Waldwinkel.
Ueber dem Dache des Rathhauses, das zugleich die Wohnung des städtischen Bürgermeisters bildete, kreuzten die ersten Schwalben in der Frühjahrssonne; auf der Vorstraße standen die „Bürgermeistersbuben“ und suchten vergebens die Königin der Luft mit den Lehmkugeln ihres Pustrohrs zu erreichen. Drinnen aber in seinem Geschäfts- und Arbeitszimmer saß der Gestrenge selbst, der außer dem genannten Amte auch das eines Gerichtsdirectors und Polizeimeisters in seiner Person vereinigte, vertieft in einen dicken Actenfascikel, nicht achtend des heiteren Glanzes, der durch die Fenster zu ihm hereinströmte. Da wurde draußen flüchtig an die Thür gepocht, und auf das verdrossene „Herein“ des Beamten trat ein brauner stattlicher Mann über die Schwelle, der indeß die erste Hälfte der Vierziger schon erreicht haben mochte.
Der Bürgermeister erhob das rothe behagliche Gesicht aus seinen Acten, warf einen flüchtigen Blick auf den Eintretenden und sagte, als er die feinere Kleidung desselben bemerkt hatte, mit einer runden Handbewegung: „Wollen Sie gefälligst Platz nehmen; ich werde gleich zu Ihren Diensten sein.“ Dann steckte er den Kopf wieder in die Acten.
Der Andere aber war einen Schritt näher getreten. „Bist du jetzt immer so fleißig, Fritz?“ sagte er. „Du littest ehemals nicht an dieser Krankheit.“
Der Bürgermeister fuhr empor, hakte die Brille von der Nase und starrte den Sprecher aus seinen kleinen gutmüthigen Augen an. „Richard, du bist es!“ rief er. „Mein Gott, wie gut du mich noch kennst! Und doch, mein Scheitel ist kahl und der Rest des Haares grau geworden! Ja, ja, ein solches Bürgermeisteramt!“
Die kleine, beleibte Gestalt war hinter dem Actentisch hervorgekommen. Voll Erstaunen blickte er in das Antlitz des ihn fast um Kopfeshöhe überragenden Freundes: „Das,“ sagte er und tätschelte mit seiner kurzen Hand über das noch glänzende braune Haar
desselben, „das ist natürlich nur Perrücke; aber die Augen, diese unnatürlich jungen Augen, das sind doch wohl noch die echten, alten aus unseren lustigen Tagen!“
Der Gast ließ lächelnd diesen Strom des Geplauders über sich ergehen, während der Bürgermeister ihn neben sich auf’s Sopha niederzog. „Und nun,“ fuhr der Letztere fort, „wo kommst du her, was bist du, was treibst du?“
„Ich, Fritz?“ erwiderte scherzend der Andere, „ich suche einen Inhalt für das noch immer leere Gefäß meines Lebens; oder vielmehr,“ fügte er etwas ernster hinzu, „ich suche ihn nicht, ich leide nur ein wenig an dieser Leere.“
Der Bürgermeister sah ihm treuherzig in die Augen. „Du, Richard?“ sagte er, „der auf der Universität alle Facultäten abgeweidet hat! Will doch ein alter Camerad unter einem gewissen Anonymus sogar deine Feder in einer botanischen Zeitschrift entdeckt haben!“
„Wirklich, Fritz? – Er hat nicht fehl gesehen.“
Der kleine dicke Mann besann sich. „Du bist noch ledig?“ fragte er. „Ja? noch immer? Hm! Du
warst ein Schwärmer, Richard! Weißt du noch, als wir Studenten auf der Dornburg tanzten? Du hattest derzeit die Braut zu Hause; du wolltest nicht tanzen; du saßest in der Ecke bei dem langen Wassermann, der wegen seiner großen Stiefeln nicht tanzen konnte, und trankest nur Wein, sehr viel Wein, Richard! Du wolltest die seligen Tänze nicht entweihen, die du daheim mit ihr getanzt hattest!“
Der Andere war ein wenig still geworden, während der Bürgermeister in plötzlicher Unruhe seine goldene Uhr aus dem Abgrund seiner Tasche zog. „Sag’ mir, Liebster,“ begann er wieder, „du schenkst mir doch den heutigen Tag?“
„Ich muß am Nachmittag noch weiter.“
„Immer noch der alte Meister Unruh?“
„Verzeih, die Extrapost ist schon bestellt! Ihr habt hier einige Meilen nördlich zwischen Haidesumpf und Wald noch eine wenig abgesuchte Flora!“
„Aha!“ rief der Bürgermeister, „bei Föhrenschwarzeck, wo die verrückten Junker wohnen, die weder einen Baum fällen, noch ein Stück Haide aufbrechen wollen!“
Der Gast nickte. „So sagte man mir. Es soll
dort in heimlichen Gründen noch allerlei sonst Verschwundenes zu finden sein.“
„Nun, Richard, da könntest du dich ja im Narrenkasten einquartieren!“
„Im Narrenkasten?“
„Freilich! Der Vater der jetzigen Herren hatte noch seine Specialtollheit! Da ihm sein Schloß zu groß wurde, so baute er sich hinaus zwischen Haide und Wald; ein Häuslein, alle Fenster nach einer Seite und drum herum eine Ringmauer, zwanzig Fuß hoch! Und dies Castellchen nannte er den „Waldwinkel“, die Leute aber nennen’s noch heut’ den „Narrenkasten“. Dort hat er mitten zwischen all’ dem Unkraut seine letzten Jahre abgelebt.“
Der Andere hatte aufmerksam zugehört. „Wer wohnt denn jetzt darin?“ fragte er.
„Jetzt? Ich denke, Niemand; oder doch nur Eulen und Iltisse.“
– – Im Nebenzimmer schlug eine Uhr. Der Bürgermeister war aufgesprungen. „Schon elf!“ sagte er. „Weißt du, Alter! Ich habe noch einen gerichtlichen Actus vor mir; du warst ja in der Verbindung unser
Schriftwart,“ und schmunzelnd fuhr er fort: „da du so eilig bist, wir würden noch ein Plauderstündchen mehr gewinnen, wenn du heute dieses Amt noch einmal im Dienste unserer hochnothpeinlichen Gerichtsbarkeit verrichten wolltest!“
Richard lachte. „Hast du denn keinen Protocollführer?“
„Nein, Liebster; da ich die Würde und das Salarium eines Stadtsecretarius ebenfalls in meiner Person vereinige, so muß ich auch die Lasten dieses Amtes tragen, wenn nicht der Zufall einen so fähigen und gefälligen Freund mir in das Haus bringt.“
– – Einige Minuten später saßen Beide am grünen Tisch in dem nebenan liegenden Gerichtszimmer. „Du wirst dich vielleicht noch des gelbhaarigen Theologen erinnern,“ sagte der Bürgermeister, während er sich mit behaglicher Würde in dem etwas erhöhten Präsidentensessel niederließ, „den wir seiner Zeit wohl nicht mit Unrecht den Denuncianten nannten! Wir haben ihn seit Jahren hier am Ort; der Herr Magister betreibt ein einträgliches Pensionat und steht bei Adel und Honoratioren in hohem Ansehen;
man wollte ihn eben auch noch mit dem Gottesdienst an unserem Landeszuchthaus hier betrauen.“
„Was ist mit ihm?“ fragte der improvisirte Actuarius, der schon seine Feder geschnitzt und den gebrochenen Bogen vor sich hingelegt hatte. „Ich entsinne mich eigentlich nur seines abgetragenen Frackes und seiner großen rothen Hände.“
„Du wirst ihn gleich erscheinen sehen,“ sagte der Bürgermeister, mit der einen Hand den über dem grünen Tisch hängenden Glockenstrang erfassend; „er hatte die Vormundschaft über ein elternloses Mädchen; sie ist Jahre lang in seinem Hause gewesen, und er hat sie theilweise mit durch seine Schule laufen lassen. Jetzt ist er eines versuchten Verbrechens gegen dieses Mädchen auf das Kläglichste verdächtig; es handelt sich heut’ nur noch um eine Gegenüberstellung Beider.“
Der Bürgermeister zog die Klingel, und der eintretende Gefangenwärter erhielt Befehl, den Magister vorzuführen.
Es war eine widerwärtige Erscheinung, die sich jetzt, dem an der Thür zurückbleibenden Gefängnißwärter
vorbei, mit einem geschmeidigen BücklngBückling in das Zimmer hineinwand.
„Sie brauchen nicht zu weit vorzutreten!“ sagte der Bürgermeister, und der Magister zuckte sogleich um einige Fuß breit wieder rückwärts; gleich darauf erhob er seinen platten Kopf mit dem wie angeklebten Gelbhaar gegen die Zimmerdecke und begann sich zu den schwersten Eiden für seine Unschuld zu erbieten.
Ohne darauf zu achten, zog der Bürgermeister aufs Neue die Glocke, und „Franziska Fedders“ trat herein.
Es war die schmächtige Gestalt eines eben aufgeblühten Mädchens; sie war nicht grade hübsch zu nennen; den Kopf mit den aufgesteckten dunkelblonden Flechten trug sie etwas vorgebeugt, der Mund war vielleicht zu voll, die Nase ein wenig zu scharf gerissen; und als sie jetzt ihre tiefliegenden grauen Augen aufschlug, murmelte der Actuarius unwillkürlich vor sich hin: „Scientes bonum et malum.“
Mit abgewandtem Kopf und mit Gluth übergossen, aber mit unverrückter Sicherheit wiederholte sie jetzt die Hauptangaben ihrer früheren Aussagen gegen ihren
einstigen Vormund, während dieser seine knochigen Hände rang und seufzende Betheuerungen ausstieß.
Als sie geendet hatte, begann der Magister erst andeutungsweise, dann immer deutlicher sie eines Verhältnisses mit seinem Gehülfen zu beschuldigen; sie seien verschworen, ihn zu stürzen, um dann selbst das einträgliche Pensionat zu übernehmen.
Mit offenem Munde und vorgestrecktem Halse horchte das Mädchen diesen Beschuldigungen. Richard, der die Feder hingelegt hatte, glaubte zu sehen, wie von der Gluth des Hasses ihre Augen dunkler wurden. Plötzlich warf sie den Kopf empor. „Sie lügen, Sie!“ rief sie, und wie eine scharfe Schneide fuhr es aus dieser jungen Stimme. Aber, wie über sich selbst erschrocken, flogen ihre Blicke unstät und hülfesuchend umher, bis sie in den ernsten Männeraugen haften blieben, die so ruhig zu ihr hinüberblickten.
Der Magister hatte beide Arme zum Himmel aufgestreckt. „Sie! du nennst mich Sie, Franziska! Du, die ich in der Liebe des Lammes –“ Er brach in sentimentale Thränen aus; er hatte etwas vom winselnden Affen an sich.
„Ich nenne Sie gar nicht mehr!“ sagte Franziska ruhig, und ihre Augensterne ruhten noch immer in denen des ihr fremden Mannes, als habe sie hier einen Halt gefunden, den sie nicht mehr zu verlassen wage.
– – Ueber dessen Seele fuhr es wie ein Traum, das stille Haus am Waldesrand tauchte vor seinem inneren Auge auf; ein einsamer Mann und ein verlassenes Mädchen wohnten dort. Sie waren nicht mehr einsam und verlassen; aber um sie her in der lauen Sommerluft war nur der schwimmende Duft der Kräuter, das Rufen der Vögel und fernab aus der stillen Lichtung der unablässige Gesang der Grillen. – –
Der Klang der Botenglocke schrillte durch das Zimmer. Als Richard aufblickte, sah er eben das Mädchen aus der Thür verschwinden, der Magister wurde vom Gefängnißwärter abgeführt. – – „Ein gescheidtes Rackerchen, diese Franziska,“ sagte der Bürgermeister, indem er das sauber abgefaßte Protocoll durch seine Namensunterschrift vollzog. „Schade, daß sie nichts in bonis hat; wir wissen nicht recht, wohin mit
ihr; für den gewöhnlichen Mägdedienst hat sie zu viel, für eine höhere Stellung zu wenig gelernt.“
Sein Gast war im Zimmer auf und ab gegangen. „Freilich, ein anziehendes Köpfchen!“ sagte er; aber seine Worte klangen tonlos, als sei in der Tiefe die Seele noch mit Anderem beschäftigt.
„Hm, Richard,“ fuhr der Bürgermeister, seine Acten zusammenbindend, fort, „da stimmst du mit unserem Physikus; er meint – er hat mitunter solche Einfälle – die Augen seien ein halbes Dutzend Jahre älter, als das Mädchen selbst.“
„Und wer ist jetzt ihr Vormund, Fritz?“
„Ihr Vormund? – sie hat keinen Verwandten; wir hatten augenblicklich keinen Anderen, es ist der Schustermeister an der Hafenecke; seit Beginn der Untersuchung wohnt sie auch bei ihm.“
– – Eine Stunde später sah man den Gast des Bürgermeisters aus einem kleinen Hause an der Hafenecke treten und durch eine gegenüberliegende Straße aus der Stadt hinausschreiten.
Draußen vor den letzten Häusern hielt ein offener Wagen. Ein großer, löwengelber Hund, den der auf
dem Kutschersitze nickende Postillon an der Leine hatte, riß sich los und sprang, freudewinselnd und mit der mächtigen Ruthe den Staub der Straße peitschend, dem Kommenden entgegen.
„Leo, mein Hund, bist du da? Ja, ich komme, ich komme schon!“ Ein lebensfroher Ton klang aus diesen Worten, unter denen der Hund die Liebkosungen seines Herrn entgegennahm.
Vor ihnen, im hellsten Sonnenscheine breitete sich ein weites Tiefland aus, zu dem in Wellenlinien sich der Weg hinuntersenkte. Bald saß der Wanderer auf dem Wagen, und während der Hund in großen Sätzen nebenher sprang, rollte das Gefährte in den jungen Frühling hinaus, der blauen Waldferne zu, die in kaum erkennbaren Zügen den Horizont begrenzte.
Oben in den Eichbäumen, die vor dem Kruge des Dorfes Föhrenschwarzeck standen, lärmten die Elstern, welche ihr Nest gegen zwei rothbrüstige Thurmfalken zu vertheidigen suchten; die Gäste in der Schenkstube konnten kaum ihr eigenes Wort verstehen.
„Weiß der Henker!“ rief der Krämer aus dem Nachbarstädtchen, der eben mit dem gegenübersitzenden Wirthe sein Quartalgeschäft gemacht hatte, „was Euch hier alles für Raubzeug um die Ohren fliegt! Dürfen auch die Falken nicht geschossen werden, Inspector?“
Der alte graubärtige Mann in brauner Joppe, an den diese Worte gerichtet waren, nahm mit der kleinen Messingzange eine Kohle aus dem auf dem Tische stehenden Becken, legte sie auf seine eben gestopfte kurze Pfeife und sagte dann, während er inmittelst die ersten Dampfwolken stoßweise über den Tisch blies: „Ich weiß nicht, Pfeffers, ich bin nicht für die Falken; da müßt Ihr den neuen Förster fragen.“ Er schien, obschon es noch in der Morgenfrühe war, schon weit im Feld umher gewesen und nur zu kurzer Rast hier eingekehrt zu sein; denn die hellen Schweißperlen standen noch auf seiner Stirn und seinen Strohhut hatte er vor sich auf dem Schooße liegen.
„Ein neuer Förster?“ fragte der Krämer. „Wo habt Ihr den denn her bekommen?“
„Weiß nicht genau,“ erwiderte der Alte; „da droben aus dem Reich, mein’ ich; aber schießen kann er, wie gehext, und auf die Dirnen ist er, wie der Teufel!“
„Oho, Casper-Ohm! Da nehmt Eure Ann-Margreth in Obacht!“
„Wird sich schon von selber wehren, Pfeffers,“ meinte der Wirth.
Aber der Krämer hatte noch mehr zu fragen. „Hm, Inspector!“ sagte er, „Ihr bekommt ja allerlei Neues in Euren Wald; Eure Herren müssen auf einmal ganz umgängliche Leute geworden sein! Habt Ihr denn wirklich den alten „Narrenkasten“ an einen Fremden, an einen ganz landfremden Mann vermiethet?“
„Diesmal trefft Ihr ins Schwarze, Pfeffers,“ sagte der Alte, indem er einen ungeheuren, roh gearbeiteten Schlüssel aus der Seitentasche seiner Joppe hervorzog; „ein paar Wagen mit Ingut sind schon gestern aus- und eingepackt worden; hab’ des Teufels Arbeit damit gehabt, und muß auch jetzt wieder hin, um Fenster aufzusperren und nach dem Rechten zu sehen; meinen Phylax hab’ ich gestern Abend hinter die hohe
Hofmauer gesperrt, damit doch eine vernünftige Creaturenseele bei all’ den Siebensachen über Nacht bliebe.“
„Und woher ist dieser Miethsmann denn gekommen?“ fragte der Krämer wieder.
„Weiß nicht, Pfeffers; kümmert mich auch nicht,“ erwiderte der Alte; „kann’s selbst nicht klein kriegen. Aber der Herr soll ein Botanikus sein; dergleichen Schlages liebt ja auch Alles, was wild zusammenwächst.“
Der Wirth, der inzwischen seine mit Kreide auf die Tischplatte geschriebene Abrechnung mit dem Krämer noch einmal revidirt hatte, beugte sich jetzt vor und sagte, seine Stimme zu vertrautem Flüstern dämpfend, obgleich Niemand außer den Dreien im Zimmer war: „Wißt Ihr noch, vor Jahren, als in den Blättern so viel von der großen Studentenverschwörung geschrieben wurde, als sie die Könige all’ vom Leben bringen wollten, – da soll er mit dabei gewesen sein!“
Der Krämer ließ einen langgezogenen Pfiff ertönen. „Da liegt’s, Inspector!“ sagte er, „ich weiß, Ihr hört’s nicht gern; aber die Junker, wenn sie
jung sind, haben schon mitunter solche Mucken; Euer Junker Wolff ist ja derzumalen auch bei dem Wartburgstanze mit gewesen.“
Der Alte sagte nichts darauf; aber der Wirth wußte noch Weiteres zu erzählen, als wenn seine klugen Elstern ihm’s von allen Seiten zugetragen hätten. – Hier aus der Gegend sollte der Fremde sein; aber drüben bei den Preußen hatte man ihn jahrelang in einem dunklen Kerkerloch gehalten; weder die Sonne, noch die Sterne der Nacht hatte er dort gesehen; nur der qualmige Schein einer Thranlampe war ihm vergönnt gewesen; dabei hatte er ohne Kunde, ob Morgen oder Mitternacht, Tag aus Tag ein gesessen und viele dicke Bücher durchstudirt.
„Aber, Casper-Ohm,“ sagte der Krämer und hielt dem Wirthe seine offene Tabaksdose hin, „Ihr seid doch nicht etwa wieder in einen Grenzproceß verzwirnet?“
„Ich? Wie meint Ihr das, Pfeffers?“
„Nun, ich dachte, Ihr wärt wieder einmal in der Stadt bei dem Winkeladvocaten, dem Actuariatsschreiber gewesen, bei dem man für die Kosten die Lügen scheffelweis drauf zu bekommt.“
Casper-Ohm nahm die dargebotene Prise. „Ja, ja, Pfeffers,“ sagte er, einen Blick durchs Fenster werfend, „wenn sie einen nicht in Frieden leben lassen! Hört einmal, wie die armen Heisters schreien!“
„Freilich, Casper-Ohm. Aber wie ging’s denn weiter mit dem Herrn Botanikus?“
„Mit dem? – Nun, glaubt es oder nicht! Eines Tages ist er plötzlich zu Hause angekommen; aber es ist für ihn doch immer noch zu früh gewesen; denn als er mit seinen blinden Augen über die Straße stolpert, wird er von einer Carriole zu Boden gefahren, die eben lustig über das Pflaster rasselt.“
„Das verdammte Gejage!“ rief der Krämer.
„Ja, ja, Pfeffers; Ihr kennt das nicht, Ihr seid ein lediger Mensch; aber der Herr und die feine Dame, die darin saßen, konnten nicht zwischen die Pferdeohren hindurch sehen; sie hatten zu viel an ihren eigenen Augen zu beobachten.“
„Und hatte er Schaden genommen, der arme Herr?“
„Nein, Pfeffers, nein, das nicht! Aber es ist seine eigene Frau gewesen, die Dame, die mit dem Baron in der Carriole saß.“
Der Krämer ließ wieder seinen langen Pfiff ertönen. „Das ist ’ne Sache; so ist er verheirathet gewesen, als die Preußen ihn gefangen haben! Nun, die Frau wird er wohl nicht mit sich bringen!“
„Sollte man nicht glauben,“ meinte Casper-Ohm; „denn er soll sich’s noch einen meilenlangen Proceß haben kosten lassen, um nur den Kopf aus diesem Eheknoten frei zu kriegen.“
„Und der Baron, was ist mit dem geworden?“
„Den Baron, Pfeffers? Den hat er todtgeschossen; und dann ist er in die weite Welt gegangen, um sich all’ den Verdruß an den Füßen wieder abzulaufen. Nein, Freundchen, die feine Dame wird er wohl nicht mit her bringen, aber die alte taube Wieb Lewerenz aus Eurer Stadt, und das ist auch eine gute Frau. Sie hat ihren Dienst als Waisenmutter quittirt und kommt nun auf ihre alten Tage in den Narrenkasten.“
Der Inspector war inzwischen aufgestanden. – „Schwatzt Ihr und der Teufel!“ sagte er, indem er lachend auf die beiden Anderen herabsah; dann trank er sein Glas aus und schritt, den schweren Schlüssel in der Hand, zur Thür hinaus.
