösen haben dann Gewalt über uns.“
„Ja, Anna,“ sagte ich, „das hat der Herrgott in der Welt so eingerichtet; wohl thut’s mit Maaßen und weh im Uebermaaß; mein alter Hochbootsmann hatte sich in starkem Kaffee den Säuferwahnsinn auf
den Hals getrunken: „Capitän,“ sagte er, als er den Athem wieder oben hatte, „ich bin der nüchternste Mensch; von Euerem gebrannten Zeuge habe ich fast nimmer noch ein Glas getrunken; aber Kaffee, das ist ja ein Getränk für Kinder!“ – Und ich erzählte weiter und sprach wie ein Prediger; aber nur aus Angst und um der Anna ihre bösen Fragen aus dem Kopf zu schaffen. Da läutete zum Glück die Hausthürglocke und sie mußte in den Laden.
Als sie wiederkam, war davon nicht mehr die Rede, und so hatte ich ihr heilig Vaterbild nicht zu beschmutzen brauchen.
Und endlich kam die Nacht, in der das Kind geboren wurde; ein Knabe, derselbe, der jetzt oben hier im Hause schläft. Es ist die einzige Geburt gewesen, der ich in meinem Leben so nahe beigewohnt: aber Freude war nicht dabei. Anna freilich war gesund geblieben; nur nähren konnte sie ihr Kind nicht selber. Wenn man es ihr aufs Deckbett brachte, sah sie es jammervoll aus ihren dunklen Augen an; aber sie gab es kopfschüttelnd wieder fort, und ich sah nicht, daß sie es küßte oder nur sich zärtlich zu ihm niederbeugte. Sie lag in dem Wohnstübchen,
und ihre Mutter ging seufzend aus und ein und mühte sich, das arme Kind ans einer Flasche trinken zu lehren; des Nachts nahm sie die Wiege mit in ihre Schlafkammer, welche, Sie wissen es ja, hinter dem Stübchen lag und durch eine Thür damit verbunden war.
Es mag am siebenten oder achten Tag gewesen sein, daß ich wieder Abends mein Glas in der Gaststube des Kaiserhofes trank. – Sie wissen, die Gelehrten müssen ja allezeit was Neues aushecken, und damals hatten sie es mit der Vererbung vor – es war just ein solcher Artikel, den ich an diesem Abend im Correspondenten las, und ich muß sagen, obschon es mir Phantastereien schienen, ich vertiefte mich immer mehr darin, konnte nicht davon los. „Dummes Zeug!“ rief ich endlich laut, als es mir doch gar zu bunt wurde.
„Mein Gott, capitano,“ hörte ich eine Stimme mir gegenüber, „Sie lesen ja heute über alle Maaßen; was haben Sie denn da?“
Als ich aufblickte, saß der alte Doctor Snittger vor mir und nickte mir lachend zu.
„Ja freilich, Doctor,“ sagte ich, „verrücktes Zeug was der Correspondent uns heute auftischt!“
„Hab’s noch nicht gelesen;“ sagte der Alte; „sind zu viel Lungenfieber in der Stadt jetzt.“
„Auch vererbte?“ frug ich.
„Wie meinen Sie?“
„Lesen Sie es selbst,“ sagte ich und reichte ihm das Blatt, „hier sieht’s; Alles ist vererblich jetzt: Gesundheit und Krankheit, Tugend und Laster; und wenn einer der Sohn eines alten Diebes ist und stiehlt nun selber, so soll er dafür nur halb so lange ins Loch, als andre ehrliche Spitzbuben, die es aber nicht von vaterswegen sind!“
„Ja so,“ sagte der alte Herr nachdem er einen Blick in die geworfen hatte; „es sollte wohl so sein; aber so ist es bis jetzt noch nicht.“
Ich sah ihn an: „Ist das Ihr Ernst, Herr Doctor?“
„Ei freilich, Capitän; den mitschuldigen Vorfahren müßte gerechter Weise doch wenigstens ein Theil der Schuld zugerechnet werden, wenn auch die Strafe an ihnen nicht mehr vollziehbar oder schon vorzogen ist. Wissen Sie nicht, daß selten ein Trinker entsteht, ohne daß die Väter auch dazu gehörten? Diese Neigung ist vor Allem erblich.“
Ich wollte reden; aber er fuhr fort. „Ja, ja, ich weiß wohl, die Erziehung der Jugend, wenn sie
mit ausdauernder Sorgfalt die Reizung dieses entsetzlichen Keimes zu verhindern weiß, kann bei dem Einzelnen das Unheil vielleicht niederhalten; aber darin wird nur zu arg gesündigt. Die hübsche Anna in Ihrem Hause, das arme Mädchen, das jetzt mit einem Kinde liegt, sie hatte ja wohl nicht den Fehler ihres unglücklichen Vaters, wie das bei Frauen denn auch seltener ist; aber doch – was meinen Sie, das ihr fehlte vor nun dreiviertel Jahr, in jener Nacht, da Sie mich aus dem besten Schlaf aufklopfte? - Ich will es Ihnen sagen, Capitän, – das schöne Mädchen war in jener Nacht sinnlos betrunken! - Wer weiß, ob nicht ihr Unglück …“
Aber ich hörte schon nicht mehr, was der Doctor sprach: denn in mir redete es mit hundert Stimmen durcheinander; aber eine darunter war die stärkste. „Deine Schuld, deine Schuld!“ rief sie stets dazwischen. Und das war Rick Geyer’s Stimme, die ich gleich erkannte; und bald sah ich ihn vor mir in seiner schönen Jugendflottheit, die Bänder an seinem blanken Hute flatterten im Winde; bald aber mit dem gedunsenen Gesicht und den schweren Augen, die mich zornig ansahen. Dann wieder sah ich die Anna, das zehnjährige begehrliche Ding, wie sie voll Abscheu den heißen Trunk von sich sprudelte, zu dem
ich so unbesonnen sie genöthigt hatte; dann wieder, wie sie später mein halbes Glas mir vor der Nase wegschluckte. „Deine Schuld! deine Schuld!“ schrie die eine Stimme wieder. Ich sprang von meinem Stuhle auf: „Ja, ja!“ rief ich; „aber ich will“ … Ich besann mich; ich hatte das fast laut geschrieen. Zum Glück war eben jetzt nur der verständige Doctor allein mit mir im Saale; seine Hand lag aus meinem Arm: „Was wollen Sie, Capitän?“ frug er ruhig.
Ich setzte mich wieder. „Helfen will ich,“ sagte ich, „soweit eines ehrlichen Menschen Kraft nur reichen kann!“
„Das thun Sie! Ich habe ja den Vater auch gekannt – daß nur nicht zwei solcher Menschenkinder hier zu Grunde gehen! Und wenn Sie meiner dazu bedürfen, wir sind ja Nachbarn!“
Ich drückte ihm kräftig seine gute Hand: „Good bye, Doctor; ich werd’ es nicht vergessen.“ Dann stand ich aus und ging. Den Kopf voll guter Werke trabte ich über die Straße; ich begann in Gedanken schon an meinem Testament zu arbeiten.
Als ich zu Anna in die Stube trat, lag sie mit weit gestreckten Armen und sah starr auf die in einander geschlungenen Hände und das leise Bewegen ihrer Finger, als sei der Lebensknoten dort zu lösen;
wie es Menschen machen, die ihren Curs nicht mehr zu steuern wissen. Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante. „Anna,“ sagte ich, „Du siehst so traurig aus; was machst Du denn da?“
Sie blickte langsam zu mir auf: „Nun?“ frug sie, und als ich nickte. „Nun denke ich nur.“
„Woran denn denkst Du?“
„An meinen Vater, Ohm.“
„Nicht an Dein Kind?“
„Mein Vater – das ist sanfter. – Ohm, bitte,“ sagte sie dann, löste die Hände auseinander und wies nach der Schatulle am Fenster, in deren Klappe ein Schlüssel steckte; „ich habe ja noch die Briefe, ich darf sie auch wohl noch behalten; die oberste Schublade! Wenn Du so gut sein willst, so gieb sie mir.“
Ich reichte ihr die Briefe, und sie packte sie unter ihr Kissen und legte sich dann zur Seite und mit der Wange darauf. „Ohm,“ sagte sie, „wie kommt das, ich sehe jetzt wieder ganz deutlich sein Gesicht. – Vielleicht – er war so gut, er hat wohl Mitleid“ … sie warf sich unruhig im Bett empor: „ach Ohm, ich darf nicht denken, nicht eine Spanne weit! Aber heute Nacht, da hört’ ich seine Stimme,
so sanft, als wollte sie mich an sich ziehen; Du kannst Dir das nicht denken! Nur, als ich zu ihm wollte, war er fort, und es rauschte über mir, als wenn ich in ein Meer versänke. Und dann hörte ich das Kind weinen und meine Mutter fing an zu singen.“
„Das waren Deine Träume, Anna,“ sagte ich.
„Ja, vielleicht, Ohm; aber“ – und sie sprach das fast unhörbar – „ich wär’ so gern bei meinem Vater!“
„Denk’ lieber an Dein Kind!“ sagte ich, „und laß Rick Geyers schlafen.“
Sie starrte mich geheimnißvoll an: „Das Kind, das ist eine Sünde,“ sagte sie, „und darum ist mir auch die Brust für ihn vertrocknet.“
„Ei, dummes Zeug! Sieh ihn nur muthig an. Der Junge ist wie jeder andre unsres Herrgotts Kind! Laß ihn erst ein paar Jahr’ älter werden; ich will Dir helfen, Anna; wir wollen was Tüchtiges aus ihm machen, einen flotten Steuermann, einen Capitän! Und wenn er dann mit seinem Vollschiff von de ersten großen Reise heimkommt, wir beide stehn am Hafen; er schwenkt den Hut – die Ankerkette rasselt – Hurrah für Capitän … ja, Kind, wie sollen wir ihn denn taufen? Ich denke doch wohl: Rick? Was meinst Du zu Rick Geyers?“
Ein Seufzer unterbrach mich. „Ja, Ohm, und seine Mutter steht dann da und ist ein altes Mädchen!“
„Deine Schuld! deine Schuld!“ schrie es wieder in mir, so laut und schaurig, wie aus einem Nebelhorn; man hört’s und weiß in der grauen Finsterniß nicht, woher es kommt. Da fuhr’s in meiner Noth mir durch den Kopf, ich sagte: „Anna, ich weiß, ich bin nichts als Dein alter Ohm, schon über Sechzig, und morgen mach’ ich mein Testament: was ich habe – es ist ein anständig’ Bürgertheil – kommt Dir und Deinem Jungen zu; und willst Du die paar Jahr’ noch meine Frau heißen – denn es bleibt trotzdem beim Alten, Anna – aber ein altes Mädchen brauchst Du nicht zu werden!“
Ich weiß nicht, Nachbar, es war vielleicht was ungeschlacht; ich wußte mir nur anders nicht zu helfen; es ist ja nun auch einerlei.
Aber Anna hatte sich strack emporgerichtet. „Nein!“ schrie sie, „nein, das will ich nicht! Du bist so ehrenhaft und brav! Ach, Ohm,“ – und ich sah, wie sie in sich zusammenschauderte – „Du weißt es doch – die Schande ist so ansteckend!“ Sie hatte krampfhaft meine Hand ergriffen und geküßt.
„Anna,“ sagte ich, „ich kann Dich hiezu nicht
drängen; aber Schande ist nur unter den Menschen und verweht in einem guten Leben. Denk’ an Dein Kind, und daß ich nichts für mich will.“
- „Nein Ohm, nie – nie.“ Ihre Augen bewegten sich zitternd, sie hatte die Arme ausgestreckt und rang die schmalen Hände um einander. „Aber – das Andre, was Du sagtest,“ begann sie schüchtern wieder, „mein Kind, es wird zu leiden haben um seiner Mutter willen. Hilf ihm, Ohm! Kannst Du es wirklich mir versprechen, mein Kind niemals, auch bei Deinem Tode nicht zu vergessen?“ Die großen Augen waren angstvoll auf mich gerichtet.
Da legte ich meine Hand auf ihr armes junges Haupt: „Niemals Anna;“ sagte ich, „sonst vergesse mich unser Herrgott in der letzten Stunde! Schon morgen soll Dein Sohn mein Erbe sein.“
Wie mit einem Seufzer der Erlösung sank sie zurück in ihre Kissen. „Ich danke Dir, mein geliebter Ohm! Und nun geh! Nun möcht’ ich schlafen!“
Ich stand noch eine kurze Weile und blickte auf ihr jetzt so blasses Angesicht, in welchem die Augen schon geschlossen waren. „Gute Nacht, liebe Anna!“ sagte ich und küßte ihr die Stirn.
Sie schlug noch einmal ihre Augen zu mir auf und bewegte leis das Haupt; dann ging ich.
Als ich aus den Hausflur trat, geleitete die Mutter eben einen späten Käufer an die Thür. „Gute Nacht, Frau Geyers!“ sagte ich und stieg hinauf nach meiner Stube.
Ich hörte die Hausthür schließen, dann noch von nah und fern die Glocken aller Thürme durcheinander schlagen; innen und außen wurde es allmälig ruhige und ich schlief; wie lange, weiß ich nicht. Aber mich weckte etwas; ich mußte erst völlig wach werden, bevor ich’s fassen konnte; der erste Dämmerschein fiel eben in die Stube. Endlich glaubte ich es zu wissen. die Kette vor unserer Hausthür mußte herabgeglitten sein; aber wie? – Sie wurde jeden Abend über eine hohe Klammer aufgehakt. Ich lag noch und grübelte darüber; sogar an Diebstahl und Einbruch streiften die Gedanken; da drang noch ein zweites Geräusch vom Flur herauf: es klirrte; aber es war ein leiser Klang dabei, als käme er von einer Glocke.
Rasch war ich aus dem Bett gestiegen und kleidete mich völlig an; dann nahm ich meinen Revolver aus der Schatulle und stieg leise in den Flur hinab. Es war nichts zu sehen; nichts rührte sich; aber als ich an die Hausthür ging, fand ich sie unverschlossen: bei dem Oberlichte, das darüber war, sah ich die
Glocke mit einem Tuch bedeckt, und an der einen Seite hing die Kette los herunter.
Noch immer war Todtenstille; auch das Kind schien zu schlafen. Ich faßte die Ladenthür: sie war verschlossen; aber als ich mich dann wandte – die Thür der Wohnstube war nur angelehnt, und ich öffnete sie noch etwas weiter, so daß ich Anna’s Lager übersehen konnte. Die Nachtlampe knisterte nur noch, aber es drang schon Morgenhelle herein; das Bett war leer, die Decke hing halb herausgerissen über die Kante; aus der Kammer nebenan hörte ich das Riekchen schnarchen.
Und im selben Augenblick, Herr Nachbar, wußte ich Alles, Alles! Wie ein Krach war es durch meine alten Knochen hingefahren; baarhäuptig, wie ich war, den Revolver in der Hand, lief ich aus dem Hause, aus einer Straße in die andre, mir war, als ob ich fortgetrieben würde; und endlich, da lag die Brücke und das Fleth vor mir, wo einst mein armer Rick sein bischen Leben eingebüßt hatte.
Das trübe Wasser zog langsam nach Osten unter der Brücke durch, und der erste Dunst des Morgenroths schillerte wie Blut darauf; die Rückseiten der hohen Speicher standen rechts und links in halbem Schatten; es war ein eiskalter Frühmorgen
nur ein paar Brotträger sah ich an mir vorbeipassiren.
Aber dort auf der Brücke stand schon eine Vierländerin, ein blutjunges Ding; sie hatte bei einem ihrer ersten Gänge in die Stadt wohl nichts versäumen wollen.
Ich ging näher, ohne daß sie mich bemerkte; denn sie streckte ihr Köpfchen mit dem runden Strohhut weit über das Geländer und sah nur immer in das Wasser; am Arm hing ihr ein Korb, wie ihn solche Mädchen tragen, der von Maililien ganz gefühlt war. „Was macht das Kind?“ frug ich mich eben; da langte sie zurück in ihren Korb und warf einen der Sträuße in das Wasser. Betroffen war ich stehn geblieben. „Hier ist es!“ sprach etwas in mir; und ich sah noch, wie die kleine Hand ein zweites und ein drittes Mal in den Korb faßte; und jedesmal fiel eine Hand voll Frühlingsblumen in die Tiefe. Ich fuhr mir durch das Haar und steckte den Revolver, den ich gedankenlos noch in der Hand trug, in die Tasche; als ich dann aber zu ihr trat, da sah ich, daß zu den Blumen auch dicke Thränen aus den Kinderaugen fielen. „Erschrick nicht!“ sagte ich; „aber wem streust Du da denn Blumen?“
Als sie mich so plötzlich sah, hub sie dennoch laut zu schreien an: „Hülfe! Hülfe! O, die schöne blasse Frau; sie nickkoppte mir noch so traurig zu!“
„Was sagst Du!“ rief ich, „sprich Kind! Liegt sie da unten?“
Das Mädchen nickte heftig, und die Thränen stürzten ihr reichlicher aus den Augen.
Ich lugte von der Brücke nach Osten aus, wohin das Wasser zog. Da, am Backbord eines Ewers, der hinter einem Speicher lag, sah ich etwas schimmern; der erste Morgenstrahl hob es eben aus dem Dunkel; aber das Meiste war unter dem Wasser.“
Der Capitän hielt inne und trank den Rest aus seinem Glase, indem er meine Hand faßte. „Wir wollen es kurz machen, Nachbar;“ sagte er; „sie war es; ihr Nachtkleid hatte sich dort verfangen und den Körper aufgehalten, damit er bald zur Ruhe komme. Es waren jetzt auch Leute herzugelaufen; wir haben sie in ein Haus getragen, einen Doctor geholt und alle Versuche angestellt; aber die junge Seele war zum armen Rick gegangen, und ich will hoffen, daß ihnen beiden Gott verziehen hat.“
Er schwieg eine Weile; dann begann er wieder. „Als ich über die Brücke zurückging, stand die Kleine noch immer dort; nur daß sie aus ihrem runden
Gesichtlein jetzt nach der Seite auf das Fleth sah, wo wir vorhin unser liebes Kind herausgehoben hatten, wo aber jetzt nur noch der träge Zug des Wassers floß. Sie ließ sich ruhig bei der Hand fassen, als ich ihr sagte: „Komm’ mit mir; ich will Dir alle Deine Blumen abkaufen; die sollen mit der todten Frau in ihren Sarg!“
So gingen wir, und als wir in unser Haus kamen, wo Alles noch zu schlafen schien, nahm ich sie mit in meine Stube und gab ihr zu essen und zu trinken; eine Rauchwurst und ein Stückchen Brot waren noch im Schrank und auch ein Schlückchen süßen Weines; denn mir war, ich müsse zuerst das verklommene Kind erquicken. Dann stieg ich hinab und ging in die Wohnstube, wo Alles noch lag, wie ich es vorher verlassen hatte; aber durch die offene Kammerthür sah ich das Riekchen jetzt in ihrem Bette sitzen, aufrecht und geschäftig: sie wickelte das Kind und sang dazu ihr „Eia Popeia.“
„Das ist recht, Frau Geyers,“ sagte ich; „aber Ihr könnt jetzt alle Eure Tugend brauchen!“
Sie fuhr ein wenig zusammen, denn sie hatte meinen Eintritt nicht bemerkt. „Ja, Ohm Riew,“ sagte sie, „wenn wir unsere Sündenschuld abziehen, so müssen wir mit dem Rest schon fertig werden.“
Und das Weib, by Jove, Herr Nachbar, sah mich an wie ein Engel der Geduld; und mit der Trauer in meinem Herzen, die ich noch auf sie abladen sollte, ich hätt’ ihr Alles abbitten mögen, was ich sonst über sie geredet und gelacht hatte.
Als ich meine Todesbotschaft ihr verkündete, legte sie das Kind mit zitternden Händen in die Wiege, die vor ihrem Bette stand. „Gott steh’ mir armem schwachen Menschen bei!“ Das war Alles, was sie sagte; und als sie Anstalt machte, aus dem Bette aufzustehen, ließ ich sie allein und ging auf mein Zimmer, wo ich die Vierländerin schier vergessen hatte.
Da stand sie mit ihrem leeren Korbe und ihrem Rundhut mitten auf der Diele; die Maililien aber hatte sie alle in meine große Waschschaale geordnet und auf den Tisch gestellt. „Bist Du schon fertig?“ frug ich.
„Ja, Herr; und dank’ auch!“
Und als ich ihr zwei Thaler auf die Hand legte, lachte das ganze runde Gesichtlein.
„Wie heißt Du?“ frug ich noch; denn mir war, als dürfte ich das Kind nicht lassen, als trüge sie das letzte Lebewohl von Anna mit sich fort.
„Trienke!“ sagte sie fröhlich.
„Und wo hast Du denn Deinen Stand?“
„Am Jungfernstieg; Neuen Walls Ecke.“
Und damit nickte sie und ging; aus dem Fenster sah ich noch, wie muthig sie in das Leben hinauslief.
Ich habe später noch manchen Strauß von ihr gekauft, und Trienke suchte immer das Schönste für mich aus, rothe Nelken und Rosen, da es Sommer wurde, im Herbste weiße und violette Astern; sie wußte wohl, für welches Grab ich mir die Blumen kaufte.
– – Schon am andern Tage aber lag unsere schöne Anna weiß und kalt in ihrem Sarge, da, wo sie gestern noch im warmen Bett geschlafen hatte, und um sie war alle Sorge aus. Die Mutter hatte das feuchte und verwirrte Haarwerk ihr getrocknet, und die langen dunklen Flechten lagen aus den seinen Linnen, worin wir sie gehüllt hatten; schon, als sie noch Kind war, konnte die Wäsche ihr immer nicht fein und sauber genug sein; das Beste aus dem Laden hatten wir ihr gegeben. So lag sie denn noch einmal in full dress, Maiglöckchen um ihr schönes stilles Angesicht und in ihren blassen Händen. In der Nacht habe ich die Wache bei ihr gehalten; ich hatte ihre Hand gefaßt, bis mir die Todeskälte in den Arm hinaufstieg; aber sie drückte meine Hand
nicht mehr; die geschlossenen Augen, auf die ich lange Stunden sah, sie hatten sich rasch am Leben satt getrunken.“
Der Capitän schwieg, langte nach seinem halbvollen Glase und trank es in einem Zuge aus. „Es ist kalt geworden, Nachbar,“ sagte er, „und meine Geschichte ist aus. Wir wollen noch Eins brauen und von anderen Dingen reden!“
„Aber Ihr wolltet mir noch sagen –“
„Was denn? – Nun ja, seit jener Nacht trinke ich mein Glas nur noch, wie wir es heute Abend thun; und – ja, mein alter Ohm, zu dem ich damals mit der Anna wollte, der starb, ich war sein Erbe, und da die Anna nicht mehr zu haben war, so zog ich, nachdem wir die Hamburger Baracke verkauft hatten, mit ihrem Jungen und der Alten hier hinaus, baute aber für das alte Haus, das nicht mehr stehen konnte, erst ein neues. Die Großmutter, Sie wissen es, die haben wir neulich hier zur Ruh’ gebracht; was aber aus dem jungen Rick Geyers noch werden soll – -“
„Nun, Capitän, das berathen wir noch mitsammen! Euer Testament ist hoffentlich in Ordnung?“
„Mit allen Klammern der Gesetze.“
Ich nickte. „Aber es ist spät; wir wollen heute nicht mehr trinken! Gute Nacht, Capitän; das müßte doch mit allen Teufeln zugehen, wenn zwei Kerle wie wir nicht einen solchen Bengel nach unserm Compaß sollten steuern können!“
Ein dankbarer Händedruck des Alten; dann war ich auf dem Heimweg.