– – Unter dem Eichbaum durch, auf welchem der Falke von dem indeß eroberten Neste auf ihn herabsah, ging er aus dem Gehöfte auf den Weg hinaus, welcher hier, vom Nordende des Dorfes, zwischen dicht mit Haselnußbüschen bewachsenen Wällen auf die Hauptlandstraße hinausführte. Schon auf der Mitte desselben aber bog er durch eine Lücke des Walles nach links in einen Fußweg ein; in der schon drückenden Sonne schritt er auf diesem über einige grüne, wellenförmig sich erhebende Saatfelder einer mit Eichenbusch besetzten Moorstrecke zu, hinter welcher in breitem Zuge, und noch in dem bläulichen Duft des Morgens ein aus Eichen und stattlichen Buchen gemischter Laubwald seine weichen Linien gegen den blauen Himmel abzeichnete. Der Alte trocknete mit seinem Tuch den Schweiß sich von der Stirn, als er endlich in diese kühlen Schatten eintrat; über ihm aus einer hohen Baumkrone schmetterte eine Singdrossel ihren Gesang ins weite Land hinaus.
Ein Viertelstündchen mochte er so gewandert sein, und der ihn umgebende Laubwald hatte inzwischen einem Tannenforste Platz gemacht, als sich, aus einem
Seitensteige kommend, zwei andere Wanderer zu ihm gesellten.
„Geht’s denn recht hier nach dem Narrenkasten?“
Ein Bauernbursche fragte es, der einem zwar einfach, aber städtisch gekleideten Mädchen ihren Koffer nachtrug.
Der Alte nickte. „Ihr könnt nur mit mir gehen.“
„Aber ich will zum Waldwinkel,“ sagte das Mädchen.
„Wird wohl auf Eins hinauslaufen. Wenn Sie im Waldwinkel was zu bestellen haben, so ist’s schon richtig hier.“
„Ich gehöre dort zum Hause,“ erwiderte sie.
Der Alte, der bisher seinen Weg ruhig fortgesetzt hatte, wandte sich nach ihr zurück und seine Augen blickten immer munterer, während er sich das junge Wesen ansah. „Nun,“ sagte er, „die Frau Lewerenz hätte ich mir, so zu verstehen, um ein paar Jährchen älter vorgestellt.“
Aber das Mädchen schien für solche Späße wenig eingenommen. Sie sah ihn mit ihren großen Augen an und sagte: „Ich heiße Franziska Fedders. Die
Frau Lewerenz wird wohl mit dem Herrn schon dort sein.“
„Da irren Sie denn doch, Mamsellchen,“ meinte der Alte, indem er mit der einen Hand vor ihr den Hut zog und mit der anderen ihr den großen Schlüssel zeigte; „die Herrschaft kommt erst heute Abend; aber Einlaß sollen Sie drum doch schon bekommen.“
Sie stutzte; aber nur einen Augenblick ruhte der Zeigefinger an der Lippe. „Es ist gut,“ sagte sie, „es paßte nicht anders mit dem Fuhrmann; lassen Sie uns gehen, Herr Inspector!“
Und so wanderten sie auf dem schattigen, mit trockenen Tannennadeln bestreuten Steige mit einander fort; immer riesiger wurden die Föhren, die zu beiden Seiten aufstiegen und ihre Zweigen über sie hinstreckten. Plötzlich öffnete sich das Dickicht; eine mit Wiesenkräutern bewachsene, muldenartige Vertiefung, gleich dem Bette eines verlassenen Flusses, zog sich quer zu ihren Füßen hin, während jenseits auf der Höhe wiederum ein Eichen- und Buchenwald seine Laubmassen ausbreitete. Nur ihnen gegenüber zeigte sich eine Lücke, durch welche man bis zum Horizont
auf ein braunes Haideland hinausblickte. Zur Linken dieser Durchsicht aber, mit der anderen Seite sich hart an den Wald hinandrängend, ragte ein altes Backsteingebäude, das durch sein hohes Dach ein fast thurmartiges Aussehen erhielt; eine Mauer, über welche nur die vier Fenster des oberen Stockwerks sichtbar waren, trat, von den beiden Ecken der Fronte auslaufend, in ovaler Rundung fast an den Rand der Wiesenmulde hinaus.
Der Alte, der während des Gehens Franziska von seinen Einzugsmühen unterhalten hatte, war stehen geblieben und wies schweigend nach dem mit schwerem Metallbeschlag bedeckten Thore, das sich gegenüber in der Mitte der Mauer zeigte. Oberhalb desselben in einer Sandsteinverzierung befand sich eine Inschrift, deren einst vergoldete Buchstaben bei dem scharfen Sonnenlichte auch aus der Ferne noch erkennbar waren. „Waldwinkel“ buchstabirte Franziska.
„Oho, Phylax!“ rief der Inspector. „Hören Sie ihn, Mamsellchen; er hat schon meinen Schritt erkannt!“
Aus dem verschlossenen Hofe drüben hatte sich das Bellen eines Hundes hören lassen; zugleich erhob sich von einem Eichenaste, der aus dem Walde auf das Dach hinüberlangte, ein großer Raubvogel und kreiste jetzt, seinen wilden Schrei ausstoßend, hoch über dem einsamen Bauwerk.
Sie waren indeß auf der kaum noch sichtbaren Fortsetzung des Waldsteiges in die Wiesenmulde hinabgegangen. Die nach Süden gelegene Frontseite des immer näher vor ihnen aufsteigenden Gebäudes war von der Sonne hell beleuchtet, sogar an den Drachenköpfen der Wasserrinnen, welche unterhalb des Daches gegen den Wald hinausragten, sah man die Reste einstiger Vergoldung schimmern. Von den beiden Wetterfahnen, mit welchen an den Endpunkten die kurze First des Daches geziert war, hatte die eine sich fast ganz im grünen Laub versteckt, während die andere sich regungslos am blauen Himmel abzeichnete.
Und jetzt war das jenseitige Ufer erstiegen, und der Inspector hatte den Schlüssel in dem Bohlenthore umgedreht.
Ein schattiger, mit Steinplatten ausgelegter Hof
empfing sie, während der Pudel mit Freudensprüngen an seinem Herrn emporstrebte. – Zur Linken des Eingangs war ein steinerner Brunnen, neben dem ein augenscheinlich neu angefertigter mit Wasser gefüllter Eimer stand; an der Mauer des Hauses, an welcher eben der Sonnenschein hinabrückte, wucherten hohe, mit Knospen übersäete Rosenbüsche; die zu beiden Seiten der Hausthür auf den Hof gehenden Fenster wurden fast davon bedeckt. „Der alte Herr,“ sagte der Inspector, „hat sie selber noch gepflanzt.“
Dann traten sie über ein paar Stufen in das Haus. – Zur Linken des Flurs lag die Küche; zur Rechten ein einfensteriges Zimmer, dessen Ausrüstung schon die künftige Bewohnerin erkennen ließ. Zwar das hohe Bettgerüst dort entbehrte noch des Umhanges wie des schwellenden Inhalts; aber in der Ecke standen Spinnrad und Haspel und über der altfränkischen Commode hing ein desgleichen Spiegelchen, hinter welchem nur noch die kreuzweis aufgesteckten Pfauenfedern fehlten. „Also, das ist nicht Ihr Zimmer, Mamsellchen!“ sagte der Alte, noch einmal einen Scherz versuchend.
Als er keine Antwort erhielt, deutete er auf seinen Pudel, der lustig die zum oberen Stockwerk führende Treppe hinaufsprang. „Folgen wir ihm!“ sagte er; „dort hinten sind nur noch die Vorrathskammern.“
Oben angekommen, schloß er die Thür zu einem mäßig großen Zimmer auf, das bis auf die Vorhänge völlig eingerichtet schien. Die beiden Fenster, mit denen es über die Wiesenmulde auf den Tannenwald hinaussah, waren die mittleren von den vieren, welche sie von drüben aus erblickt hatten. Vor dem zur Linken stand ein weich gepolsterter Ohrenlehnstuhl, an der Seitenwand des anderen ein Schreibtisch mit vielen Fächern und Schiebladen; neben diesem, bereits im Ticktack ihren Pendel schwingend, hing eine kleine Kukuksuhr, wie sie so zierlich weit droben im Schwarzwalde verfertigt werden. Eine altmodische, aber noch wohl erhaltene Tapete, mit roth und violett blühendem Mohn auf dunkelbraunem Grund, bekleidete die Wände.
Schweigend, aber aufmerksam betrachtete Franziska Alles, während sie dem Alten die Fensterflügel öffnen half.
Zu jeder Seite dieses Blumenzimmers und durch eine Thür damit verbunden, lag ein schmäleres; beide nur mit einem Fenster auf den Tannenwald hinausgehend. In dem zur Linken befanden sich außer einigen Stühlen nur noch ein eisernes Feldbett und ein paar hohe Reisekoffer. Franziska warf nur einen flüchtigen Blick hinein, während ihr Führer schon die Thür des gegenüberliegenden geöffnet hatte.
„Und nun giebt’s was zu lesen!“ rief dieser. „Der Herr Doctor ist selbst hier außen gewesen und hat einen ganzen Tag da drinn’ gesessen.“
Und wirklich, es war eine stattliche Hausbibliothek, die hier in sauberem Einband auf offenen Regalen an den Wänden aufgestellt war. Aber während das Mädchen einen Band von Okens Isis herauszog, der ihr aus des Magisters Pensionat bekannt war, hatte der Alte dem Fenster gegenüber schon eine weitere Thür erschlossen.
Das Zimmer, in welches sie hineinführte, lag gegen Westen und im Gegensatz zu den sonnigen Räumen der Vorderseite noch in der Schattendämmerung des unmittelbar daran grenzenden Waldes.
„Sie müssen nicht erschrecken, Mamsellchen,“ sagte der Alte, indem er auf ein Eisengitter zeigte, womit das einzige Fenster nach außen hin versehen war. „Es ist kein Gefängniß, sondern auch nur so eine Liebhaberei vom alten Herrn gewesen.“
„Ich erschrecke nicht so leicht,“ sagte das Mädchen, indem sie, ihm nach, über die Schwelle trat.
„Nun, so wollen wir den Burschen Ihr Gepäck heraufbringen lassen; denn dort das Bettchen und das Jungfernspiegelchen hier auf der Commode werden doch wohl für Sie dahin beordert sein.“
Als Franziska ihre Sachen in Empfang genommen und den Burschen abgelohnt hatte, meinte der Alte: „Und jetzt, Mamsellchen, werd’ ich Sie ins Dorf zurück begleiten; es ist zwar ein Stündchen Wandern, aber einen guten Eierkuchen wird Ihnen Casper’s Marg’reth schon zu Mittag backen, und gegen Abend wird der Herr Doctor dort zu Wagen einkehren, um von mir den Schlüssel in Empfang zu nehmen.“
Allein das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich bin nun einmal hier; zu essen habe ich noch in meiner Reisetasche.“
Der Alte rieb sich das bärtige Kinn mit seiner Hand. „Aber ich werde Sie einschließen müssen; ich muß dem Herrn Doctor selbst den Schlüssel überliefern.“
„Schließen Sie nur, Herr Inspector!“
„Hm!“ – Soll ich Ihnen auch den Phylax hier lassen?“
„Den Phylax? Weshalb das? Da könnt’s am Ende doch noch auf eine Hungersnoth hinauslaufen.“
„Nun, nun, ich dachte nur, er ist so unterhaltsam.“
„Aber ich habe keine lange Weile.“
„Ja, ja; Sie haben Recht.“
„Also, Herr Inspector!“
„Also, Mamsellchen, soll ich schließen?“
Sie nickte ernsthaft; dann, ruhig hinter ihm her schreitend, begleitete sie den Alten auf den Hof hinab. Als dieser aus der Ringmauer hinausgetreten und das schwere Thor hinter ihr abgeschlossen war, flog sie behende in das Haus zurück. Mit dem Kopf an den Fensterbalken lehnend, blickte sie droben vom Wohnzimmer aus dem Fortgehenden nach, der eben durch die Kräuter an der jenseitigen Höhe emporschritt. Als
er nebst seinem Hunde drüben zwischen den Föhren verschwunden war, trat sie in die Mitte des Zimmers zurück; sie erhob ihre kleine Gestalt auf den Zehen, athmete tief auf, und langsam um sich blickend, drückte sie beide Hände auf ihr Herz. Ein zufriedenes Lächeln flog über das in diesem Augenblicke besonders scharf gezeichnete Gesichtchen.
Gleich darauf ging sie durch die Bibliothek in ihre Kammer, wohin nun auch der Sonnenschein den Weg gefunden hatte. Vor den Spiegel tretend, löste sie ihre schweren Flechten, daß das dunkelblonde Haar wie Wellen an ihr herabfluthete. So kniete sie vor ihren Koffer hin, kramte zwischen ihren Habseligkeiten und räumte sie in die leeren Schubladen der Commode. Ein Kästchen mit Saftfarben, Pinseln und Zeichenstiften, einige Blätter mit nicht ungeschickten Blumenmalereien waren dabei auch zum Vorschein gekommen. Als Alles geordnet war, flocht sie sich das Haar aufs Neue und kleidete sich dann so zierlich, als der mitgebrachte Vorrath es nur gestatten wollte.
Wie beiläufig hatte sie inzwischen ein Paar Butterbrödchen aus ihrer Reisetasche verzehrt; jetzt, als
müsse sie innerhalb dieser Mauern jedes Fleckchen kennen lernen, schlüpfte sie auf leichten Füßen noch einmal durch das ganze Haus; durch alle Zimmer, in die Küche, in den von dort hinabführenden Keller; dann stieg sie auf einer bald von ihr erspähten Treppe auf den Hausboden, über welchem hoch und düster sich das Dach erhob. Es huschte etwas an ihr vorbei, es mochte ein Iltis oder ein Marder gewesen sein; sie achtete nicht darauf, sondern tappte sich nach einer der insgesammt geschlossenen Luken und rüttelte daran, bis sie aufflog. Es war die Hinterseite des Daches, und unter ihr unabsehbar dehnte sich die Haide aus, immer breiter aus dem Walde herauswachsend.
Hier in dem dunklen Rahmen der Dachöffnung kauerte sie sich nieder; nur ihre grauen Falkenaugen schweiften lebhaft hin und her, bald zur Seite über die in der Mittagsgluth wie schlummernd ruhenden Wälder, bald hinab auf die kargen Räderspuren, welche über die Haide zu der so eben von ihr verlassenen Welt hinausliefen.
In der Zeit, die hierauf folgte, erfuhr das Wild in der Umgebung des „Narrenkastens“ eine ihm dort ganz ungewohnte Beunruhigung in der Stille seines Sommerlebens. Aus den Kräutern der jungen Tannenschonung springt plötzlich der Hirsch empor und stürmt, nicht achtend seines knospenden Geweihes, in das nahe Waldesdickicht; draußen im Moorgrund fliegen zwei stahlblaue Birkhähne glucksend in die Höhe, die seit Jahren hier unbehelligt ihre Tänze aufführen durften; selbst Meister Reinecke bleibt nicht ungestört.
In einem alten Rasenhügel hat er sein Malepartus aufgeschlagen und sitzt jetzt in der warmen Mittagssonne vor einem seiner Ausgänge, bald behaglich nach den über der Haide spielenden Mücken blinzelnd, bald auf seine jungen Füchslein schauend, die um ihn her ihre ersten Purzelbäume versuchen. Da plötzlich streckt er den Kopf und bewegt horchend seine spitzen Ohren; drüben, vom Saum des Buchenwaldes, hat die Luft einen ungehörigen Laut ihm zugetragen.
Einige Minuten später schreitet ein nicht mehr junger, aber kräftiger Mann über die Haide; ein großer, löwengelber Hund springt ihm voraus und
steckt die Schnauze in den Eingang des Hünengrabes, durch welchen kurz vorher der Fuchs und seine Brut verschwunden sind; doch sein Herr ruft ihn zurück, und er gehorcht ihm augenblicklich. Sie kommen eben aus dem Walde; jetzt schreiten sie weiter über die Haide; bald werden sie zusammen dort den Sumpf durchwaten. Sie sind unzertrennlich, sie thun das alle Tage; aber die Thiere brauchen sich vor ihnen nicht zu fürchten; denn der Hund hat nur Augen für seinen Herrn und dieser nur für die stille Welt der Pflanzen, welche, einmal aufgefunden, seiner Hand nicht mehr entfliehen können; heute sind es besonders die Moose und einige Zwergbildungen des Binsengeschlechts, die er unbarmherzig in seine grüne Kapsel sperrt.
Mitunter geht auch ein Mädchen an seiner Seite; doch dies geschieht nur selten und bei kürzeren Wanderungen. Meistens ist sie drüben an der Wiesenmulde, hinter den hohen Mauern des „Waldwinkels“; dort geht sie in Küch’ und Keller einer alten Frau zur Hand, deren gutmüthiges Gesicht schon durch die Einförmigkeit seines Ausdrucks eine langjährige Taubheit
verrathen würde, wenn dies nicht noch deutlicher durch ein Hörrohr geschähe, das sie wie ein Jägerhörnchen am Bande über der Schulter trägt. Das Mädchen weiß, daß die Alte einst die Wärterin ihres jetzigen Herrn gewesen ist; sie zeigt sich ihr überall gefällig und sucht ihr Alles au den Augen abzusehen. – Anders steht sie mit dem Herrn selber; er hat keinen Blick wieder von ihr erhalten, wie damals in der Gerichtsstube, als er der Actuar des Bürgermeisters war, so ungeduldig er auch oft darauf zu warten scheint. Zuweilen, wenn sie nach dem Mittagstische die Zimmer oben geordnet hat, was stets mit pünktlicher Sauberkeit geschieht, sitzt sie auch wohl am Fenster des kleinen Bibliothekzimmers und malt auf bräunliche Papierblättchen eine Rispe oder einen Blüthenstengel, den der Doctor allein oder sie mit ihm ans der Wildniß draußen heimgebracht hat. Dieser selbst steht dann oft lange neben ihr und blickt schweigend und wie verzaubert aus die kleine, regsame Hand.
So war es auch eines Nachmittags, da schon manche Woche ihres Zusammenlebens hingeflossen
war. Er hatte einen Strauß aus Wollgras und gesterntem Bärenlauch vor ihr zurecht gelegt, und sie war emsig beschäftigt, ihn auf's Papier zu bringen. Mitunter hatte er ein kurzes Wort zu ihr gesprochen, und sie hatte ebenso, und ohne aufzublicken, ihm geantwortet.
„Aber sind Sie denn auch gern hierher gekommen?“ fragte er jetzt.
„Gewiß! Weshalb denn nicht? Bei dem Schuster roch das ganze Haus nach Leder; und Bettelleute waren es auch.“
„Bettelleute? – Weshalb sprechen Sie so hart, Franziska?“ – Es schien, als wenn er ihr zu zürnen suche; aber er vermochte es schon längst nicht mehr. Eine Weile ließ er seine Augen aus ihr ruhen, während sie eifrig an einem Blättchen fortschattirte; als keine Antwort erfolgte, sagte er: „Ich bin kein Bettelmann, aber einsam ist es hier für Sie.“
„Das hab' ich gern,“ erwiderte sie leise und tauchte wieder den Pinsel in die Farbe.
Neben ihr auf dem Tische lagen mehrere fertige Blättchen; er nahm eines derselben, auf dem eine
Blüthe der Cornus suecica gemalt war, und schrieb mit Bleistift darunter:
Eine andre Blume hatt’ ich gesucht –
Ich konnte sie nimmer finden;
Nur da, wo Zwei beisammen sind,
Taucht sie empor aus den Gründen.
Er hatte das so beschriebene Blatt vor sie hingelegt; aber sie warf nur einen raschen Blick darauf und schob es dann, ohne aufzusehen, wieder unter die anderen Blätter, indem sie sich tief auf ihre Zeichnung blickte.
Noch eine Weile stand er neben ihr, als könne er nicht fort; da sie aber schweigend in ihrer Arbeit fortfuhr, so pfiff er seinem Hunde und schritt mit ihm schweigend in den Wald hinaus.
Es war ihm seltsam ergangen mit dem Mädchen. In augenblicklicher Laune, fast gedankenlos, hatte er sie in den Kreis seines Lebens hineingezogen; eine Zuthat nur, eine Bereicherung für die einförmigen
Tage hatte sie ihm sein sollen; – und wie anders war es nun geworden! Freilich, die alte Frau Wieb, für die trotz ihrer Taubheit die Welt kein störendes Geheimniß barg, vermochte es nicht zu sehen; aber selbst der löwengelbe Hund sah es, daß sein Herr in den Bann dieses fremden Kindes gerathen, daß er ihr ganz verfallen sei; denn mehr wie je drängte er sich an ihn und blickte ihn mit fast vorwurfsvollen Augen an.
Lange waren sie zweck- und ziellos mit einander umhergestreift; jetzt, da schon die Dämmerung in den Wald herabsank, lagerten Herr und Hund unweit des Fußsteiges unter einem großen Eichenbaum, in dem um diese Zeit die Nebelkrähen sich zu versammeln pflegten, bevor sie zu ihren noch abgelegeneren Schlafplätzen flogen.