Seit dem hier Erzählten sind fast zehn Jahre vergangen, und es ist wieder einmal Herbst; aber erst im Anfang des September, und die Laubhölzer lassen nur noch hie und da ein gelbes Blatt zur Erde fallen. Mein alter Capitän Riewe ist noch ein munterer Greis, noch jetzt ein musterhafter Gärtner: in seinem Obstviertel stehen fast lauter junge Bäume; manches Pfropfreis haben wir getauscht und manche treffliche, fast vergessene Art aus alten Gärten in den unseren zu neuem Glanz verholfen; Périnette und Grand Richard, Beurre blanc und Winterbergamotte stehen in unseren Gärten jetzt, und schon seit Jahren, mit Frucht beladen; aber bei dem Alten glänzen Stamm und Zweige wie die Rinde einer Silberweide; bei ihm muß Alles
sauber sein wie aus einem Schiffsdeck. Er lebt allein mit einer freundlichen und verständigen Haushälterin; aber an Sommernachmittagen, zumal des Sonntags, kommt er gern zur Kaffeestunde auf unsere Terrasse, und es stört ihn auch nicht, wenn der Südost dort einmal durch seine weißen Haare fährt. „Ich danke, Madame, den haben wir einstmals anders kennen lernen,“ sagt er mit seiner gütigen Höflichkeit, wenn meine Frau eine Besorgniß um ihn kundgiebt. – Nach dem Kaffee spazieren wir in unserem Garten und besehen die Fruchtbäume oder reden über unsere Nelken und Levkojen; denn darin sucht der Eine dem Andern es zuvorzuthun und die Sache ist nicht ohne Eifersucht. Wenn die Dämmerung anbricht, begleite ich ihn nach Hause, und dann reden wir von Rick – nur von Rick; denn von diesem ist das Herz ihm doch am vollsten; aber es ist auch eine Freude, über Rick zu sprechen.
Abends ist der Capitän zu Hause und allein, außer wenn ich einmal ein Stündchen bei ihm sitze, wo mir mein Glas Madeira-Grog niemals entgeht. Sonst liest er dann seine Zeitung, den Hamburger Correspondenten; am aufmerksamsten und mit seinem Herzen die Schiffsnachrichten; denn er segelt mit
jedem Schiffe, und auf einem von den allen fährt sein Rick.
Wir hatten Glück mit dem Jungen damals, der Alte und ich: der tüchtige Sohn unseres Küsters hatte eben sein Examen auf dem Seminar bestanden, da fingen wir ihn ein, und für zwei Jahre wurde er der Lehrer Rick’s. Es traf sich, daß bei Beiden die angeborne Befähigung, man könnte sagen, eine wissenschaftliche Leidenschaft für die Mathematik vorhanden war. Das verband die beiderseits noch so jugendlichen Herzen, und auch in anderem mochte nun der lernfähige Schüler nicht zurückstehen. In freien Stunden streiften sie botanisirend durch Wald und Feld oder übten an den Stangen und Turnricken, die der Capitän hinter seinem Hause aufschlagen ließ, die Gewandtheit ihrer Glieder; so wurden sie auch Freunde, und wenn jetzt Rick nach Hause kommt, der in unserem Dorfe angestellte junge Lehrer Fritz Oye ist seine erste Frage.
Zwei Jahre war er noch auswärts auf einer Schule gewesen; dann ließ der Alte ihn confirmiren und brachte ihn nach Hamburg auf ein gutes Schiff. Vor zehn Monaten wurde er Steuermann auf der „Alten Liebe“, die noch immer für die Lübecker Firma in See geht. Freilich, der alte Rheder meines
Freundes ist nicht mehr; ein junger Vetter desselben ist jetzt Herr des Geschäftes und des alten Hauses.
Nur Eines habe ich noch zu sagen: Eben, vor einer Stunde nur, öffnete sich meine Stubenthür, und unser Freund, der Capitän John Riew’, trat zitternd und bleich zu mir herein; er legte seinen Hut aus einen Stuhl und wischte sich den Schweiß aus seinen weißen Haaren.
„Was ist, Capitän?“ rief ich erschrocken. „Ihr seht ja ganz verteufelt aus.“
Aber er ergriff meine beiden Hände und schüttelte den Kopf: „Vor Freude, Nachbar, nur vor Freude! God bless you, Sir! Der Junge ist Capitän!“
„Alle Wetter!“ rief ich, „das geht ja wie der Wind!“
„Ja, ja; hier steht’s!“ und er riß ein Telegramm aus der Tasche und hielt es mir triumphirend vor die Augen. „Sein Vorgänger starb drüben in Rio Janeiro am gelben Fieber, und nun ist er’s und soll’s auch bleiben – Capitän der „Alten Liebe“! By Jove! Der junge Lübecker weiß sich seine Leute auszusuchen! – Aber – warum ich komme, Nachbar! – Sie fahren doch mit mir übermorgen?“
„Wohin? Doch nicht nach Rio, Capitän?“
„Nein, nein!“ sagte der Alte lächelnd, „nur nach
Hamburg; denn da ankert dort im Hafen die „Alte Liebe“ unter dem Capitän Rick Geyers! – O Anna, mein liebes Kind, Du hast das nicht erleben wollen!“
Er wischte sich die Augen mit seinem großen blauen Schnupftuch. „Aber heute Abend, Nachbar,“ setzte er, sich ermutigend, hinzu, „trinken wir Beide in meiner Koje ein Steifes mit einander und - God dam! – von meinem alten Jamaika!“
„Topp,„ rief ich, „Capitän, ich trinke und ich fahre mit Ihnen. Hurrah für unsern Jungen!“
– – Er ging; und ich habe nichts Weiteres zu erzählen; es ist jetzt Alles gut; denn wir haben die Hoffnung, freilich auch nur diese, wenn wir des alten Ricks gedenken und die Knabenstreiche des jungen nicht auf Abschlag nehmen; aber die Hoffnung ist die Helferin zum Leben und meist das Beste, was es mit sich führt.
Ein Fest auf Haderslevhuus.
Novelle.
– 1885. –
Alle Rechte vorbehalten.
Im 14. Jahrhundert in Nordschleswig war es, als dort im tiefen Buchenwalde der Ritter Claus Lembeck auf seiner Höhenfeste Dorning saß. Sie war ihm nach dem Tode seines jütischen Weibes zugefallen; er hatte sein Wappen, einen Geyerkopf auf rothem Felde, über die Einfahrt des Außenthores nageln lassen und zog Wall und Gräben doppelt stark um sich herum. Denn Waldemar Atterdag, der Dänenkönig, trug heimlichen Groll gegen den gewaltigen Mann, der einst aus seinem grimmigsten Feinde sein dienstbeflissener Kanzler geworden war, dann aber wiederum ihm abgesagt und sich zu den Grafen von Holstein, den Schauenburgern, und zum Herzog Waldemar von Schleswig gestellt hatte.
Es war damals gar wilde Zeit bei uns; der König berannte, wiewohl vergebens, die Feste Dorning mit seinem Kriegsgeschwader; dann schloß er Frieden
und legte, mit Untreue im Herzen, seine Hand in die des Ritters. Als dieser aber bald danach der tödtlichen Nachstellung des Atterdag nur kaum entronnen war, da zog er nach der Insel Föhr, um dort sich eine Burg zu bauen, und ließ die Feste Dorning seinem ältesten Sohne. Das aber war nicht wie ein Chronist dem anderen es nachgeschrieben hat, der Hennecke Lembeck, welcher späterhin die Kieler in Noth brachte, weil sie einigen seiner straßenräuberischen Burgleute den Kopf hatten vor die Füße legen lassen; es stand noch Einer zwischen ihnen, von dem jede Kunde fast verschollen scheint; der älteste Sohn des vielberufenen Ritters hieß Rolf Lembeck und saß, wenn auch nur wenig Monde, auf Schloß Dorning. Er war nur halb vom Eisenstoffe seines Geschlechtes, und lieber als im Harnisch, ging er auf leichten Sohlen und in zierlichen Gewändern von Sammet oder Seiden; von ihm war nur ein jäh zerrissenes Minneabenteuer zu berichten, das wie Mondlicht in die Wirrniß dieser finsteren Zeiten fällt; doch damit hatten die Chronisten nichts zu schaffen. Und obschon sein Leben ein Vierteljahrhundert kaum erreichte, so war er doch ein deutscher Ritter, blauäugig und mit blondem Haupthaar, von froher, leichter Jugend und von heißen Lebenslust.
Ich aber weiß von ihm; und was ich weiß, das drängt mich heut’ es zu erzählen.
Claus Lembeck wollte keinen Gelehrten aus seinem ältesten Sohne machen; aber gleich ihm, ja besser noch, sollte er Kopf und Faust gebrauchen können, und dazu mußte beides gleich geübt werden. So hielt er ihm einen clericus der den leichtlebigen Gesellen in den Wissenschaften des Quadriviums umherführte; so sandte er ihn danach – es war noch während der Pestzeit – auf die Universität Paris, und der Junker begann sogleich ein eifrig Studium: er lernte höfisch fechten, er lernte tanzen und die Laute spielen, auch klingende Schanzunen dazu flechten, und was der schönen Künste sonst noch waren; die schwereren ließ er den anderen. Dann ward ihm noch ein fröhlich Jugendjahr auf der neuen universitas zu Prag, wo derzeit der deutsche König Carl seinen Hof hielt. Hier lernte er die großen deutschen Dichter kennen, den Iwein und den Armen Heinrich Hartmanns von der Aue, die Lieder des Oesterreichers von der Vogelweide, sogar ein Stück von Wolframs Parcival hatte er gelesen; was aber ganz sein Herz gefangen hatte, das war des
Straßburger Meisters Liebeslied von Tristan und Isolde.
Vor dem weit reichenden Namen seines Vaters that manch edles Thor, sogar das edelste sich auf. Bei einem großen Tanzfest im Hradschin, das auch des Königs Gegenwart verherrlichte, war Rolf Lembeck der gewandtesten Tänzer einer und flog in den hohen kerzenhellen Sälen von einer Schönen zu der anderen. Der König stand an einem Fenster mit der jungen Gräfin von Jülich im Gespräch; die braunen Augen der Dame aber folgten einem Tanzpaar. „Ei, Majestät, so sehet doch den feinen Junker,“ rief sie, „der tanzet ja wie ein Franzos!“
Des Königs Augen waren den Tanzenden eine Weile gefolgt; dann hatte er genickt und einen Pagen abgesandt, den jungen Tänzer herzufordern.
Rolf Lembeck aber hatte bei seiner Partnerin um Urlaub gebeten und dann, sein blondes Haar zurückstreichend, mit höfischer Verneigung sich dem König vorgestellt. Der betrachtete ihn wohlgefällig; dann aber schüttelte er den Kopf, und sich zu der Gräfin wendend, sprach er: „Ihr irrt, schöne Frau! Von ferne möcht man’s glauben; doch -, nicht so, Junker, Ihr seid mir nimmer ein Franzose?“
„Da Majestät mich solcher Frage würdigen,“
entgegnete Rolf Lembeck, „ich bin ein Holste, königlicher Herr; aber ich war zwei Jahre auf der Universität Paris.“ Und lächelnd fügte er hinzu: „Bonarum artium causa, der schönen Künste halber!“
„Und studiret,“ sprach der König, „die bonas artes jetzt in unserem Prag?“
Der Junker machte eine schweigende Verbeugung. Dann durfte er erzählen, daß er Claus Lembecks Sohn im fernen Schleswig sei, von dessen Händeln mit König Waldemar das Gerücht auch hierher an des Königs Hof gedrungen war.
„Ich dachte nicht,“ sprach dieser, „Ihr wäret auf so hartem Stamm gewachsen; doch“ – und er winkte huldvoll mit der Hand – „tanzet jetzt weiter und erfreuet unsere Schönen durch Eure bonas artes! Ihr sollt mir später von Paris erzählen!“
Und Rolf Lembeck flog wieder in den Tanz zurück; wie begehrend war sein rother Mund geöffnet, und seine Augen sprühten blaues Feuer, wie er nach der Schönsten im Saale ausschaute, und als er mit demüthigem Neigen vor die Erwählte hintrat, schoß ein helles Freudenroth durch ihre Wangen.
Der König, der einen Theil seiner Knabenjahre in Paris verbracht hatte, hörte an späteren Festen dann des Junkers heitere Geschichten, und als
dieser das prächtige Prag verließ, nahm er den Ritterschlag von des höchsten Herrn Hand als einen weiteren Schmuck mit auf die Heimreise. Der König aber, als später die alte Oberhofmeisterin ihn darum angegangen, warum er dem jungen Holsten solche Ehre angethan, hatte lächelnd ihr erwidert. Bonarum artium causa, edle Frau; er hat sie trefflich ausstudirt.“
Rolf Lembeck war nicht aus eigenem Willen heimgegangen, sein Vater hatte ihn gerufen; er hatte um ein ehelich Gemahl für ihn geworben; „denn“ – so hatte er gesagt – „der Vogel muß itzt eingefangen werden, die Flüchten wachsen ihm zu geile.“
Das Weib war die junge Wittib eines holsteinischen Ritters Hans Pogwisch, der in den Kämpfen der Schauenburger Grafen wider König Waldemar vom Pferd gehauen worden; sie selbst aber war aus einem Nebenzweige der regierenden Schauenburger und mit Land und Sand nicht übel angesessen. Ihr Sinn stand wohl darauf, ihr leeres Wittwenbett zu füllen; aber mit Augen sehen wollte sie zuvor den jugendlichen Ritter, nicht nochmals einen Ehgespons gleich dem Verstorbenen.
Sie hatte während des Krieges sich auf ihren holsteinischen Hof zurückgezogen, und als ihr Eheherr ihr dort sterbenswund ins Haus gebracht war, saß sie in Geduld an seinem Lager. Der Scharfrichter aus der nächsten Stadt war dagewesen, hatte verbunden und mit dem Apolloniusspflaster zusammengeklebt; aber er hatte dabei den Kopf geschüttelt. Frau Wulfhild legte immer wieder nasse Binden auf; sie that das wie ein anderes Geschäft, das sich von selbst verstand; die Ruhe auf ihrem schönen Antlitz aber war nicht die sichere Hoffnung auf Genesung des Verwundeten, denn es wurde heiterer, je bleicher Tag für Tag der Kranke wurde. Sie nickte und sprach unhörbar zu sich selber. „Geduld, noch eine kurze Weile!“ Denn der jetzt unmächtig vor ihr lag, er hatte in Trunk und Spiel und wüstem Lärm sein Leben hingebracht; um grobhaariger Dirnen willen hatte er offen sein schönes Weib verachtet.
Nur über einzelne Worte hatte er jetzt mitunter noch Gewalt; auch die, so hoffte sie, sollen bald verstummen. Harrend saß sie in dem dumpfen Krankenzimmer und hörte gleichgültig auf die Ratten, die in Schaaren über ihnen auf dem Boden rannten. Aber der Sterbende wollte Ruhe haben; er griff jäh nach seines Weibes Hand und wies mit kaum erhobenem
Finger nach der Zimmerdecke; das Wort vermochte er nicht zu finden. Sie sah ihn ruhig an: „Soll ich sie tödten?“ fragte sie; und nach einer Weile brachte er es zusammen; sein Kopf versuchte ein stummes Nicken. „Die Ratten!“ stammelte er.
Und sie ließ Rattenkraut vom Schäfer holen, nahm ein Theil davon und legte das übrige in ihre Truhe. Daraus wurde es still über dem Schlafgemach; die Ratten lagen im Todeskampfe zuckend in den Bodenwinkeln.
Aber der wunde Mann begann an einem Morgen schier verständlicher zu reden und seine Flüche wurden kräftiger; da erschrak sein Weib und fürchtete, das böse Leben mit dem Gesunden könne wohl aufs neue beginnen. Darum ließ sie von dem Scharfrichter, dessen geheimes Wissen ihr solche Sorge machte, und statt seiner wurde ein Chirurgus beigeschafft, dessen Kunst noch keinem Wunden aufgeholfen hatte. Der brachte andere Pflaster und Heilmittel, und als er wieder auf seinen Klepper stieg, sprach er mit rückgewandtem Kopf. „Seid frohen Muthes, edle Frau! Euer Ehebett soll nicht verwaiset werden! Und morgen bin ich wieder da!“
Dann ritt er fort; das schöne Weib aber blieb am Thorpfosten stehen und sah noch lange ihn ins
Land hinausreiten. Ihr blondes Goldhaar zog sie langsam durch die Finger, und ihre weißen Zähne zerbissen einen Strohhalm, den sie aufgegriffen hatte. „Die Ratten!“ brach es plötzlich von ihren Lippen, und sie fühlte, wie jählings ihr das Blut zum Hals hinaufstieg. Aber sie wurde es nicht los; es kam ihr immer wieder. „Die Ratten!“ Es verfolgte sie auf Trepp und Gängen, und in der Krankenkammer war es unverjagbar. Und als der Abend kam, da trieb es sie im Dunkeln zu der Truhe, und ihre zitternde Hand tappte nach dem Rest des Pulvers. In dem Trunke, den Frau Wulfhild an diesem Abend ihrem Eheherrn gab, trank er den Tod hinunter.
Zwei Tage später war in dem düsteren Hausgang die Leiche ausgestellt; doch nur Frau Wulfhild stand hoch aufgerichtet mit untergeschlagenen Armen an der Todtenlade und sah mit immer größer werdenden Augen auf das harte Leichenantlitz. „Leb’ wohl, Hans Pogwisch!“ sprach sie; „der Kampf ist aus; auch zwischen uns! Ich habe Deiner Hand mich schwer erwehrt! – Ein andermal … doch, das kümmert Dich nicht mehr!“
Eine Dienerin war eingetreten mit den Trauergewändern auf den Armen; und schweigend wandte sich die Wittwe von dem Todten und schritt mit ihr
zur Kammer, wo noch das Ehebett für sie und den Gefallenen stand. Die Kammerfrau that ihr das lange, mit schwarzen Thränen bestickte Scapulier an und knüpfte die mönchsartige Hüftschnur um den geschmeidigen Leib; sie aber hatte dessen nicht weiter acht. Erst als die Dienerin ihr zur Beschau den Metallspiegel vorhielt, fuhr sie wie aus Träumen auf. „Das sei Gott geklagt, der mich zur Wittwe machte!“ rief sie. „Ich habe doch darum nicht den Tod gefreit!“ Dann, mit rascher Hand den Gürtel lösend, schleuderte sie ihn von sich und zerriß das feierliche Gewand in einem Ruck von oben bis fast zum untern Saume: „Bring’ mir mein braunes Wollenkleid, das mag genügen!“ Und die erschrockene Dienerin schritt schweigend aus der Kammer, um den Befehl der strengen Herrin zu erfüllen.
Des Todten Sippe, da solches kund ward, sah die Wittib drob mit scheelen Augen an; Claus Lembeck aber hatte zu sich selber gesprochen: „Das ist das Weib für Deinen Rolf; die wird den flüggen Vogel halten!“ Er sah wohl, daß erst jetzt die Lebensfülle dieses Weibes sich völlig auszuwachsen begann: die blauen Gluhaugen ließ sie froh umherschweifen, und das wellige Goldhaar fiel ihr frei über den stolzen Nacken; doch so viele ihrer auch begehrten,
sie sah noch keinen, dem sie sich jetzt ergeben mochte.
Da, an einem Frühlingsmorgen, trat Rolf Lembeck mit seinem Vater zu ihr ins Gemach. Die Stunde war vorher bestimmt, und lange, mit steigendem Herzschlag, war sie auf und ab geschritten; doch als die jugendlichen Gestalten sich jetzt gegenübertraten, fehlte nach der feierlichen Verneigung beiden das Wort der Anrede; wie erschrocken über ihre Schönheit schauten sie sich an.
Claus Lembeck lächelte in seinen Bart. „Mein Sohn Rolf Lembeck, edle Fraue!“ sagte er, „dem, wie ich sehe, der Anblick Eurer Schöne schier den Mund verschlossen hat.“
Sie athmete tief auf: „Ihr scherzet, Herr Marschall; Euer edler Sohn hat der Frauen wohl schönere gesehen zu Paris und draußen in dem Reich!“
Aber Rolf Lembeck rief: „Verzeihet, viel schöne Frauen, doch keine Schauenburgerin!“ Und beider Blicke sanken ineinander.
Dem alten Ritter gefiel es wohl, daß er eine Weile schier vergessen dastand. Dann aber sprach er; "Ich seh genugsam Euren Willen; doch ist des Schreibers Kunstwerk itzt dazu vonnöthen!“
Frau Wulfhild langte nach einer Schelle, die aus dem Tische stand.
„Was wollt Ihr, Fraue?“ frug der Ritter.
„Euch den Schreiber rufen,“ sprach sie lächelnd, „denn einen Vater möcht’ ich, wie Ihr seid, Ritter!“
„Dank, holde Fraue!“ rief der Alte. „Nun, Rolf, willst Du dies Weib aus Deines Vaters Hand?“
Rolf hatte schon die schöne Frauenhand an seinen Mund gezogen und sein betheuernd „ja“ gesprochen, als Claus Lembeck ein beschrieben Pergament hervorzog „Wir brauchen keinen Schreiber,“ sagte er, behaglich nickend; „ich geh nicht ohne Rüstung auf so zweifelhaftes Feld! Was Euch an Gütern eigen ist, Frau Wulfhild, weiß ich; was ich dem Sohne gebe, mögt Ihr hieraus sehen! Nun lest, ob ich nach Eurem Sinn geschrieben habe!“
Sie rollte das Blatt auf und sah hinein; gelesen hat sie nichts davon; es war auch nicht vonnöthen, denn Claus Lembeck suchte in derlei Dingen niemanden zu hintergehen. Sie tauchte eine Feder in ihr Tintenfaß und schrieb in großen Zügen das Schriftstück. „Wulfhild von Schauenburg, Hans Pogwisch’ Wittib.“
Und als zu zweit auch Rolf mit flüchtiger Hand
den Entwurf der Eheakte unterzeichnet hatte, da war der Verspruch gethan, und Claus Lembeck sagte wohlgefällig: „Mögen gräflicher Notarius und der Priester nun das Letzte thun!“
Frau Wulfhild stand mit gerötheten Wangen und glänzenden Augen inmitten des Gemaches, zwei Finger ihrer weißen Hand in der des jungen Ritters; als aber itzt die Männer sich verabschieden wollten, neigte sie sich zu dem jungen und sagte leise. „Den Kuß nun, den Verlobungskuß, Rolf Lembeck!“ Als aber der Kuß gegeben und genommen war, ergriff sie heftig seine beiden Hände, und sich aufrichtend, fast mit ihm zu gleicher Höhe, sah sie mit ihren blauen Gluhaugen in die seinen: „Ihr war’t im Reich, Rolf Lembeck!“ rief sie, und wie aus heißer Leidenschaft klang es herauf: „Der Frauendienst soll dort noch spuken gehen; ich aber will mir den Gemahl allein! Verflucht die Lippen, die ein ander Weib berühren!“
Rolf Lembeck war schier erschrocken; doch als er sie in ihrer wilden Schöne vor sich sah, da riß er sie an sich und küßte sie inbrünstiglich und rief. „Das mag ums Leben gehen, Wulfhild!“
Der Alte aber sprach in sich selber. „Das ist ein wohlgefestet Werk.“
– – Die Männer hatten sich verabschiedet; die Frau war im Gemach zurückgeblieben; sie stand und horchte den Schritten nach, die in dem Saal verhallten, der vor ihrem Zimmer lag; dann konnte sie’s nicht lassen, die Thür zu öffnen, als wolle sie die Spuren des ihr eigen gewordenen schönen Mannes noch auf den Dielen suchen. Als sie sich umblickte, sah sie auf einem Schemel, hart an der Thür, den Schreiber Gaspard sitzen; seine braune Gugelkappe, die hinten mit dem gleichfarbigen Rock zusammenhing, war ihm von dem kurzen Schwarzhaar abgeglitten, so daß sie mit Schwanz und Kugel ihm im Nacken hing; er saß mit gekreuzten Beinen und sah mit schief herabgesenktem Kopfe auf die Dielen, als wolle er dort etwas mit seiner spitzen Schnabelnase aufpicken. Es war ein seltsamer Gesell mit einem scharfen ältlichen Gesicht; er mischte sich gern in anderer Leute Sachen und war voll Lied- und Spruchweisheit; das Gesinde aber nannte ihn „Gaspard den Raben“, und der Rabe galt viel bei seiner Herrschaft.