Der Doctor hatte den Kopf gegen einen moosbewachsenen Granitblock gelehnt, auf dem Franziska sich einige Male ausgeruht, wenn sie mit ihm von einem Ausfluge hier vorbeigekommen war. Seine Augen blickten in das Geäst des Baumes über ihm, wo Vogel um Vogel niederrauschte, wo sie durch einander
hüpften und krächzten, als hätten sie die Chronik des Tages mit einander festzustellen; aber die schwarzgrauen Gesellen kümmerten ihn im Grunde wenig; durch seine Phantasie ging der leichte Tritt eines Mädchens, desselben, deren müde Füßchen noch vor Kurzem an diesem Steine herabgehangen hatten, gegen den er jetzt seinen grübelnden Kopf drückte.
Was hatte eine Bethörung über ihn gebracht, wie er sie nie im Leben noch empfunden hatte? – Alles Andere, was er ein halbes Leben lang wie ein unerträgliches Leid mit sich umhergeschleppt, es war wie ausgelöscht, er begriff es fast nicht mehr. War es nur der Taumel, nach einem letzten Jugendglück zu greifen? Oder war es das Geheimniß jener jungen Augen, die mitunter plötzlich in jähe Abgründe hinabzublicken schienen? – So Manches hatte er an ihr bemerkt, das seinem Wesen widersprach; es blitzten Härten auf, die ihn empörten, es war eine Selbstständigkeit in ihr, die fast verachtend jede Stütze abwies. Aber auch das ließ ihm keine Ruhe; es war ein Feindseliges, das ihn zum Kampf zu fordern schien, ja, von dem er zu ahnen glaubte, es werde,
wenn er es bezwungen hätte, mit desto heißeren Liebeskräften ihn umfangen.
Er war aufgesprungen; er streckte die Arme mit geballten Fäusten in die leere Luft, als müsse er seine Sehnen prüfen, um sogleich auf Leben und Tod den Kampf mit der geliebten Feindin zu bestehen.
Ueber ihm in der Eiche rauschten noch immer die Vögel durch einander; da schlug der Hund an, und die ganze Schaar erhob sich mit lautem Krächzen in die Luft. Aber aus dem Walde hörte er ein anderes Geräusch; kleine leichte Schritte waren es, die eilig näher kamen, und bald gewahrte er zwischen den Baumstämmen das Flattern eines Frauenkleides. Er drückte die Faust gegen seine Brust, als könnte er das rasende Klopfen seines Blutes damit zurückdrängen.
Athemlos stand sie vor ihm.
„Franziska!“ rief er. „Wie blaß Sie aussehen!“
„Ich bin gelaufen,“ sagte sie, „ich habe Sie gesucht.“
„Mich, Franziska? Es wird schon dunkel hier im Walde.“
Sie mochte die Antwort, nach der ihn dürstete,
in seinem Antlitz lesen; aber sie sagte einfach – und es war der Ton der Dienerin, welche ihrem Herrn eine Bestellung ausrichtet: „Es ist Jemand da, der Sie zu sprechen wünscht.“
„Der mich zu sprechen wünscht, Franziska?“
Sie nickte. „Es ist der Vormund, der Schuster,“ sagte sie beklommen, als fühle sie das Pech an ihren Fingern.
„Ihr Vormund! Was kann der von mir wollen?“
„Ich weiß es nicht; aber ich habe Angst vor ihm.“
„So kommen Sie, Franziska!“
Und rasch schritten sie den Weg zurück.
– – Es war ein untersetztes Männlein mit wenig intelligentem, stumpfnasigem Antlitz, das in dem Stübchen der Frau Lewerenz auf sie gewartet hatte. Richard führte ihn nach dem Wohnzimmer hinauf, wohin Franziska schon vorangegangen war.
„Nun, Meister, was wünschen Sie von mir?“ sagte er, indem er sich auf den Sessel vor seinem Schreibtisch niederließ.
Der Handwerker, der trotz des angebotenen Stuhles wie verlegen an der Thür stehen blieb, brachte zuerst
in ziemlicher Verworrenheit einige Redensarten vor, mit denen er die Veranlassung seines heutigen Besuches zum Voraus zu entschuldigen suchte. Endlich aber kam er doch zur Hauptsache. Ein alter Bäckermeister, reich, – sehr reich und ohne Kinder, wollte Franziska zu sich nehmen; er hatte fallen lassen, daß er sie sogar in seinem Testament bedenken werde, wenn sie treulich bei ihm aushalte; für ihn, den Vormund, sei es Gewissenssache, ein solches Glück für seine Mündel nicht von der Hand zu weisen.
Richard hatte, wenigstens scheinbar, geduldig zugehört. „Ich muß Ihre Fürsorglichkeit anerkennen, Meister,“ sagte er jetzt, indem er gewaltsam seine Erregung unterdrückte; „aber Franziska wird nicht schlechter gestellt sein in meinem Hause; ich bin bereit, Ihnen die nöthigen Garantien dafür zu geben.“
Der Mann drehte eine Weile den Hut in seinen Händen. „Ja,“ sagte er endlich, „es wird denn doch nicht anders gehen.“
„Und weshalb denn nicht?“
Er erhielt keine Antwort; der Angeredete blickte mürrisch auf den Boden.
Das Mädchen hatte während dieser Verhandlung laut- und regungslos am Fenster gestanden. Als Richard jetzt den Kopf zurückwandte, sah er ihre großen grauen Augen weit geöffnet; angstvoll, in flehender Hingebung, alles Sträuben von sich werfend, blickte sie ihn an.
„Franziska!“ murmelte er. Einen Augenblick war es todtenstill im Zimmer.
Dann wandte er sich wieder an den Vormund; sein Herz schlug ihm, daß er nur in Absätzen die Worte hervorbrachte. „Sie verschweigen mir den wahren Grund, Meister,“ sagte er; „erklären Sie sich offen, wir werden schon zusammen fertig werden.“
Der Andere erwiderte nur: „Ich habe nichts weiter zu erklären.“
Franziska, die mit vorgebeugtem Kopf und offenem Munde den Beiden zugehört hatte, war hinter des Doctors Stuhl getreten. „Soll ich den Grund sagen, Vormund?“ fragte sie jetzt; und aus ihrer Stimme klang wieder jener schneidende Ton, der wie ein verborgenes Messer daraus hervorschoß.
„Sagen Sie, was Sie wollen,“ erwiderte der
Handwerker, seine Augen trotzig auf die Seite wendend.
„Nun denn, wenn Sie es selbst nicht sagen wollen, – der Bäckermeister hat eine Hypothek auf Ihrem Hause; ich weiß, Sie werden jetzt von ihm gedrängt!“
Richard athmete auf. „Ist dem so?“ fragte er.
Der Mann mußte es bejahen.
„Und wie hoch beläuft sich Ihre Schuld?“
Es wurde eine Summe angegeben, die für die Verhältnisse eines kleinen Handwerkers immerhin beträchtlich war.
„Nun, Meister,“ erwiderte Richard rasch; aber bevor er seinen Satz vollenden konnte, fühlte er wie einen Hauch Franziska’s Stimme in seinem Ohr: „Nicht schenken! Bitte, nicht schenken!“ Und eben so leise, aber wie in Angst, fühlte er seinen Arm von ihr umklammert.
Er besann sich; er hatte sie sofort verstanden.
„Meister,“ begann er wieder; „ich werde Ihnen das Geld leihen; Sie können es sofort erhalten und brauchen mir nur einen Schuldschein auszustellen.
Verstehen Sie mich wohl – so lange Ihre Mündel sich in meinem Hause befindet, verlange ich keine Zinsen! Sind Sie das zufrieden?“
Der Mann hatte noch allerlei Bedenken, aber es war nur des schicklichen Rückzugs halber; nach einigem Hin- und Widerreden erklärte er sich damit einverstanden.
„So gedulden Sie sich einen Augenblick! Ich werde Ihnen den erforderlichen Auftrag an meinen Anwalt mitgeben.“
Franziska hatte sich aufgerichtet; Richard rückte seinen Sessel an den Schreibtisch. Man hörte die Feder kritzeln; denn die Hand flog, die jene Worte schrieb.
Rasch war der Brief versiegelt und wurde von begierigen Händen in Empfang genommen.
Gleich darauf hatte Richard den Mann zur Thür geleitet; Franziska stand noch an derselben Stelle. Wie gebannt, ohne sich zu rühren, blickten Beide auf die Thür, die sich eben wieder geschlossen hatte, als käme es darauf an, sich der schwerfälligen Schritte zu versichern, die jetzt langsam die Treppe hinab verhallten. Einen Augenblick noch, und auch das Auf-
und Zuschlagen der Hausthür und nach einer Weile das des Hofthores klang zu ihnen herauf.
Da wandte er sich gegen sie. „Komm!“ sagte er leise und öffnete die Arme.
Es mußte laut genug gewesen sein; denn sie flog an seine Brust, und er preßte sie an sich, als müsse er sie zerstören, um sie sicher zu besitzen. „Franzi! Ich bin krank nach dir; wo soll ich Heilung finden?“
„Hier!“ sagte sie und gab ihm ihre jungen rothen Lippen. – –
Ungehört von ihnen war die Zimmerthür zurückgesprungen; ein schöner schwarzgelber Hundekopf drängte sich durch die Spalte, und bald schritt das mächtige Thier selbst fast unhörbar in das Zimmer. Sie bemerkten es erst, als es den Kopf an die Hüfte seines Herrn legte und mit den schönen braunen Augen wie anklagend zu ihm aufblickte.
„Bist du eifersüchtig, Leo?“ sagte Richard, den Kopf des Thieres streichelnd; „armer Camerad, gegen die sind wir beide wehrlos.“
– – Auch auf diesen Abend war die Nacht gefolgt. Auf der Schwarzwälder Uhr hatte eben der
kleine Kunstvogel zehn Mal unter Flügelschlagen sein „Kukuk“ gerufen, und Richard holte den großen Schlüssel aus seiner Schlafkammer, um, wie jeden Abend, das große Hofthor in der Mauer abzuschließen.
Als unten auf dem Flur Franziska aus der Küche trat, haschte er im Dunkeln ihre Hand und zog sie mit sich auf den Hof hinab. Schweigend hing sie sich an seinen Arm. So blickten sie aus dem geöffneten Thor noch eine Weile in die Nacht hinaus.
Es stürmte; die Tannen sausten, hinter dem Wald herauf jagte schwarzes Gewölk über den bleichen Himmel; aus dem Dickicht scholl das Geheul des großen Waldkauzes. Das Mädchen schauderte. „Hu, wie das wüst ist!“
„Du, hast du Furcht?“ sagte er. „Ich dachte, du könntest dich nicht grauen.“
„Doch! Jetzt!“ Und sie drängte ihren Kopf an seine Brust.
Er trat mit ihr zurück und warf den schweren Riegel vor die Pforte; von oben aus den Fenstern fiel der Lampenschimmer in den umschlossenen Hof hinab. „Der nächtliche Graus bleibt draußen!“ sagte er.
Sie lachte auf. „Und auch der Vormund!“ raunte sie ihm ins Ohr.
Er nahm sie wie berauscht auf beide Arme und trug sie in das Haus. – Und auch hier drehte sich nun der Schlüssel, und wer draußen gestanden hätte, würde es gehört haben, wie auf diesen Klang der große Hund sich innen vor der Hausthür niederstreckte.
Bald war auch in den Fenstern oben das Licht erloschen, und das Haus lag wie ein kleiner dunkler Fleck zwischen unzähligen anderen in der großen Einsamkeit der Waldnacht.
Franziska war mit dürftiger Kleidung in ihre neue Stellung eingetreten, und obgleich Richard bei seiner ersten Verhandlung mit dem Vormunde in dieser Beziehung alle Fürsorge auf sich genommen hatte, so war bei dem abwehrenden Wesen des Mädchens doch noch kein Augenblick gekommen, in dem er Näheres hierüber hätte mit ihr reden mögen. Freilich war auch
dies Gepräge der Armuth und die Scham, womit sie stets bemüht war, es zu verdecken, nur zu einem neuen Reiz für ihn geworden; ein süßes, schmerzliches Licht schien ihm bei solchen Anlässen von ihrem jungen, sonst ein wenig herben Antlitz auszustrahlen – Jetzt aber durfte es so nicht länger bleiben.
Drei Meilen südlich von ihrem Waldhäuschen lag eine große Handelsstadt, und eines Morgens in der Frühe hielt draußen vor dem Thore ein leichter, wohlbespannter Wagen, um sie dorthin zu bringen. Leo war im Hinterhause eingesperrt worden. Frau Wieb, nachdem sie von Beiden noch einige freundliche Worte durch ihr Hörrohr in Empfang genommen hatte, nickte munter nach dem Wagensitz hinauf, und fort rollten sie über die holperigen Geleise der Haide in die Welt hinaus.
Auf halbem Wege waren sie in einem Dorfkruge abgestiegen. Als die Wirthin die bestellte Milch brachte, fragte sie, auf Richard zeigend: „Der Herr Vater nimmt doch auch ein Glas?“
„Freilich,“ wiederholte Franziska, „der Herr Vater nimmt das andere Glas.“
Mit übermüthiger Schelmerei blickte sie zu ihm hinauf.
Es war noch früh am Vormittage, als sie die große Stadt erreichten.
Zuerst wurde für die Oberkleider eingekauft; klare, feingeblümte Stoffe für die heißen, weiche, einfarbige Wollensstoffe für die kalten Tage. Die Anfertigung der Kleider wurde in demselben Geschäfte besorgt, und Franziska mußte mit einer Schneiderin in ein anliegendes Cabinet gehen, um sich die Maße nehmen zu lassen. Zuvor waren von Richard, unter lebhafter Mißbilligung der Verkäufer, die einfachsten Schnitte zur Bedingung gemacht: „Fürs Haus und für den Wald!“ Und Franzi hatte die mitleidigen Blicke, womit die jungen Herren des Ladens sie über den Eigensinn des „Herrn Vaters“ zu trösten suchten, ohne eine Miene zu verziehen, über sich ergehen lassen.
Sie gaben ihre Adresse ab und gingen weiter.
Nachdem unterwegs Franziskas Malgeräth vervollständigt und bei einer Modistin zwei einfache aber zierliche Strohhüte eingehandelt waren, traten sie in ein Weißwaarengeschäft. Bevor noch Franziska ein
Wort darein reden konnte, hatte er ein Dutzend fertiger Hemden eingekauft.
„Sie sind ein Verschwender!“ sagte sie; „das hätt' ich Alles selber nähen können.“
„Du hast Rechte“ erwiderte er, und kaufte das Zeug zu einem zweiten Dutzend.
„Wenn Sie so fortfahren, Richard, so gehe ich in keinen Laden mehr.“
„Nur noch zum Schuhmacher! – Aber was soll das „Sie“? Bist du mir böse, Franzi?“
„Nein, du; aber du siehst mir heut' so vornehm aus.“
„Weiter!“ sagte er.
Bald daraus standen sie in dem elegantesten Schuhwaaren-Magazin; und die Ladendame, nachdem sie etwas herabsehend die unscheinbare Gestalt des Mädchens gemustert hatte, breitete gleichgültig einen Haufen Schuhwerk vor ihnen aus.
Ein Zug der Verachtung spielte um Franzi's Lippen, als sie auf diese Mittelwaare blickte; denn sie besaß eine Schönheit, welche an diesem Orte als die höchste gelten mußte, und deren sie sich vollständig bewußt
war. Aber sie setzte sich gleichwohl aus den bereit stehenden Sessel und zog ihr Kleid bis an die Knöchel in die Höhe.
Das Frauenzimmer, das mit dem Schuhwerk vor ihr hingekniet war, stieß einen Ruf des Entzückens aus. „Ah! Welch' ein Aschenbrödelfüßchen! Da muß ich Kinderschuhe bringen.“
Wie eine Fürstin saß Franzi aus ihrem Sessel; Richard, der diesen Sieg vorausgesehen hatte, verschlang den triumphirenden Blick, den sie zu ihm hinaufsandte.
Die Ladendame aber erschien ganz wie verwandelt; ihre Käufer waren offenbar plötzlich in die Aristokratie der Kundschaft hinaufgerückt; sie holte eifrig eine Menge zierlicher Stiefelchen von allen Farben und Arten ans den Glasschränken hervor, die aber sämmtlich nach dem Gebot der Mode mit hohen Absätzen v ersehen waren.
„Nein, nein,“ sagte Richard lächelnd, „das mag für gewöhnliche Damenfüße gut genug sein; Füße aus dem Märchen dürfen nicht auf solchen Klötzen gehen!“
„Sie haben Recht, mein Herr,“ sagte die Ladendame, „aber für die gewöhnliche Kundschaft müssen wir uns nach der Mode richten.“ Dann kramte sie wieder in ihren Schränken; und nun brachte sie Stiefelchen, so leicht, so weich; die Elfen hätten darauf tanzen können; gleich das erste Paar glitt wie angegossen über Franzi's schlanke Füßchen.
Noch einige Paare wurden ausgesucht, auch für die gemeinschaftlichen Wanderungen zu hoch hinaufreichenden ledernen Waldstiefelchen das Maß genommen; dann trieben die Beiden weiter durch die wimmelnde Menschenfluth der großen Stadt. Sie hing an seinem Arm; er fühlte mit Entzücken jeden ihrer leichten Schritt, und unwillkürlich ging er immer rascher, als wolle er den Vorübergehenden jeden Blick auf das bezaubernde Geheimniß dieser Füßchen unmöglich machen, die nur ihm und keinem Anderen je gehören sollten.
Mit sinkendem Abend hielt der Wagen wieder vor dem Hause des Waldwinkels.
– – Einige Tage später brachte die Botenfrau große Packen aus der Stadt; alle Bestellungen waren
auf einmal eingetroffen. Franziska trug die Herrlichkeiten auf ihr Zimmer und schloß sich darin ein. Als sie nach geraumer Zeit in die Wohnstube trat, ging sie auf Richard zu, nahm ihn schweigend um den Hals und küßte ihn; dann lief sie in die Küche, um Frau Wieb heraufzuholen.
Es war aber nur noch ein Theil der Sachen und nur das Einfachste, das jetzt, auf Bett und Commode ausgebreitet, der gutmütigen Alten zur Bewunderung vorgezeigt wurde. Dagegen hatte Franziska derzeit nicht vergessen, Richard an den Einkauf eines guten Kleiderstoffs und einer bunten Sonntagshaube für die Alte zu erinnern. Und jetzt, trotz deren Bitten, sie möge ihr eigen Weißzeug darum nicht versäumen, gab sie keine Ruhe, bis sie zu dem neuen Staat ihr Maß genommen hatte und anderen Tages schon zwischen zerschnittenen Stoffen und Papiermustern in Frau Wieb's Kämmerchen am Schneidertische saß. So geschickt wußte sie es der alten Frau vorzustellen, daß sie noch keineswegs zu alt sei, um hier eine Rosette, dort eine Puffe oder Schleife aufgesetzt zu bekommen, daß diese immer öfter aus ihrer Küche in die Zauberwerkstatt
hinüberlief und ihrem Herrn betheuerte, die Franziska mache sie noch einmal wieder jung.
Richard schien kaum dies Treiben zu beachten; nur einmal, als er dem Mädchen auf dem Flur begegnete, da sie eben mit allerlei Nähgeräth die Treppe herabgekommen war, hielt er sie an und sagte: „Aber Franzi, was stellst du denn mit unserer guten Alten auf? Sie wird ja eitel wie Bathseba auf ihre alten Tage.“
Franziska ließ eine Weile ihre Augen in den seinen ruhen. „Laß nur,“ sagte sie dann, „die Alte muß auch ihre Freude haben!“ Und schon war sie durch die Kammerthür verschwunden.
Sie wohnten zwischen der Haide und dem Walde, in welche seit hundert Jahren keine Menschenhand hineingegriffen hatte; rings um sie her waltete frei und üppig die Natur.
Die Menschen waren fern, nur die Bienen kamen und summten einsam über die Haide. Einmal zwar
war der alte Inspector eingekehrt und hatte wegen der nöthigen Feuerung mit der alten Frau Wieb einen Zwiesprach in deren Stübchen abgehalten; dann ein paar Tage später war ein mächtiges Fuder schwarzen Torfes durch den Wald daher gekommen und vor dem Hause abgeladen worden; einmal auch hatte der Krämer aus der Stadt mit seinen neugierigen Augen sich herangedrängt, hatte glücklich ein Geschäft gemacht, war dann aber mit der Weisung entlassen worden, daß in Zukunft Alles brieflich solle bestellt werden. Sonst war Niemand da gewesen, als die Botenfrau, die zweimal wöchentlich Briefe und Blätter, und was ihr sonst zu bringen aufgetragen war, unten in der Küche niederlegte. Einen Besuch aus dem jenseit des Waldes liegenden Schlosse hatte Richard den Junkern zwar versprochen, aber er wurde immer wieder hinausgeschoben. So kam auch von dort Niemand herüber. Selbst die Zeitungen, welche von draußen aus der Welt Kunde bringen sollten, wurden seit Wochen ungelesen in einem unteren Fache des Schreibtisches aufgehäuft.
– – Aber an jedem Morgen fast schritten jetzt
die Beiden mit einander in die würzige Sommerluft hinaus; Franzi in ihren hohen ledernen Waldstiefelchen, die Kleider aufgeschürzt, über der Schulter eine kleine Botanisirtrommel, die er für sie hatte anfertigen lassen. Meistens sprang auch der große Hund an ihrer Seite; mitunter aber, wenn der Himmel mit Duft bedeckt war, wenn still, wie heimlich träumend, die Luft über der Haide ruhte und der Wald wie dämmerndes Geheimniß lockte, dann wurde wohl der Löwengelbe, wenn er neben ihnen aus der Hausthür stürmte, in schweigendem Einverständiß von ihnen zurück getrieben; hastig warfen sie dann das schwere Hofthor zurück und achteten nicht des Winselns und Bellens, das von dem verschlossenen Hofe aus hinter ihnen herscholl. Eilig gingen sie fort, und endlich zwischen Busch und Haide erreichte es sie nicht mehr. Nichts unterbrach die ungeheure Stille um sie her, als mitunter das Gleiten einer Schlange oder von fern das Brechen eines dürren Astes: im Laube versteckt saßen die Vögel, mit gefalteten Flügeln hingen die Schmetterlinge an den Sträuchern.
Am Waldesrande waren jetzt in seltener Fülle die
tiefrothen Hagerosen aufgebrochen. Wenn gar so schwül der Duft auf ihrem Wege stand, ergriffen sie sich wohl an den Händen und erhoben schweigend die glänzenden Augen gegen einander. Sie athmeten die Luft der Wildniß, sie waren die einzigen Menschen, Mann und Weib, in dieser träumerischen Welt.
– – Einmal, nach langer Wanderung, da die Sonne funkelte und schon senkrecht ihre Mittagsstrahlen herabsandte, waren sie unerwartet an den Rand des Waldes gekommen. Sanft anzeigend breitete ein unabsehbares Kornfeld sich vor ihnen aus; es war in der Blüthezeit des Roggens; mitunter wehten leichte Duftwolken darüber hin; bis gegen den Horizont erblickte man nichts, als das leise Wogen dieser bläulich silbernen Fluthen.
Da klang von fern das Gebimmel einer Glocke; weit hinten, drüben aus dem Grunde, wo wohl das Schloß gelegen sein mochte; gleich einem Rufen klang es durch die stille Mittagsluft, und wie hingezogen von den Lauten schritt Franziska in das wogende Aehrenfeld hinein, während Richard, an einen Buchenstamm gelehnt, ihr nachblickte. – Immer weiter schritt
sie; es wallte und fluthete um sie her; und immer ferner sah er ihr Köpfchen über dem unbekannten Meere schwimmen. Da überfiel’s ihn plötzlich, als könne sie ihm durch irgend welche heimliche Gewalt darin verloren gehen. Was mochte auf dem unsichtbaren Grunde liegen, den ihre kleinen Füße jetzt berührten? – Vielleicht war es keine bloße Fabel, das Erntekind, von dem die alten Leute reden, das dem, der es im Korne liegen sah, die Augen brechen macht! Es lauert ja so Manches, um unsere Hand, um unseren Fuß zu fangen und uns dann hinabzureißen. – – „Franzi!“ rief er; „Franzi!“
Sie wandte den Kopf. „Die Glocke!“ kam es zurück. „Ich will nur wissen, wo die Glocke läutet!“
„Das gilt nicht uns, Frauzi; das ist die Mittagsglocke auf dem Schloß!“
Sie wandte sich um und kam zurück. Er schloß sie leidenschaftlich in die Arme. „Weißt du nicht, daß das gefährlich ist, so tief in das Aehrenfeld hineinzugehen?“
„Gefährlich?“ Sie sah ihn seltsam lächelnd an. Dann tauchten sie in ihren Wald zurück.
– – Ein ander Mal, nach einem schwülen Tag, waren sie erst spät am Nachmittag hinausgegangen. – Als der Abend schon tief herabsank, ruhten sie am Ufer eines großen Waldwassers, das rings von hohen Buchen eingefaßt war. Zu ihren Füßen, trotz der regungslosen Stille, schwankte das Schilf mit leisem Rauschen an einander; drüben hinter dem jenseitigen Walde, der seine Schatten auf den Wasserspiegel warf, zuckte dann und wann ein Wetterschein empor; Irisduft wehte über den See, und ein lautloser Blitz erleuchtete ihn.
Er hatte sich über sie gebeugt und ließ es wie ein Spiel an sich vorübergehen, wenn ihr blasses Antlitz ans dem Dunkel austauchte und wieder darin verschwand. „Weißt du,“ sagte er, – „es heißt, man solle in den Augen eines Weibes noch mitunter das Schillern der Paradiesesschlange sehen. Eben, da der Blitz flammte, sah ich es in deinen Augen.“
„Schillerte es denn schön?“ fragte sie, und hielt ihre Augen offen ihm entgegen.
„Bethörend schön.“
Und wieder flammte ein Blitz.
„Du bist ein Thor, Richard!“
„Ich glaube es selber, Franzi.“
Und er legte den Kopf in ihren Schooß, und, zu ihr emporblickend, sah er wieder und wieder die Wetterscheine in ihren dunklen Augen zucken.
– – So floß die Zeit dahin. Eines Vormittags aber, als von den Fenstern des Wohnzimmers aus vor dem niederrauschenden Regen der Tannenwald nur noch wie eine graue Nebelwand erschien und die Drachenköpfe unaufhörlich Wasser von sich spieen, stand Richard sinnend und allein an seinem Schreibtische, nur mitunter wie abwesend in den trüben Tag hinausblickend.
Franzi trat herein; er hatte sie heute noch nicht gesehen; am Frühstückstische hatte er vergebens auf sie gewartet. Jetzt ging sie schweigend auf ihn zu, drückte ihre Augen gegen seine Brust und hing an seinem Halse, als sei sie nur ein Theil von ihm. Er legte seinen Arm um sie, aber er küßte sie nicht; seine Gedanken waren bei anderen Dingen. Er merkte es kaum, als sie plötzlich wieder aus seinem Arm und aus dem Zimmer sich hinweggestohlen hatte.
Als bald darauf wegen einer wirtschaftlichen Bestellung Frau Wieb ins Zimmer trat, fand sie ihren Herrn vor einer aufgezogenen Schieblade stehen, aus der er allerlei Papiere auf die Tischplatte hervorgekramt hatte. Es waren zum Theil Scheine, deren Vorlegung bei gewissen Lebensacten die bürgerliche Ordnung von ihren Mitgliedern zu verlangen pflegt.
„Sag' mir, Wieb,“ rief er der Eintretenden zu, „in welcher Kirche bin ich denn getauft? Du bist ja damals doch dabei gewesen.“
„Wie?“ fragte die Alte und hielt ihr Hörrohr hin. „In welcher Kirche?“
„Nun ja; mir fehlt der Taufschein; man muß seine Papiere doch in Ordnung haben.“
Nachdem er noch einmal in das Hörrohr gerufen hatte, nannte sie ihm die Kirche.
Aber er hörte schon kaum mehr daraus.
„Nein, nein!“ sagte er mit leisen, aber scharfen Lauten vor sich hin, indem er wie abwehrend seine Hand ausstreckte. „Wen geht's was an! Es soll mir Niemand daran rühren!“
Als er sich umwandte, stand seine alte Wirthschafterin
noch im Zimmer; das Muster der Tapete, das sie mit Aufmerksamkeit betrachtete, schien sie festgehalten zu haben. Er fragte sie: „Was siehst du denn an den verblichenen Blumen, Wieb?“
Die Alte nickte. „Die sitzen da nicht von ungefähr,“ erwiderte sie. „Der Herr Inspector, da er neulich wegen der Feuerung da war, hat es mir erzählt. Vergessen und Vergessenwerden, Herr Richard!
Wer lange lebt auf Erden,
Der hat wohl diese Beiden
Zu lernen und zu leiden!
Der alte Herr vom Schlosse drüben – der Großvater ist’s gewesen von dem jetzigen – hat nur einen Sohn gehabt, den aber hat er fast übermäßig geliebt und ihn nimmer, auch da er schon in die reiferen Jahre gekommen war, aus seiner Nähe lassen wollen; der junge Herr wäre darüber fast zum Hagestolz geworden. Endlich gab’s denn doch noch eine Hochzeit, und wie der Vater in ihn, so ist der Sohn in seine junge Frau vernarrt gewesen. Der alte Herr aber hat es nicht verwinden können, daß seines Kindes Augen jetzt immer nur nach einer Fremden gingen;
er hat den Beiden das Schloß gelassen und hat sich in die Einsamkeit hinausgebaut. Die Tapete hier in diesem Zimmer, wo er noch Jahre lang gelebt, ist derzeit von ihm selber ausgewählt; es seien die Blumen des Schlafes und der Vergessenheit, so soll er oft gesagt haben. – Haben Sie noch etwas zu befehlen, Herr Richard?“
Er hatte nichts.
Als die Alte hinausgegangen war, blickte auch er noch eine Weile aus die rothen und violetten Mohnblumen; dann fielen seine Augen auf ein Wandgemälde, das oberhalb der vom Flur hereinführenden Thür die Tapetenbekleidung des Zimmer unterbrach.
Es war eine weite Haidelandschaft, vielleicht die an dem Waldwinkel selbst belegene, hinter welcher eben der erste rothe Sonnenduft heraufstieg; in der Ferne sah man, gleich Schattenbildern, zwei jugendliche Gestalten, eine weibliche und eine männliche, die Arm in Arm, wie schwebend gegen den Morgenschein hinausgingen; ihnen nachblickend, auf einen Stab gelehnt, stand im Vordergrunde die gebrochene Gestalt eines alten Mannes.
Als Richard jetzt von dem Bilde auf die Umrahmung desselben hinüberblickte, trat ihm dort, halb versteckt zwischen allerlei Arabesken, eine Schrift entgegen, die bei näherem Anschauen in phantastischen Buchstaben um das ganze Bild herumlief.
Dein jung’ Genoß in Pflichten
Nach dir den Schritt thät' richten;
Da kam ein and’rer junger Schritt,
Nahm deinen jung' Genossen mit;
Sie wandern nach dem Glücke,
Sie schau’n nicht mehr zurücke.
– Lange stand Richard vor dem Bilde, das er früher kaum beachtet hatte.
Würde das Antlitz jenes einsamen Alten, wenn es sich plötzlich zu ihm wendete, die Züge des Erbauers dieser Räume zeigen, oder war diese Gestalt das Alter selbst, und würde sie – nur eines vermessenen Worts bedurfte es vielleicht – sein eigenes Angesicht ihm zukehren? – Wehte nicht schon ein gespenstisch kalter Hauch von dem Bilde zu ihm herab? – Unwillkürlich griff er sich in Bart und Haar und richtete sich
rasch und straff empor. – Nein, nein; es hatte ihn noch nicht berührt. Aber wie lange noch, so mußte es dennoch kommen. Und dann? –
Er wandte sich langsam ab und trat an seinen Schreibtisch. Die Papiere, die dort noch umher lagen, legte er in die Schublade zurück, aus der er sie vorhin genommen hatte. – Draußen strömte unablässig noch der Regen.
In den nächsten Tagen schien wieder die Sonne; nur der Wald war noch nicht zu begehen. Aber durch die Haide hatten Richard und Franziska am Nachmittage einen weiten Ausflug gemacht; auf dem Riesenhügel, in welchem Meister Reinecke wohnte, hatten sie ihr mitgenommenes Vesperbrod verzehrt, während Leo, der diesmal nicht zurückgetrieben war, an den Eingängen des geheimnißvollen Baues seine vergeblichen Untersuchungen fortgesetzt hatte.
Mit der Dämmerung waren sie heimgekehrt. –
Als Franzi in das Wohnzimmer trat, ging sie
schon wieder in den leichten Stiefeln, die sie stets im Hause zu tragen pflegte.
„Du bist blaß,“ sagte Richard; „es ist zu weit für dich gewesen.“
„O, nicht zu weit.“
„Aber du bist ermüdet, komm'!“ Und er drückte sie in den großen Polsterstuhl, der dicht am Fenster stand.
Sie ließ sich das gefallen und legte den Kopf zurück an die eine Seitenlehne; die schmächtige Gestalt verschwand fast in dem breiten Sessel.
„Wie jung du bist!“ sagte er.
„Ich? – Ja, ziemlich jung.“
Sie hatte ihr Füßchen vorgestreckt, und er sah wie verzaubert darauf hinab. „Und was für eine Wilde du bist,“ sagte er; „da geht schon wieder quer über den Spann ein Riß!“ Er hatte sich gebückt und ließ seine Finger über die wunde Stelle gleiten. „Wie viel Paar solcher Dinger verbrauchst du denn im Jahr, Prinzeßchen?“
Aber sie legte nur ihren kleinen Fuß in seine Hand, löste ihre schwere Haarflechte, die sie drückte, so daß
sie lang in ihren Schooß hinabfiel, und streckte sich dann mit geschlossenen Augen in die weichen Polster.
Im Zimmer dunkelte es allgemach; draußen in der Wiesenmulde stiegen weiße Dünste ans, und drüben im Tannenwalde war schon die Schwärze der Nacht. – Da schlug draußen im Hofe der Hund an und Franzi fuhr empor und riß ihre großen, grauen Augen auf.
Nein, es war wieder still; aber von jenseit des Waldes kam jetzt mit dem Abendwind Musik herübergeweht.
„Laß doch,“ sagte Richard, „das kommt nicht zu uns.“
Aber sie hatte sich vollends ausgerichtet und sah neugierig in die Abenddämmerung hinaus.
„Es ist nur eine Hochzeit, Franzi; sie werden mit der Aussteuer drüben am Waldesrand herumfahren.“
„Eine Hochzeit! Wer heirathet denn?“
„Wer? Ich glaube: des Bauervogts Tochter; ich weiß es nicht. Was kümmert es uns; wir kennen ja die Leute nicht.“
„Freilich.“
Sie standen jetzt Beide am Fenster; er hatte den Arm um sie gelegt, sie lehnte den Kopf an seine Brust. Ein paar Mal, aber immer schwächer, wehten noch die Töne zu ihnen her; dann wurde Alles still, so still, daß er es hörte, wie ihr der Athem immer schwerer ging.
„Fehlt dir etwas, Franzi?“ fragte er.
„Nein; was sollte mir fehlen?“
Er schwieg; aber sie drängte ihr Köpfchen fester an seine Brust. „Du!“ sagte sie, als brächte sie es mühsam nur hervor.
„Ja, Franzi?“
„Du – warum heirathen wir uns nicht?“
Es durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag; eine Kette qualvoller Erinnerungen tauchte in ihm auf; die Welt streckte ihre grobe Hand nach seinem Glücke aus.
„Wir, Franzi?“ wiederholte er, scheinbar ruhig. „Wozu? Was würde dadurch anders werden?“
„Freilich!“ Sie sann einen Augenblick nach. „Aber wir lieben uns ja doch!“
„Ja, Franzi! Aber – er blickte ihr tief in die
Augen, und seine Stimme sank zu einem Flüstern, als wage er die Worte nicht laut werden zu lassen – „es könnte einmal ein Ende haben – plötzlich!“
Sie starrte ihn an. „Ein Ende? Dann müßte ich wohl fort von hier!“
„Müssen, Franzi? Weh' mir, wenn du es müßtest!“
Sie schwiegen Beide.
„Wie alt bist du, Franzi?“ begann er wieder.
„Du weißt es ja, ich werde achtzehn.“
„Ja, ja, ich weiß es, achtzehn; ich bin ein Menschenalter dir voraus. Ueber diesen Abgrund bist du zu mir hinübergeflogen, mußt du immer zu mir hinüber. – Es könnte ein Augenblick kommen, wo dir davor schauderte.“
„Was sprichst du da?“ sagte sie. „Ich verstehe das nicht.“
„Verstehe es nimmer, Franzi!“
Aber während sie athemlos zu ihm emporblickte, zuckte es plötzlich um ihren jungen Mund; es war, als flöhe etwas in ihr Innerstes zurück.
Hatten seine Worte die Schärfe ihres Blicks geweckt und sah sie, was ihr bisher entgangen war,
einen Zug beginnenden Verfalls in seinem Antlitz? – Doch schon hatte sie sein Haupt zu sich herabgezogen und erstickte ihn fast mit ihren Küssen. Dann riß sie sich los und ging rasch hinaus.
Als sie fort war, machte er sich au seinem Schreibtische zu thun. Mit einem besonders künstlichen Schlüssel öffnete er ein Fach desselben, in welchem er seine Werthpapiere verwahrt hielt. Er nahm aus den verschiedenen Päckchen einzelne hervor, schlug einen weißen Bogen darum und setzte eine Schrift darauf. Als das geschehen war, nahm er einen zweiten, dem, womit er das Fach geöffnet hatte, völlig gleichen Schlüssel, paßte ihn in das Schlüsselloch und legte ihn dann neben die Papiere aus die Tischplatte.
Der Abend war schon so weit hereingebrochen, daß er Alles fast im Dunkeln that; über den Tannen drüben war schon der letzte Hauch des braunen Abenddufts verglommen.
Als Franziska nach einer Weile mit der brennenden Lampe hereingetreten war und schweigend das Zimmer wieder verlassen wollte, ergriff er ihre Hand und zog sie vor den Schreibtisch.
„Kennst du das, Franziska?“ fragte er, indem er einige der Papiere vor ihr entfaltete.
Sie blickte scharf daraus hin. „Ich kenne es wohl,“ erwiderte sie; „es ist so gut wie Geld.“
„Es sind Staatspapiere.“
„Ja, ich weiß; ich habe bei dem Magister einmal zu solchen ein Verzeichniß machen müssen.“
Er zeigte ihr ein Convolut, worauf in frischer Schrift ihr Name stand, und nannte ihr den Betrag, der darin enthalten war. „Es ist dein Eigenthum,“ sagte er.
„Mein, das viele Geld!“ Sie blickte mit scharfen Augen auf das verschlossene Päckchen.
„Versteh' mich, Franzi,“ begann er wieder; „schon jetzt ist es dein; am allermeisten aber“ – und er verschlang die junge Gestalt mit seinen Blicken – „in dem Augenblicke, wo du selber nicht mehr mein bist. Du wirst dann völlig frei sein; du sollst es jetzt schon sein.“
Er sah sie an, als erwartete er von ihr eine Frage, eine Bitte um Erklärung; da sie aber schwieg, sagte er in einem Tone, der wie scherzend klingen sollte:
„Da du jetzt eine Capitalistin bist, so muß ich dir auch den nöthigen Eigenthumssinn einzupflanzen suchen.“
Und er nahm eine von den Zeitungen, die umherlagen, zog die Geliebte auf seinen Schooß und begann die Rubrik der Curse mit ihr durchzugehen. Dann aber, als sie ihm aufmerksam zuzuhören schien, lachte er selbst über sein schulmeisterliches Bemühen. „Es ist spaßhaft! Du und Staatspapiere, Franzi! Du hast natürlich kein Wort von alle dem verstanden!“
Aber sie lachte nicht mit ihm; sie war von seinem Schooße herabgeglitten und begann eingehende Fragen über das eben Gehörte an ihn zu richten.
Er sah sie verwundert an. „Du bist gefährlich klug, Franzi!“ sagte er.
„Magst du lieber, daß ich's nicht verstehe, wenn du mich belehrst?“
„Nein, nein; wie sollte ich!“ – –
Sie wollte gehen, aber er rief sie zurück. „Vergiß den Schlüssel nicht!“ Und indem er sie an den Schreibtisch führte, setzte er hinzu: „Dieses Fach enthält jetzt mein und auch dein Eigenthum. Möge es nie getrennt werden!“
Sie hatte indessen eine Schnur von ihrem Halse genommen, woran sie eine kleine goldene Kapsel mit den Haaren einer früh verdorbenen Schwester auf der Brust trug, und war eben im Begriff, daneben auch den Schlüssel zu befestigen; aber ihre geschäftigen Hände wurden zurückgehalten.
„Nein, nein, Franzi,“ sagte er. „Was beginnst du!“ – Er hatte das Mädchen zu sich herangezogen und küßte sie mit Leidenschaft. „Leg ihn fort, weit fort! zu deinen anderen Dingen. Was denkst du denn! Soll ich den Cassenschlüssel an deinem Herzen finden?“
Sie wurde roth. „Was du auch gleich nur für Gedanken hast,“ sagte sie und steckte den Schlüssel in die Tasche.
Es war in der ersten Hälfte des August. Schwül waren die Tage, trübselig in der Mauser saßen die Vögel im Walde; nur einzelne prüften schon das neue Federkleid zum weiten Abschiedsfluge; aber desto schöner waren die Nächte mit ihrer erquickenden Kühle;
draußen im Waldwasser, wo vordem die Iris blühten wie auf dem Hofe in der Tiefe des offenen Brunnens spiegelten sich jetzt die schönsten Sterne; im Nordosten des nächtlichen Himmels ergoß die Milchstraße ihre breiten, leuchtenden Ströme.
Richard hatte während einiger Tage den nächsten Umkreis des Waldwinkels nicht verlassen; ein Körperleiden aus den Jahren seiner Kerkerhaft, die nicht nur im Kopfe des Winkeladvocaten spukte, war wieder aufgetaucht und hatte wie eine lähmende Hand sich auf ihn gelegt.
Jetzt saß er, die linde Nacht erwartend, aus einer Holzbank, welche draußen vor der Umfassungsmauer angebracht war; an seiner Seite lag sein löwengelber Hund. Stern um Stern brach über ihm aus der blauen Himmelsferne; er mußte plötzlich seines Jugendglücks gedenken. – Wo – was war Franziska zu jener Zeit gewesen? – Ein Nichts, ein schlafender Keim; wie lange hatte er schon gelebt! – – Die Thalmulde entlang begann ein kühler Hauch zu wehen; er hätte wohl lieber nicht in der Abendluft dort sitzen sollen.