„Du bist es?“ sprach die schöne Frau. „Was hast Du hier Geschäfte?“
„Ich konnte sie bei Euch nicht finden, Herrin;“ entgegnete er, ohne aufzusehen.
„Sie waren schon beschafft,“ sagte sie; „es war für Dich nichts mehr zu thun.“
„Ich weiß, ich weiß!“ Dann sang er mit seiner scharfen Stimme leise vor sich hin:
„Der güldene Hahn mit sieben
- Darum ist er der Hahn -
Er geht mit sieben Hühnern
Mit Scharren und mit Dienern -
Das kann er gar nicht lan!“
„Laß nur den Narren, Gaspard!“ rief die Herrin. „Was treibst Du hier?“
„Das Lauschen ist ein undankbar Geschäft!“ sagte er.
- „Und hast es doch getrieben?“
„Für Euch nur, edle Herrin!“
- „Was siehst Du vor Dich auf die Dielen?“ frug sie wieder.
„Auch für Euch, edle Herrin!“ sprach er. „Ich sah dort guten Rath; aber ich seh’ itzt, es lohnt nicht mehr, ihn aufzuheben.“
Sie lachte: „Hab’ Dank; ich habe ihn selber schon gefunden! Das aber ziemt Dir nicht, daß Du die Schauenburgerin den Hühnern beizählst; dank’s meinem Glück, daß ich die Strafe Dir erlasse!“
Gaspard zog Nase und Mund herunter, als müsse er eine neue Weisheit niederschlucken; dann sprang er mit rascher Bewegung in die Höhe, um seiner Herrin das Gewand zu küssen.
Als die Hochzeit auf dem Hof der Braut gehalten war, zog Claus Lembeck nach der Insel zu seinem Burgbau; der Baumeister hatte ihn gerufen, denn zwischen den Werkleuten, da die dortigen Männer meist auf Seefahrt waren, befand sich viel fremdes und wüstes Volk, so daß des mächtigen Bauherrn eigene Person von Nöthen war; auch stand das Werk so weit gediehen, als dieser den Plan genehmigt hatte. Die jungen Ehesponsen aber zogen in der Frühe eines heiteren Aprilmorgens mit einem Gefolge von Dienern, Amtleuten und Frauen zu Wagen und zu Rosse nordwärts hinaus durch Schleswig nach dem Schlosse Dorning. Sie saßen nicht in weichen Kissen: neben einander, aber jeder auf eigenem Rosse – Frau Wulfhild auf ihrem lichten Schimmel, auf seinem schwarzen Hengste Rolf – waren sie an der Spitze des Zuges geritten; doch oftmals drängten die Thiere sich zusammen; dann warf das Weib sich mit der Brust zu ihm hinüber,
daß Rolf nur kaum den Hengst bezwingen konnte.
Der Tag war heiß geworden, und es war schon Nachmittag, als sie den Weg zur Burg hinaufzogen. Als sie oben durch den ersten Mauerring geritten waren und die Hufen ihrer Pferde auf die Zugbrücke schlugen, die über den tiefen Zwinger herabgelassen worden, sah Frau Wulfhild unter sich hinab auf das Heer von spitzen wählen, womit der Graben angefüllt war: im selben Augenblick drang von drunten hinter einer Pforte ein wild Geheul herauf.
„Was ist das?“ frug sie den jungen Ehgemahl.
„Da drunten, Wulfhild? Das sind meines Vaters liebste Hunde; er läßt sie Nachts im Graben laufen, sobald die Brücke aufgezogen ist. Wir wollen sie tödten lassen; denn es sind grimme Wölfe, und statt der Spitzpfähle ein Würzgärtlein mit Blumen pfanzen!“
„So?“ sprach sie sinnend. „Nein, nein, laß mir die Wölfe! Ihr habt einen weisen Vater, Rolf!“
„Nach Eurem Willen, hohe Herrin!“ rief der Ritter fröhlich.
Aber vor ihnen vom Pfortenthurm blies itzt der Wächter immer mächtiger, und drunten aus der weit offenen Thorfahrt drang Getöse und Waffenschall;
da spornten sie ihre Rosse und sprengten ihrem Geleite voran hinein. In der Mitte des Hofes, um die schon grünende gewaltige Linde, standen Burgleute und Gesinde und begrüßten sie mit lautem Zuruf „Heil Ritter Lembeck, unserem Herrn! Heil seiner schönen Fraue, Heil!“ Sie zügelten ihre Rosse, und Wulfhilds Auge flog wie herrschend über die dichte Schaar; als aber die Leute jetzt zurücktraten, wurde ein Brunnen bloß, in dessen steinernem Ueberbau der Eimer hing. „Ha, Wasser!“ rief sie. „Reicht mir zum Willkomm einen Trunk dort aus der Tiefe!“
Da stürzten Männer und Weiber an den Brunnen, und sie hätten den Eimer abgerissen; aber er hing zum Glück in Ketten und fuhr rasselnd in die Tiefe. Bald trat der Burgwart mit einem Glaspokale aus dem Schloßthor, und nachdem er mit dem klaren Quell gefüllt war, bot der Alte ihn der Herrin dar.
Sie hob ihn auf, daß die Sonnenstrahlen hindurchblitzten; dann trank sie und rief. „Das Wasser ist gut hier auf der Burghöh; aber, ihr Leute, Frau Wulffild wird auch sorgen, daß es an Meth und Fleisch nicht fehle!“
Da erhub sich neuer Zuruf, und dazwischen scholl von draußen das dumpfe Geheul der Wölfe. Rolf
Lembeck aber flüsterte zu seinem Weibe. „Du wirst gefährlich, Wulfhild; Du willst alles, mich und meine Leute!“
Sie lächelte nur; doch als sie drinnen im Gemach den schönen Mann allein hatte, umschlang sie ihn mit ihren festen Armen: „Dich will ich, Dich, Rolf! Was kümmert mich das Andere!“
Der junge Eheherr sah ihr in die zärtlichen Augen, als ob er Räthsel lösen solle.
Im Hofe draußen war es allmählich leer geworden; nur Gaspard der Rabe, den die Herrin zurückgelassen hatte, saß noch unter der Linde auf der Steinbank, die um ihren Stamm herumlief. Sinnend saß er; er kannte seine Herrin: es war vom Blut des großen Gerhard in ihr; die Kunkel war ihr nicht genug. Mitunter fuhr ein dünnes Lachen durch seine schmalen Lippen; dann wie mißbilligend schüttelte er den Kopf. „Hüt Dich, Frau Wulfhild!“ Leis, doch in scharfen Accenten rief er es gegen das Burgthor hin; „der Vogel ist noch nicht Dein eigen!“
Der Rabe hatte gekrächzt; ein Hauch des noch verborgenen Wetters mochte ihn gestreift haben; woher
es kommen sollte, wußte er nicht. Ich aber will es jetzt erzählen.
Eine Meile nach Osten hin von Dorning, hinter dem Dorfe Hammelef, lag das später im sechzehnten Jahrhundert verschwundene Schloß Haderslevhuus; man nannte es auch eine Bergfeste, denn wie jenes lag es in diesem höhenarmen Lande aus einem Hügel von wenig über achtzig Schuh. Alter Buchenwald bedeckte diesen und begrub fast das Schloß in seinen Wipfeln; aber auch nach Osten breitete er sich aus, doch so, daß dort ein schmaler Sandweg dicht an der jäh abfallenden Hügelwand vorüberführte und den Hinaufblickenden den oberen Theil des stumpfen Schloßthurms sehen ließ. Wer etwas weiter ging, gelangte an eine von den ältesten Bäumen überwölbte Auffahrt, die in Windungen zum Schloß emporführte; wer nicht dahin gehörte oder dort nichts zu schaffen hatte, den brachte der Weg, um tausend Schritte weiter, in die Stadt hinab. – Vor Beginn desselben aber führte ein anderer zu Westen in weitem Bogen um den Schloßhügel und durch die freie Landschaft nach demselben Ziele, dies war der gewöhnliche Stadtweg; denn in dem anderen war vor Jahren ein Bauerbursch vom Wolf zerrissen worden, und die Leute gingen dort nicht gern.
Die feste Burg, von deren Ursprung schon derzeit keine Kunde gewesen zu sein scheint, war mit den Wäldern und sonstigem Landbezirk seit Jahren im Pfandbesitz des Dänenkönigs Waldemar Atterdag, wenngleich sie zu dem Leibgeding der Wittwe des Herzogs Erich gehörte. Ein schleswigscher Ritter, Hans Ravenstrupp, saß als Schloßhauptmann des Königs dort, ein Mann von gewaltigem Körperbau. Halbwüchsig war er einst ein wilder Gesell gewesen und von rascher Faust; er hatte den eigenen Bruder einmal fast im jähen Zorn erschlagen. Doch je mehr seine mächtige Gestalt sich auswuchs, je mehr er gefürchtet, ja als überlegener Streitentscheider aufgerufen wurde, um so milder wurden seine Sitten; dazu half ihm auch sein froh und gut Gemüth, das ihm der Herr mit auf die Welt gegeben hatte. So war er ein glücklicher und fester Mann geworden. In einigen Händeln seines Königs hatte er grimmig und mit Glück gefochten; kam er dann heim mit seinen Burgleuten, so standen vor der offenen Thorfahrt sein zartes, dunkles Eheweib, drei Söhne und zwei Töchter, alle voll Kraft und Wohlgestalt, und schwenkten grüne Buchenzweige in den Händen; dann sprang er von seinem Streithengst, und sie gingen über den Hof in das große Thor der unteren Halle, das
erst vor wenigen Jahrzehnten von der Herzogin hier gebrochen war; und Glück und Frieden gingen mit. Zogen an Sommerabenden dann Wanderer oder Reiter unten durch den Sandweg, so hörten sie manches Mal ein Lachen oder Rufen von frohen Kinderstimmen über sich; dazu wohl eine tiefe Männerstimme, die beruhigend dazwischen sprach. Die gehörte dem Ritter Hans Ravenstrupp, der hier seine Abendmuße mit Frau und Kindern theilte; denn der Burggarten, den ausnahmsweise dieser fürstliche Bau besaß, lag dort hinter starken Mauerzinnen. Die Hügelwand freilich fiel hier steil und kahl hinab; aber hart daran war eine italische Pappel so hoch hinaufgewachsen, daß sie die Mauer wohl um zwanzig Schuh noch überragte. An einem ihrer oberen Zweiglein flatterte jetzt an leichtem Faden ein Kunstschmetterling aus bunten Hahnenfedern, den die ältere Schwester Heilwig angefertigt und den der Vater dort befestigt hatte. Der älteste Knabe stand hinter den Würzebeeten an dem Taxusbusche, seine gespannte Armbrust in der Lage; die jüngste, die kleine süße Dagmar, hatte die Mutter auf den Arm genommen, damit sie alles sehen könne. Nun kam aufs neu ein Lufthauch, der den Sommervogel flattern machte. „Schieß!“ rief der Vater, und der
Bolzen flog von des Knaben Armbrust; eine Feder stob aus dem Schmetterling und wurde von dem Wind hoch in die Luft getragen. Da klatschten alle in die Hände, der Vater und die Mutter auch, und die süße Dagmar schlug ihr Kinderlachen auf und hörte nicht auf, sich ihre Händchen roth zu patschen.
- Es wurde alles anders. – Einige Jahre später, es war an einem Nachmittage des Septembers 1349, da der Ritter mit seinem Schreiber an der Arbeit saß, kamen die damals elfjährige Dagmar und der um ein Jahr ältere Bruder Axel mit erschreckten Gesichtern zu ihm hineingestürzt. Etwas unwillig blickte er auf; „Was ist? Was habt ihr, Kinder?“
Sie waren fast außer Athem; aber Dagmar, das schmächtige Ding, war, wie um Furchtbares zu erzählen, mit erhobenen Armen vor ihn hingetreten.
„Nacht!“ rief sie. „Es wird Nacht, Vater!“ und aus dem schmalen Gesichtlein sahen die schwarzen Augen zu ihm auf.
Der Ritter blickte um sich. die Sonne war erloschen; die Wände des Gemaches standen öd und lichtlos.
„Ja, Herr,“ sagte der Schreiber; „es fällt wie Asche auf die Schrift.“
„Nein, Ringang, nicht wie Asche!“ rief der Knabe; „ich sah es: im Norden, weit hinaus, stieg schwarzer Nebel aus der Erde und schwimmt wie eine Wolke auf uns zu; seht nur, es wird ganz finster hier! Kommt, kommt mit hinaus!“
Und die Kinder faßten beide die Hand des Vaters; und er ließ sich von ihnen aus dem Gemach und nach dem stumpfen Thurm hinaufziehen; auch die Mutter mit der älteren Tochter und die beiden älteren Söhne stießen auf dem Wege aus Hallen und Gemächern zu ihnen. Als sie die Platte des Thurms erstiegen hatten, stand schon ein Theil des Gesindes dort und wich ehrerbietig an die Seite; alle schwiegen, nur die alte Schaffnerin flüsterte mit ihrer heiseren Stimme zu dem einen oder anderen: „Die Zeichen des Herrn erfüllen sich! Wißt ihr noch, da um das Julfest dreizehn Kühe jählings wild geworden! Und da wir nach dem Backen das erste Gerstenbrot anschnitten, schnitten wir nicht in schwarzes Blut? Des Herrn Gericht! O alle Heiligen, seid unsre Helfer!“ Aber niemand antwortete ihr.
Die Schloßfrau hatte die Hand ihres Mannes ergriffen, und bald lagen alle Kinderhände in der seinen; denn schon hatte das schwarze, von Norden kommende Dunstgespenst sich über sie gebreitet
breitet und sank in furchtbarem Schweigen auf die Erde.
„Kommt!“ sprach der Ritter leise, indem er mit den Seinen zuerst die Treppenstufen hinabstieg. Und alle folgten ihm nach unten zu der kleinen Burgkapelle, deren Thorklinke nur noch mit tappender Hand zu finden war. Drinnen aber zogen schwarze Nebelflocken unter der gewölbten Decke und verbargen das Antlitz des crucifixus über dem Hauptaltar; und von dem Bilde der Mutter Gottes scholl die zerrissene Stimme der alten Schaffnerin. „O heilige Jungfrau, deine Augen! Wo sind deine Augen?“ Alle lagen auf ihren Knien in den Stühlen und beteten stumm oder schrieen mit gerungenen Händen zu Gott und allen seinen Helfern.
Sie hätten es sich sparen können; denn der schwarze Tod war gekommen, der die Welt leer fraß und gegen den nichts half als sterben.
In selbiger Nacht noch blies er den jüngsten Knaben an, und sein Eingeweide brannte, seine Lippen wurden wie Ruß, und am dritten Tage war statt des schönen Knaben ein schreckhafter blauschwarzer Leichnam auf dem in Todesqual zerwühlten Bette; dann griff er nach der schönen ältesten Tochter; dann nach den beiden anderen
Söhnen; und sie starben alle, alle. Hallen und Gemächer dufteten Tag für Tag nach frischem Gras und Thymian, das gegen die böse Pestluft überall gestreut wurde; aber die Mutter Erde und ihre Kräuter hatten keine Heilkraft mehr; es war, als ob selbst Gott der Herr die Macht verloren habe auf seiner Erde.
Ein paar Monde schien dann das Sterben im Schlosse aufzuhalten; da eines Tages trat die Schloßfrau zu ihrem Eheherrn in sein Gemach, gekrümmten Leibes, mit entstelltem Antlitz. „Benedikte!“ schrie er.
- „Ja, Hans, ich muß nun auch von Dir!“
„Du nicht! Nur Du nicht, Benedikte!“ und er streckte seine Arme nach ihr aus. „Herr Gott, wo bist Du? Schütze Deine Menschen!“
Aber bevor er sie berührte, war sie mit ihrer letzten Kraft entflohen. „Ade, o Du mein Herzenstrauter! O süße Dagmar!“ So rief sie noch zurück.
Er hatte ihr folgen wollen, aber ein bewußtloser Schrecken hatte ihn festgehalten; dann ging er taumelnd nach ihrem Ehegemach, aber es war leer, und ohne Sinne sank er auf das große Bett.
Die Schaffnerin, die noch lebte, fand ihn am
anderen Tage; aber sie erkannte, daß das große Sterben ihn nicht ergriffen habe.
Während sie ihn pflegte, war sein Weib verschwunden, und Dagmar, um die sich niemand kümmerte, das blauschwarze Haar wirr um ihr blaß Gesichtchen, lief, nach der Mutter weinend, durch Hall’ und Gänge. Da wollte eine der Dirnen ein Gewandstück aus einer entlegenen Kammer holen; aber schreiend stürzte sie zurück; denn auf einem alten dort stehenden Bette lag ein schwarzer Leichnam, dem die Abendsonne das Gesicht beschien. Da die anderen Dirnen hinzukamen, sahen sie, es sei die Schloßfrau, die einsam hier gestorben war.
Als der Ritter aus seinem Wirrsal aufwachte, war sein Weib nicht mehr im Hause. Die Kinder lagen drunten auf dem nahen Kirchhof; der aber hatte lang schon keine Hand voll Erde für die Todten übrig; seitwärts vom Walde war eine Niederung, dort hatte man mit Pfählen ein Viereck ausgeschlagen, wohin nun Alle gebracht wurden, die der Tod erschlug. Draußen auf dem „Pestacker“ war auch des Ritters Weib vergraben worden; so erzählte man ihm jetzt.
Er erwiderte kein Wort auf diese Kunde; aber er erhob sich bald von seiner Bettstatt. Den Gürtel
lose um den grauen Leibrock geschlungen, die Otterkappe in die Augen gedrückt, schritt er langsam durch alle Hallen und sich kreuzenden Gänge des ganzen Baues, treppauf und -ab; mitunter riß er eine Thür in ihren schweren Angeln auf, er stand wie hintersinnig auf der Schwelle und blickte in das düstere Gemach; aber die Zellen waren alle und todtenstill; wo die älteste geschlafen hatte, lag in der Fensterbrüstung noch das verhungerte Rothkehlchen, das der kleine Axel ihr einst gefangen und jubelnd heimgebracht hatte; die Zellen hatte niemand öffnen dürfen, seitdem die jugendlichen Gestalten als furchtbare Leichen dort herausgehoben waren.
Das Leben und die Arbeit lag darnieder, alle Ordnung und Geschäft war aufgelöst; aber jeden Tag, morgens und wenn die Sonne wieder niedersank, machte der Ritter seine düsteren Gänge durch die Burg; er rechnete nicht mit sich, weshalb; es war auch sonstiges nicht für ihn zu thun. Ein paarmal war Dagmar ihm leise nachgeschritten, aber er sah nicht rückwärts; auch als sie in Angst und Sehnsucht stärker auftrat, schlossen nur seine Hände auf dem Rücken sich fester ineinander, und ohne weitere Bewegung schritt er weiter. Da blieb sie stehen, legte die Finger auf ihre zitternden Lippen und verschluckte
ein paar Thränen, die ihr aus den Augen fielen; dann kehrte sie um und suchte bei der alten Schaffnerin ihren stillen Unterschlupf.
Nur einmal, da bei seinem Vorübergehen das blasse Gesichtlein ihn so stumm und flehend angesehen hatte, ging er auf seinem Todtengang nicht weiter. Er gedachte plötzlich einer Base seines todten Weibes, die einst in ihrer Jugend am Thüringer Hofe auf kurz Zeit zu den gelehrten Frauen gezählt worden sei; denn sie verstand zu lesen und zu schreiben, hatte sogar den Virgilium studirt; auch Paramentenstickerei und derlei Künste hatte sie verstanden. Sie war nun alt und lebte in einer kleinen Stadt von einem Rentlein, welches ihr die Sippe gab.
Der Ritter ging in sein Gemach; er setzte sich an seinen Schreibtisch und lud die Base ein, zu Zucht und Lehre Dagmars in sein Haus zu kommen. Und nicht lange, so war sie mit ihrem kleinen Hausrath eingerückt; darunter fanden sich ein Päckchen Pergamentrollen und beschriebener Blätter, eine sauber geschnitzte Mutter Gottes und eine kleine Anzahl von Glasscheiben, für welche man auf ihr Verlangen das sonst nur mit dünnen Därmen bespannte Fenster ihrer Kammer zurichtete.
Seitdem lebte und schlief Dagmar mit der Base.
„Wir wollen’s gut mitsammen haben, Kind!“ sagte die Alte, da sie zum erstenmal sich neben dem Mädchen in ihren breiten Sessel setzte.
Und Dagmar ergriff ihre beiden alten Hände.
- „Aber, Du zitterst, Kind!“ rief die Base.
„Ja, Bas’, ich war hier so allein!“
Und die alten guten Augen sahen zärtlich auf das blasse Ding; aber Dagmar zitterte noch immer, sie war der Liebkosungen zu lang nicht mehr gewohnt. Allmählich, erst nach Monden, brach wieder ein zartes Roth durch ihre Wangen, und der süße Augenschein war wiederum darüber; wenn noch so alt, sie hatte itzt doch eine, zu der sie gehörte, die keine andere in ihren Arm nahm als nur sie.
Der Ritter aber war am Ende ein finsterer Mann geworden; die Lust und Güte seines Herzens war bei den Todten. Gegen die Lebenden war seine Hand von Eisen.
So ging die Zeit um ein paar Jahre weiter. Der König hatte harte Abgaben auferlegt, die härteste war der Viehzehente; und für falsche Angabe des Viehbestandes waren schwere Bußen ausgeschrieben. Der Schloßhauptmann saß den Vögten auf dem Nacken, daß alles pünktlich eingetrieben werde; „der König will es,“ war seine einzige Antwort, wenn sie
dagegen über des Volkes Unmacht klagten. Warfen dann die Armen sich ihm selber in den Weg, so wandte er schweigend ihnen den Rücken und schritt davon, bis der Schrei des Elends hinter ihm verhallt war.