Da schlug der Hund au und richtete sich aus. Gegenüber
aus den Tannen ließen sich Schritte vernehmen, und bald erschien die schlanke Gestalt eines Mannes, rasch auf dem Fußsteige hinabschreitend. „Ruhig, Leo!“ sagte Richard, und der Hund legte sich gehorsam wieder an seine Seite.
Der Fremde war indessen näher gekommen, und Richard erkannte einen jungen Mann in herkömmlicher Jägertracht, mit dunklem krausen Haar und kecken Gesichtszügen; sehr weiße Zähne blinkten unter seinem spitzen Zwickelbärtchen, als er jetzt, leichthin die Mütze rückend, „guten Abend“ bot.
„Sie wünschen etwas von mir?“ sagte Richard, indem er sich erhob.
„Von Ihnen nicht, mein Herr; ich wünschte das junge Mädchen in Ihrem Hanse zu sprechen.“
Es war eine Zuversichlichkeit des Tons in diesen Worten, die Richard das Blut in Wallung brachte. „Und was wünschen Sie von ihr?“ fragte er.
„Wir jungen Leute haben auf Sonntag einen Tanz im Städtchen drüben; ich bin gekommen, um sie dazu einzuladen.“
„Darf ich erfahren, wem sie diese Ehre danken
sollte? Ihrer Sprache nach sind Sie nicht aus dieser Gegend.“
„Ganz recht,“ erwiderte in seiner unbekümmerten Weise der Andere; „ich verwalte nur während der Vacanz die erledigte Försterei der Herrschaft.“
„Aber Sie irren sich, Herr Förster; die junge Dame, die in meinem Hause lebt, besucht nicht solche Tänzen.“
„O, mein Herr, es ist die anständigste Gesellschaft!“
„Ich zweifle nicht daran.“
Der Andere schwieg einen Augenblick. „Ich möchte doch die junge Dame selber fragen!“
„Es wird nicht nöthig sein.“
Richard wandte sich nach der Pforte. Da der Förster auf ihn zutrat, als wollte er ihn zurückhalten, streckte der Hund seinen mächtigen Nacken und knurrte ihn drohend an.
„Bemühen Sie sich nicht weiter, Herr Förster!“ sagte Richard.
Ein scharfer Blitz fuhr aus den Augen des jungen Gesellen; er biß in seinen Zwickelbart; dann rückte er,
wie zuvor, leichthin die Mütze und ging, ohne ein Wort zu sagen, den Fußsteig, den er gekommen war, zurück. Auf halbem Wege wandte er sich noch einmal und warf einen Blick nach den Fenstern des Waldwinkels; bald darauf verschwand er drüben in dem schwarzen Schatten der Tannen.
– Während der Hund, wie zur Wache, noch unbeweglich an dem Rand der Wiesenmulde stand, war Richard ins Haus zurückgegangen. Als er oben in das Wohnzimmer trat, sah er Franziska am Fenster stehen, die Stirn gegen eine der Glasscheiben gedrückt; ein Staubtuch, das sie vorher gebraucht haben mochte, hing von ihrer Hand herab.
„Franzi!“ rief er.
Sie kehrte sich, wie erschrocken, zu ihm.
„Sahst du den jungen Menschen, Franzi?“ fragte er wieder; „es war derselbe, der uns in letzter Zeit ein paar Mal im Oberwald begegnet ist.“
„Ja, ich bemerkte es wohl.“
„Hast du ihn sonst gesehen?“
In Richard's Stimme klang etwas, das sie früher nie darin gehört hatte. Sie blickte ihn forschend an.
„Ich?“ sagte sie. „Wo sollte ich ihn sonst gesehen haben?“
„Nun er war so gütig, dich zum Tanz zu laden.“
„Ach! Tanzen!“ Und ein Blitz von heller Jugendlust schoß durch ihre grauen Augen.
Er sah sie fast erschrocken an. „Was meinst du, Franzi?“ sagte er. „Ich habe ihn natürlich abgewiesen.“
„Abgewiesen!“ wiederholte sie tonlos, und der Glanz in ihren Augen war plötzlich ganz erloschen.
„War das nicht recht, Franzi? Soll ich ihn zurückrufen?“
Aber sie winkte nur abwehrend mit der Hand. – Ohne ihn anzusehen, doch mit jenem scharfen Klang der Stimme, der sich zum ersten Mal jetzt gegen ihn wandte, fragte sie nach einer Weile: „Hast du je getanzt, Richard?“
„Ich, Franzi? Warum fragst du so? – Ja, ich habe einst getanzt.“
„Nicht wahr, und es ist dir eine Lust gewesen?“
„Ja, Franzi,“ sagte er zögernd, „ich glaube wohl, daß ich es gern gethan.“
„Und jetzt,“ fuhr sie in demselben Tone fort, “jetzt tanzest du nicht mehr?“
„Nein, Franzi; wie sollte ich? das ist vorbei. – Aber du nimmst mich ja förmlich ins Verhör!“
Er versuchte zu lächeln; aber als er sie anblickte, standen die grauen Augen so kalt ihm gegenüber. „Vorbei,“ sagte er leise zu sich selber, „der Schauder hat sie ergriffen; sie kommt nicht mehr herüber.“
Er ließ es still geschehen, als sie nach einer Weile an seinem Halse hing und ihm eifrig ins Ohr flüsterte: „Vergieb! Ich habe dumm gesprochen! Ich will ja gar nicht tanzen.“
Richard's Unwohlsein hatte in einigen Wochen so zugenommen, daß er das Zimmer nicht verlassen konnte. Ein Arzt wurde nicht zugezogen, da ihm aus früheren Zufällen die Behandlung selbst geläufig war; sogar Frau Wieb's aus Wachs und Baumöl gekochte
Salben wurden unerbittlich zurückgewiesen. Besser wußte Franziska es zu treffen. Sie saß neben seinem Lehnstuhl, wo er, an einem künstlich von ihr aufgebauten Pulte, einen Aufsatz über hier aufgefundene, seltene Doldenpflanzen begonnen hatte; sie holte ihm die betreffenden Exemplare aus dem mit ihrer Hülfe angelegten Herbarium oder aus der Bibliothek die Bücher, deren er bedurfte; sie suchte darin die einschlagenden Stellen für ihn auf und las sie vor. „Wenn ich noch einmal Professor werden,“ sagte er heiter, „welch' einen Famulus besitz' ich schon!“ Aber sie war nicht nur sein Famulus, sie war auch das Weib, deren stille Nähe ihm wohlthat, die schweigend seine Hand, wenn sie von der Arbeit ruhte, in die ihre nahm, die ihm die Polster und den Schemel rückte und ihm mit sanfter Stimme den Trost aus baldige Genesung zusprach.
Heute – es war am Nachmittag – hatte er sie fortgeschickt, um ein buntes Lippenblümchen aufzusuchen, das nach seiner Rechnung sich jetzt erschlossen haben mußte; am Waldwasser, das sie Beide zu allen Tageszeiten oft besucht hatten, standen hier und da die
Pflänzchen. – Er selbst war in seinem Lehnsessel bei der begonnenen Arbeit zurückgeblieben; auf Stühlen um ihn her lagen Bücher und Blätter, von Franziska's Hand vor ihrem Weggange sorgsam nahe gerückt und geordnet. Eben hatte er eine ihrer Zeichnungen hervorgesucht, die nach seiner Absicht dem Aufsatze beigedruckt werden sollte; aber seine Gedanken gingen über das Blatt nach der Malerin selbst, die jetzt dort drüben der Wald vor ihm verbarg. Ihre hingebende Sorge an seinem Krankenstuhle wollte ihm auf einmal fast unheimlich scheinen; denn – er konnte es sich nicht verhehlen Franzi hatte sich in letzter Zeit ihm zu entziehen gesucht, sie war fast wieder scheu geworden wie ein Mädchen. Sollte dies demüthige Dienen ein Ersatz sein? Es war etwas Müdes in ihrem ganzen Thun und Wesen.
Richard hatte den Kopf zurückgelehnt und blickte aus dem Fenster, in dessen Nähe seine Krankenstatt aufgeschlagen war. Durch die klare Luft flog eben ein Zug von Wandervögeln; als der verschwunden war, fielen seine Augen auf einen Vogelbeerbaum, der drüben vor den Tannen an der Wiesenmulde
stand; eine Schaar von Drosseln tummelte sich flatternd und kreischend zwischen den schon rothen Traubenbüscheln, die in dem scharfen Strahl der Nachmittagssonne aus dem Grün hervorleuchteten.
Fern aus dem Walde hallte ein Schuß.
„Bartholomäustag!“ sagte Richard bei sich selbst; „die Junker haben ihre Jagd eröffnet. – Wenn nur Franzi schon zurück wäre!“
Eine ungeduldige Sehnsucht nach ihr ergriff ihn. Er hatte ihr etwas versagt, woran sie nur einmal und nie wieder erinnert hatte; aber es schien ihm plötzlich klar geworden, dies Versagen drückte sie. Wenn er nur erst gesund wäre! Sie konnten hier nicht ewig bleiben; auch er fühlte jetzt mitunter eine Beklommenheit in dieser Stille, einen Drang, an den Dingen da draußen wieder frischen Antheil zu nehmen. Dann, wenn sie unter Menschen lebten, mußte schon Alles nachgeholt sein; was er ihr und sich selber einst entgegengesetzt hatte, er schalt es kranke Träume, die den Dünsten des öden Moors entstiegen seien. Nein, nein! Sein junges Weib zur Seite, wollte er wieder ins volle Leben hinaus; ein ganz froher Mann, befreit
von allem grauen Spinngewebe der Vergangenheit. „Franzi, süße Franzi!“ rief er und streckte beide Arme nach ihr aus.
Aber sie kam noch nicht.
Er versuchte es, seine Arbeit wieder aufzunehmen, er blätterte in den umherliegenden Büchern, er schrieb eine Zeile, dann legte er die Feder wieder hin. – Von den Eichbäumen, die zu Westen der Umfassungsmauer standen, fielen die Schatten schon über den ganzen Hof; nur seitwärts durch die oberen Scheiben drang noch ein Sonnenstrahl ins Zimmer. Da sah er es drüben aus den Tannen schimmern; Franziska trat ans dem Dunkel und schritt langsam auf dem Fußsteige hin; ein paar Mal blieb sie wie aufathmend stehen, während sie durch die Wiesenmulde herauskam.
Als sie dann zu ihm ins Zimmer getreten war, legte sie einen Strauß von blauem Enzian und Haideblüthen vor ihm hin, auch ein Stengel jenes Lippenblümchens war dabei, aber die Knospen waren noch nicht erschlossen; vergebens – so sagte sie – habe sie sich überall nach einer aufgeblühten Pflanze umgesehen;
sehen; aber morgen oder übermorgen werde sie gewiß schon eine bringen können.
Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren heiß. Er ergriff ihre Hand und wollte sie an sich ziehen.
„Du hast wohl sehr weit umher gesucht!“ sagte er.
Aber er fühlte ein leises Widerstreben „O, ziemlich weit! Es war ein wenig feucht, ich muß die Schuhe wechseln“
„So thue das erst, komm' aber bald zurück! Ich habe fast um dich gesorgt.“
„Um mich? Das war nicht nöthig.“
„Ja, Franzi, wenn man krank im Lehnstuhl sitzt! – Ich hörte schießen, drüben vom Waldwasser her. Hast du es nicht gehört?“
„Ich? Nein, ich hörte nichts.“ Sie hatte im selben Augenblick den Kopf gewandt. „Ich komme gleich zurück,“ sagte sie, ohne umzusehen, und ging rasch zur Thür hinaus.
Als sie gegangen war, kam der Hund herein, der es bald gelernt hatte, mit seiner breiten Pfote die Zimmerthür zu öffnen. Er legte den Kopf aus seines Herrn Schooß und blickte ihn wie fragend mit den
braunen Augen an. Richard ließ seine Hand liebkosend über den Nacken des schönen Thieres gleiten.
„Sei ruhig, Leo!“ sagte er, „wir Beide bleiben doch beisammen!“ – Er theilte mit den Fingern das seidenweiche Haar unter dem Behang des Kopfes. „Laß sehen! Hast du denn die Narbe noch? Das war ein wilder Strauß mit dem lombardischen Strauchdieb damals! So tolle Wege gehen wir nun nicht mehr! Aber schön wird doch auch die neue Fahrt mit deiner jungen Herrin, wenn sie mit ihren lichten Falkenaugen in die vorüberfliegende Landschaft blickt, und du, mein Hund, voran in weiten Sprüngen, wie einstens, da wir noch allein die Welt durchstreiften! Denn hinaus wollen wir wieder, weit hinaus, und du, mein Thier – gewiß, wir bleiben bei einander!“
Er hatte sich hinabgebeugt, aber Leo schloß wie beruhigt seine Augen und nur die Fahne des mächtigen Schweifes bekundete in sanften Bewegungen die Zufriedenheit seines Innern. So saßen sie still beisammen, wie sie es sonst so oft gethan, Tags an der offenen Landstraße, wie Abends im behaglichen Quartier. Der reichbegabte Mann und die scheinbar so
weit von ihm getrennte Creatur – in diesem Augenblicke legte sich das Gefühl der gegenseitigen Treue wie erquickender Thau auf beider Haupt.
– – Richard war nicht dazu gekommen, Franzi seinen so freudig gefaßten Entschluß mitzutheilen; auch als sie bald daraus wieder eintrat, und selbst in den folgenden Tagen gelangte er nicht dazu. – Franzi ging wiederholt in den Wald hinaus. Sie brachte ihm die erschlossene Blume, um derenwillen sie zuerst hinausgegangen war; sie brachte auch andere, die zu seiner Arbeit in Beziehung standen; jedes Mal hatte sie etwas Neues vorzulegen. In der Vase, welche auf dem Schreibtische stand, ordnete sie fast täglich einen neuen Strauß von Gräsern und wilden Blumen, zwischen denen jetzt auch schon Zweige mit rothen und schwarzen Beeren glänzten.
Wenn sie ihn verlassen hatte, fühlte er eine Unruhe, die er sich selber zu gestehen schämte. Denn was konnte ihr geschehen hier im Walde! – Einen Schuß hatte er nicht wieder gehört; die Jagd mußte, wenn sie überhaupt betrieben wurde, nach einem entfernteren Theile des Reviers verlegt sein.
Aber allmälig und immer rascher fühlte er sich genesen; bald ging er im Hause, bald mit Leo oder Franzi auch schon draußen in der nächsten Umgebung desselben umher; mit vollen Zügen athmete er die klare, würzige Herbstluft. Und jetzt erfaßte ihn aufs Neue eine Ungeduld, bevor noch hier die Blätter fielen, seine Pläne zu verwirklichen. Mit raschem Entschluß setzte er sich an den Schreibtisch und theilte seinem Freunde, dem Bürgermeister, seine Absicht nebst einer dessen Persönlichkeit entsprechenden Begründung mit, zugleich kündigte er seinen Besuch auf die nächsten Tage an. Neben ihm unter dem Briefbeschwerer lag die jüngst verfaßte Arbeit, in sauberer Reinschrift von Franziskas Hand und fertig zur Versendung an die Redaction einer botanischen Zeitschrift. Alles sollte noch heute die Botenfrau zur Post bringen.
Als er die Abhandlung hervorzog, um sie einzusiegeln, kreuzte beim flüchtigen Einblick ein Gedanke seinen Kopf der ihn antrieb, noch einmal ein in seiner Bibliothek befindliches Fachwerk nachzuschlagen.
Gleich, nachdem er das Zimmer verlassen hatte, kam Franziska durch die Außenthür herein. Als sie
den offenen, frisch geschriebenen Brief auf dem Tische liegen sah, trat sie auf leisen Sohlen näher; vorsichtig reckte sie den Kopf und ihre Augen flogen darüber hin, als wollten sie die Schrift einsaugen. Ein paar Secunden stand sie noch, ihre Finger fuhren an die Zähne, ein heftiges Erschrecken lag auf ihrem Antlitz. Dann, als nebenan in der Bibliothek sich Schritte rührten, entfloh sie, aus dem Zimmer, aus dem Haus und draußen über den Hof; an die Mauer gedrückt, lief sie in die Haide hinaus, die an der Rückseite des Gebäudes lag. Eine Weile saß sie hier zwischen dem Eichengebüsch auf dem Boden, die Hände um die Knie gefaltet; ihre Blicke flogen von den Wetterfahnen des Hauses, welche goldschimmernd in der Morgensonne aus dem Laub hervorragten nach dem Wald hinüber und vom Wald zurück zu dem alten Gemäuer, das dort so friedlich in dem Grün der Bäume stand. Plötzlich sprang sie auf; die ganze schmächtige Gestalt bebte, aber ihre Augen blickten entschlossen nach dem Walde hinüber. Durch das Gebüsch der Haide lief sie seitwärts an der Wiesenmulde entlang. Als sie beim Zurückblicken das Haus nicht mehr gewahren
konnte, ging sie durch die wuchernden Kräuter in dieselbe hinab und verschwand dann jenseits zwischen den Stämmen der Waldbäume.
– Als sie nach reichlich einer Stunde wieder ins Haus trat, schien jede Spur einer Aufregung aus ihrem Angesicht verschwunden.
„Bist du endlich da, Franzi?“ sagte Richard, der ihr aus dem Flur entgegenkam; „ich suche dich seit einer Stunde.“
Franziska drückte ihm leicht die Hand. „Verzeih’, daß ich dir's nicht sagte. Mir war der Kopf benommen, ich mußte einen Gang ins Freie machen.“
Er legte ihren Arm in seinen. „Komm!“ sagte er und zog sie mit sich die Treppe hinauf nach dem Wohnzimmer.
Hier faßte er sie an beiden Händen und blickte sie lang und liebevoll mit seinen ernsten Augen an.
Sie senkte den Kopf ein wenig und fragte: „Was hast du, Richard? Du bist so feierlich.“
„Franzi,“ sagte er, „gedenkst du wohl noch der Hochzeitsmusik, die Abends vom Waldesrand zu uns herüberwehte?“
Sie nickte ohne aufzusehen.
„Und jener Worte, die ich damals zu dir sprach?
– Ich war ein Thor, Franzi; die ungewohnte Einsamkeit hatte mir den Muth gelähmt. Doch jetzt bin ich ein eigensüchtiger Mensch; ich kann nicht anders, ich muß dich halten, unauflöslich fest, auch wenn du gehen wolltest! Ich ertrag’s nicht länger, daß du frei bist. – Das ist Selbsterhaltung, Franzi, ich kann nicht leben ohne dich.“
Immer inniger ruhten seine Augen auf ihr, immer näher hatte er sie an sich gezogen.
Bebend hing sie in seinen Armen. „Wann,“ sagte sie, „wann denkst du, daß es sein sollte?“
„Macht’s dich beklommen, Franzi?“ Er legte seine Hand auf ihre dicke, seidene Flechte, und drückte ihren Kopf zurück, daß er ihr Antlitz sehen konnte. „Ich hab’ dich überrascht, besinne dich! Wir brauchen keine Hochzeitsmusik; in dieser Stille, wo du mein geworden bist, mag auch die Außenwelt ihr Recht bekommen. Die alte gute Wieb, ihr Freund, der Inspector; wir brauchen keine anderen Zeugen! Und übermorgen reise ich zu deinem Vormund, zu unserem
Freund, dem Bürgermeister; die paar Tage noch bist du Strohwittwe; dann, Franzi, dann verlassen wir uns nicht mehr.“
Er schwieg.
Sie öffnete die Lippen; aber es war, als wenn die Worte nicht hinüber wollten. „Und wann,“ sagte sie endlich, „wirst du wiederkommen?“
„Am Sonnabend reise ich; am Dienstag bin ich wieder da. Dann hoff’ ich, Alles mitzubringen: die nöthigen Scheine, die Licenz, das Hochzeitskleid. – – Ja, Franzi, die Tage deiner Freiheit sind gezählt! Du wirst mir doch indeß nicht etwa fortgeflogen sein?“
Mit dem glücklichsten Lächeln blickte er sie an. „Und nun geh’, mein geliebtes Weib! Ich hab’ noch Mancherlei für uns zu ordnen.“
Die letzte Nacht vor der Abreise war gekommen. – Die drei Bewohner des Waldwinkels befanden sich in ihren Schlafgemächern; Leo, der treue Wächter,
lag, wie stets um diese Zeit, unten im Flur quer vor der Hausthür hingestreckt. Im Hause war Alles still, wenn nicht mitunter ein Husten der alten Frau Wieb aus deren Gardinenbett hervorbebte, oder droben im Wohnzimmer der Uhrenkukuk von Stunde zu Stunde die Stationen der Nacht in die schweigenden Räume hinausrief. – Draußen aber wühlte der Wind in den Bäumen; die Wetterfahnen kreischten aus dem Dache, und allerlei Stimmen schwebten, wenn der Sturm zu neuem Zuge den Athem anhielt, aus dem Walde herüber.
– – Horch! Klang da nicht ein Fenster? Das einzige an der Westseite des Hauses, wo die Eichenzweige die Mauer fast berühren?
Nein, nur in den Lüften brauste es stärker; es schien sich weiter nichts zu rühren; die alte Frau Wieb hustete; oben rief der Kukuk Eins! – Die Nacht rückte weiter; nichts, was nicht sonst auch da war, ließ sich hören. Die wenigen Sterne, die durch die vorüberjagenden Wolken blinkten, erblichen nach und nach.