Da eines Herbsttages, als schon der Duft des gefallenen Laubes durch das offene Thor der unteren großen Halle wehte, war ein Weib hier eingedrungen, als eben der Ritter in das Freie treten wollte. Sie war eine Wittwe, tief verschuldet und um Verschweigung zweier Rinder schwer gebüßt worden. Da sie unversehens ihm in den Weg trat, herrschte er sie an. „Was willst Du? Geh’ mir aus dem Wege!“
Das Weib erschrak; sie vermochte nicht zu antworten, aber ihre Augenlider öffneten sich weit, als gebe sie dem zornigen Blick des Mannes ihre Seele preis. „Erbarmen!“ lispelte sie kaum hörbar und warf sich auf die Fliesen nieder.
Der Ritter wollte an ihr vorüberschreiten, aber der Aufschrei einer Kinderstimme machte ihn stille stehen. Als er sich umblickte, sah er sein Kind; sie stand mit einem Fuß noch aus der letzten Stufe der aus dem Treppenthurm herabführenden Stiege; die schmalen Händchen, die unter dem schwarzen Aermelsaum des weißen Kleides hervorsahen, hingen schlaff
herab; ihre dunklen Augen blickten erschreckt zu ihm hinüber.
„Du bist es, Dagmar?“ sprach er; er hatte vielleicht in Jahresfrist kein Wort an sie verloren. Sie aber, da sie seine Stimme hörte, war an seinen Hals geflogen und drückte weinend den Kopf an seine Brust.
Der starke Mann bebte und fragte mild. „Was willst Du denn, mein Kind?“
Da sprach auch sie, doch ohne aufzusehen. „Erbarmen, Vater!“
Er aber hob die Faust gen Himmel und rief: „Fand ich Erbarmen? – Die Hände hab’ ich im Gebet zerrungen! Gott hat geschwiegen, und so thu’ ich’s auch.“
Da hob das kleine dunkle Haupt sich zu ihm auf, und aus den Kinderaugen drang so gramvoll süße Bitte, daß er verstummte und den zarten Leib, als müsse er ihn zermalmen, mit beiden Armen an sich preßte. „Mein Kind! … Du lebst! … Du lebst!“ und seine Augen tranken den Jugendglanz der ihren. „O, doch ein Glück ans Erden – Gott sei mir gnädig!“
Das arme Weib lag noch auf ihren Knien und hatte wortlos diesem Vorgang zugeschaut; jetzt streckte eine Hand sich gegen sie: „Bist Du noch hier, Weib?“
„Ja, Herr!“ und ihre Stimme bebte in Erwartung.
„So gehe heim! Die Buße, ich zahle sie für Dich!“ – Und noch einmal, da sie schon hinausgeschritten war, rief er sie an. „Was ist Dein Name, Weib?“ und als sie es ihm gesagt hatte, sprach er. „So gehe heim, Trien’ Harders, und herze Deine Kinder! Du sahest, unser Gott hat auch mit seinem armen Knechte wiederum Erbarmen.“
Dann hob er sein Töchterchen auf seine Arme und trug sie in sein Gemach. „Dagmar, mein Kind,“ sprach er, indem er sie sanft zu Boden ließ, „es ist so hell hier heute, und scheint doch keine Sonne von dem grauen Himmel!“
– – So war nun Dagmar zwischen dem schweigsamen Vater und ihrer fast siebzigjährigen Base und sah nimmer ihresgleichen. Ihre Welt war die düstere Burg und, wenn Frühling und Sommer kamen, der Garten, der dahinter lag, wo außer ihr dann nichts war als das Summen der Bienen und Hummeln und drüben jenseit des tiefen Sandweges das Rufen der Drosseln aus dem Walde. Der Ritter hatte seit seines Weibes Tod ihn nimmer wieder betreten, denn seitwärts, vorbei an den Wipfeln des Waldes, schimmerte der graue Fleck des Pestackers. Dagmars
Augen aber sahen gern dort hinüber, oder sie saß auf einer Bank, neben der die hohe Pappel ragte, und unter dem Summen und dem Gesang der Vögel sah sie wie einst den Bruder nach dem Sommervogel schießen.
Meist saß sie freilich droben bei der Base in dem Gemache mit den Butzenscheiben; sie nähte und stickte; auch lernte sie lateinische Vokabeln oder schrieb mit der Feder nach, was ihr die Base vorgeschrieben hatte. Dazwischen kam wohl einmal der Vater, strich sanft über ihr dunkles Haar und ging dann schweigend wieder fort. Als er ihr dabei eines Tages einen Silberreif ums Haupt gelegt hatte, trug sie ihn ferner jeden Tag.
Später holte die alte Dame auch ihre Schriftrollen aus der Truhe; und eines Abends, eigener Jugendstunden denkend, griff sie nach Hartmanns von der Aue „Armem Heinrich“ und begann zu lesen, indessen Dagmar mit offenem Munde ihr zu Füßen saß. Wie krystallene Tröpflein fielen die lichten Worte zu ihr nieder: Der junge unheilbar sieche Burgherr im Schwabenland hatte auf seinem Vorwerk bei dem Meyer sich verborgen; die Menschen sollten nicht sein Elend schauen; aber mit seinen noch immer schönen Augen streifte er einmal traurig seines
Wirthes junge Tochter, da ließ das Herzeleid um ihren Herrn sie nimmer schlafen; und als an einem Tage ein weiser Meister zu dem Herrn sprach. „Ich will Euch heilen; aber schaffet eine Jungfrau, die um Euch den Tod erkieset und aus der Brust sich das lebendige Herz will schneiden lassen!“ da, während der Herr und ihre Eltern sich entsetzten, rief das Kind. „Die Jungfrau, die bin ich! Nehmt nur das Messer, daß mein Herr genese!“
Ein schwerer Seufzer rang sich aus Dagmars Brust; sie griff nach ihrer Base Hand, als müsse sie den Strom der Dichtung hemmen. Dann aber brach ein so erhaben Leuchten aus des Kindes Augen, daß die Base die Schriftrolle hinwarf und sie mit Hast in ihre Arme zog. „Kind, Kind! Ich glaub’ fürwahr, Du könntest selbigs auch!“
- „Ja, Bas’! – War das die Minne?“
„O Kind, Gott hüt Dich vor der Minne!“ Und die Base packte erschreckt das Schriftwerk an die Seite.
- So war Dagmar fast sechzehn Jahr geworden, und noch immer war sie zarteren Leibes, als sonst die Menschen sind. Da sie eines Tages eine Hand voll weißer Anemonen dem Vater in einen Krug ordnete, sah er ihr zu wie einem Wunder: „Du bist
wie Deine Mutter;“ sprach er dann; „mein Vater, da ich zuerst die Braut ihm zuführte, weigerte mir lächelnd seinen Segen; die sei der Elbinnen eine und würd’ nicht bei mir bleiben!“ Und als er das gesagt hatte, riß er heftig das Kind an seine Brust.
Einer, der sie noch selbst gesehen hatte, soll einst geäußert haben, ihr Körper sei gewesen, als habe ihre anima candida ihn selber sich geschaffen.
Flitterwochen, in denen die Jungfrau sanft zum Weibe reift, hatte es auf Dorning nicht gegeben; die gehörten dem Todten, der mit zerhauenem Schädel in der Grube lag. Statt dessen war die Leidenschaft des Weibes; doch nur in den Stunden der Minne war sie dem Manne unterthan; zu anderer Zeit war ihr eigener Wille schwer zu beugen. Wie kampfgerüstet ging sie schon in der ersten Woche zwischen Gewappneten über alle Theile der Feste; dann schritt sie zu ihrem Eheherrn. „Traust Du dem Atterdag? Ich nicht!“ und verlangte hier ein Thor oder Fallgitter, dort einen weiteren Graben.
In manchem that er ihr den Willen, in anderem blieb er hart und sprach dagegen. „Meinem Vater ist’s so recht gewesen! Nimm Deine Kunkel und sorg für Kinderhemde!“ Dann ward sie zornig, und es gab üble Worte; kam es, daß es auch ihm wie Funken aus den Augen sprühte, dann konnte sie sich jäh in seine Arme werfen: „Halt, Rolf! Du bist zu schön! Da hast Du mich; ich will nichts mehr!“
Dann ward wohl Friede; aber dem Ritter wurde nicht warm in seiner Ehe; es schien, als sei die Freude ihm verloren gangen.
– – Es war zu Nachmittage im Anfang Juni, und die Luft war lieblich; stundenlang waren Frau Wulfhild und ihr Ehgemahl durch ihr Gebiet geritten; aber für ihn war es kein leichter Ritt, denn ihre raschen Augen flogen weit umher, und unter ihrer gewölbten Stirn arbeitete es dabei von neuen Plänen; wo Wald war, wollte sie Ackerfeld, und wo das Feld zu dürre schien, da wollte sie Kiefern- oder Tannenwälder. „Wir müssen Schatten säen!“ rief sie, da sie eben in einen Waldbezirk hineinritten; „fühl nur, wie wohl das thut!“ Der Pfad war so schmal, daß die Pferde nur einzeln schreiten konnten; sie ritt voran, der Schreiber Gaspard, den
sie als Berather mitgenommen hatte, war der letzte. Das Klopfen der Spechte oder unsichtbar über ihnen der Schrei eines Raubvogels war außer dem Tritt der eigenen Rosse alles, was sie hörten; und über Mann und Weib kamen die Gedanken, die nicht laut werden; aber ihre Wege gingen nicht zusammen.
Der Wald hörte auf, und sie ritten aus dem beklommenen Bodendunst wieder in das Freie. Am Westhimmel war schon ein sanftes Roth erglommen; das Geißblatt, das voll Blüten an den Wällen hing, erfüllte die Luft mit Wohlgeruch, daß sie wie in ein wollüstig Meer von Duft hineinzogen. Rolf blickte nach seinem Weibe, das jetzt ein Stück zurückgeblieben war; dann wandte er wiederum den Kopf und sah ins Abendroth; da sprengte sie plötzlich an seine Seite und drängte ihren Schimmel hart an seinen Hengst; als aber Rolf die Schwere ihres Hauptes an seiner Brust fühlte, fuhr ein Sporenstich dem Hengste in die Weichen, daß er mit einem Satz zur Seite sprang. „Verzeih, Wulfhild!“ rief der junge Reiter, indem er das Thier zusammendrückte, „der Hengst ist Menschenminne nicht gewohnt!“ Das Weib ritt wieder zu ihm und faßte mit ihrem kräftigen Arm um seine Hüfte, mit ihren gluhen Augen nach den seinen suchend; vor ihm aber stieg die zierliche Gestalt
eines böhmischen Schätzchens auf, deren Lippen er einst gestreift und das er kaum vergessen hatte, und grollend sprach er zu sich selber: „Die Du gefreit hast, ist kein Weib zum Minnen; und wenn nicht dazu, wozu denn anders?“
Hinter ihnen ritt schweigend Gaspard der Rabe; er sah mit seiner Schnabelnase schief zur Erden und spielte mit der Kugel seiner Mütze, als ob er an einer Schellenkappe läutete.
Die Pferde gingen jetzt ruhig, und wieder nordwärts lag ein Wald vor ihnen. Das Dunkel kam nicht nur von seinen Schatten; die Dämmerung war stark herabgesunken, und im Osten begann der Mond den letzten Tagschein zu besiegen. Da fuhr es vor ihnen von einer schwarzen Tanne mit einem Satz zu Boden, daß Rolf Lembeck sich jäh aus seinen Träumen aufhob. „Hallo! Was war das, Gaspard?“ rief er und riß seine zierliche Armbrust von dem Rücken.
- „Eine Wildkatz, Herr! Seht nur, am Stamme sitzt sie noch, der Breitschwanz, und faucht Euch mit ihren spitzen Zähnen an!“
„Ein edel und ein übel Wild!“ sprach der Ritter leis und sprang von seinem Hengste. „Nimm ihn am Zügel, Gaspard!“
Frau Wulfhild griff nach seiner Hand. „Laß doch das Wild! Daheim ist besserer Zeitvertreib!“
Es trieb ihn dennoch fort; „Reitet nur heim!“ rief er; „ich komme früh genug!“ Damit entriß er seine Hand der ihren.
Als aber die Dame, roth vor Zorn den Weg nach Dorning eingeschlagen hatte, sprengte Gaspard mit den beiden Rossen ihr zur Seite. „Ereifert Euch nicht, edle Herrin! Der Ritter wird die Wildkatz nimmer jagen; laßt ihn daheim ein edler Wild im Lager finden!“
– – Sie ritten fort; Rolf Lembeck aber drang in den dunklen Wald; aus den Tannen kam er in den Buchenforst; er stand an jedem starken Baum und lugte nach allen Aesten, ob nicht die Lichter des Raubthieres irgendwo herunterfunkelten; aber über ihm war so schwere Waldnacht, daß nur wie Tropfen das Mondlicht hier und da hindurchfiel; zu hören war nichts als nur das Knicken des Unterholzes, das er durchschritt, auch wohl das Zirpen einer Eulenbrut. Er blieb stehen und warf die Armbrust wieder auf den Rücken; „Du warst ein Narr; hier ist kein Jagen in der Finsternß!“ Seine Gedanken flogen heim zu seinem Weibe; doch er schüttelte den Kopf. „Nein, nein, Frau Wulfhild“
– er sprach es laut in die einsame Nacht hinaus – „eine Schlachtjungfrau wärst Du wohl eher; und hat auch schon ein wundgehauener todter Mann an Deinem Leib gehangen!“
Fast erschrak er über die eigenen Worte, die die Stille um ihn her durchbrachen; aber er kehrte nicht um, er schritt weiter auf seinem nächtlichen Irregang. Da, von unweit vor ihm, drang es an sein Ohr, so süß, als wollt’ es alle Sehnsucht wecken, die in ihm schlief. „O, Nachtigall, selige Singerin!“ rief er, seinen Arm in das Dunkel streckend:
„Schon flog der Mai
Vorbei, Vorbei,
Und brachte nicht, was minnewerth!
Willst Du sie künden,
Soll ich sie finden,
Die Fraue, die mein Herz begehrt?“
Bald stand er, bald ging er vorsichtig weiter, und immer nur dem Schalle nach. „Was hätt’ ich bessere Führerin!“ sprach er zu sich selber.
Der Wald ging zu Ende, und durch die Stämme sah er auf einen Sandweg, auf den der Mond seinen Schein herabwarf. Jenseit, in gleicher Helle, stieg eine jähe Hügelwand empor, und eine Zinnenmauer
streckte sich auf ihr entlang. Rolf Lembeck betrachtete das genau; als aber seine Augen hinter Baumwipfeln den Obertheil eines runden Thurmes gewahrten, da wußte er, das sei die Gartenseite von Haderslevhuus, auf dem der Schloßhauptmann des Königs sitze.
Der Ritter schaute starr hinauf, als müsse er ein Wunder hier erwarten; aber nur der Nachthauch rührte dann und wann das Laub der Bäume, und in kurzen Pausen schlug am Waldesrand die Nachtigall. Doch wie ein jäher Schreck durchfuhr es ihn: dort oben zwischen den Zinnen lehnte jetzt ein Weib; nein, nicht ein Weib; ein Kind – er wußte nicht, ob eines, ob das andere. Den Arm mit einem weißen Mäntelchen verhüllt, neigte sie sich tief hinab; denn der Kehle der Nachtbeleberin entquollen jetzt jene langgehaltenen Töne; sehnsüchtig, nicht enden wollend, wie ein heißer Liebeskuß.
Rolf Lembeck stand unten im Waldesschatten, unbeweglich, mit verhaltenem Athem. „O Stunde, bist du da!“ Seine Lippen flüsterten es nur; das sanfte Rauschen weiblicher Gewänder berührte von oben her sein Ohr; ein Athmen, mehr ein Seufzer kam herab; und nun hob sich ein Antlitz, schmal und blaß, und legte sich auf das gestützte Händchen; das
Mondlicht schimmerte auf einem Silberreife, der das dunkle Haar umfing.
Da befiel den Mann am Waldesrand die sehnende Schwere, die allein nicht mehr zu tragen war; es drängte ihn hinaus ins Helle, und die Arme ihr entgegenstreckend, rief er. „O Schöne, Selige! Gott woll’ ein süßes Leben so süßem Geschöpfe geben!“
Sie erschrak und bog sich von der Mauer weg; doch dann besann sie sich: die Worte waren ja aus Meister Gottfrieds Tristan; nur daß sie in Frankreichs Zunge dort geschrieben waren! Sie hatte sie eines Tags gelesen; aber die Base hatte ihr voll Angst das Buch entrissen; so etwas sei noch nicht für ihre Jugend! Nun kam der Reiz, zu zeigen was sie wisse. „Das ist kein Landfahrer, der ist nicht zu fürchten!“ sprach es in ihrem Inneren; und als sie wieder sich erhob, erblickte sie drunten den schönen Junkherrn in blitzendem Gewande und sah das Mondlicht auf seinem goldenen Blondhaar spielen; denn er hatte sein Haupt entblößt und hielt die Kappe mit der Reiherfeder in einer seiner Hände, die er wie anbetend ihr entgegenstreckte. Da faßte sie Muth und rief ihm aus demselben Buche ihre Antwort: „Dé te benie! Gott
segne dich! Et merzi, gentil Sir!“ Aber ihre Stimme zitterte ohnwillens; die fühlte besser, daß es doch ein Wagstück sei, und wehte nur wie ein Duft hernieder.
Gleichwohl, da er seine Kappe wie zum Gegendanke schwenkte, fügte sie zaghaft noch hinzu: „Seid Ihr ein Sänger, Herr?“
„Ein wenig, selig Fräulein!“ rief er ihr entgegen. Aber eine Antwort kam nicht mehr herab, denn zu den Füßen des Kindes regte es sich und hob sich auf; vergebens mühte sie sich, den Kopf der ungestümen Dogge niederzuhalten, die schlafend dort gelegen hatten neigte sie sich und drückte den Mund an das rauhe Ohr des Thieres: „Still, Heudan, still! Sollst auch zur Nacht vor meiner Kammer schlafen!“ Es wollte nicht verschlagen; die Dogge drängte die kleinen Hände fort; dann sprang sie mit den Vordertatzen auf die Mauer, und ein hallendes Gebell scholl in den Weg hinunter.
Als der Hund sich wieder knurrend zu ihren Füßen gestreckt hatte, wagte auch Dagmar hinabzuschauen; aber es war nichts da, als nur der lautlose Mondschein und in Pausen noch der Schlag der Nachtigall. – Trunken, als habe ein Zauber ihn
berührt, schritt Rolf Lembeck indeß am Waldesrande seinem Hause zu.
Es war auf Dorning schon nach Mitternacht. In der hochgelegenen, aber geräumigen Kemenate lagen die Seidendecken von Arras noch unaufgeschlagen auf dem Ehebette; unweit desselben aber auf einem Tischchen war ein lecker Mahl gerichtet; vor zwei Plätzen – nicht sich gegenüber, sondern Seit an Seite – stand je ein silberner Pokal; ein Kränzlein früher Rosen hing an jedem und erfüllte das Gemach mit Duft. Doch die Speisen waren kalt und unberührt, der eine der schmalen Sessel leer; auf dem anderen saß Frau Wulfhild wie ein steinern Bild, den Kopf aus ihren vollen Arm gestützt. Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte; so ruhig der Leib schien, die Ungeduld des Wartens zehrte in ihrem Innern, und ihre Augen glühten dunkel über den heißen Wangen; wie sonder Gedanken hob sie eine Silberkanne und schenkte rothen Wein in die Pokale, und mit der anderen Hand sich müde in ihr Goldhaar greifend, nahm sie den ihren und klirrte an den Rand des anderen;
dann setzte sie unberührt ihn vor sich hin: „Komm! Komm, Rolf! Dein Weib begehret Deiner!“ rief sie leise. – „Ich wußt’ nicht, daß die Minne Todespfeile berge!“
Sie war emporgesprungen, sie stieß ein Fenster auf und bog sich weit hinaus, in der hellen Nacht über die Wipfel der absteigenden Wälder schauend; aber kein Menschentritt, kein Wächterruf erscholl; nur der Nachthauch wehte ihr kühl entgegen und trug von unten aus dem linken Flügel einen Schall vorüber: ein Waffenklirren, ein Stampfen wie mit vollen Krügen, dazwischen heisere Männerstimmen und dann und wann das Lachen eines Knaben. Ein sechzehnjähriger Junker, Gehrt Bookwald, war am Morgen angelangt, um bei dem kaiserlichen Ritter „Reiterei und Gottesfurcht“ zu lernen; der Lärm kam unten aus der Gesindestube. Frau Wulfhild lauschte: „Die Knechte bringen ihm den Willkomm!“ sprach sie, und das blonde Antlitz des Knaben, der nun ihr Diener war, zog an ihr vorüber. Es schien wüst herzugehen drunten, und eine Stimme scholl ihr gleich der des ersten Ehgemahles, wenn er unter Zechbrüdern in seiner Freude saß; sie schauderte, und das Knabenbild erlosch.
Allmählich ging der Tumult zu Ende; es wurde
todtenstill; ein Kauz nur schrie von einem Thurm herunter. Plötzlich warf sie jäh das Fenster zu und sah sich wild im Zimmer um: das Haupt des Todten, dem sie hatte sterben helfen, hatte aus der Nacht sie angestarrt. Doch, es war nicht hereingekommen; die Kerzen brannten hell und ruhig.
Und wieder saß sie unbeweglich, und die Qual vergebenen Harrens war nicht mehr zu tragen. Da gedachte sie eines Wundergürtels, den eine uralte Muhme ihr zum ersten Ehefeste mitgegeben hatte. „Es ist derselbe,“ hatte sie gesagt, „den einst der Ritter an Ginevra gab; so Du ihn umlegst, thut Dir kein Leid was an!“ Aber die stolze Braut hatte derzeit Zaubermittel nicht vonnmöthen und warf den Gürtel achtlos von sich. Doch nun war andere Stunde; sie kniete bald vor dieser, bald vor jener Truhe und warf um des verschmähten Kleinods willen ihre Kostbarkeiten durcheinander; da endlich hielt sie den goldgewebten Gürtel in der Hand, und dort saß der Rubin, vor dessen Schein all’ Ungemach verschwinden sollte. Sie legte ihn über ihr weißes Nachtgewand, und er schmiegte sich leicht um ihre Hüften; aber vergebens sah sie auf den milden Glanz des Steines; der mußte gegen andere Schmerzen sein.
Noch eine Weile trug sie es; dann, wie in Scham ob ihrer Schwäche, riß sie das Zauberstück vom Leibe und warf es von sich, daß der Stein heraussprang; zornig zog sie das Gewand von ihrem schönen Leibe und bestieg das Ehebett. Aber auch die Seidendecke wollte ihr keine Ruhe bringen. „Komm nun! Du sollst, Du sollst!“ rief sie, als könne sie durch ihren Willen den Ehgemahl in ihre Arme zwingen. Aber er kam nicht; und das Bild des schönen Mannes, der doch ihr eigen war, peinigte sie wie ein Gespenst; und die Kerzen, die noch auf der Tafel brannten, wurden ihr unheimlich, als sei es zum Begräbniß.
Zitternd stieg sie von ihrem Lager und löschte alle bis auf eine; dann nahm sie ein Stundenglas vom Kamingesimse und stellte es in den kargen Schein. „Nichts anderes will ich sehen!“ sprach sie zu sich selber; „nur wie das Leben rinnt!“ Und so lag sie gestützten Armes auf ihrem Kissen und blickte unablässig auf den rieselnden Sand; und war das letzte Korn hindurchgefallen, so stand sie langsam auf, das Glas zu wenden. Erst als im Dämmerscheine draußen der Wald erwachte und unter ihrem Fenster der Trupp der Arbeiter auf das Feld hinausging, war der schöne Leib in Schlaf versunken. Aber auch mit der Schlafenden trieb die Minne noch
ihr Spiel; ein Stöhnen drang aus ihrer weißen Brust, und mehr als einmal streckte sie die Arme aus und ließ sie seufzend wieder auf die Decke sinken.
- Der Mann, um den sie solches litt, war längst auf einem Schleichweg in die Burg gekommen; keine Brücke hatte sich um ihn gehoben, kein Thor geöffnet; aber zu seinem Weibe hatte er nicht vermocht zu gehen. Im äußersten Winkel des einen Flügels war eine fast leere Kammer, die er als Haussohn einstmals inne hatte; dort auf einem harten Faulbett lag er unausgekleidet, den blonden Kopf auf beiden Händen; auch er hob träumend die Arme auf, aber er schloß sie selig lächelnd über seiner Brust, und was vor seinem offenen Fenster die Nachtigall noch singen mochte, es kümmerte ihn nicht.
Die Zeit war fast um eine Tagfrist gerückt; es war wieder Abend. Frau Wulfhild saß in ihrem Wohngemache, wo dunkelgemusterte Teppiche an den Wänden hingen; auch hier waren kleine Glasscheiden in den beiden Fenstern, und das Mondlicht, das hindurchfiel, mischte sich mit dem Schein der
Kerze, die auf dem Tische stand. Das schöne Weib saß unbeweglich mit gestütztem Haupte. Da öffnete sich die Thür und Gaspard der Rabe trat herein. „So kommst Du endlich?“ sprach sie und warf ihre müden Augen auf ihn.
„Wohl, Herrin.“
„Dein Kopf hat sich verrechnet,“ sprach sie wieder. „Dein Herr schlief unter einem Dach mit mir; doch fern, in einer Bodenkammer; er hat das Edelwild verschmäht, das seiner wartete.“
„Ich weiß das, Herrin,“ antwortete der Schreiber; „er hat das Raubthier nicht erjagen können; es wird ihm nur die Wildkatz’ vor seinen Augen noch gesprungen sein.“
„Laß Deine Narretheidung!“ sprach Frau Wulfhild finster. „Ich sagte Dir einstmals, ich sei keine Henne; nun willst Du mich gar reuen lassen, daß ich keine Wildkatz’ sei! – Ich fürchte wohl, hier ist ein ander Thier im Spiel!“
„Was sagt Ihr, Herrin?“ und Gaspard richtete seine spitzen Ohren auf.
„Sieh meine Hand, Gaspard; – und fühl’ sie auch!“ rief Frau Wulfhild und legte ihre weiße Hand an seine gelbe Wangen. „Nun – schauderst Du noch nicht?“
- „Nein, Fraue; lasset sie nur immer liegen!“
Aber sie nahm sie fort. „Dann,“ sprach sie, „stößt nicht meine Hand ihn fort; dann ist es eine andere, die ihn zu sich zieht!“
„Sprecht weiter, Herrin! Mein Witz ist nicht so fein wie Frauensinn.“
„Du sahst doch,“ sprach sie, „wie er gestern auf dem Weg mir seine Hand entriß! Es that nicht sanft; aber vorhin in der Dämmerung; er wollte fort, so sagte er, um heute noch das Raubthier zu erlegen; ich griff nach seiner Hand -“
Sie war aufgestanden und ging mit starken Schritten durch das Zimmer „Sieh her!“ rief sie und streckte ihm ihre linke Hand entgegen: „der Blutriß ist von seinem Ehering! Ich hatte, meine ich, genug der Wunden aus meinem ersten Ehebund!“ Sie warf den Kopf zurück und begann mit geschlossenen Fäusten wieder auf und ab zu schreiten.
Gaspard sah dem eine Weile zu; dann sprach er. „Und worin, Herrin, heischt Ihr meine Dienste?“
Da stand sie still und sah auf ihn herab; sie mußte erst der Frage nachsinnen. „Er wird auch heut’ nicht zu mir kommen,“ sprach sie heimlich, doch ihre Stimme bebte vor Zorn; „er wird auf seine Bodenkammer schleichen und im Traum mit seinem
Luftbild buhlen; aber Du weißt es, Gaspard, der Mann, so stolz und wild er ist – er ist ein Kind; nimm ihm sein Spielzeug, und er vergißt es! Und Du – sollst mir die Puppe suchen helfen!“
Gaspard blickte schief zu Boden und zog mit einem leisen Pfiff den Athem durch die Zähne. Dann hob er langsam seine Schnabelnase und sprach mit scharfem Lächeln: „Kopf und Hände sind nur meiner Herrin!“
An demselben Abend, nur etwas früher, saß zu Haderslevhuus die alte Base in ihrem stillen Gemache; an einer Wand stand das schmale Bettchen Dagmars, an einer anderen das der alten Dame mit dem großen Himmeldach; daneben hing ein Gefäß mit Weihwasser, darüber die geschnitzte Mutter Gottes; in einigen Wandnischen lagen handschriftliche Dichterwerke, an denen sie sich einstmals in der Jugend die Wangen heiß gelesen hatte. Sie selber saß an einem Tischchen vor dem Fenster mit den Butzenscheiben, durch das der Abendschein hereinfiel; ihr gegenüber Dagmar, und beide mit einer heiligen
Arbeit in den Händen; denn bei der letzten Firmelung hatte der Bischof dem Reliquienschrank der Kirche zu Haderslev eine Anzahl Schädelknochen der zehntausend Jungfrauen zum Geschenk gemacht, und die Alte wie die Junge waren jetzt damit beschäftigt, sie mit rothem und weißem Sammet und mit Goldstickereien zu überziehen.
Es war ganz still im Gemach; nur das Sticheln der Nadeln wurde hörbar und das eintönige Geräusch eines Dompfaffen, der in seinem Bauer innerhalb des Fensters unaufhaltsam auf- und niederhüpfte. Das junge Kind führte heute ihre Nadel nicht mit gewohnter Sicherheit, und die Blättchen hingen oft nicht richtig an den goldenen Ranken; sie schaute nach jedem zehnten Stiche hastig durch das Fenster, das nach Osten lag; aber der Mond war noch nicht da. Ihr Athem wurde kürzer; in ihrem Inneren war heute eine fremde Kraft, die ihr die Nadel aus der Richte stieß.
Endlich legte die Alte ihr besticktes Schädelstücklein auf den Tisch. „Fertig!“ sagte sie. „Guck her, Dagmar! Ob wohl dieser Kopf im Leben solchen Schmuck getragen hat?“
Das Kind hatte nicht gehört: der Mond war eben über den Bäumen aufgegangen.
„Dagmar!“ rief die Base. „Du weiß’ Röslein, was ist Dir? Du glühest ja wie Purpur!“
Mit verschleierten Augen sah das Mädchen auf die Alte. „Du hast wohl in Deinen Truhen gekramt, Bas’,“ erwiderte sie; „es ist so schwüler Duft hier; es hemmet mir die Luft.“
Aber die Alte hatte ihr die Stickerei aus der Hand genommen und wiegte jetzt den Kopf, indem sie sorglich darauf hinsah. „Ei ja, Dagmarlein,“ sagte sie, „Du hast noch eine Kinderhand; aber doch nicht allemal so sehr! Ich sagt’s Dir schon: was wollten Deine Finger bei dem Todtenbein! Schelle nach der Grete, daß sie die Kerze bringt; der Tag ist aus, und der da draußen“ – sie wies mit ihrem mageren Finger nach dem Mond – „der leuchtet nur Verliebten, aber nicht Kindern und alten Frauen!“
Ein heißes Roth schoß über das junge Antlitz; aber die Alte gewahrte es nicht. „So schelle doch, Kind!“ wiederholte sie; „Du kannst dann Deinen Silbergürtel weiter sticken! Ist der erst fertig zu dem weißen Seidenkleide, da wirst Du aussehen wie die heidnische Diana; es fehlt nur noch der Silbermond an Deiner weißen Stirn!“
Sie bog sich über den Tisch und streichelte die zarten Mädchenwangen. „Wart’ nur ein Jährlein,
Dagmar! Da nimmt Dein Vater Dich mit hinaus, nach Wordingborg, nach Kopenhagen! Da kommen die jungen Erdensöhne und werden um einen Blick der keuschen Göttin werben; auch einer, wohl so schön als wie der junge Ritter Lembeck, der letzt auf Dorning eingezogen ist!“
„Auf Dorning?“ frug Dagmar achtlos. „Der Ritter Claus ist ja schon alt!“
- „Ei, Kind! Sein Sohn, sein ältester! Und mit einem schönen, stolzen Weibe; gar einer Schauenburgerin!“
„So? Einer Schauenburgerin?“
- „Ei freilich; aber doch nur einer Wittib - ein Pfirsich, d’ran schon ein Todter seine Lippen setzte!“
„Pfui, Bas’! Aber ich kenne sie ja nicht; was kümmern mich die fremden Menschen!“
Dagmar war schon mit der Schelle an die Thür gegangen, kehrte aber zurück, ohne sie geöffnet zu haben. „Nein, Bas’,“ sagte sie mühsam; „mir ist das Herz bedrückt; ich muß ins Freie, in die Luft!“
- „Ei, Kind, es wird ja Nacht, und Du weißt, der alte Joseph sagt, die Unholden schauen dann aus dem Boden!“
„Nur in den Garten, Bas’; da giebt es keine!“
Die Alte wurde unruhig; sie rückte an dem Kinntuch, das sie über ihr schwarzes Käppchen gebunden hatten „Du weißt, sieh mich nur an!“ sagte sie; „das dumme Kopfreißen; ich darf nicht in die Abendluft. Wenn Dich was ankäme! Dein Vater ist in Wordingborg!“
„O Bas’, ich nehme Heudan, die Dogge, mit!“ rief Dagmar beklommen; „sie war auch gestern Abend bei mir!“
Die Alte nickte: „Ja, ja, Dagmar, die Dogge; ja, das geht! Du zogst ihr neulich auch den Dorn aus ihrer Tatze, wie Androklus einst dem Löwen! Du kennst doch die Geschichte?“
Sie sah sich um; aber da war Dagmar schon hinausgeschlüpft, und die Glocke stand wieder auf dem Tische. „Ei ja,“ sagte die Alte seufzend, „da läuft sie mit dem Hunde in die Nacht hinaus, und ich kann hier im Mondschein meine lieben Schatten zu mir laden; wir brauchen keine Lichter!“
Der Mond schien durch die kleinen Scheiben; und mitten im Gemache saß die alte Dame und sah mit geisterhaften Augen in die Dämmerung; nur mitunter eine leise Handbewegung, als sei es ein Willkommen.
– – Dagmar aber war hoch aufathmend die
Treppen hinabgeflogen; unten in dem großen Flur erhob sich die Dogge und sprang freudig ihr entgegen. „Heudan, mein Hund, komm, komm mit mir!“ rief sie ängstlich; und das Thier drängte sich an die schmächtige Gestalt, daß sie dem Ungestüm kaum wehren konnte.
Sie schritten aus einem hinteren Thore durch einen weiten Hof, an dessen Ende ein Gelaß zur Absonderung bissiger oder neuer Hunde war; und Heudan sah verwundert zu dem Mädchen auf, als sie dort eingetreten waren. Dagmar aber schlug das Herz bis in den Hals hinauf, da sie eine der ledig hängenden Ketten faßte und das Halsband des Thieres daran befestigte. Es war nur Liebes von der jungen Hand gewohnt und leckte mit der rothen Zunge nach ihr hin, als wolle es sein blind Vertrauen ihr bezeigen. Da schlug sie die Arme um seinen rauhen Nacken: „O Heudan, ich bin treulos, aber – Du, Du bellst auch gar zu schreckbar!“ Und eilig lief sie hinaus und schob den Riegel vor; dann ging sie durch eine Pforte in den Garten, durch Lindengänge und zwischen düsteren Taxusbüschen; da kam vom Hof ein Winseln, und einen Augenblick stand ihr der Athem still; aber sie drückte beide Hände vor die Ohren, und als sie auf den Platz
hinaustrat, wo die Würzebeete waren und wo das volle Mondlicht ihr entgegenquoll, da hörte sie nur noch die Nachtigall, die drüben am Waldesrande schlug. Der Athem ging heftig durch ihre offenen Lippen; sie setzte sich auf die Bank und blickte vor sich auf den Wipfel der hohen Pappel, deren Blätter im Nachthauch sich bewegten. Doch aus den beklommenen Athemzügen wurden Worte. „Was wolltest Du hier, Dagmar?“ sprach sie leise. „Die Nachtigall?“ – Sie horchte eine Weile, und der Vogel sang, als müsse er den Preis ersingen – aber Dagmar schüttelte das Köpfchen, und ihre Lippen flüsterten, indem sie die Hände vor die Augen schlug. „O heilige Jungfrau, wenn Du mir hold sein wolltest!“
Da rauschten neben ihr die dichten Pappelzweige; und ehe sie es fassen konnte, schwang ein Mann sich auf die Mauer und hinab dann in den Garten. Ein Schrei rang sich aus ihrem Munde, aber sie erstickte ihn; denn schon lag er zu ihren Füßen, jung und blond, und sah mit flehenden Augen zu ihr auf. „Seid milde, Fräulein! O, wie schön seid Ihr! Ich sah noch nimmer Euresgleichen!“
Sie sagte nichts; mit kindisch weitgeöffneten Augen blickte sie ihn an; erschreckt und doch entzückt, als wollte sie die Worte ihm von den Lippen lesen. Doch
das Winseln der Dogge scholl vom Hof herüber durch die Büsche, und des Ritters Hand fuhr jäh nach einem Jagdstahl, der an seinem Gürtel hing.
Aber sie schüttelte nur leise mit dem Köpfchen, da ließ er die halb gezogene Waffe wieder fallen. „Wer seid Ihr?“ frug er. „Wollet Ihr mir’s sagen?“
Und sie antwortete. „Ich bin Dagmar, des Hauses Tochter; und wer seid Ihr?“
Er erschrak und wollte schon eine Mähr erzählen, wie er zu anderen Zeiten wohl gethan; doch da er in dies Kinderantlitz blickte, so konnte er es nicht; er sagte nur: „Ich, süße Fraue, bin ein selig unseliger Mann, seitdem ich Euch gesehen habe!“
- „Aber, Herre, das ist nicht rechte Antwort!“
Da hob er die Hände bittend zu ihr auf. „Verlanget nicht ein Weiteres; es wär’ auf Nimmerwiederkehr!“
„So redet nicht!“ rief sie hastig; aber ein Zug der Angst flog dennoch über das zarte Antlitz, und sie setzte bei. „Nur, um der Gottesmutter Leiden, schweigt nicht zu lang; es thät mir weh!“ Und wie durch körperlichen Schmerz getrieben, drückte sie die Hand auf ihre linke Brust. Da er sorgvoll mit den Augen folgte, sprach sie. „Ihr wisset, das große Sterben, als das ins Land kam … aber“ -
unterbrach sie sich – „wo waret Ihr denn damals?“
„In Paris,“ sagte er leise, als wolle er den Laut der süßen Stimme nicht verlieren; „in Prag dann später; auch am Königshofe dort.“
Sie sah ihm in sein schönes Antlitz, auf den gestickten Sammetrock und wie die goldenen Knöpfe im Mondlicht blitzten. „So wisset Ihr nichts von uns – o meine Mutter! Süße Schwester Heilwig!“ rief sie; „und meine Brüder – sie sind all’ gestorben!“ Plötzlich ergriff sie seine Hand: „Kommt!“ rief sie und zog ihn mit sich auf eine kleine Höhe, von wo man seitwärts bei dem Walde in das flache Land hinaussehen konnte. Er glaubte eine Niederung zu gewahren und einzelne Pfähle, durch dunstigen Nebel schimmernd, der dort umzog. „Dort!“ sprach sie kaum hörbar und zeigte mit ausgestreckter Hand dahin.
Er schwieg; er wußte, das sei der Pestacker, wohin sie gewiesen hatte. – Ein Nachthauch kam und hob ihr dunkles Haar ein wenig von dem schmalen Antlitz und wehte das Gewand um ihren zarten Körper; ihm war auf einmal, als sei auch sie unhaltbar auf der Erde. „Wenn dort von Eurem Blute Einer ruht, so gönnet ihm die Ruhe!“ sprach
er zitternd; „der Todte ist im Schein von Gottes Antlitz und braucht um Liebe nicht mehr Leid zu dulden.“
Doch sie streckte die Arme aus und rief. „Mein Vater! Mein armer Vater! Wir werden nimmermehr vom Tod geheilet!“
„Das war ein hartes Wort von Euren jungen Lippen!“ sprach der Mann.
Da wandte sie ihr Haupt und sah den Schmerz in seinen Augen. „O nein! ich wollte Euch nicht Leides anthun!“ sprach sie bittend; „nur sagen: von all dem Sterben hab’ auch ich mein Theil behalten!“ – und sie faßte wieder mit der Hand nach ihrem Herzen – „des Königs Arzt, der spanische Jude, ich hörte ihn im Vorbeigehen zu der Base sagen, es sei zu groß, ich könnt’ einmal so hingehn; groß Leid und Freude könnt’ ich nicht ertragen. Und die gute Bas’, will sie mir liebthun, sagt sie, ich hätte weiße Rosen auf den Wangen!“
Sie schwieg und er antwortete ihr nicht; aber sie sahen sich in die Augen, und drunten aus der Tiefe schlug die Nachtigall. „Frühling!“ sprach er leise und öffnete die Arme ihr entgegen. Da lag sie an seiner Brust, die Augen geschlossen, die Hände um seinen Hals gestrickt; und für die Worte, welche ihnen
fehlten, sang die Nachtigall, als müsse ihr die Brust zerspringen; und nun ein Ton – lang ausathmend, ohne Ende. „Sie stirbt!“ rief Dagmar, warf das süße Haupt zurück und schaute in des Mannes Augen. „O, kann man auch vor Liebe sterben!“ – Er aber, in dem Thörichtthun der Minne, hob ihre leichte Last gegen den Silberschein des Mondes und küßte ihre Wangen. „O meine weißen Rosen! O heilige Jungfrau, beschütze mir mein ganz unfaßlich Glück!“
Da scholl vom Schlosse her das Klirren einer Pforte, und sie wand sich jäh aus seinen Armen. „Scheiden!“ rief sie schmerzlich; dann nahm sie seine Hand und drückte sie um ihre Hüfte; doch nur für eines Athemzuges Dauer. „Nein, fort! – fort!“ rief sie in Schrecken. „O, und vergiß nicht mein; ich müßte sterben!“
Sie fühlte einen heißen Kuß auf ihren Mund; dann rauschte es in den Pappelzweigen, und sie war allein. Sie stand, als wäre sie nicht lebend; ihre Wangen waren blaß, von ihren Lippen aber schimmerte es roth: das war die Minne, die dort des anderen Paares harrte. „O Herzliebe, o sehnende Noth!“ seufzte das Kind und sank auf ihren Sitz. „Und wie heißet er denn nun? – Er? Er -?“
und lächelnd antwortete sie sich. „Das weiß ich nicht, und darf ich auch nicht wissen!“
Da kamen Schritte näher, und aus den Büschen sprach ein altes Stimmchen. „Nein, nicht dorthin, hier, Grete; hier bei dem Taxus! O heilige Mutter Gottes!“ Und die Base in ihrem Marderpelz, den Kopf mit einem dicken Tuch vermummt, trat mit der alten Grete in den Mondschein hinaus. „Kind, Kind, wo bleibst Du!“ rief sie. „Muß Deine alte Bas’ Dich suchen gehen!“
- „O Bas’, es ist so schön hier!“
„Und“ – die Alte sah sich um – „Du bist ja ganz allein; wo ist der Hund, der Heudan?“
„Der Hund?“ sprach Dagmar hastig. „Ist der nicht hier?“
- „Ei, Kind, das mußt Du ja doch selber wissen!“
„O Bas’, Du hättest die Nachtigall nur hören sollen!“ Und wie gerufen drang der süße Schall von Neuem aus der Tiefe, und das Mondlicht glitzerte auf den Blättern der Hülsen und den Nadeln des Taxus; von Düften schwamm es in der Luft. Einen Augenblick stand die Alte, das Ohr geneigt: „Ja, ja; Du heil’ger Gott, das wär’ ein Plätzchen für die Minne hier!“ sprach sie murmelnd vor sich hin.
„Vor Zeiten; ach, vor langen Zeiten!“ Dann aber trieb sie zu rascher Rückkehr in das Haus, denn ein Abendwind hob sich und rauschte durch die Wipfel der Bäume.
Dagmar ging mit unhörbaren Schritten, da sie dem Gelaß vorbeikamen, worin sie Heudan, die Dogge, eingesperrt hatte. „Morgen, mein Hund,“ sprach sie leise gegen die verriegelte Thür; „ich hol’ Dich früh!“ Aber der Hund schien zu schlafen; es blieb alles still.
Und bald lag sie in dem schmalen Bettchen in der Kemenate der Base: aus dem großen Himmelbette scholl bald das gleichmäßige Athmen einer ruhig Schlafenden; von dem jungfräulichen Lager hob sich in dem zweifelhaften Mondlicht noch ein blasses Köpfchen, das schwarze Haar in ein weißes Seidennetz gehüllt. „O Mutter der Gnaden,“ flüsterte das Kind, „ich habe sie beide belogen, Heudan erst, den Hund, und dann die gute Base! Ach, Heilige; aber wenn man erst so alt ist! Sie verständen das doch beide nicht!“ Dann legte sie die Hände über die junnge Brust, und sanft wie eine Wolke kam der Schlaf.
- Rolf Lembeck wanderte indessen mit langsamen Schritten heimwärts; er wußte wohl, aus Dorning erwartete ihn auch ein schönes Weib, und sie war
sein mit allen ihren Wonnen; aber er fürchtete die starken kühlen Arme und ging den Weg hinab wie in ein Thal des Todes.
Durch alle Gefahren aber fand die Minne ihren Weg. Rolf, der Leichtlebende, wie das schuld- und truglose Kind, sie waren beide plötzlich klug geworden und reich an Plänen und an Listen; denn Minne schärfte ihre Sinne und gab ihnen zum Schild die träumerische Vorsicht. Und alles fügte sich, als ob es helfen solle: die Base hatte bei dem Nachtgang ihren Fluß im Kopf verschlimmert; den Schloßhauptmann hielt der König noch in Wordingborg. Rolf Lembeck zwar erkaufte sich bei seinem Weibe durch erzwungene Zärtlichkeit die kurzen Stunden seines echten Minneglückes; und mitunter, wenn er sie umfangen wollte, setzte sie ihre schöne Faust gegen seine Brust und sah ihm prüfend in die Augen, ob seine Seele auch dabei sei; und so geschah es wohl unterweilen, daß sie plötzlich seine Arme von sich warf und schweigend aus der Thür schritt. – Und als zu Haderslevhuus der Schloßhauptmann aus Wordingborg
heimkam, da trug ihm wohl die Tochter ein schweres Herz entgegen, und als er ihr die Wangen strich und frug. „Was ist mit meiner Dagmar?“ da schüttelte sie nur den Kopf und sah zu Boden und nicht wie früher in das geliebte und gefurchte Antlitz über ihr; und zu sich selber sprach sie: „O brennend Leid! Wem soll ich reden und wem schweigen?“ Doch es ward nicht laut; sie schwieg nur für den fremden Mann, und ein Weh durchflog sie wie einstmals in der Pestzeit, als sei sie nicht mehr ihres Vaters Kind; doch war es heut’ nicht ihres Vaters Schuld.