– – In der ersten Dämmerung stand Franziska
vor Richards Bette. Er schlief noch; sie kniete nieder und küßte seine Hand, die über den Rand des Bettes herabhing; und als er die Augen ausschlug, sagte sie: „Du mußt aufstehen, Richard; der Wagen wird bald da sein!“
„Franzi!“' rief er, die Augen zu ihr aufschlagend, und nach einer Weile, da der Nebel des Schlafs von seiner Stirn gewichen war, setzte er hinzu: „Hast du den Eulenschrei gehört heut' Nacht? Auf der Uhr drinnen rief es just zu Eins.“
Sie zuckte leise in den Schultern. „Das hören wir ja jede Nacht,“ sagte sie.
„Nein, Franzi; es war nicht der Waldkauz, den wir hier herum haben; es klang ganz anders, seltsam! Ich zweifelte zuerst, ob's auch nur einer seiner Vettern sei; drunten vom Flur herauf hörte ich, wie Leo sich aufrichtete, und einige Male hin und wieder ging.“
„Ich hab' es nicht bemerkt,“ sagte sie leise.
„Dann hast du fest geschlafen, Franzi; denn das Thier muß in einem der nächsten Bäume hier gesessen haben.“
Sie saßen noch beim Frühstück mit einander, aber Franzi brachte kaum ein Krümchen über ihre Lippen. Dann stieg er in den Wagen. „Vergiß es nicht; drei Tage!“ rief er ihr noch zurück, und fort rollte das Gefährte über die Haide; mit lautem Bellen sprang der Hund voraus.
Lange stand sie und blickte mit unbeweglichen Augen hinterher, bis nur noch die dunkle Linie des Steppenzuges sich am Horizonte abhob.
Am Nachmittag trat Richard zu seinem Freunde, dem Bürgermeister, in das Zimmer.
„Nun, Waldmensch!“ rief dieser, ihm drohend die kleine runde Hand entgegenschüttelnd; „was treibst du denn für Streiche?“
„Du hast also meinen Brief erhalten?“
„Freilich! Wie du Einen alteriren kannst! Es sind natürlich lauter Scherze!“
„Ich bin in vollem Ernst zu dir gekommen.“
„Höchst merkwürdig!“ sagte der Bürgermeister;
„romantisch, ganz romantisch! – Ich wette, du weißt noch nicht einmal, wer Vater und Mutter zu dem Mädchen gewesen sind.“
„Was geht das mich an!“
„Nun, nun; du brauchst aber doch einen Taufschein“
„Ich brauche noch mehr, Fritz! Vielleicht gar deine obervormundschaftliche Hülfe, wenn der wackere Schuster seine Mündel etwa wieder bei einem reichen Bäcker sollte in Versorgung geben wollen.“
„Meine Hülfe, Richard? Nein, nein; wo denkst du hin? Das ginge denn doch gegen mein Gewissen.“
Richard lächelte. „Aber du bist ja nicht mein Obervormund; ist dir der Mann nicht gut genug für deine Mündel?„
„Bei Gott, du hast Recht, Richard! Mir war in diesem Augenblick, als seist du noch mein Leibfuchs. Da werd ich freilich nichts dagegen machen können.“ Der Bürgermeister hatte seine goldene Brille von der Nase genommen, putzte die Gläser mit seinem gelbseidenen Schnupftuche und sah dabei den Freund kopfschüttelnd aus seinen kleinen Augen an. „Hm, solch’
ein Schwärmer!“ sagte er; „es ist doch seltsam, daß Eure Sorte immer – –“
Aber Richard ergriff den kleinen guten Mann bei beiden Händen. „Du disputirst sie mir nicht ab,“ sagte er innig. „Laß gut sein, Fritz; sprich lieber, wie steht es mit dem Herrn Magister?“
„Er sitzt!“ erwiederte der Bürgermeister mit einem höchst fröhlichen Erwachen feiner Stimme.
„Aber sein Proceß?“
„Still; weck' ihn nicht! Der schläft.“
„Und Franziska?“
„Wird nicht mehr beunruhigt werden. Die Acten sind eingesandt; das Urthel kommt schon zu seiner Zeit.“
„Nun, Fritz, so hilf mir und laß uns Alles rasch besorgen!“
– – Und Alles wurde besorgt; schon am nächsten Vormittage hatte Richard die Licenz und alle nöthigen Scheine in seinen Händen. Es war sein Plan gewesen, die Reise noch auf jene Großstadt auszudehnen; aber wieder befiel ihn eine fast angstvolle Sehnsucht und trieb ihn nach dem Wald zurück; die beabsichtigten
Einkäufe ließen sich ja auch am besten in Gemeinschaft mit Franziska machen.
So besaht er denn die Heimkehr.
„Frisch zu, Kutscher,“ sagte er; „es gilt ein doppeltes Trinkgeld!“
Der Kutscher brauchte seine Peitsche; noch am Nachmittag erreichten sie das Dorf; aber auf dem holperigen Steinpflaster lief ein Rad von der Achse, und zur Ausbesserung bedurfte es einer halbstündigen Arbeit in der Dorfschmiede. Richard, von Leo begleitet, war nach dem Krug hinübergegangen. Bei seinem Eintritt in die Außendiele stieß der Hund ein dumpfes Knurren aus, und in demselben Augenblick ging der junge Förster, der eben aus der Gaststube trat, ohne Gruß an ihm vorüber aus der Hausthür; nur ein flüchtiger Blick der blanken Augen hatte ihn gestreift.
Richard blieb unwillkürlich stehen. Als er durch die offene Hausthür wahrnahm, daß der Andere den Hof verlassen hatte, ging auch er wieder hinaus und sah ihn eilig aus dem nach Norden führenden Landwege dahinschreiten. Der Mensch war ihm verhaßt;
er wußte selber kaum, weshalb er hier am Wege stand, ihm nachzublicken.
Er wandte sich rasch wieder nach dem Hause. Dort hörte er von der Gaststube aus lebhaftes und vielstimmiges Gespräch, wovon er bei seiner ersten Einkehr nichts bemerkt hatte. Als er mit seinem Hunde eintrat, fand er viele Gäste an den Tischen sitzen, denn es war Sonntag Nachmittag. Aber das Gespräch verstummte plötzlich; statt dessen kam der Wirth ihm entgegen und erkundigte sich geflissentlich nach seiner Reise-Ungelegenheit. Von einem der Tische her hörte er noch den Namen des Försters, den er zufällig erfahren hatte; doch der Sprecher erhielt von seinem Nachbar einen Stoß mit dem Ellenbogen; und allmälig kam wieder ein lautes Gespräch in Gang, wie es die Bauern über Ernte und Fruchtpreise um solche Jahreszeit zu führen pflegen.
Endlich war die Achse hergestellt, und der Wagen rollte fort. Richard saß in sich versunken; eine unklare, unbehagliche Stimmung hatte ihn ergriffen; er konnte sich nicht freuen aus die Heimkehr; formlose gespenstische Gebilde aus irgend einem fernen grauen
Nebel drangen auf ihn ein. Wenn er nur erst da wäre, nur erst Franziska's Antlitz wieder sähe!
Und weiter ging es, und immer näher kam er zu den Wäldern. Schon rumpelte der Wagen zwischen dem Eichenbusch über den harten Haideboden, und endlich stieg das Dach des Hauses vor ihm auf und er sah die Wetterfahnen in der Abendsonne schimmern.
Aber dort, was seitwärts aus dem Schatten des Waldes trat, das war de ja selbst; ihr helles Kleid, ihr Strohhütchen, ganz deutlich hatte er es erkannt. Sie schien den Wagen nicht bemerkt zu haben, denn de schlug die Richtung nach dem Hause ein; aber er beugte sich vor und rief über die Haide: „Franzi! Franzi!“ – Da blieb sie stehen, und als er noch einmal gerufen hatte, wandte sie sich und kam langsam näher. Endlich konnte er ihr Antlitz sehen; die Augen standen so groß und dunkel über den blassen Wangen; er meinte, sie noch niemals so gesehen zu haben. Bevor der Wagen hielt, war er schon hinabgesprungen und schloß de in die Arme. „Gott sei gedankt!“ rief er und athmete auf, als fiele eine Bergeslast
von seiner Brust; „mir war, als könnt' ich dich verloren haben!“
Sie sagte nur: „Was du für Träume hast!“
Aber während ihr Kopf an seinem Herzen lag, waren ihre Augen auf den an ihrer Seite stehenden Hund gefallen. Der hatte die Nase nach dem Walde ausgestreckt, aus welchem sie soeben hergekommen war, und schnoberte immer heftiger in der Luft umher. Fast mechanisch griff ihre kleine Hand in das metallene Halsband des Thieres. „Laß uns heim, Richard,“ sagte sie hastig; „und halte den Hund, damit er nicht, wie neulich, nach den Rehen jagt!“
Er sah nicht hin, er hatte nur Augen für die junge Gestalt, die er in seinen Armen hielt, die er wie ein Kind jetzt in den Wagen hob. Dann pfiff er seinem Hunde und bald hatten sie die kurze Strecke bis zum Hause zurückgelegt.
Er fand dort Alles in gewohnter Ordnung; die alte Wieb trat im saubersten Sonntagsanzug ihm entgegen, voll Freude über seine unerwartet schnelle Heimkehr. Aber er sagte ihr, daß der Wagen schon auf morgen wieder bestellt sei, daß er in der großen
Stadt zu thun habe und daß Franziska mit ihm reisen werde. Und dieser flüsterte er zu: „Du bist es doch zufrieden, Franzi? Wir gehen wieder zu der entzückten Ladendame: kleine seidene Stiefelchen soll sie dir anmessen! Du sollst dir Alles selber aussuchen – doch nein! Du bist zu anspruchslos, du würdest doch nur Kleider für dich kaufen. – Ich aber – in weißen Duft will ich dich hüllen, so leicht wie ein Nichts, so zart, daß auch eine Wolke davon das Leuchten einer Rose nicht verbergen könnte.“
Er sah es nicht, wie sie die weißen Zähnchen auf einander biß und wie ihre Lippen zitterten.
„Nun, Franzi,“ fuhr er fort, „was meinst du, bist du es zufrieden?“
Sie zog schweigend seine Hand an ihre Lippen; dann sagte sie mit jenem scharfen Klang der Stimme: „Ich meine, daß du wieder einmal verschwenden willst, und daß du dich täuschest über mich arme Dirne, die ich bin.“
„Und ich meine, daß jetzt du die Thörin bist.“
Der Abend kam. Richard hatte, wie gewöhnlich, das äußere Bohlenthor und die Hausthür abgeschlossen; vor der letzteren auf dem Hausflur lag der Hund, der große Schlüssel zu dem ersteren hing an dem Thürpfosten in seinem Schlafgemache. Dann legte er sanft den Arm um Franzi’s Leib, die müßig am Fenster des Wohnzimmers stand und nach dem dunklen Wald hinüberschaute, und führte sie durch die Bibliothek bis an die Schwelle ihrer Kammer. Sie war ihm wie eine unberührte Braut, er überschritt die Schwelle nicht. „Schlaf’ süß, meine Franzi!“ sagte er. „Mir ist auf einmal wieder, als stünde das Glück mir noch in ungewisser Ferne.“
Sie hatte schon die Thür geöffnet; da riß er sie noch einmal an sich. „Gute Nacht, gute Nacht, Franzi!“
Dann war sie fort; nur ihre kleinen, leichten Schritte hörte er noch hinter der geschlossenen Thür.
Langsam ging er durch das Wohnzimmer. Im Vorübergehen hob er die brennende Kerze, welche er dort vom Tisch genommen hatte, gegen das alte Thürbild und warf einen flüchtigen Blick darauf; dann trat er in sein Schlafgemach.
Und bald, nach den Ermüdungen dieser letzten Tage, lag er in festen Schlaf gesunken. Weder das Rauschen der Wälder draußen in der dunklen Herbstnacht, noch der Zeitruf des kleinen Kunstvogels aus der nebenan liegenden Stube drang in die Tiefe seines Schlummers. Schon war die höchste Stufe der Nacht erklommen; zwölf Mal hatte es drüben von der Uhr gerufen; er schlief traumlos weiter, und weiter rückte die Nacht. Eins rief es von der Uhr; – dann Zwei; – dann Drei! Da kamen die Träume; und was am Tage nur wie beängstigender Nebel vor seinem Blick geschwommen, jetzt wurde es zu farbigen Gestalten, von grellem oder fahlem Licht beleuchtet, das keiner Zeit des Tages angehörte. – Wie bleich ihm Franzi in den Armen hing! Und seltsam, immer wollten ihre Augen ihn nicht ansehen! Aber dort hinter den Bäumen stand der Jäger. – –
Stöhnend warf er sich umher aus seinem Lager; aus seinem Munde brachen heftige, zusammenhanglose Laute. Plötzlich fuhr er empor und saß aufgerichtet in den Kissen; der Nachhall irgend eines Schalles lag in seinen Ohren; und jetzt schon wußte er es,
vom Hofe drunten mußte es gekommen sein. Im selben Augenblicke stund er auch am Fenster; kaum die erste graue Dämmerung war angebrochen; aber dennoch sah er es, wie eben das schwere Hofthor zuschlug. Wie noch im Traume hatte er eine seiner beiden Pistolen von der Wand gerissen; eine Fensterscheibe klirrte, und klatschend fuhr die Kugel drunten in das Bohlenthor.
Dann blieb Alles still. Er riß die andere Pistole von der Wand, und ohne Kleidung, im nackten Hemde, stürzte er aus dem Zimmer; im Hinausgehen griff er nach dem Haken an der Thür, aber der Schlüssel fehlte.
„Leo, Leo!“ rief er auf der Treppe draußen. „Mein Hund, wo bist du?“ – Nichts regte sich. Noch einmal rief er und stieg dann in den noch dunkeln Hausflur hinab.
Da wurden seine Füße durch etwas aufgehalten, was nicht weichen wollte; als er sich bückte, fuhr seine Hand über langes, seidenweiches Haar. – Er stieß einen lauten Schrei aus. Noch einmal bückte er sich; dann rannte er – er wußte selbst nicht weshalb – in die Kammer seiner alten Dienerin; aber die taube
alte Frau lag ruhig athmend in ihrem Bette; er nahm das auf dem Tische stehende Licht, zündete es an und trat wieder auf den Flur hinaus. Da lag sein Hund, die Beine steif gestreckt, die braunen Augensterne groß und offen. – Er warf sich nieder und leuchtete mit der Kerze dicht hinan; ein bläulicher Flor schien den Glanz der Augen zu bedecken; kalt und wie in stummer Klage starrten sie ihn an. – – Auf einmal war ihm, als würden die Mauern durchsichtig, als sähe er zwei jugendliche Gestalten über die Haide fliehen und im brennenden Morgenschein verschwinden.
Er sprang auf und stand im nächsten Augenblicke in Franziskas Kammer. Sie war leer, das Bett nur leicht berührt; man sah, sie hatte nur zu flüchtiger Rast sich auf die Decke hingestreckt; das Kissen zeigte noch den Eindruck, wo sie ihren Arm gestützt hatte. Er hätte es nicht lassen können, er legte seine Hand hinein, als liebkoste er noch die letzte Spur ihres Lebens. Da klirrte durch eine zufällige Berührung die Waffe in seiner anderen Hand, und jäh schoß ein neuer Gedankenstrom durch seinen Kopf. Schon war er draußen auf der Treppe; aber er kam nicht
weiter. – Was wollte er denn noch? – Schon einmal waren seine Hände roth geworden. Langsam stieg er die Treppe hinauf nach seiner Schlafkammer; er hängte die Schußwaffe an ihren Platz; dann kleidete er sich völlig an. Als er fertig war, trat er in das Wohnzimmer, zog die Vorhänge der Fenster auf und öffnete dann mit seinem Schlüssel das Fach des Schreibtisches, worin die Werthpapiere ihren Platz hatten.
Er wußte vorher schon, was er finden würde. Was ihm gehörte, lag unberührt; das Päckchen mit Franziska's Namen war verschwunden. – Eine Weile suchte er noch nach einem Zettelchen von ihrer Hand, einem Wort des Abschieds oder was es immer sei; er räumte das ganze Fach aus, aber es fand sich nichts. –
Durch die Fenster brach der erste Morgenschein und ließ das alte Thürbild aus der Dämmerung hervortreten. Als er zufällig den Blick dahin warf, überkam ihn ein wunderlicher Sinnentrug; der einsame Alte dort am Wege hatte ja den Kopf gewandt und sah ihn an.
Die Sonne stieg höher, an den Tapeten leuchteten die Blumen der Vergessenheit. Richard hatte die Augen noch immer nach dem Bilde. Es war sein eigenes Angesicht, in das er blickte.
Der October war ins Land gekommen. Im Kruge zu Föhrenschwarzeck saßen eines Nachmittags der Wirth und der kleine Krämer aus der Stadt sich gegenüber. Der ganze Tisch war voll von Kreidezahlen, sie hatten wieder einmal Quartalstag gehalten; das Facit war gezogen und genehmigt worden; die noch übrige Zeit gehörte vergnüglicheren Gesprächen, und sie waren auch schon in vollem Gange.
Casper-Ohm begann soeben von dem Boden der gemeinen Wirklichkeit emporzusteigen. „Ihr mögt mir’s glauben,“ sagte er geheimnißvoll, „es ist sein eigen Blut gewesen; freilich hat er’s nicht Wort haben wollen, denn sie ist auf den Namen Fedders getauft und bei einem Magister aufgezogen worden; sogar einen eigenen Vormund hat er ihr von Gerichtswegen setzen lassen!“
„Casper-Ohm!“ sagte der kleine Krämer, „Ihr seid wieder einmal bei Eurem Advocaten in der Stadt gewesen!“
„Nun, nun, Pfeffers, glaubt’s oder glaubt’s nicht! Der Vormund ist selbst bei mir eingekehrt gewesen; da, wo Ihr jetzt sitzt, hat er gesessen und seinen Schnaps getrunken; sie haben’s drüben im Narrenkasten eben mitsammen fertig gehabt, daß das arme Kind einen reichen Bäckermeister freien sollte, so einen alten wurmstichigen Mehlkneter; denn sie ist was wild gewesen, und die alte Waisen-Wieb hat nicht recht mehr mit ihr hausen können. – Nun, Pfeffers, was soll man dazu sagen, daß sie lieber mit dem schwarzen Krauskopf“ – – Er nickte dem Krämer zu und blies bedeutsam durch seine ausgespreizten Finger.
„Das ist eine gewaltige Geschichte, die Ihr da erzählt, Casper-Ohm,“ meinte der Andere, „und stimmt nicht ganz mit dem Kalender; denn der Doctor ist bei der Geburt des Mädels ja schon drei Jahr’ außer Landes gewesen! Aber laßt uns einmal anstoßen, und freut Euch, daß der Krauskopf Eure Ann’-Margareth’ nicht auch noch mitgenommen hat; denn er sah
mir just nicht aus, als wenn er lange mit einer Einzigen zufrieden wäre.“
Casper-Ohm lachte und blickte durch die Fensterscheiben. „Da kommt auch der Inspector!“ sagte er.
Der Genannte war eben in Begleitung seines Pudels unter der alten Eiche durchgegangen, in deren Wipfel jetzt das leere Nest zwischen den schon gelichteten Zweigen sichtbar war.
Der Wirth empfing ihn an der Stubenthür. „Nun, Herr Inspector!“ rief er munter, „Alles wieder auf dem alten Stand?“
„Ausgekehrt und abgeschlossen!“ erwiederte der Alte, indem er den großen Schlüssel zum Außenthor des Waldwinkels auf den Tisch und sich selbst auf einen Stuhl warf. „Gestern ging das letzte Fuder nach der Stadt, um dort unter’m Hammer weggeschlagen zu werden; all’ das schöne Ingut! Die alte Lewerenz bekommt das ganze Geld dafür.“
„Und der Herr Doctor?“ fragte der Wirth. „Wo ist denn der geblieben?“
„Weiß nicht,“ sagte der Alte, „kümmert mich auch nicht; – fort – in die weite Welt.“
Der kleine Pfeffers nahm den Schlüssel von der Tischplatte und hielt ihn über den Köpfen der beiden Anderen: „Wer bietet auf den Narrenkasten? – Nummer Eins: der alte Herr; Nummer zwei: der Herr Botanicus – wer bietet zum dritten auf den Narrenkasten?“
„Laßt die Possen, Pfeffers!“ sagte der Alte und nahm ihm den Schlüssel aus der Hand. „Mir thut’s nur leid um den Löwengelben; ich sag' Euch, es war ein Capitalvieh; er ging noch über meinen Phylax.“
Pole Poppenspäler.
Ich hatte in meiner Jugend einige Fertigkeit im Drechseln, und beschäftigte mich sogar wohl etwas mehr damit, als meinen gelehrten Studien zuträglich war; wenigstens geschah es, daß mich eines Tags der Subrector bei Rückgabe eines nicht eben fehlerlosen Exercitiums seltsamer Weise fragte, ob ich vielleicht wieder eine Nähschraube zu meiner Schwester Geburtstag gedrechselt hätte. Solche kleine Nachtheile wurden indessen mehr als aufgewogen durch die Bekanntschaft mit einem trefflichen Manne, die mir in Folge jener Beschäftigung zu Theil wurde. Dieser Mann war der Kunstdrechsler und Mechanikus Paul Paulsen, auch deputirter Bürger unserer Stadt. Auf die Bitte meines Vaters, der für Alles, was er mich unternehmen sah, eine gewisse Gründlichkeit forderte, verstand er sich dazu, mir die für meine kleinen Arbeiten erforderlichen Handgriffe beizubringen.
Paulsen besaß mannigfache Kenntnisse und war dabei nicht nur von anerkannter Tüchtigkeit in seinem eigenen Handwerk, sondern er hatte auch eine Einsicht in die künftige Entwickelung der Gewerke überhaupt, so daß bei Manchem, was jetzt als neue Wahrheit verkündigt wird, mir plötzlich einfällt: das hat dein alter Paulsen ja schon vor vierzig Jahren gesagt. – Es gelang mir bald seine Zuneigung zu erwerben, und er sah es gern, wenn ich noch außer den festgesetzten Stunden am Feierabend einmal zu ihm kam. Dann saßen wir entweder in der Werkstätte, oder Sommers – denn unser Verkehr hat Jahre lang gedauert – auf der Bank unter der großen Linde seines Gärtchens. In den Gesprächen, die wir dabei führten, oder vielmehr, welche mein älterer Freund dabei mit mir führte, lernte ich Dinge kennen und auf Dinge meine Gedanken richten, von denen, so wichtig sie im Leben sind, ich später selbst in meinen Primaner-Schulbüchern keine Spur gefunden habe.
Paulsen war seiner Abkunft nach ein Friese und der Charakter dieses Volksstammes aufs Schönste in seinem Antlitz ausgeprägt; unter dem schlichten blonden
Haar die denkende Stirn und die blauen sinnenden Augen; dabei hatte, vom Vater ererbt, seine Stimme noch etwas von dem weichen Gesang seiner Heimathsprache.
Die Frau dieses nordischen Mannes war braun und von zartem Gliederbau, ihre Sprache von unverkennbar süddeutschem Klange. Meine Mutter pflegte von ihr zu sagen, ihre schwarzen Augen könnten einen See ausbrennen, in ihrer Jugend aber sei sie von seltener Anmuth gewesen. – Trotz der silbernen Fädchen, die schon ihr Haar durchzogen, war auch jetzt die Lieblichkeit dieser Züge noch nicht verschwunden, und das der Jugend angeborene Gefühl für Schönheit veranlaßte mich bald, ihr, wo ich immer konnte, mit kleinen Diensten und Gefälligkeiten an die Hand zu gehen.
„Da schau mir nur das Buberl,“ sagte sie dann wohl zu ihrem Mann; „wirst doch nit eifersüchtig werden, Paul!“
Dann lächelte Paul. Und aus ihren Scherzworten und aus seinem Lächeln sprach das Bewußtsein innigsten Zusammengehörens.
Sie hatten außer einem Sohne, der damals in der Fremde war, keine Kinder, und vielleicht war ich den Beiden zum Theil deshalb so willkommen, zumal Frau Paulsen mir wiederholt versicherte, ich habe grad' ein so lustigs Naserl wie ihr Joseph. Nicht verschweigen will ich, daß Letztere auch eine mir sehr zusagende, in unserer Stadt aber sonst gänzlich unbekannte Mehlspeise zu bereiten verstand und auch nicht unterließ, mich dann und wann darauf zu Gaste zu bitten. – So waren denn dort der Anziehungskräfte für mich genug. Von meinem Vater aber wurde mein Verkehr in dem tüchtigen Bürgerhause gern gesehen. „Sorge nur, daß du nicht lästig fällst!“ war das Einzige, woran er in dieser Beziehung zuweilen mich erinnerte. Ich glaube indessen nicht, daß ich meinen Freunden je zu oft gekommen bin.
Da geschah es eines Tages, daß in meinem elterlichen Hause einem alten Herrn aus unserer Stadt das neueste und wirklich ziemlich gelungene Werk meiner Hände vorgezeigt wurde.
Als dieser seine Bewunderung zu erkennen gab, bemerkte mein Vater dagegen, daß ich ja aber auch
schon seit fast einem Jahr bei Meister Paulsen in der Lehre sei.
„So, so,“ erwiederte der alte Herr; „bei Pole Poppenspäler!“
Ich hatte nie gehört, daß mein Freund einen solchen Beinamen führe, und fragte, vielleicht ein wenig naseweis, was das bedeuten solle.
Aber der alte Herr lächelte nur ganz hinterhaltig und wollte keine weitere Auskunft geben. –
Zum kommenden Sonntag war ich von den Paulsen’schen Eheleuten auf den Abend eingeladen, um ihnen ihren Hochzeitstag feiern zu helfen. Es war im Spätsommer, und da ich mich frühzeitig auf den Weg gemacht und die Hausfrau noch in der Küche zu wirthschaften hatte, so ging Paulsen mit mir in den Garten, wo wir uns zusammen unter der großen Linde auf die Bank setzten. Mir war das „Pole Poppenspäler“ wieder eingefallen, und es ging mir so im Kopf herum, daß ich kaum auf seine Reden Antwort gab; endlich, da er mich fast ein wenig ernst wegen meiner Zerstreuung zurechtgewiesen hatte, fragte ich ihn gradezu, was jener Beiname zu bedeuten habe.
Er wurde sehr zornig. „Wer hat dich das dumme Wort gelehrt?“ rief er, indem er von seinem Sitze aufsprang. Aber, bevor ich noch zu antworten vermochte, saß er schon wieder neben mir. „Laß, laß!“ sagte er sich besinnend; „es bedeutet ja eigentlich das Beste, was das Leben mir gegeben hat. – Ich will es dir erzählen; wir haben wohl noch Zeit dazu. –
In diesem Haus und Garten bin ich aufgewachsen, meine braven Eltern wohnten hier, und hoffentlich wird einst mein Sohn hier wohnen! – Daß ich ein Knabe war, ist nun schon lange her; aber gewisse Dinge aus jener Zeit stehen noch, wie mit farbigem Stift gezeichnet, vor meinen Augen.
Neben unserer Hausthür stand damals eine kleine weiße Bank mit grünen Stäben in den Rück- und Seitenlehnen, von der man nach der einen Seite die lange Straße hinab bis an die Kirche, nach der anderen aus der Stadt hinaus bis in die Felder sehen konnte. An Sommerabenden saßen meine Eltern hier, der Ruhe nach der Arbeit pflegend; in den Stunden vorher aber pflegte ich sie in Beschlag zu nehmen, und hier in der freien Luft und unter erquickendem
Ausblick nach Ost und West meine Schularbeit anzufertigen.
So saß ich auch eines Nachmittags – ich weiß noch gar wohl, es war im September, eben nach unserem Michaelis-Jahrmarkte – und schrieb für den Rechenmeister meine Algebra-Exempel auf die Tafel, als ich unten von der Straße ein seltsames Gefährt heraufkommen sah. Es war ein zweirädriger Karren, der von einem kleinen rauhen Pferde gezogen wurde. Zwischen zwei ziemlich hohen Kisten, mit denen er beladen war, saß eine große blonde Frau mit steifen hölzernen Gesichtszügen und ein etwa neunjähriges Mädchen, das sein schwarzhaariges Köpfchen lebhaft von einer Seite nach der anderen drehte; nebenher ging, den Zügel in der Hand, ein kleiner, lustig blickender Mann, dem unter seiner grünen Schirmmütze die kurzen schwarzen Haare wie Spieße vom Kopfe abstanden.
So, unter dem Gebimmel eines Glöckchens, das unter dem Halse des Pferdes hing, kamen sie heran. Als sie die Straße vor unserem Hause erreicht hatten, machte der Karren Halt. „Du Bub’,“ rief die
Frau zu mir herüber; „wo ist denn die Schneiderherberg’?“
Mein Griffel hatte schon lange geruht; nun sprang ich eilfertig auf und trat an den Wagen. „Ihr seid grad’ davor,“ sagte ich und wies auf das alte Haus mit der viereckig geschorenen Linde, das, wie du weißt, noch jetzt hier gegenüber liegt.
Das feine Dirnchen war zwischen den Kisten aufgestanden, streckte das Köpfchen aus der Kapuze ihres verschossenen Mäntelchens und sah mit ihren großen Augen auf mich herab; der Mann aber, mit einem „Sitz ruhig, Diendl!“ und „Schönen Dank, Bub!“ peitschte auf den kleinen Gaul und fuhr vor die Thür des bezeichneten Hauses, aus dem auch schon der dicke Herbergsvater in seiner grünen Schürze ihm entgegen trat.
Daß die Ankömmlinge nicht zu den zunftberechtigten Gästen des Hauses gehörten, mußte mir freilich klar sein; aber es pflegten dort – was mir jetzt, wenn ich es bedenke, mit der Reputation des wohlehrsamen Handwerks sich keineswegs reimen will – auch andere, mir viel angenehmere Leute einzukehren. Droben
im zweiten Stock, wo noch heute statt der Fenster nur einfache Holzluken auf die Straße gehen, war das hergebrachte Quartier aller fahrenden Musikanten, Seiltänzer oder Thierbändiger, welche in unserer Stadt ihre Kunst zum Besten gaben.
Und richtig, als ich am anderen Morgen oben in meiner Kammer vor dem Fenster stand und meinen Schulsack schnürte, wurde drüben eine der Luken aufgestoßen; der kleine Mann mit den schwarzen Haarspießen steckte seinen Kopf ins Freie und dehnte sich mit beiden Armen in die frische Luft hinaus; dann wandte er den Kopf hinter sich nach dem dunklen Raum zurück, und ich hörte ihn „Lisei! Lisei!“ rufen. – Da drängte sich unter seinem Arm ein rosiges Gesichtlein vor, um das wie eine Mähne das schwarze Haar herabfiel. Der Vater wies mit dem Finger nach mir herüber, lachte und zupfte sie ein paarmal an ihren seidenen Strähnen. Was er zu ihr sprach, habe ich nicht verstehen können; aber es mag wohl ungefähr gelautet haben: „Schau dir ihn an, Lisei! Kennst ihn noch, den Bubn von gestern? – Der arme Narr, da muß er nun gleich mit dem Ranzen
in die Schule traben! – Was du für ein glücklichs Diendl bist, die du allweg’ nur mit unserem Braunen Land ab Land auf zu fahren brauchst!“ – Wenigstens sah die Kleine ganz mitleidig zu mir herüber, und als ich es wagte, ihr freundlich zuzunicken, nickte sie sehr ernsthaft wieder.
Bald aber zog der Vater seinen Kopf zurück und verschwand im Hintergrund seines Bodenraumes. Statt seiner trat jetzt die große blonde Frau zu dem Kinde; sie bemächtigte sich ihres Kopfes und begann ihr das Haar zu strählen. Das Geschäft schien schweigend vollzogen zu werden, und das Lisei durfte offenbar nicht mucksen, obgleich es mehrmals, wenn ihr der Kamm so in den Nacken hinabfuhr, die eckigsten Figuren mit ihrem rothen Mäulchen bildete. Nur einmal hob sie den Arm und ließ ein langes Haar über die Linde draußen in die Morgenluft hinausfliegen. Ich konnte von meinem Fenster aus es glänzen sehen; denn die Sonne war eben durch den Herbstnebel gedrungen und schien drüben auf den oberen Theil des Herberghauses.
Auch in den vorhin undurchdringlich dunklen Bodenraum
konnte ich jetzt hineinsehen. Ganz deutlich erblickte ich in einem dämmerigen Winkel den Mann an einem Tische sitzen; in seiner Hand blinkte etwas wie Gold oder Silber; dann wieder war's wie ein Gesicht mit einer ungeheuren Nase; aber so sehr ich meine Augen anstrengte, ich vermochte nicht klug daraus zu werden. Plötzlich hörte ich, als wenn etwas Hölzernes in einen Kasten geworfen würde, und nun stand der Mann auf und lehnte aus einer zweiten Luke sich wieder auf die Straße hinaus.
Die Frau hatte indessen der kleinen schwarzen Dirne ein verschossenes rothes Kleidchen angezogen und ihr die Haarflechten wie einen Kranz um das runde Köpfchen gelegt.
Ich sah noch immer hinüber. „Einmal,“ dachte ich, „könnte sie doch wieder nicken!“
– – „Paul, Paul!“ hörte ich plötzlich unten aus unserem Hause die Stimme meiner Mutter rufen.
„Ja, ja, Mutter!“
Es war mir ordentlich wie ein Schrecken in die Glieder geschlagen.
„Nun,“ rief sie wieder, „der Rechenmeister wird dir
schön die Zeit verdeutschen! Weißt du denn nicht, daß es lang schon Sieben geschlagen hat?“
Wie rasch polterte ich die Treppe hinunter!
Aber ich hatte Glück! der Rechenmeister war gerade dabei, seine Bergamotten abzunehmen, und die halbe Schule befand sich in seinem Garten, um mit Händen und Mäulern ihm dabei zu helfen. Erst um neun Uhr saßen wir Alle mit heißen Backen und lustigen Gesichtern an Tafel und Rechenbuch auf unseren Bänken.
Als ich um Elf, die Taschen noch von Birnen starrend, aus dem Schulhofe trat, kam eben der dicke Stadt-Ausrufer die Straße herauf. Er schlug mit dem Schlüssel an sein blankes Messingbecken und rief mit seiner Bierstimme:
„Der Mechanikus und Puppenspieler Herr Joseph Tendler aus der Residenzstadt München ist gestern hier angekommen und wird heute Abend im Schützenhof-Saale seine erste Vorstellung geben. Vorgestellt wird Pfalzgraf Siegfried und die heilige Genovefa, Puppenspiel mit Gesang in vier Aufzügen.“
Dann räusperte er sich und schritt würdevoll in der meinem Heimwege entgegengesetzten Richtung weiter. Ich folgte ihm von Straße zu Straße, um wieder und wieder die entzückende Verkündigung zu hören; denn niemals hatte ich eine Komödie, geschweige denn ein Puppenspiel gesehen. – Als ich endlich umkehrte, sah ich ein rothes Kleidchen mir entgegenkommen; und wirklich, es war die kleine Puppenspielerin; trotz ihres verschossenen Anzuges schien sie mir von einem Märchenglanz umgeben.
Ich faßte mir ein Herz und redete sie an: „Willst du spazieren gehen, Lisei?“
Sie sah mich mißtrauisch aus ihren schwarzen Augen an. „Spazieren?“ wiederholte sie gedehnt. „Ach du! – du bist g’scheidt!“
„Wohin willst du denn?“
– „Zum Ellen-Kramer will i!“
„Willst du dir ein neues Kleid kaufen?“ fragte ich tölpelhaft genug.
Sie lachte laut auf. „Geh! laß mi aus! – Nein; nur so Fetzl’n!“
„Fetzl’n, Lisei?“
– „Freili! Halt nur so Resteln zu G’wandl’ für die Pupp’n; ’s kost’t immer nit viel!“
Ein glücklicher Gedanke fuhr mir durch den Kopf. Ein alter Onkel von mir hatte damals am Markte hier eine Ellenwaarenhandlung, und sein alter Ladendiener war mein guter Freund. „Komm mit mir!“ sagte ich kühn; „es soll dir gar nichts kosten, Lisei!“
„Meinst?“ fragte sie noch; dann liefen wir Beide nach dem Markt und in das Haus des Onkels. Der alte Gabriel stand wie immer in seinem pfeffer- und salzfarbenen Rock hinter dem Ladentisch, und als ich ihm unser Anliegen deutlich gemacht hatte, kramte er gutmütig einen Haufen „Rester“ auf den Tisch zusammen.
„Schau, das hübsch Brinnroth!“ sagte Lisei und nickte begehrlich nach einem Stückchen französischen Kattuns hinüber.
„Kannst es brauchen?“ fragte Gabriel. – Ob sie es brauchen konnte! Der Ritter Siegfried sollte ja auf den Abend noch eine neue Weste geschneidert bekommen.
„Aber da gehören auch die Tressen noch dazu,“
sagte der Alte, und brachte allerlei Endchen Gold- und Silberflittern. Bald kamen noch grüne und gelbe Seidenläppchen und Bänder, endlich ein ziemlich großes Stück braunen Plüsches. „Nimm’s nur, Kind!“ sagte Gabriel; „das giebt ein Thierfell für Eure Genovefa, wenn das alte vielleicht verschossen wäre!“ Dann packte er die ganze Herrlichkeit zusammen und legte sie der Kleinen in den Arm.
„Und es kost’t nix?“ fragte sie beklommen.
Nein, es kostete nichts. Ihre Augen leuchteten. „Schön’ Dank, guter Mann! Ach, wird der Vater schauen!“
Hand in Hand, Lisei mit ihrem Päckchen unter dem Arm, verließen wir den Laden; als wir aber in die Nähe unserer Wohnung kamen, ließ sie mich los und rannte über die Straße nach der Schneiderherberge, daß ihr die schwarzen Flechten in den Nacken flogen.
– – Nach dem Mittagsessen stand ich vor unserer Hausthür und erwog unter Herzklopfen das Wagniß, schon heute zur ersten Vorstellung meinen Vater um das Eintrittsgeld anzugehen; ich war ja mit der Gallerie
zufrieden, und die sollte für uns Jungens nur einen Doppelschilling kosten. Da, bevor ich’s noch bei mir ins Reine gebracht hatte, kam das Lisei über die Straße zu mir her geflogen. „Der Vater schickt’s!“ sagte sie, und eh’ ich mich’s versah, war sie wieder fort; aber in meiner Hand hielt ich eine rothe Karte, darauf stand mit großen Buchstaben: Erster Platz.
Als ich aufblickte, winkte auch von drüben der kleine schwarze Mann mit beiden Armen aus der Bodenluke zu mir herüber. Ich nickte ihm zu; was mußten das für nette Leute sein, diese Puppenspieler! „Also heute Abend,“ sagte ich zu mir selber; „heute Abend, und – Erster Platz!“
– – Du kennst unseren Schützenhof in der Süderstraße; auf der Hausthür sah man damals noch einen schön gemalten Schützen, in Lebensgröße, mit Federhut und Büchse; im Uebrigen war aber der alte Kasten damals noch baufälliger, als er heute ist. Die Gesellschaft war bis auf drei Mitglieder herabgesunken;
die vor Jahrhunderten von den alten Landesherzögen geschenkten silbernen Pocale, Pulverhörner und Ehrenketten waren nach und nach verschleudert; den großen Garten, der, wie du weißt, auf den Bürgersteig hinausläuft, hatte man zur Schaf- und Ziegengräsung verpachtet. Das alte zweistöckige Haus wurde von Niemandem weder bewohnt noch gebraucht; windrissig und verfallen stand es da zwischen den munteren Nachbarhäusern; nur in dem öden weißgekalkten Saale, der fast das ganze obere Stockwerk einnahm, producirten mitunter starke Männer oder durchreisende Taschenspieler ihre Künste. Dann wurde unten die große Hausthür mit dem gemalten Schützenbruder knarrend aufgeschlossen.
– – Langsam war es Abend geworden; und – das Ende trug die Last, denn mein Vater wollte mich erst fünf Minuten vor dem angesetzten Glockenschlage laufen lassen; er meinte, eine Uebung in der Geduld sei sehr vonnöthen, damit ich im Theater stille sitze.