So schien die Heimlichkeit geborgen; aber ein Durchblick von eines Sandkorns Umfang konnte sie verrathen. Schon mehrmals hatte Frau Wulfhild ihren Schreiber angehalten: „Nun, Gaspard, hast Du noch die Puppe nicht?“ und er hatte geantwortet: „Verzeihet, Frauenwünsche sind schneller noch als Mannesarbeit!“ Gleichwohl trug er schon etwas in seinen Sinnen; doch wollte er es unreif nicht herausgeben. Er hatte auch einmal vom Wege aus des Schloßhauptmanns Tochter über die Gartenmauer lehnen sehen; und auch zu ihm hatte die Dogge, die mit den Vordertatzen zwischen den Zinnen stand das gewaltige Gebell hinabgesandt. „Hm, ein Kind noch!“
hatte er bei sich gemurmelt; „ein Kind mit einem Hunde! Und doch – auch bald nicht mehr; wer weiß?“
Und eines Morgens sprach er zu dem Ritter. „Wisset, Herr, drunten in Haderslev hat ein junger Schmidt, der eben aus dem Reich gekommen ist, ein neues Schießwerk heimgebracht: es ist ein eisern Rohr und wird mit einem Pulver draus geschossen! So’s Euch gefällt, wir könnten zur Beschau hinüberreiten!“
„Heiliger Hubertus!“ rief Herr Rolf; „kümmert Gaspard der Rabe sich auch um Schießzeug?“
Der Schreiber warf von unten seine scharfen Blicke auf den Frager: „Wenn ich nur treffen könnte!“ sagte er.
Da lachte Rolf Lembeck: „So komm! Ich sah die Feuerröhre schon zu Prag; wer weiß, ob nicht Dein Treffer darin sitzt!“
„Vielleicht,“ erwiderte Gaspard, und da der andere nach dem Reitstall schritt, sah er ihm nach, als sähe er auf seine Beute.
In kurzem ritten sie auf Haderslev. Es war zu Ende Juni; Rolf hatte sein Mäntelchen schon auf des Rappen Hals gelegt, denn die Sonne brannte; Gaspard warf die Gugelkappe in den Nacken. So
ritten sie in dem goldenen Staub der Heerstraße durch das Kirchdorf Hammelef; die Bauernkinder lagen im Sande vor den Hütten und wiesen mit den Fingern auf den schmucken Reiter. Von da führte der Weg durch den Wald, und die Rosse traten vorsichtig zwischen die Eichen- und Buchenwurzeln. Der Ritter blies den Athem von sich. „Ah, Gaspard, das ging schier ums Gesottenwerden!“
Der Schreiber nickte nur; er ritt in tiefem Sinnen. Der Wald hörte auf, und wieder kam der Sonnenbrand; nach einer Weile ein Hügel mit hohen Bäumen, an dem zur Linken sich eine andere Hölzung hinzog; oben aus den Wipfeln sah die Krönung eines stumpfen Thurmes. Wie eine Gabel theilte sich der Weg nach rechts und links; und Gaspard, als ob es sich von selbst verstehe, spornte seinen Fuchs zur Linken in den Waldweg; er wollte an der Gartenwand vorüber, um dort des Ritters Mienen und Gebahren zu erforschen; doch da er umblickte, sah er sich allein; der Ritter war in den freien Weg nach Westen eingeritten.
Gaspard wandte sein Pferd und war bald wieder bei ihm. „Ei, Herr,“ sprach er, „was meidet Ihr den Schatten und reitet den weiteren Weg hier in der Sonnengluth?“
Der Ritter sah lachend von seinem Hengst auf ihn herab. „Ich wußt nicht, Gaspard, daß Du die Sonne fürchtetest!“
„Ich bin kein Ritter, Herr,“ sprach Gaspard und zog sich seine Gugelkappe in die Stirn. „Ist in dem Schlosse droben etwas, das Euer Auge haßt?“
„Meinst Du,“ erwiderte Rolf Lembeck fröhlich, „daß man nur meidet, was man haßt?“ Doch, als besänne er sich plötzlich, fügte er hinzu. „Wohl seh ich lieber hier das freie Land, als aus des Dänenkönigs Burgen; mir ist, er spinne wieder Unheil!“ Der Zusatz kam zu spät, denn als er auf den Schreiber blickte, sah er dessen Kopf sich seitwärts drehen und mit der Nase nach der Erde fahren, daß ihm der Kappenzipfel um die Schulter schwenkte. „Holla, Rabe!“ rief er. „Wonach trachtest Du?“
„Ihr wisset, Herr,“ entgegnete der Braune, „ich seh’ bisweilen Dinge, die nicht da sind.“
„Und was Beute sahst Du denn dorten auf dem Sande?“
„So Ihr es wissen wollet, Herr – nur eines Fädleins Ende! Ich dachte thöricht, es sei schier mitzunehmen; doch – Ihr habt Recht, was sollen wir die Königsburg betrachten!“
„Ei, Gaspard!“ rief der Ritter, „hier ist kein Labyrinth; was sollte Dir der Faden?“ Doch plötzlich überkam es ihn, als stehe er mit Dagmar vor aller Welt auf offenem Markt, und aus dem Hausen glühten seines Weibes Augen auf das arme Kind.
Gaspard blinzte mit verkniffenem Lachen auf den jungen Herrn und ließ dann seinen Fuchs nach hinten gehen. So ritten sie, jeder in eigenen Gedanken, in die Stadt.
– – Was mit dem Feuerrohr geworden, vermag ich nicht zu sagen, aber ein anderes. In Holstein, in einer engen Gruft, mußten die Würmer sich durch einen Sarg gefressen und von dem gemunkelt haben, was sie in dem todten Mann gefunden hatten, der, als er oben ging, Hans Pogwisch hieß.
Am Nachmittage, da Rolf Lembeck mit dem Schreiber das Haus des Schmidts verlassen hatte, saß in der Gaststube des „Schwarzen Stiers“ zu Haderslev ein wüster Holstenkerl; er wollte zum König Waldemar, der wieder einmal Kriegsleute sammelte; ein paar Gesellen, die ihm nicht ungleich sahen, hielten ihn trunkfrei, denn er war ebenso maulfertig im Trinken, wie im Reden. „Ihr habt das Weibsstück hier nun nebenbei!“ rief er; „die macht nicht eben Federlesens; und schmuck ist sie,
daß sie den Teufel selbst verführen könnte!“ Er stützte den schweren Kopf in seine Hand und streckte die andere breithin auf den Tisch. „Die Königlichen hatten ihr den Mann, der seinem Weib die ganze Ehefröhlichkeit verdorben, zu ihrer Freude so verhauen, daß schon der Gottseibeiuns am Bettende saß, um mit der Seele abzufahren. Aber – das wissen wir selber! Unkraut und Disteln vergehen nicht so leicht; und eines Tages wurde seine Nase wieder roth und kreuzfidel!“
Der Kerl lachte und nahm sein Glas und trank. „Ein Satansweib! Ich bring’s ihr; stoßt mit an!“ Und die Gläser der drei Halunken klirrten aneinander.
An einem anderen Tische saß ein Herr im goldgestickten Rock an seinem Vesperbrod; er war schon aufgesprungen und hatte die Hand am Schwertgriff, um die Kerle abzufuchteln; denn er wußte, es war sein Weib, das ihre schmutzigen Mäuler schändeten. Aber er setzte sich schweigend wieder: er mußte hören; das war besserer Gewinn.
Und mit heimlicherer Stimme begann auch schon der Bettelgast am anderen Tische wieder; aber er hatte sich zuvor noch erst sein Stück gelacht. „Der wunde Ritter, ich sagt’s Euch schon, hub an seine
Fäuste wiederum zu fühlen; da“ – und der Kerl stieß mit seinem Becher auf den Tisch – „da hatte sie auf einmal Ratten zu vergiften! – Ich glaub, es sind auch wohl zwei Ratten mit krepirt; aber es glückte wunderbar: am anderen Morgen war sie eine frohe Wittwe!“
„Mordbrand!“ rief einer von den anderen; „gar eine Rittersfrau und hier? Wie heißt sie denn?“
Aber der Kerl wischte sich den Mund und hob mit trunkener Feierlichkeit die flache Hand. „Das bleibt bei mir! Ich bin von ihrem Hof; ein Hundsfott, der seinen Herrn verräth! Möchte nur der Folgmann des armen Vorwirths nicht geworden sein!“
Er leerte sein neu gefügtes Glas und stand taumelnd auf; als er an Rolf Lembeck vorüberkam, sah er ihn mit verglas’ten Augen an und wollte zur Thür hinaus.
Gleichzeitig war Gaspard in das Gemach getreten, der auf Einkauf für feine Herrin in der Stadt gewesen war, und Rolf drängte zur Heimfahrt. Auf dem Rückweg ließ er den Schreiber vor sich reiten; er wollte weder seine noch eines anderen Menschen Rede hören; ihm war’s, als wenn das
Hirn ihm friere und gössen Eisstrahlen sich hinab durch seinen Rücken. Nicht seines Weibes dachte er zunächst; nein, Dagmars; und daß zu ihr ein furchtbarer Rettungsweg sich aufgethan.
Als er zu Dorning ins Gemach trat, kam Frau Wulfhild mit ausgestreckten Armen ihm entgegen; aber er griff sie an beiden Handgelenken und hielt sie von sich; mit entsetzten Augen sah er auf ihr Antlitz.
Sie erschrak. „Was ist Dir?“ rief sie auffahrend; „bist Du auch toll geworden?“
Da ließ er schweigend ihre Hände fahren und schritt in den Hof hinab.
Nach einigen Tagen stand der Schreiber in Frau Wulfhilds Kemenate.
„Hast Du die Puppe?“ frug sie hastig.
Er wiegte seinen kleinen Kopf. „Ich habe sie und habe sie auch nicht.“
- „Das heißt?“
„Ich wette, es ist das Fräulein von des Königs Burg.“
- „Des Schloßhauptmanns Tochter? – Ein Kind!“
Er spreizte seine Finger: „Erlaubt, beim ersten Kusse pfegt sich das zu wandeln; und überdies – das Neue ist ein Dämon!“
Sie war vom Sessel ausgesprungen und schritt mit funkelnden Augen auf und ab; ihre Finger griffen in ihr Sacktuch, als sei’s ein lebend Wesen, das sie würgen müsse.
„Das Spielzeug könnet Ihr nicht nehmen,“ sagte Gaspard wieder; „doch wenn das Spielzeug nicht vom Kinde kann, so muß das Kind vom Spielzeug!"
- „Was heißt das? Rede deutlich!“
„Sind hier die Wände sicher?“
„Das weißt Du selber,“ erwiderte Frau Wulfhild und warf sich in den Sessel. „Nun rede!“
Und Gaspard setzte sich zu ihren Füßen auf den Schemel, den sie ihm gewiesen hatte. „Ihr habet, edle Herrin,“ begann er leise, mit Fingerspiel sein Wort begleitend, „meine Maulwurfsarbeit nicht gesehen, aber ich habe sie gethan. So leiht mir nun ein hörend Ohr! – Die unruhigen Herren in Holstein spinnen einmal wieder etwas gegen den König Atterdag“ – er sah sich um; dann fuhr er fort:
„Sie hatten Euren Schwäher auch zum Rath berufen; Ihr wisset, der gewaltige Herr hat etwas von der Fledermaus; beim Wolfe heut und morgen bei den Falken; und so wollten sie seiner diesmal sicher werden. Aber er bauet die Burg dort auf der Insel und kann nicht fort von all dem wilden Bauvolk.“ Gaspard senkte seine Nase. „Wollet nicht fragen, wie ich das erfahren habe; aber ich suchte einen klugen Boten und schrieb an Herrn Claus Lembeck, daß hier ein treuer Mann entbehrlich sei, wenn anders Treu im nächsten Blute liege; ich schrieb auch, daß es Eurem Wunsch entgegenkomme, des Ehegemahls auf eine Weile zu entrathen.“
„Mich will bedünken,“ rief das Weib, „Du bist noch eigenwilliger als klug! Und Claus Lembeck“ – setzte sie hinzu – „was hat er Dir erwidert?“
Der Schreiber nestelte an seinem Rock und reichte ihr zwei Papiere. „Solange,“ sprach er, „der alte Ritter nicht des Königs ist, sind die Wünsche der Schauenburgerin ihm Befehl! Hier ist ein Brief für Euch, und nebenbei, wenn Ihr sie wollet, die Berufung für Herrn Rolf Lembeck!“
Die Frau griff nach den Briefen und las sie. „Du nimmst mir den Gemahl und solltest ihn mir wahren!“ sprach sie seufzend.
- „So laßt mich schreiben, daß Ihr ihn nicht missen könnt!“
Da war sie aufgestanden; den Kopf emporgeworfen, die eine Hand an ihren Lippen, stand sie da, wie in die Weite schauend; dann reichte sie dem Schreiber ihre andere Hand. „Du thatest wohl; Du warst mein weiser Rabe, Gaspard! Schick mir Deinen Boten; ich werde an Claus Lembeck schreiben; der Sohn wird diesem Vater nicht zuwiderhandeln.“
„Ich wußt es, Herrin; Ihr seid nicht wie die anderen Weiber.“ Er küßte ihr Gewand; dann wurde er entlassen.
– – Am Abend dieses Tages schritt Rolf Lembeck nach der Gartenmauer zu Haderslevhuus, und Gaspard der Rabe schlich unmerklich hinterdrein; er wollte nähere Bestätigung für einen neuen Plan, den er im Kopfe trug.
Spärlicher Nachtschein zitterte durch die Buchenkronen; nur wenn der Ritter durch eine Lichtung ging, huschten wie blaue Funken die Johanneskäfer um ihn her, und die Nacht war lau und still. Sein Weib hatte nicht versucht, ihn zu halten; dennoch ging er langsam und in schwerem Sinnen, und er hörte nicht den Schritt, der in den seinen trat. Nicht nur was er im „Schwarzen Stier“ erfahren hatte,
ein anderes noch war ihm gekommen: ein Wort, das er als Knabe aus seines Vaters Mund vernommen hatte. Ein Graf von Orlamünde hatte derzeit von seinem Weibe wollen, um eine Schönere zu freien; aber kein Laie hatte zwischen den beiden Eheleuten den gemeinsamen Blutstropfen finden können, der fähig war, den Bund zu lösen. Da machte der Graf ein gut Theil seiner Habe zu Gold und zog nach Rom; und bald mit heiterem Antlitz kam er heim; zwar ohne Gold, aber mit dem Pergament des heiligen Vaters in der Tasche, das wegen zu nahen Blutes die Ehe annullirte. „Beim heiligen Bart,“ hatte Claus Lembeck da gerufen, „der Teufel konnt’ es nicht; der Papst hat es herausgefunden!“
Der Knabe Rolf hatte das Wort gehört und nicht geachtet; jetzt kam es wieder aus der Tiefe, wo das Gedächtniß die Schätze für die Zukunft aufbewahrt. „Und wenn dem Orlamünder, warum nicht mir?“ rief es in ihm. „War meiner Großmuhme Gemahl doch gar ein Vetter von den Schauenburgern!“ Dann dachte er des anderen. „Wenn ich es brauchen müßte, das bricht die Kette!“ rief er laut, und mit kräftigeren Schritten ging er weiter.
Der Rabe Gaspard war auf seinen Fersen; und
als nach einer Weile der Ritter sich droben aus den dichten Zweigen in die zarten Arme schwang, da war der Laurer an den Waldesrand getreten und sah, was keines Menschen Auge hätte sehen sollen. Denn alle Liebesnoth und ungestüme Hoffnung war in dem Ritter aufgesprüht, und er preßte das Kind in seine Arme, daß es rief. „Rolf, Rolf! Du tödtest mich!“
Da ließ er sie plötzlich und starrte über die Mauer in den Grund hinab. „Hörtest Du es, Dagmar? Da drunten lachte was!“
Sie aber hob das süße Antlitz zu ihm auf: „Fürchtest Du Dich, Rolf?“
- „Ja, Dagmar; wer Dich im Arm hält, muß sich fürchten!“
„Doch nicht vor Ringeltauben! Ich hörte es auch, es kam dort aus der Buche.“
Er warf noch einen Blick hinab, dann zog er sie auf die Bank, wo von dem Weg herauf kein Auge sie erreichen konnte. Die Nachtigall hatte ausgesungen; fast keines Athemzuges Laut war in der Nacht; wie müde legte Dagmar den feinen Nacken auf seinen Arm, und ihre dunklen Augen wollten nichts als ihn. Dämmerung war es, denn der Mond war rund und wieder schmal geworden und
stand mit seiner Sichel über den Bäumen im Südost. Rolf Lembeck blickte grübelnd in die Nacht hinaus.
„Nimm! So nimm doch, liebster Mann!“ hauchte das Kind und bot ihm ihre rothen Lippen.
Aber er drückte wie in Angst ihren Kopf an seine Brust. „Gieb mir nicht mehr, o Süße, Selige!“
Da lachte sie und riß das dunkle Köpfchen wieder gegen ihn auf. „Und was? So nimm doch, was Dein eigen ist!“
Aber der Mann stöhnte, in Wonne halb und halb in Schmerz: „O Dagmar, ein Feuer ist die Minne; es soll Dich nicht verbrennen!“
Sie verstand ihn nicht; sie frug auch nicht; nur als seine Lippen jetzt flüchtig ihre Stirn berührten, klagte sie: „Das ist ja nicht der Weg zum Herzen! Bist Du mir bös? Was that ich Dir?“
„Du, Dagmar!“ rief er und seine Augen leuchteten wie blaue Sterne, „Du fülltest mir das Herz mit Wonne; ich will nicht Todesnoth in Deines bringen! Hör mich, Du Schöne, Unirdische! Mir ist es oft ein Wunder, daß meine Hände Dich berühren können; mir ist, als seiest Du mein schöner Schattengeist, von dem die alten Mähren sagen, zwischen Lilien aus dem Mondscheinsee zu mir emporgestiegen; mir träumt zu Nacht, daß Flügel
an Deinen süßen Schultern sprießen, daß Du mich fortträgst, weit aus dem Wirrsal meines jungen Lebens!“
- „O nein, nicht so, nicht so!“ bat sie ihn flehend, und ihre Hände legten sich auf seinen Mund; „Du täuschest Dich; ich bin ein Erdenkind; ein Wind kann mich verwehen!“
Anbetend sah der Mann sie an.
Da glitt sie ihm zu Füßen, ein gespenstischer Glanz brach aus ihren Augen. „O Rolf, kein Leben, kein Sterben ohne Dich!“
Er zog sie sanft zu sich herauf: „Erst leben Dagmar! Wir zusammen – möchtest Du das nicht?“
Sie nickte nur; aber der Athem stand ihr still, als ob sie Wunder hören solle.
- „So muß ich Dich um Urlaub bitten!“
„Urlaub?“ rief sie erschreckt. „Du willst fort? – Ganz fort?“
- „Nur auf zehn Tage, Dagmar! Am Abend nach Mariä Heimsuchung bin ich wieder bei Dir!“
„Zehn Tage! – O, das ist lange!“
Er strich ihr liebkosend das lose Haar unter ihren Silberreif. „Ja, Dagmar, lange! Aber ich muß zu meinem Vater!“
Sie blickte ihn plötzlich wie verwundert an. „Hast Du auch einen Vater?“ frug sie zaghaft.
- „Hast Du doch einen, Liebste!“ sprach er. „Und meiner soll uns helfen, daß ich mit ihm durch’s Schloßthor zu dem Deinen trete und Dich zum Ehgemahl begehre!“
Ein selig Lächeln überflog das Angesicht des Kindes: „O Rolf, wir werden alle glücklich sein!“
Ein Regentropfen fiel herab, ein langer Donner rollte über ihnen hin. „Gott hat’s gehört!“ sprach er.
- „O Rolf, wann kommst Du wieder?“
„Ich sagt’s Dir ja!“
– „Gewiß?“
„O ganz gewiß! Glaubst Du, daß ich den Weg vergessen könne!“
Die Donner rollten stärker und die Blitze flammten heller; vom Thurme rief das Wächterhorn. Noch einen heißen Kuß; noch einmal fest, als wie aus ewig, Brust an Brust; dann war nur Nacht und Wetterschein auf diesem Platze.
– – Bevor Rolf Lembeck sein Haus erreichte, war Gaspard heimgekommen, und Bericht und Anschlag waren zwischen der Herrin und ihrem Diener schon zu Ende; als der Ritter in das eheliche Gemach trat, lag Frau Wulfhild wie schlummernd auf
ihrem Lager. Doch obschon sie in voller Weibesschöne dalag, ihres Mannes Augen sahen an ihr vorüber, und seine Hand griff nur nach einem Schreiben, das auf einem Tischchen lag, auf dem er seines Vaters Hand erkannt hatte. Als er es hastig aufgerissen hatte, flog es wie Schrecken halb und halb wie Staunen über des Weibes Antlitz, und ihre Augensterne blinzten heimlich durch die Lider, denn Rolf Lembeck hatte zufrieden vor sich hingenickt. Dann streckte er sich ruhig auf sein Lager.
Einige Tage, nachdem der junge Ritter seine Fahrt nach Burgsom auf der Insel angetreten hatte, saß Frau Wulfhild in ihrem Gemache. Allerlei Schriften lagen vor ihr auf dem Tische; aber ihre Gedanken schienen nicht bei solcher Arbeit: ihr seiden Blondhaar hatte sie rückwärts über die Schulter geworfen, und es glänzte wie Gold gegen das dunkle Muster der Teppiche, die an den Wänden hingen. Inmitten der schönen Stirn des Weibes war eine Falte, die immer tiefer zu werden schien;
sie drängte die Augen aneinander, als könne sie sicherer so das eine Ziel verfolgen, das vor ihren Sinnen stand.
Da wurde die schwere Thür zurückgestoßen. Sie fuhr empor. „Wer ist da?“
„Der Herr Schloßhauptmann von Haderslevhuus!“ erwiderte der junge Bookwald, der hereingetreten war. „Ihr, Herrin, hättet um sein Kommen ihn ersucht.“
„Er ist willkommen! – Doch wart’ noch, Gehrt! Rück’ erst den Sessel hier zum Tische!“ Sie hatte sich in ihrer ganzen stattlichen Gestalt erhoben und begann im Gemache auf und ab zu schreiten, während der Knabe das Aufgetragene besorgte und sich dann entfernte.
Nach einigen Augenblicken war ein grauhaariger Mann in dunkler Tracht und von gewaltigem Körperbau hereingetreten. „Euer Gemahl, edle Frau,“ sprach er, nachdem die Grüße gewechselt waren, „scheint nicht daheim zu sein; Ihr selber wünschtet mich!“
„Mein Gemahl, Herr Schloßhauptmann,“ erwiderte Frau Wulfhild, „würde zu Euch gekommen sein; Ihr müsset diesmal Euch an mir genügen lassen!“
„Wollet mich nicht beschämen, edle Frau! So bin ich also hier, um Euch zu hören!“
Sie setzte sich und lud ihn mit der Hand zum Niedersitzen; eine kurze Weile lagen ihre Augen auf seinem Antlitz, das er geduldig ihr entgegenhielt. „Mit Claus Lembeck,“ hub sie an, „saß hier ein dänisch Weib; ich bin aus dem Geschlecht der Schauenburger; wir beide sind Landsleute -“
Er unterbrach sie. „Ein Schleswiger bin ich und jetzt des Königs Mann!“
- „Ich weiß es, Ritter; Ihr waret auf Fühnen in der Schaar, von der mein seliger Gemahl von seinem Hengst gehauen wurde!“
„Er war mein Feind derzeit; ich aber habe ihn nicht gefällt,“ erwiderte er ruhig.
Sie schwieg einen Augenblick. „Mag sein! Ich habe den Schaden ausgeheilt und bin itzt Herrin hier auf Dorning; wir sind Nachbarn, Ritter; und also …“
„Wollet Ihr mir etwa Nachbarrath ertheilen?“
- „Ei nun, wie Ihr es nehmen wollt!“ und da er nickte: „Ihr wisset, hinter Eurem Garten, dort wo es so jäh hinab zu Boden schießt, steht hart daran eine italische Pappel und streckt ihre
Zweige an die Mauerzinnen, so dort den Garten abschließen. Man sagt, es soll fast achtzig Fuß dort in die Tiefe gehen! Was ich Euch sagen wollte … den Baum, Ihr müßt ihn fällen lassen!“
„Die Pappel?“ rief der Schloßhauptmann. „Was wirrt Euch, edle Frau! Die ist des Königs Liebling; sein Ahn Christoffer hat sie selbst gepflanzt, da er Südjütland gegen Abels Söhne in Besitz genommen hatte!“
„So habet Ihr wohl keine Tauben oder sonstig edeles Geflügel in der Feste,“ fuhr sie achtlos fort, „und ist Euch davon nichts zerrissen worden? Denn aus dem Wald genüber laufen Iltis oder Edelmarder an den Baum hinauf und springen aus dessen Zweigen in den Garten!“
„Was wollet Ihr, edle Fraue,“ sprach der Ritter; „ich verstehe Eure Rede nicht; ich hatte niemals kostbares Geflügel, und wäre solches mir zerrissen worden, ich würde drum doch nicht des Königs Baum versehren!“
Sie sah ihn an; aber da er ruhig mit der Hand auf seinem Schwerte dasaß, hob sie eine Glocke vom Tisch, schellte, und da der Knabe eintrat, bedeutete sie ihn: „Gaspard soll kommen!“ Dann sah sie wieder auf ihren Gast und frug, wie nur, um die
Minuten hinzubringen: „Ihr habt wohl schöne Frauen in der Feste?“
- „Wie meint Ihr, edle Frau?“
„Nun, ich hörte auch nur so.“
Der Mund des ernsten Mannes lächelte fast: „Wer hat Euch so berichtet? Die Dienerinnen gehen alle an ein halb Jahrhundert, und unsere Base ist noch weit darüber. Ich hab gelitten, Fraue; das Lachen der Jugend thut meinen Ohren weh!“
Die kräftigen Lippen des Weibes zuckten, als wisse sie doch besseren Bescheid als er in seinem eigenen Hause. Dann öffnete sich die Thür, und der braune Mann mit der Gugelkappe war leisen, aber sicheren Schrittes eingetreten und blieb nun an der Schwelle stehen.
„Wer ist der Mann?“ frug der Ritter.
„Es ist mein Schreiber,“ sprach sie; „er mag Euch selbst berichten, was er nachts gesehen hat, da ihn der Weg an Eurem Schloß vorbeiführte.“
Der Schloßhauptmann wandte sich in seinem Sessel und blickte auf den Schreiber. „So sprich denn, Mann,“ sagte er, „was Du mir zu sagen hast!“
Gaspard der Rabe hatte von unten einen vorsichtigen Blick aus den finsteren Herrn geworfen.
„Ich weiß nicht eben,“ begann er, „ob es Euch gefallen mag! Wenn man die Füße seiner Worte nicht mehr hört – man weiß nicht, ob sie Dank, ob Undank holen!“
Auf des Gastes Stirne furchten sich die Zeichen der Ungeduld. „Lasset Euren Mann seine Rede thun, edle Frau, um die Ihr mich geladen habt: mir ist nicht Zeit für andere Weisheit!“
„Sprich ohne Umschweif, Gaspard!“ rief Frau Wulfhild.
„Ja, Herr,“ hub dieser an; „es war eine helle Nacht, vor kaum acht Tagen, da ich von Haderslev den Weg zwischen Eurem Garten und dem Buchenwald herunterkam; da stob aus dem Baumschatten ein Gewild – es mochte ein Marder oder Iltis sein – mir vor den Füßen quer über den Weg der großen Pappel zu, und ich hörte, wie es zwischen den Zweigen in den Baum hinaufklomm. Ich stand – ich sah hinauf und dachte: Itzt wird’s bald oben sein und auf den Mauerzinnen tanzen!“
- „Nun – und?“
„Ja, Herre, es kam weder ein Marder noch ein Iltis!“
Der Schloßhauptmann fuhr auf: „So sitzt es wohl noch heute in dem Baum!“
„Das wäre möglich,“ sagte Gaspard; „auch möglich, daß ein Zauberspiel dabei gewesen ist. Ihr hörtet wohl schon sagen: es springt ein Wolf, auch eine rothe Maus uns in den Weg, und faßt man’s mit dem rechten Wort, so hat man ein altes Weib oder gar einen jungen Knecht in seiner Hand!“
Der Ritter warf einen forschenden Blick auf den Sprecher. „Was soll das hier? Deine Nas’ und Augen sind mir zu scharf für solche Kunkelweisheit!“
Aber in Gaspards Augen, die ihm begegneten, war kein Arg zu lesen. „Herr,“ sagte er, „der eine spricht’s, der andere widerspricht’s; doch so viel haben meine Augen selbst gesehen: ein Marder war unten in den Baum gesprungen, und oben schwang sich ein junger Fant aus seinen Zweigen auf die Mauerzinnen; ich sah die goldenen Knöpfe an seinem Leibrock funkeln, und der Nachtschein des Mondes leuchtete auf ein goldblond Haar.“
Der Schloßhauptmann hatte sich vorgebeugt. „Und dann?“
„Dann sprang er in den Garten.“
In der Brust des alten Ritters erhob sich eine Stimme, die sprach: „Einer der Diener war es, der sich beim lustigen Trunk verspätet hatte; Du mußt
Dein Hausrecht brauchen, und es soll nicht mehr geschehen!“
Er sprach das dann auch laut; doch Gaspard erwiderte. „Ich weiß nicht, Herr, ob Ihr so fein Gesinde haltet; auch schien der Fant seine Lust noch vor sich zu haben, und seine Glieder waren sicherer, als ich nach dem Trunk es sonst gesehen habe. Vor allem: hinter der Mauer war ein Weib; noch kaum ein Weib! Ein schmächtig unschuldig Ding; denn ihr Gewand war weiß, gar ungeschickt zu geheimem Minnetreiben; der Mond blitzte auf einem Silberreif, der ihr dunkel Haar zusammenhielt!“
„Und weiter? – Was sahst Du weiter?“ stieß der Ritter wie in Angst hervor.
- „Ich sah nichts weiter, Herr.“
Das Weib hielt den schönen Kopf in ihre Hand gestützt und sah des Ritters Antlitz sich unter seinem grauen Bart mit Todesfarbe decken. Da winkte sie dem Schreiber, und er verließ das Zimmer. „Nun, Herr Schloßhauptmann,“ sprach sie leise; „werdet Ihr den Baum des Königs fällen lassen?“
Er wandte den Kopf; aber aus seinen Augen waren die Gedanken nach anderswo entflohen; er frug: „Was spracht Ihr, edle Frau?“
Und als sie ihre Worte noch einmal gesprochen
hatte, frug er weiter. „Wißt Ihr von diesem Abenteuer mehr zu melden, als ich eben hörte?“
Doch sie erwiderte: „Nein, Herr; Ihr müßt nun so zufrieden sein!“
Er warf seine düsteren Augen auf sie und sprach zu sich selber. „Was will das Weib? Denn nicht um deinetwillen hat sie dich geladen; sie weiß, um wen die Pappel fallen soll!“ Laut aber sprach er und richtete in seiner mächtigen Gestalt sich auf: „Ihr drücktet ein Beil in meine Hand! Wohin es treffen soll, Gott mög’ mir rathen; und mög’ er auch bei Euch sein, edle Frau!“
Er hatte sich gewandt und war aus dem Gemach geschritten. Unten im Hofe führte ein Knecht sein Roß umher; er rief ihm und schwang sich in den Sattel; dann suchte das Thier durch Wald und Felder sich selber seinen Weg. Ob hoch am Himmel die Lerchen sangen, ob Falken und Elstern um ihn schrien, er hörte es nicht; gleich einem gebrochenen Manne hing er im Sattel; vor seinen Augen war immer nur sein schmächtig Kind in eines Fremden Armen, dessen Antlitz er nicht erkennen konnte.
Erst als das Roß unter den Bäumen des Schloßberges hinantrabte, fuhr er empor und zog den Zügel an. Aber er wandte sein Thier und ritt zurück; er
wußte selber nicht wohin; in seinem Kopfe war zu schmerzlich Wirrsal, das er weder schlichten noch zur Ruhe bringen konnte. Es dunkelte schon, da er zum zweitenmal heimkam und jetzt langsam in den Schloßhof einritt. – Nachts von seinem Bette, wo er mit gestütztem Kopfe lag, trieb es ihn wieder auf; er fand sich plötzlich die Thurmtreppe hinabsteigend; dann stand er hinten in dem Garten, den er seit Jahren nicht betreten hatte, und sah bald auf den Wipfel der großen Pappel, bald hinunter in die Tiefe. Ei ja; sie drängte ihr mächtiges Gezweig hart an die Bergwand und oben an die Zinnen, er hatte sie lang darauf nicht angesehen; der König selber konnte dort den Baum nicht dulden!
Dann stieg er zurück in seine Kemenate und warf sich wieder auf sein Lager; als aber im Zwielicht der Ton des Wächterhornes an sein Ohr drang, sprang er auf und holte drunten selbst ein Dutzend Knechte aus den Betten. Und da die Sonne aufgestiegen war, hallten donnernde Schläge durch die Burg und rissen alle aus den Betten, die noch in Morgenträumen lagen. „Bas’! Bas’! der Feind kommt!“ rief Dagmar, jäh vom Kissen fahrend; und die alte Dame lallte, noch halb vom Schlaf befangen. „Bete, Kind! Bete! Wir sind arme Frauen!“ Als
aber Dagmar jetzt vor ihrer Bettstatt auf den Knien lag, richtete sie sich mühsam auf und strich mit ihrer sanften alten Hand das wirre Haar von ihres Lieblings Stirn: „Nein, Kind, es ist ja nimmer Krieg. Horch nur! Es ist die Holzaxt, die da fällt!“
Ein Rauschen wie von hundert Adlerflügeln, der Donner eines furchtbaren Sturzes machte in diesem Augenblick die dicken Scheiben des Gemaches klirren. Dagmar ward todtenbleich, und ihre Hand zitterte in der der Base; die aber lächelte: „Es ist ja nichts, Kind; sie haben einen Baum gefällt!“
Aber in Dagmars großen Augen stand der Schrecken: „Einen Baum? O Bas’, ich dacht, der Himmel falle ein!“
Die Base schüttelte den Kopf: „Es kam ja von der Gartenseite; hört’st Du das nicht?“
Dagmar griff plötzlich nach ihren Kleidern und begann sie über sich zu werfen. „Ja, Bas’, ich glaub’; ich will hinab!“
„Du thöricht Frätzchen!“ rief die Base. „Was kümmert Dich der Baum? Die Vögel sind ja kaum vom Nest geflogen!“
Aber das Kind, dem in der Brust der Athem stockte, war selber schon hinabgeflogen; und die Alte
faltete zum Morgengebet die Hände; durch das kleine Fenster fielen die ersten Morgenstrahlen.
– – Nicht lange danach trat der Schloßhauptmann in den Garten; die Dogge Heudan folgte ihm. Als sie an den binnen hinaustraten, stand der Hund und schaute wie verwundert vor sich hin: die Pappel, wo war sie denn? Dann wandte er den Kopf und lief plötzlich in Sprüngen ein Stückchen seitwärts auf die Mauer zu.
„Dagmar!“ rief der Ritter. „Du hier? so früh?“
Sein Kind stand reglos an den Zinnen und starrte in die Tiefe; sie schien ihn nicht zu hören; ihre Händchen hielt sie übereinander auf die Brust gedrückt, als müsse sie den Tod gefangen halten.
„Dagmar!“ rief er angstvoll. „Was ist Dir? Bist Du krank geworden?“
Da wandte sie den Kopf und sah ihn an.
„Kennst Du mich nicht? Ich bin’s, Dein Vater!“ rief er und zog sie mit sanften Händen zu sich.
Ein leichter Schrei rang sich aus ihrer Brust: „O, er kommt nimmer wieder!“ Dann brach sie in ihres Vaters Arm zusammen.
Rathlos blickte er auf das schmale Antlitz: die Wimpern der geschlossenen Augen lagen ruhig auf den blassen Wangen; aber das Herz schlug so gewaltsam,
als wollte es die kleine Brust zersprengen. Leis neigte er sich an ihr Ohr. „Dagmar, mein Kind, wer wird nicht wiederkommen?“
Ihre Lippen regten sich, aber ein Wort war nicht zu hören. „Wer, mein vielliebes Kind?“ wiederholte er. „Ich will ihn suchen helfen!“
Da flog ein selig Lächeln über das süße Antlitz: „Rolf!“ hauchte sie; und noch einmal wieder: „Rolf!“
„Weiter!“ rief er hastig. „Wie weiter? Der Name läuft auf allen Gassen!“
Aber sie vermochte nur leis den Kopf zu wiegen, als sei das alles, was sie wisse.
„Rolf? Wer ist Rolf?“ frug sich der Ritter. Zorn gegen den der seinem Kinde das gethan hatte, brauste betäubend in ihm auf; aber er durfte jetzig nicht schelten, was sie liebte: ihr Leben hing daran. Des Schreibers Gaspard Nachricht tauchte in ihm auf: ein Junker, ein ritterlicher Mann doch mußte es gewesen sein! Da schlug ein furchtbarer Gedankt ihm durchs Hirn. „Dagmar,“ sprach er bebend, „besinne Dich! Nicht wahr, er trug einen Rock, einen Gürtel mit Stickereien? War nirgend denn ein Wappenthier, ein zahmes oder ein Gewild, darauf gestickt?“
Er starrte lang vergebens aus ihr Antlitz; dann
bewegten sich ihre Augen unter den geschlossenen Lidern. „Ein Geyer!“ sprach sie leise.
Der Ritter fuhr in jähem Schreck zusammen. „Rolf Lembeck!“ schrie er. „Verfluchter! Das gilt Dir Deinen Tod!“
Das Kind aber schlug die Arme fest um seinen Hals. „Vater! mein Vater!“ schrie sie. „O, ich sterbe!“
Der Augenblick, den des Königs Arzt vorhergesehen hatte, schien gekommen. Zwiefach gespitzt war ihr der Pfeil ins Herz gedrungen; sie sprach nicht mehr; erbarmungslose Gichter warfen den jungen Körper in ihres Vaters Armen hin und wieder.
Still trug der Ritter sein Kind ins Schloß zurück; Heudan, die Dogge, folgte mit gesenktem Haupt.
„Mariä Heimsuchung!“ murmelte der Mann. „O heilige Mutter, nimm mein Kind in Deinen Schutz!“
– – Aber die Mutter Gottes war nicht die Hüterin der Minne. – Ein Bote auf schnellstem Rosse ritt nach Schleswig, um einen sicheren Medikus zu holen; inzwischen legte die Base mit zitternder Hand kühle Binden um das Herz des Kindes, und ein Chirurg aus Haderslev ging ihr dabei zur Hülfe; am Fuß des Bettes stand der Schloßhauptmann:
„Die Thränen helfen nicht!“ sprach er leis und biß die Zähne aufeinander.
– – Als aber die Dämmerung herabfiel, brachen jenseit des Gartens junge muthige Schritte aus dem Holz hervor; doch sie stockten plötzlich, da sie den Waldesrand erreichten. Es war lautlose Stille weit umher; nur eins war anders, als es sonst gewesen: im Wege vor des Anschreitenden Füßen lag der gestürzte Baum, und droben über der Mauerzinne, wo sonst die Pappelblätter flüsterten, stand jetzt die leere Luft.
Dem drunten mochte bald wohl alles anders erscheinen; denn statt des dunklen Köpfchens mit dem Silberreife sah er plötzlich die Gestalt eines starken Mannes dort oben an der Mauer. „Rolf Lembeck!“ hörte er es wie im Traum herunterschallen; ihm war, als führe die Hand des Mannes nach dem Schwerte – es kümmerte ihn nicht, es war nur wie Gespensterspiel vor seinen Augen. Wie es geworden, wann er von dort gegangen sei, er wußte später nichts darüber.
– – An manchem Tage noch, im Mondlicht und im Sonnenscheine, stand Rolf Lembeck unten an dem Waldesrand. Die Tage wurden kürzer, der September begann das Laub zu färben, und nur
Krähen und Falken schrien noch im Walde; aber fortan sah er droben nie ein anderes als die kahlen Mauerzinnen, und kein Weg und keine Kunde war zwischen ihm und ihr.
Das waren Minnequalen, wie er noch nicht empfunden hatte, und sie gruben ihre Spuren in sein hoffnungsfrohes Antlitz und löschten den Glanz in seinen blauen Augen.
„O Minneleid, o sehnende Noth,
Euch will ich tragen
Sonder Klagen
Vom Morgen- bis zum Abendroth;
Nur nicht, wovon zu sagen:
Kein Leben und kein Tod!“
So klagte er. Aber sie, die eine, hörte es nicht; ein anderer war es, der ihre Hand zu fassen kam.
In der Kemenate der Base lag Dagmar; die Alte hatte ihrem Kinde den Platz geräumt und sich wo anders hingebettet. Die Kranke war am Abend mit den Sterbesakramenten versehen worden; jetzt brachen die ersten Morgenlichter in das Zimmer.
„Mein Vater!“ rief sie.
„Ich bin bei Dir, Kind!“ sprach der Schloßhauptmann, der die Nacht am Bette gewacht hatte.
„Hör!“ sagte sie und hob einen Finger ihrer bleichen Hand. „Ueber uns, da oben aus der Hausfirst, sang die Amsel!“
Er schüttelte den Kopf. „Du irrst Dich, Dagmar; im September singt keine Amsel mehr; die Blätter fallen schon.“
„Ja, horch nur!“ sagte sie wieder. „Ich hör’s; sie singet mir den Tod an!“ Und sie streckte sich lang auf ihrem Lager und faltete die Hände unter ihrer Brust.
„Mein Kind, Du weißt, sie singet auch dem Leben; aber ich höre keine Amsel.“
Sie antwortete nicht; nur ihr Haupt, das mit geschlossenen Augen aus dem Kissen lag, bewegte sich wie verneinend.
Der Ritter sah auf sein Kind und wie in schweren Zügen die kleine Brust sich hob und senkte; dann ward es stiller. Da streckte sie plötzlich wie in heftigem Gebet die Arme vor: „Nein, nein! O, noch nicht!“ rief sie angstvoll; „nur noch ein Weilchen!“ Dann wandte sie das Haupt, und mit weit ausgerissenen Augen blickte sie auf ihren Vater.
Er fuhr zusammen, denn er kannte diesen flimmernden Schein; die Seele schien ihn nur noch mühsam festzuhalten. „Sprich, mein Kind!“ sagte der Ritter sanft.
„Ich sterbe, noch heute!“ sprach sie hart, und ihre kleine Hand erfaßte mit festem Griff des Vaters Arm. „Ich hab’ noch einen Erdenwunsch. Rolf Lembeck – zürn’ nicht!“ rief sie zagend.
Aber der verhaßte Name, den sie nimmer noch gesprochen hatte, war gleich eines giftigen Wurmes Stich ihm in das Herz gedrungen. „Nenn’ den Verruchten nicht! Die Minne, die Dich bethörte, verwes’t mit Deinem Leib im Grabe!“
„Wer sagt das?“ rief sie heftig.
- „Nicht ich, mein Kind; die heiligen Bücher sagen es, die Kirche! Du weißt es ja!“
Ein Seufzer, wie ein Abschied von aller Erdenseligkeit, entrang sich ihrer Brust. Dann aber kam ein hastig Sinnen in ihre Augen, und ihre Hände strichen das wirre Haar sich von der Stirn. „Nein,“ rief sie laut und richtete sich jäh empor, ein geisterhaftes Leuchten flog aus ihren Augen, „ich weiß es, Vater: die Minne ist stärker als der Tod!“
Ein Lachen voll Verzweiflung scholl aus des Ritters Kehle: „Gott wird euch scheiden!“ rief er.
„Dich wird er zu der Mutter seines Sohnes weisen; er, der Verfluchte, geht zum tiefsten Grund der Höhlen. Thu Dein Gebet, daß Gott sein Bild aus Deiner Seele reiße!“
Da antwortete sie nicht mehr; aber ihre Hände hob sie betend auf, und flehend, daß kein Menschenherz ihr hätte widerstehen können, sprach sie: „Hilf Du mir, lieber Herregott! Nimm ihn mir nicht! Ich könnt’ sonst nicht in Deinem Himmel leben!“
Der starke Mann fiel nieder auf die Knie. „Sprich, Kind! Sprich alles, was Du willst!“
Sie hatte sich mit beiden Armen aufgestemmt, mit aufgerissenen Augen sah sie ihren Vater an: „Rolf Lembeck!“ flüsterte sie heiser. „Weiter nichts!“ Sie hatte dem Tod die Worte abgerungen; nicht Dagmar war es, nur ein Gespenst von Dagmar saß an ihrer Stelle. „Lad’ ihn zu meiner Leiche, Vater! Sein Aug’ soll auf mir ruhen; noch einmal! Dann“ – die Stimme brach ihr plötzlich – „laß ihn ziehn in Frieden!“
Ihr Mund ward stumm; sie sank auf ihre Kissen.
Die Base war inzwischen leis hereingetreten und kniete neben ihr. „O Kind, in solcher Thörniß willst Du uns verlassen!“ murmelten die alten Lippen;
aber die Kranke regte sich nicht mehr. Der Ritter sprach zu sich: „Es ist bald alles aus, mein Lebens mit dem Deinen!“ Er legte lind die Hand auf Dagmars Stirn und sprach: „Es soll geschehen, wie Du es willst, mein Kind!“ Und wie ein Lächeln flog es noch einmal über ihr Antlitz, sie lebte noch.
Aber da ihr Odem schwächer wurde und er sah, daß ihre Seele fliehen wollte, ging er zu einem Lädlein, darin geweihte Kerzen lagen, noch von dem großen Sterben her. Er nahm eine heraus und entzündete sie an dem Lämplein, das noch brannte. „Für mein Letztes!“ sprach er und trat wieder zu seinem Kinde; dann faßte er ihre feinen Hände und schloß sie um die brennende Todtenkerze und legte die seinen sorgsam noch darüber, daß nicht ein Tröpfchen heißen Wachses sie von ihrem letzten Pfad zurückschrecke. Still harrend saß er aus der Kante des Bettes; die neben ihm kniende Base sprach: „Gott hat Dir ein Lichtlein geben; das leucht Dir in’s ewige Leben!“ und beide sahen, wie die Flamme von dem Odem der Sterbenden immer schwächer bewegt wurde. Da plötzlich flackerte die Kerze und erlosch; ein leichter blauer Qualm zog durch’s Gemach. „Dagmar, mein Kind! O süße Dagmar!“ rief der Mann; aber Dagmar hatte sanft ihr Haupt
geneigt, und eine schöne Todte lag jetzt auf den Kissen. Die Base sprach: „Aus Wiedersehn in Gottes Himmelreich!“
Der Schloßhauptmann hatte die erloschene Kerze fortgelegt und sah jetzt finster aus die Leiche seiner Tochter: „Sein Name war Dein Letztes, armes Kind -“ Er ging zur Thür und schellte.
Eine alte Dienerin war eingetreten. „Meine Tochter Dagmar ist nicht mehr auf Erden,“ sprach er und schwieg dann plötzlich; das Knochengespenst des Todes, der ihm sein Kind genommen hatte, stand vor seinem innern Auge; aber statt des nackten Schädels trug es den schönen Kopf des jungen Ritters Lembeck auf den Schulterknochen. Und aus der lang verschlossenen Falte seines Herzens schoß der Jähzorn ihm in’s Hirn und fegte es leer von Verzweiflung und Leid, die es erdrücken wollten. Und in ihm sprach es: „Es soll geschehen; ich hab’ mein Wort gegeben; doch – umsonst, Rolf Lembeck, ist auch nicht der ärmste Tropfen Deines Minneglücks!“ Dann wandte er sich wieder zu der Dienerin. „Versteh’ mich, Sine, und künd’ es auch den anderen: drei Tage lang, bis daß ich Eure Zungen löse geht von dem Tod nicht Kunde über unsere Mauern! Das Zügenglöcklein soll nicht läuten;
bestelle mir sogleich Ambrosius, meinen alten Diener; laß unten in meinem Gemach den Priester mich erwarten!“
Im Hofe zu Dorning saß gegen Abend des nächsten Tages der Ritter Rolf Lembeck unter der Burglinde. – Er war allein; noch am Tage seiner Rückkunft, als vorher die Pappel und sein Glück gefällt worden, hatte Frau Wulfhild eilig nach ihrem Hof in Holstein müssen: zwischen Meyer und Gesinde, so hatte sie gesagt, sei Unfriede ausgebrochen und die Gegenwart der Herrin nöthig worden. Aber es lag wohl Tieferes am Grunde; im Augenblick der Abreise hatte Rolf einen Zug wie von versteinertem Entsetzen in ihrem Antlitz wahrgenommen; die Leidenschaft zu ihrem Eheherrn schien völlig ausgelöscht. Nach ihrer Abfahrt hatte der Junker Bookwald ihm geplaudert: es heiße, Hans Pogwisch, des Ritters Vorwirth, sei nicht durch seine Wunde, er sei durch Gift vom Leben in den Tod gekommen; so werd’ in der Gesindestub’ geredet; woher es komme, wiss’ er nicht; als aber die Schürzenmagd es an die Frau
vertragen, sei die zum Tod erschrocken worden und hab’ ihr zornig Schweigen auferlegt, was doch nicht habe helfen wollen.
Darüber grübelte der Ritter, und seine Augen folgten achtlos, wie der Abendschatten allmählich den Brunnen und den ganzen Hof bedeckte. „Darum auch!“ sprach er leise; „sie wollte keinen mit sich haben; nicht mich, nicht Gaspard – den am wenigsten!“ – Dann flogen die Gedanken mit ihm nach dem Inseldorfe Borgsum; was er mit seinem Vater dort am Bau geredet hatte, kam ihm zurück: er hörte wieder das Lachen des alten Herrn bei der Geschichte von dem Orlamünde: „Geduld, mein Sohn! Was dieses Weib dir werth ist, wirst du erst sehen, wenn dich der Däne überfallen kommt! Und – mit den Schauenburgern muß man sachte gehen!“ Als aber der Tod des Pogwisch dann zur Sprache kommen, war er still geworden; einen Stein hatte er vom Boden gehoben und in den Bau geworfen. „Herrin auf Dorning und eine Gifthexe?“ hatte er überlaut gerufen. „Nein, Rolf, das soll sie nicht, und wenn sie des großen Carol Tochter wär’! Ich helfe dir, mein Sohn; aber – Geduld! denn stumpfe Pfeile erlegen dir kein Wild!“
Er fühlte noch, wie ihm der Athem derzeit bei
diesen Worten frei geworden, wie lind die Nachtluft durch sein Haar gestrichen, da er sie später und vergebens ihr entgegentrug. – Leis und in Qualen rief er ihren Namen.
Es dunkelte mehr und mehr, und der Ritter war aufgestanden, um in die Burg zurückzugehen; da drang ein dröhnender Ton vom Außenthor herein, das schon geschlossen war; dort hingen Schalltafel und Hammer in Ketten an dem Pfosten; es hatte jemand angeschlagen, um Einlaß zu begehren. Dann knarrte das größere Thor, und bald schritt aus der Einfahrt einer der Wächter über den Hof und meldete: „Ein Bote vom Schloßhauptmann zu Haderslevhuus.“
„So spät?“ Rolf Lembeck war es, als habe er unsichtbar einen Schlag erhalten. „Laß ihn hieher kommen!“
Es ritt dann einer in den Hof, und als er näher kam, erkannte der Ritter bei dem Mondlicht, das über den Seitenbau hereinschien, daß er bunt und lustig gekleidet war: von der Achsel hing ihm ein lichtroth Seidengeschnür, auch solche Feder von der Haubenkappe. Als er aber schwerfällig von feinem weißen Pferde gestiegen und, das Thier dem Knechte übergebend, mit entblößtem Haupte vor den Ritter
getreten war, sah dieser, daß es ein alter Mann sei, dessen weißer Knebelbart über einem zahnlosen Munde hing.
Der verneigte sich und begann eine lange, kaum verständliche Ansprache; doch der Ritter fiel ihm in die Rede. „Ich hab’ nicht Lust am Ueberflüssigen; mach’s Dir bequem, sag’s kurz, was wünscht Dein Herr von mir! Mir klang’s, als sollt’st Du mich zur Hochzeit laden?“
„Ihr habet recht gehört, Herr Ritter,“ sprach der Bote; „ich aber dank’ Euch für den Richtsteig.“
„Zur Hochzeit?“ frug Rolf Lembeck sinnend. „Man pfegt sonst solche Ladung am hellen Morgen zu bestehen!“
- „Verzeihet, Herr! Ich bin nur der älteste der Knechte und bin geritten, wie der Herr mich ausgesandt.“
„So sprich denn, wessen Hochzeit soll begangen werden? Will Euer Herr der Wittwerschaft Valet geben?“
Da schien der Bote sich mühsam aufzuraffen, und erst nach einer Weile sprach er: „Die Jungfrau Dagmar, des Herrn letzte Tochter ist es, zu deren Fest ich Eure Gegenwart erbitten soll.“
Der Ritter schwieg; in seinem Hirn erstickte er
den Schrei: „Du lügst!“ Nur sein Antlitz wurde braun und wieder blaß; aber der Bote sah es nicht, denn der Ritter saß im Lindenschatten. Mit trockener Stimme sprach er endlich. „So sag mir auch, wie heißt der Mann, dem solches Glück gefallen ist?“
„Herr,“ erwiderte der Alte, „ein schneller Freier ist’s gewesen! Ich sah ihn nicht, und ward sein Nam’ mir nicht genannt; doch soll er weit bekannt sein in der Welt. Es fehlt an ritterbürt’gen Zeugen; drum wollet der Jungfrau die erbetene Ehre anthun! Wenn Ihr mit Mondesaufgang kommet, wird es recht sein!“
Wieder schwieg der Ritter, und der Bote stand harrend vor ihm. Einzelne Knechte mit trüben Hornleuchten gingen über den Hof, und wenn im Flügel die Thür nach der Gesindestube aufging, flog ein Lichtschein durch die Mauerschatten; im Brunnen fielen die Tropfen von dem Eimer tönend in die Tiefe. Da kam ein junger Schritt vorüber. „Gehrt, bist Du es?“ rief der Ritter.
- „Ich bin es, Herr!“
„So nimm den Boten mit Dir und laß ihm guten Trunk geben!“
„Und was für Kunde,“ frug dieser, „bring ich meinem Herrn?“
„Geh’ nur! Wo Jungfrau Dagmar freit, darf ich nicht fehlen!“
Sie gingen, und der Ritter saß wieder auf der Lindenbank. Vergebens bohrte sein Verstand an diesen Räthseln; aber in seinem Inneren kochte es vor Weh und Grimm.
Am nächsten Tage, da schon die Abendschatten fielen, stand in einem Burggemache Gaspard der Rabe vor seinem Herrn; die Augen des klugen Gesichtleins blickten fast ermüdet. „Du siehst gar übel aus; was ist Dir?“ sprach der Ritter, der mit gestütztem Arm an einem Tische saß.
„Herr, für uns ist üble Zeit,“ erwiderte der Schreiber und sah dem anderen in die verwachten hohlen Augen. „Wenn Ihr’s erlaubt, Ihr sehet selber kaum einem Hochzeitsgaste gleich!“
Ein schweres Athmen war die einzige Antwort. „Herr!“ rief Gaspard plötzlich, „geht nicht, wohin man Euch geladen hat!“
Wie abwesend sah ihn der Ritter an: „Meinst Du? Weshalb nicht, Gaspard?“
- „Verzeihet, wenn ich von Euren letzten Tagen mehr weiß, als Ihr denket“ – und Gaspard ließ den Kopf zur Seite sinken – „Ihr seid unschuldig doch in Eurem Herzen! Herr, trauet nicht den Dänen!“
„Du weißt, es ist kein Däne, der mich geladen hat!“
- „Er ist des Königs Mann.“
Tonlos erwiderte der Ritter: „So sprich, wenn Du Unholdes von ihm wahrgenommen!“
„Herr!“ sprach Gaspard und legte die Hand auf seine schmale Brust; „soweit nicht unsere Herrin meinen Dienst begehrt, der er vorab gehöret, sind Kopf und Hand die Euren! Ich bin noch in der Nacht dem Boten nachgegangen, hab’ bis zum Morgenroth die Burg umschlichen, vom Vormittage bis zum Mittag dann: es ist, als sei sie zugemauert; kein Thor, kein Schlupfpförtlein hat sich aufgethan; ich hab’ nichts wahrgenommen. Doch – was soll Euch die Hochzeit? – Der Schloßhauptmann wird einen dänischen Junker sich geholet haben und mit dem das arme Kind zusammenschmieden lassen. Euch aber wird man aus den Hochzeitsbechern Hohn und Weh zu trinken geben! Wer weiß, Ihr trinket wohl den Tod daraus! Bleibt, gehet nicht, o lieber Herr!“
Er wollte ihm zu Füßen fallen; aber Rolf ergriff
ihn bei den Schultern und sah mit blitzenden Augen in die seinen: „Da Du es ehrlich meinst, so hör mich, Gaspard!“ Er schrie es, daß es in dem weiten Raume von den Wänden hallte: „Und wenn auch in den Tod, ich muß! Dies Kind hat mir die Seele ausgetrunken!“
„Ruf mir den Junker!“ fuhr er nach einer Weile sort. „Er soll mein schwarz Gewand mir bringen; das ziemet mir bei dieser Hochzeit! Und auch – vergiß das nicht – mein allerschärfstes Schwert! – Ihr beide, wenn Ihr wollt, dürft mich begleiten!“
– – Um ein paar Stunden später ritten sie dahin, und schon trabten die Pferde in dem Sandweg und im Schutz des dunklen Waldes. Ein leichter Wind hatte sich aufgemacht, und Wolken zogen über den Mond; über ihnen rauschte es in den Wipfeln. Rolf Lembeck, der voranritt, hatte auf dem Weg kein Wort verloren; als sie der Burg sich nahten, drückte er die linke Faust auf seine Brust, als müsse er dem Blute wehren, sie zu sprengen. Auch Gaspard hatte genug an Sorg’ und Neubegier und ließ die Zunge ruhen; nur Junker Gehrt stieß mitunter seiner Stute die Sporen in die Weichen, daß sie wild emporstieg; er mußte
seinem inneren Jauchzen Luft geben, denn er dachte an den Reigentanz mit hold geschmückten Jungfräulein, dem er entgegenreite.
„Gaspard!“ rief er; „mir ist – hört Ihr die Flöten und Geigen von der Burg herunter?“
Doch Gaspard lachte verdrossen. „Euch Jungen ist leicht gepfiffen; ich hör’ die Wetterfahnen auf den kleinen Thürmen kreischen.“
„Ei was! Ihr habt doch feine Ohren!“
Aber er blieb ohne Antwort. Sie wandten die Pferde in den finsteren Baumgang und trabten den Anberg zu der Burg hinauf. Ein heller Schein drang durch zwei offene Thore und über der Ringmauer ihnen entgegen. „Joseph und heilige Jungfrau!“ rief der Junker; „da brennt das Wachs von einem ganzen Sommer!“
„Ja, Junker,“ sagte Gaspard, „Eure Jugend wird nicht verborgen bleiben.“
So ritten sie über die Brücke durch die Thorfahrt in den inneren Hof, wo der gewaltige Bau vor ihnen aufstieg; aus seinen vielen kleinen Fensterhöhlen schoß eine Fluth von Kerzenstrahlen auf sie zu, nur links am Flügel ragte der stumpfe Thurm lichtlos in die Sternennacht. Ihren geblendeten Augen war der Hof bis an die Mauern voll von
Menschen; aber ein hochzeitliches Treiben schien es nicht; es war, als ob sie nur die Köpfe wandten und leise zu einander raunten.
Als die Reiter von ihren Rossen gesprungen und Diener vorgetreten waren, die ihnen die Thiere fortführten, stand ein großer Mann mit todtblassem Antlitz unter grauem Haupthaar vor dem Ritter; zwei Diener mit Windlichtern, deren Flammen im Nachtwind wehten, waren ihm zur Seite. Da die Herren sich im Fackelscheine sahen, stutzten sie einen Augenblick, ein jeder über des andern schwarze Tracht; dann sprach der graue Mann. „Nehmt Dank, Herr Ritter, von mir und für mein Kind! Ihr durftet heut’ nicht fehlen!“
„So dacht’ ich auch,“ erwiderte der andere beklommen. „Doch wollet mich nun führen, Herr Schloßhauptmann, auf daß ich Wunsch und Ehrerbietung der Braut zu Füßen lege!“
Der alte Ritter, der seinen Gast mit starrem Aug’ gemustert hatte, neigte das Haupt und faßte dessen Hand; die Diener mit den Lichtern schritten ihnen voran, durch die schweigenden Menschen dem Treppenthurm im Hochbau zu. Als sie hineintraten, blickte Gaspard, der mit dem Junker folgte, durch eine offene Thür, die seitwärts in die untere Halle
ging; es brannten viele Kerzen dort, sonst war es leer; nur mitten aus den Fliesen schlief ein großer Hund.
Aber der Hausherr führte sie die Wendelstiege zum oberen Stock hinan. Da sprach Rolf Lembeck im Emporsteigen: „Es ist der Hof voll Menschen, Herr; was ist es doch so todtenstille hier?“
Der Schloßhauptmann aber warf das Haupt zurück: „Mein Kind hat viel gelitten,“ sprach er; „es bedarf der Ruhe.“
Sie waren in eine große Halle eingetreten, an deren einer Seite sich viele Thüren, im Grunde ein geschlossenes Doppelthor befand; vor diesem war ein niedriger Aufbau, mit weißem Sammettuch behangen; an beiden Seiten der Halle standen Männer und Frauen, alle in feierlicher Ruhe und in schwarzen Gewändern; nur an dem Doppelthor stand ein Priester in weißem Meßkleid.
Dem jungen Ritter, da er sich umsah, ward der Athem schwer. „Herr Schloßhauptmann,“ sprach er wieder, „wollet mir sagen: ich sah noch nimmer eine Hochzeit mit so dunklen Gästen!“
Der aber erwiderte: „Seit dreien Tagen hat mein Kind sich Schwarz zur Leibfarb’ angenommen; es ist wohl seltsam; doch es ist mein letztes – so
muß ich ihr den Willen thun. Geduldet Euch, die Braut wird bald erscheinen!“
Rolf Lembeck schwieg; und unter all den Menschen war es wieder lautlos still.
Da nahte sich ein Rauschen hinter den geschlossenen Thoren, ein Zug von langsamen Schritten wurde hörbar, und indem die Thore sich öffneten, scholl, von jungen Frauenstimmen gesungen, ein De profundus wie von den Sternen nieder.
Ein Schauer schlug Rolf Lembeck durch die Glieder; aber schon hatte der Zug der Jungfrauen die Schwelle überschritten. Er streckte sich und hob den Kopf; so stand er wie erstarrt, und nur sein Auge wurde wie das eines Raubvogels. Er sah die singenden Jungfrauen eine Todtenlade von den Schultern heben und sie auf die Sammet-Bühne niederlassen; er sah in weißen Sterbgewändern ein Weib – nein, nicht ein Weib; ans weißen Binden sah ein todtes Kinderantlitz – da ließ der Bann von ihm: ein furchtbarer Schrei scholl durch die Halle. Der Gesang riß ab, und mit erhobenen Armen brach Rolf Lembeck durch die Menschen; er stürzte am Sarge nieder, er preßte seine Lippen auf das todte Antlitz seiner Liebe: „O Dagmar, das ist unsere Hochzeit!“
Und von denen, die es sahen, rührte keiner nur ein Glied.
Aber ein anderes geschah: Rolf Lembeck, ehe einer dachte, es zu hindern, hatte die Todte aus der Lade gehoben und ließ ihr schönes Haupt an seine Schulter sinken. Da fuhren die Schwerter aus den Scheiden, die Frauen schrieen auf und Stimmen flogen durch die Halle: „Wer ist’s? Der Lembeck? Haltet den Tollen, den Leichenschänder! Schlagt ihn nieder!“ Der Priester streckte die Hände nach dem Kühnen und schrie: „Anathema!“ Nur der jungen Sängerinnen eine, die der Blick aus seinem blauen Aug’ gestreift hatte, sank in die Knie und betete: „O Gott der Liebe, erbarm’ dich ihrer beider!“
Zwei Männer waren, die nicht ihr Schwert gezogen hatten: der Schloßhauptmatm der eine, der andere Rolf Lembeck. Der erstere fuhr rasch empor. „Zurück ihr Freunde!“ rief er, seine Hand ausstreckend; mein Fest – mein Kind und – mein auch dieser Ritter!“
Doch als er daraus sich ihm nahen wollte, da war Rolf Lembeck nicht mehr in der Halle. Die Todte an sich pressend, die Augen wie im Wahnsinn aus das süße, starre Antlitz heftend, war er durch
den dahinter liegenden Saal geflohen; die Thür genüber warf er eben zu.
Der Saal war leer: die Kerzen flammten, Rolf aber floh, er wußte nicht wohin; nur irgendwo allein, in Sicherheit mit ihr! Nur eine, noch eine stille letzte Stunde mit der Todten! Ob Jemand folge, daran dachte er nicht; er kam durch eine Thür in kleine düstere Gemächer, wo nur ein Mondstreif auf das Todtenantlitz fiel; hinunter eine Treppe, durch einen Vorplatz, eine große Thür; da schlug der Kerzenglanz aus einer weiten Halle ihm entgegen; von der Mitte des Fußbodens erhob sich ein gewaltiger Hund und rannte mit heiserem Knurren auf ihn zu. Rolf schloß die Leiche fester an sich und hatte schon die Hand am Schwert, da sprang das große Thier mit zärtlichem Winseln an ihm auf und leckte die herabhängende Hand der Todten. „Heudan, Du bist es, Heudan!“ rief er und stand einen Augenblick und legte die Hand liebkosend auf den Kopf des Thieres.
Aber drüben aus der Thür der Thurmtreppe trat die furchtbare Gestalt des Schloßhauptmannes; ein Wuthschrei flog zu ihm hinüber; da floh er durch dieselbe Thür zurück und warf sie hinter sich in’s Schloß. Noch ein paar finstere Räume, dann
strauchelte sein Fuß an einer Treppenstiege; er klomm hinauf, da kam es hinter ihm – nein, es war nur der Hund. Die Treppe wand sich höher, nur hier und da ein Mauerloch, durch das die Nachtluft zog, dann oben eine offene Luke. Er stieg hindurch und warf sie zu.
Es war die Platte des stumpfen Thurmes, die er erklommen hatte; vom Hofe drunten kam kein Laut herauf; sanft rauschte der Lindenwipfel aus der Tiefe, denn der Abendwind war fast entschlafen; über ihm flammte der Himmel in seinen Millionen Sternen, und von Süden schimmerte die Bucht des kleinen Beltes; über die Wasser hatte der Mondschein eine Brücke von Licht geworfen.
Rolf lag auf beiden Knien, die Liebste in seinem Schooß. „Weg mit den Todtenbinden!“ sprach er leise und löste die breiten weißen Bänder, die das zarte Haupt umschlossen hielten; wie traurige Freude flog es durch seine Augen, als jetzt das schwarze Seidenhaar hervorquoll; „Du bist es, süße, heilige Dagmar!“
Da schollen Schritte von der Wendelstiege her; rasch und zornig kamen sie herauf. Er sprang empor, er lief zur Brüstung und hielt die Todte auf beiden Armen in den weiten Himmelsraum hinaus:
da war noch Platz für sie und ihn; auf Erden nicht mehr! – plötzlich wandte er den Kopf, da sah er die Fallthür aufgeschlagen, und mit halbem Leibe ragte die Gestalt des Schloßhauptmannes daraus hervor. Aber er stieg nicht weiter; mit entsetzten Augen streckte er die Arme aus und rief in bitterem Flehen: „Rolf! Rolf Lembeck, gieb mir mein Kind! Was gilt Dir noch der todte Leib?“
Der aber wandte seine Augen wieder zu dem bleichen Antlitz. „O Dagmar!“ rief er; „Süße, Selige! Du bist ja todt! Breit’ Deine Flügel nun und nimm mich mit Dir!“ Er küßte sie, er schlang die Arme fest um ihren Leib; da war mit einem Satz der greise Mann ihm in dem Rücken; er stürzte vor und griff nach ihm; doch seine Faust fuhr in das Leere. Ihm war, als flög’ ein Schatten ihm vorüber; er sah jenseit der Brüstung, wie in der Sternennacht die Sterbekleider seines Kindes wehen; dann nichts mehr; nur von unten auf der Nachhall eines schweren Falles. Der Abendhauch fuhr über die leere Thurmdecke; der Hund stand mit den Vordertatzen auf den Zinnen und sah winselnd in die Tiefe.
Da war sein Zorn als wie ein Rauch verflogen; er fiel auf seine Knie und faltete die Hände: „Herrgott,
so nimm sie beide gnädig in Dein Reich!“ Und über ihm flimmerten die Nachtgestirne in ihrer stummen unerschütterlichen Ruhe.
– – So endeten zwei schöne Menschenblüthen, und so endet diese Mähre; es war, wie es in unserem alten Liede heißte „daß Liebe stets nur Leiden am letzten Ende giebt.“
„Und die Anderen?“ fragt Ihr! „was ward aus denen?“
– Die Anderen? – Ich habe von ihnen weiter nichts erkunden können; es gab ja Klöster derzeit, in die hinein sich ein beraubtes, auch ein verpfuschtes Leben flüchten konnte! Was liegt daran? Die Geräusche, die ihre Schritte machten, sind seit Jahrhunderten verhallt und werden nimmermehr gehört werden.