Endlich war ich an Ort und Stelle. Die große Thür stand offen, und allerlei Leute wanderten hinein;
denn derzeit ging man noch gern zu solchen Vergnügungen; nach Hamburg war eine weite Reise, und nur Wenige hatten sich die kleinen Dinge zu Hause durch die dort zu schauenden Herrlichkeiten leid machen können. – Als ich die eichene Wendeltreppe hinaufgestiegen war, fand ich Lisei’s Mutter am Eingange des Saales an der Kasse sitzen. Ich näherte mich ihr ganz vertraulich und dachte, sie würde mich so recht als einen alten Bekannten begrüßen; aber sie saß stumm und starr, und nahm mir meine Karte ab, als wenn ich nicht die geringste Beziehung zu ihrer Familie hätte. – Etwas gedemüthigt trat ich in den Saal; der kommenden Dinge harrend, plauderte Alles mit halber Stimme durch einander; dazu fiedelte unser Stadtmusikus mit drei seiner Gesellen. Das Erste, worauf meine Augen fielen, war in der Tiefe des Saales ein rother Vorhang oberhalb der Musikantenplätze. Die Malerei in der Mitte desselben stellte zwei lange Trompeten vor, die kreuzweise über einer goldenen Leyer lagen; und, was mir damals sehr sonderbar erschien, an dem Mundstück einer jeden hing, wie mit dem leeren Auge darauf geschoben, hier eine finster,
dort eine lachend ausgeprägte Maske. – Die drei vordersten Plätze waren schon besetzt; ich drängte mich in die vierte Bank, wo ich einen Schulkameraden bemerkt hatte, der dort neben seinen Eltern saß. Hinter uns bauten sich die Plätze schräg ansteigend in die Höhe, so daß der letzte, die sogenannte Gallerie, welche nur zum Stehen war, sich fast mannshoch über dem Fußboden befinden mochte. Auch dort schien es wohl gefüllt zu sein; genau vermochte ich es nicht zu sehen, denn die wenigen Talglichter, welche in Blechlampetten an den beiden Seitenwänden brannten, verbreiteten nur eine schwache Helligkeit; auch dunkelte die schwere Balkendecke des Saales. Mein Nachbar wollte mir eine Schulgeschichte erzählen; ich begriff nicht, wie er an so etwas denken konnte, ich schaute nur auf den Vorhang, der von den Lampen des Podiums und der Musikantenpulte feierlich beleuchtet war. Und jetzt ging ein Wehen über seine Fläche, die geheimnisvolle Welt hinter ihm begann sich schon zu regen; noch einen Augenblick, da erscholl das Läuten eines Glöckchens, und während unter den Zuschauern das summende Geplauder wie mit einem Schlage verstummte,
flog der Vorhang in die Höhe. – Ein Blick auf die Bühne versetzte mich um tausend Jahre rückwärts. Ich sah in einen mittelalterlichen Burghof mit Thurm und Zugbrücke; zwei kleine ellenlange Leute standen in der Mitte und redeten lebhaft mit einander. Der eine mit dem schwarzen Barte, dem silbernen Federhelm und dem goldgestickten Mantel über dem rothen Unterkleide war der Pfalzgraf Siegfried; er wollte gegen die heidnischen Mohren in den Krieg reiten, und befahl seinem jungen Hausmeister Golo, der in blauem silbergestickten Wamse neben ihm stand, zum Schutze der Pfalzgräfin Genovefa in der Burg zurückzubleiben. Der treulose Golo aber that gewaltig wild, daß er seinen guten Herrn so allein in das grimme Schwerterspiel sollte reiten lassen. Sie drehten bei diesen Wechselreden die Köpfe hin und her und fochten heftig und ruckweise mit den Armen. – Da tönten kleine langgezogene Trompetentöne von draußen hinter der Zugbrücke, und zugleich kam auch die schöne Genovefa in himmelblauem Schleppkleide hinter dem Thurm hervorgestürzt und schlug beide Arme über des Gemahls Schultern: „O mein herzallerliebster
Siegfried, wenn dich die grausamen Heiden nur nicht massakriren!“ Aber es half ihr nichts; noch einmal ertönten die Trompeten, und der Graf schritt steif und würdevoll über die Zugbrücke aus dem Hof; man hörte deutlich draußen den Abzug des gewappneten Trupps. Der böse Golo war jetzt Herr der Burg. –
Und nun spielte das Stück sich weiter, wie es in deinem Lesebuche gedruckt steht. – Ich war auf meiner Bank ganz wie verzaubert; diese seltsamen Bewegungen, diese feinen oder schnarrenden Puppenstimmchen, die denn doch wirklich aus ihrem Munde kamen, – es war ein unheimliches Leben in diesen kleinen Figuren, das gleichwohl meine Augen wie magnetisch auf sich zog.
Im zweiten Aufzuge aber sollte es noch besser kommen. – Da war unter den Dienern auf der Burg einer im gelben Nankinganzug, der hieß Kasperl. Wenn dieser Bursche nicht lebendig war, so war noch niemals etwas lebendig gewesen; er machte die ungeheuersten Witze, so daß der ganze Saal vor Lachen bebte; in seiner Nase, die so groß wie eine
Wurst war, mußte er jedenfalls ein Gelenk haben; denn wenn er so sein dumm-pfiffiges Lachen herausschüttelte, so schlenkerte der Nasenzipfel hin und her, als wenn auch er sich vor Lustigkeit nicht zu lassen wüßte; dabei riß der Kerl seinen großen Mund auf und knackte, wie eine alte Eule, mit den Kinnbackenknochen. „Pardauz!“ schrie es; so kam er immer auf die Bühne gesprungen; dann stellte er sich hin und sprach erst bloß mit seinem großen Daumen; den konnte er so ausdrucksvoll hin und wieder drehen, daß es ordentlich ging wie „Hier nix und da nix; kriegst du nix, so hast du nix!“ Und dann sein Schielen; – das war so verführerisch, daß im Augenblick dem ganzen Publicum die Augen verquer im Kopfe standen. Ich war ganz vernarrt in den lieben Kerl!
Endlich war das Spiel zu Ende, und ich saß wieder zu Hause in unserer Wohnstube und verzehrte schweigend das Aufgebratene, das meine gute Mutter mir warm gestellt hatte. Mein Vater saß im Lehnstuhl und rauchte seine Abendpfeife. „Nun, Junge,“ rief er, „waren sie lebendig?“
„Ich weiß nicht, Vater,“ sagte ich und arbeitete
weiter in meiner Schüssel; mir war noch ganz verwirrt zu Sinne.
Er sah mir eine Weile mit seinem klugen Lächeln zu. „Höre, Paul,“ sagte er dann, „du darfst nicht zu oft in diesen Puppenkasten; die Dinger könnten dir am Ende in die Schule nachlaufen.“
Mein Vater hatte nicht Unrecht. Die Algebra-Aufgaben gerieten mir in den beiden nächsten Tagen so mäßig, daß der Rechenmeister mich von meinem ersten Platz herabzusetzen drohte. – Wenn ich in meinem Kopfe rechnen wollte: „a + b gleich x – c“, so hörte ich statt dessen vor meinen Ohren die feine Vogelstimme der schönen Genovefa: „Ach, mein herzallerliebster Siegfried, wenn dich die bösen Heiden nur nicht massakriren!“ Einmal – aber es hat Niemand gesehen – schrieb ich sogar „x + Genovefa“ auf die Tafel. – Des Nachts in meiner Schlafkammer rief es einmal ganz laut „Pardauz!“ und mit einem Satz kam der liebe Kasperl in seinem Nankinganzug zu
mir ins Bett gesprungen, stemmte seine Arme zu beiden Seiten meines Kopfes in das Kissen und rief grinsend auf mich herabnickend: „Ach, du liebs Brüderl, ach, du herztausig liebs Brüderl!“ Dabei hackte er mir mit seiner langen rothen Nase in die meine, daß ich davon erwachte. Da sah ich denn freilich, daß es nur ein Traum gewesen war.
Ich verschloß das Alles in meinem Herzen und wagte zu Hause kaum den Mund aufzuthun von der Puppenkomödie. Als aber am nächsten Sonntag der Ausrufer wieder durch die Straßen ging, an sein Becken schlug und laut verkündigte: „Heute Abend auf dem Schützenhof: Doctor Faust’s Höllenfahrt, Puppenspiel in vier Aufzügen!“ – da war es doch nicht länger auszuhalten. Wie die Katze um den süßen Brei, so schlich ich um meinen Vater herum, und endlich hatte er meinen stummen Blick verstanden. – „Pole,“ sagte er, „es könnte dir ein Tropfen Blut vom Herzen gehen; vielleicht ist’s die beste Cur, dich einmal gründlich satt zu machen.“ Damit langte er in die Westentasche und gab mir einen Doppelschilling.
Ich rannte sofort aus dem Hause; erst auf der Straße wurde es mir klar, daß ja noch acht lange Stunden bis zum Anfang der Komödie abzuleben waren. So lief ich denn hinter den Gärten auf den Bürgersteig. Als ich an den offenen Grasgarten des Schützenhofs gekommen war, zog es mich unwillkürlich hinein; vielleicht, daß gar einige Puppen dort oben aus den Fenstern guckten; denn die Bühne lag ja an der Rückseite des Hauses. Aber ich mußte dann erst durch den oberen Theil des Gartens, der mit Linden- und Kastanienbäumen dicht bestanden war. Mir wurde etwas zag zu Muthe; ich wagte doch nicht weiter vorzudringen. Plötzlich erhielt ich von einem großen hier angepflockten Ziegenbock einen Stoß in den Rücken, daß ich um zwanzig Schritte weiter flog. Das half! als ich mich umsah, stand ich schon unter den Bäumen.
Es war ein trüber Herbsttag; einzelne gelbe Blätter sanken schon zur Erde; über mir in der Luft schrieen ein paar Strandvögel, die ans Haff hinausflogen; kein Mensch war zu sehen noch zu hören. Langsam schritt ich durch das Unkraut, das auf den
Steigen wucherte, bis ich einen schmalen Steinhof erreicht hatte, der den Garten von dem Hause trennte. – Richtig! dort von oben schauten zwei große Fenster in den Hof herab; aber hinter den kleinen in Blei gefaßten Scheiben war es schwarz und leer, keine Puppe war zu sehen. Ich stand eine Weile, mir wurde ganz unheimlich in der mich rings umgebenden Stille.
Da sah ich, wie unten die schwere Hofthür von innen eine Hand breit geöffnet wurde, und zugleich lugte auch ein schwarzes Köpfchen daraus hervor.
„Lisei!“ rief ich.
Sie sah mich groß mit ihren dunklen Augen an. „B’hüt’ Gott!“ sagte sie; „hab i doch nit gewußt, was da außa rum kraxln thät! Wo kommst denn du daher?“
„Ich? – Ich geh’ spazieren, Lisei! – Aber sag’ mir, spielt Ihr denn schon jetzt Komödie?“
Sie schüttelte lachend den Kopf.
„Aber, was machst du denn hier?“ fragte ich weiter, indem ich über den Steinhof zu ihr trat.
„I wart’ auf den Vater,“ sagte sie; „er ist ins
Quartier, um Band und Nagel zu holen; er macht’s halt firti für heunt Abend.“
„Bist du denn ganz allein hier, Lisei?“
– „O nei; du bist ja aa no da!“
„Ich meine,“ sagte ich, „ob nicht deine Mutter oben auf dem Saal ist?“
Nein, die Mutter saß in der Herberge und besserte die Puppenkleider aus; das Lisei war hier ganz allein.
„Hör’,“ begann ich wieder, „du könntest mir einen Gefallen thun; es ist unter Euern Puppen einer, der heißt Kasperl; den möcht ich gar zu gern einmal in der Nähe sehen.“
„Den Wurst’l meinst?“ sagte Lisei, und schien sich eine Weile zu bedenken. „Nu, es ging scho; aber g’schwind mußt sein, eh’ denn der Vater wieder da ist!“
Mit diesen Worten waren wir schon ins Haus getreten und liefen eilig die steile Wendeltreppe hinauf. – Es war fast dunkel in dem großen Saale; denn die Fenster, welche sämmtlich nach dem Hofe hinaus lagen, waren von der Bühne verdeckt; nur
einzelne Lichtstreifen fielen durch die Spalten des Vorhangs.
„Komm!“ sagte Lisei und hob seitwärts an der Wand die dort aus einem Teppich bestehende Verkleidung in die Höhe; wir schlüpften hindurch, und da stand ich in dem Wundertempel. – Aber, von der Rückseite betrachtet, und hier in der Tageshelle, sah er ziemlich kläglich aus; ein Gerüst aus Latten und Brettern, worüber einige bunt bekleckste Leinwandstücke hingen: das war der Schauplatz, auf welchem das Leben der heiligen Genovefa so täuschend an mir vorübergegangen war. – Doch, ich hatte mich zu früh beklagt; dort, an einem Eisendrahte, der von einer Coulisse nach der Wand hinübergespannt war, sah ich zwei der wunderbaren Puppen schweben; aber sie hingen mit dem Rücken gegen mich, so daß ich sie nicht erkennen konnte.
„Wo sind die anderen, Lisei?“ fragte ich; denn ich hätte gern die ganze Gesellschaft auf einmal mir besehen.
„Hier im Kast’l,“ sagte Lisei und klopfte mit ihrer kleinen Faust auf eine im Winkel stehende Kiste; „die zwei
da sind scho zug’richt; aber geh nur her dazu und schau’s dir a; er is schon dabei, dei Freund, der Kasperl!“
Und wirklich, er war es selber. „Spielt denn der heute Abend auch wieder mit?“ fragte ich.
„Freili, der is allimal dabei!“
Mit untergeschlagenen Armen stand ich und betrachtete meinen lieben lustigen Allerweltskerl. Da baumelte er, an sieben Schnüren aufgehenkt; sein Kopf war vorn übergesunken, daß seine großen Augen auf den Fußboden stierten, und ihm die rothe Nase wie ein breiter Schnabel auf der Brust lag. „Kasperle, Kasperle,“ sagte ich bei mir selber, „wie hängst du da elendiglich!“ Da antwortete es ebenso: „Wart’ nur, lieb’s Brüderl, wart’ nur bis heut Abend!“ – War das auch nur so in meinen Gedanken, oder hatte Kasperl selbst zu mir gesprochen? –
Ich sah mich um. Das Lisei war fort; sie war wohl vor die Hausthür, um die Rückkehr ihrer Vaters zu überwachen. Da hörte ich sie eben noch von dem Ausgang des Saales rufen: „Daß d’ mir aber nit an die Puppen rührst!“ – – Ja, – nun konnte ich es
aber doch nicht lassen. Leise stieg ich auf eine neben mir stehende Bank und begann erst an der einen, dann an der anderen Schnur zu ziehen; die Kinnladen fingen an zu klappen, die Arme hoben sich, und jetzt fing auch der wunderbare Daumen an ruckweise hin- und herzuschießen. Die Sache machte gar keine Schwierigkeit; ich hatte mir die Puppenspielerei doch kaum so leicht gedacht. – Aber die Arme bewegten sich nur nach vorn und hinten aus; und es war doch gewiß, daß Kasperle sie in dem neulichen Stück auch seitwärts ausgestreckt, ja daß er sie sogar über dem Kopfe zusammengeschlagen hatte! Ich zog an allen Drähten, ich versuchte mit der Hand die Arme abzubiegen; aber es wollte nicht gelingen. Auf einmal that es einen leisen Krach im Innern der Figur. „Halt!“ dachte ich, „Hand vom Brett! Da hättest du können Unheil anrichten!“
Leise stieg ich wieder von meiner Bank herab, und zugleich hörte ich auch Lisei von außen in den Saal treten.
„G'schwind, g'schwind!“ rief sie und zog mich durch das Dunkel an die Wendeltreppe hinaus; „’s
is eigentli nit Recht,“ fuhr sie fort, „daß i di eilass’n hab’; aber, gel’, du hast doch dei Gaudi g’habt!“
Ich dachte an den leisen Krach von vorhin. „Ach, es wird ja nichts gewesen sein!“ Mit dieser Selbsttröstung lief ich die Treppe hinab und durch die Hinterthür ins Freie.
So viel stand fest, der Kasper war doch nur eine richtige Holzpuppe; aber das Lisei – was das für eine allerliebste Sprache führte! und wie freundlich sie mich gleich zu den Puppen mit hinaufgenommen hatte! – Freilich, und sie hatte es ja auch selbst gesagt, daß sie es so heimlich vor ihrem Vater gethan, das war nicht völlig in der Ordnung. Unlieb – zu meiner Schande muß ich’s gestehen – war diese Heimlichkeit mir grade nicht; im Gegentheil, die Sache bekam für mich dadurch noch einen würzigen Beigeschmack, und es muß ein recht selbstgefälliges Lächeln auf meinem Gesicht gestanden haben, als ich durch die Linden- und Kastanienbäume des Gartens wieder nach dem Bürgersteig hinabschlenderte.
Allein zwischen solchen schmeichelnden Gedanken hörte ich von Zeit zu Zeit vor meinem inneren Ohre
immer jenen leisen Krach im Körper der Puppe; was ich auch vornahm, den ganzen Tag über konnte ich diesen, jetzt aus meiner eigenen Seele herauftönenden unbequemen Laut nicht zum Schweigen bringen.
Es hatte sieben Uhr geschlagen; im Schützenhofe war heute, am Sonntag Abend, Alles besetzt; ich stand diesmal hinten, fünf Schuh hoch über dem Fußboden, auf dem Doppelschillingsplatze. Die Talglichter brannten in den Blechlampetten, der Stadtmusikus und seine Gesellen fiedelten; der Vorhang rollte in die Höhe.
Ein hochgewölbtes gothisches Zimmer zeigte sich. Vor einem aufgeschlagenen Folianten saß im langen schwarzen Talare der Doctor Faust und klagte bitter, daß ihm all’ seine Gelehrsamkeit so wenig einbringe; keinen heilen Rock habe er mehr am Leibe und vor Schulden wisse er sich nicht zu lassen; so wolle er denn jetzo mit der Hölle sich verbinden. – „Wer ruft nach mir?“ ertönte zu seiner Linken eine furchtbare Stimme
von der Wölbung des Gemaches herab. – „Faust, Faust, folge nicht!“ kam eine andere feine Stimme von der Rechten. – Aber Faust verschwor sich den höllischen Gewalten. – „Weh, weh deiner armen Seele!“ Wie ein seufzender Windeshauch klang es von der Stimme des Engels; von der Linken schallte eine gellende Lache durchs Gemach. – – Da klopfte es an die Thür. „Verzeihung, Eure Magnificenz!“ Faust’s Famulus Wagner war eingetreten. Er bat, ihm für die grobe Hausarbeit die Annahme eines Gehülfen zu gestatten, damit er sich besser aufs Studiren legen könne. „Es hat sich,“ sagte er, „ein junger Mann bei mir gemeldet, welcher Kasperl heißt und gar fürtreffliche Qualitäten zu besitzen scheint.“ – Faust nickte gnädig mit dem Kopfe und sagte: „Sehr wohl, lieber Wagner, diese Bitte sei Euch gewährt.“ Dann gingen Beide mit einander fort. – –
„Pardauz!“ rief es; und da war er. Mit einem Satz kam er auf die Bühne gesprungen, daß ihm das Felleisen auf dem Buckel hüpfte.
– – „Gott sei gelobt!“ dachte ich; „er ist noch ganz gesund; er springt noch ebenso, wie vorigen
Sonntag in der Burg der schönen Genovefa!“ Und seltsam, so sehr ich ihn am Vormittage in meinen Gedanken nur für eine schmähliche Holzpuppe erklärt hatte, – mit seinem ersten Worte war der ganze Zauber wieder da.
Emsig spazierte er im Zimmer auf und ab. „Wenn mich jetzt mein Vater-Papa sehen thät,“ rief er, „der würd’ sich was Rechts freuen. Immer pflegt’ er zu sagen: Kasperl, mach’, daß du dein’ Sach’ in Schwung bringst! – O jetzund hab’ ich’s in Schwung; denn ich kann mein’ Sach’ haushoch werfen!“ – Damit machte er Miene, sein Felleisen in die Höhe zu schleudern; und es flog auch wirklich, da es am Draht gezogen wurde, bis an die Deckenwölbung hinauf; aber – Kasperle’s Arme waren an seinem Leibe kleben geblieben; es ruckte und ruckte, aber sie kamen um keine Hand breit in die Höhe.
Kasperl sprach und that nichts weiter. – Hinter der Bühne entstand eine Unruhe, man hörte leise aber heftig sprechen, der Fortgang des Stückes war augenscheinlich unterbrochen.
Mir stand das Herz still; da hatten wir die Bescherung!
Ich wäre gern fortgelaufen, aber ich schämte mich. Und wenn gar dem Lisei meinetwegen etwas geschähe!
Da begann Kasperl auf der Bühne plötzlich ein klägliches Geheule, wobei ihm Kopf und Arme schlaff herunterhingen, und der Famulus Wagner erschien wieder und fragte ihn, warum er denn so lamentire.
„Ach, mei Zahnerl, mei Zahnerl!“ schrie Kasperl.
„Guter Freund,“ sagte Wagner, „so laß Er sich einmal in das Maul sehen!“ – Als er ihn hierauf bei der großen Nase packte und ihm zwischen die Kinnladen hineinschaute, trat auch der Doctor Faust wieder in das Zimmer. – „Verzeihen Eure Magnificenz,“ sagte Wagner, „ich werde diesen jungen Mann in meinem Dienst nicht gebrauchen können; er muß sofort in das Lazareth geschafft werden!“
„Is das a Wirthshaus?“ fragte Kasperle.
„Nein, guter Freund,“ erwiederte Wagner, „das ist ein Schlachthaus. Man wird ihm dort einen Weisheitszahn aus der Haut schneiden, und dann wird er seiner Schmerzen ledig sein.“
„Ach, du lieb’s Herrgottl,“ jammerte Kasper,
„muß mi arm’s Viecherl so ein Unglück treffen! Ein Weisheitszahnerl, sagt Ihr, Herr Famulus? Das hat noch Keiner in der Famili gehabt! Da geht’s wohl auch mit meiner Kasperlschaft zu End’?“
„Allerdings, mein Freund,“ sagte Wagner; „eines Dieners mit Weisheitszähnen bin ich baß entrathen; die Dinger sind nur für uns gelehrte Leute. Aber Er hat ja noch einen Bruderssohn, der sich auch bei mir zum Dienst gemeldet hat. Vielleicht,“ und er wandte sich gegen den Doctor Faust, „erlauben Eure Magnificenz!“
Der Doctor Faust machte eine würdige Drehung mit dem Kopfe.
„Thut, was Euch beliebt, mein lieber Wagner,“ sagte er; „aber stört mich nicht weiter mit Euren Lappalien in meinem Studium der Magie!“
– – „Heere, mei Gutester,“ sagte ein Schneidergesell, der vor mir auf der Brüstung lehnte, zu seinem Nachbar, „das geheert ja nicht zum Stück; ich kenn’s, ich hab’ es vor ä Weilchen erst in Seifersdorf gesehn.“ – Der Andere aber sagte nur: „Halt’s Maul, Leipziger!“ und gab ihm einen Rippenstoß.
– – Auf der Bühne war indessen Kasperle, der zweite, aufgetreten. Er hatte eine unverkennbare Aehnlichkeit mit seinem kranken Onkel, auch sprach er ganz genau wie dieser; nur fehlte ihm der bewegliche Daumen, und in seiner großen Nase schien er kein Gelenk zu haben.
Mir war ein Stein vom Herzen gefallen, als das Stück nun ruhig weiter spielte, und bald hatte ich Alles um mich her vergessen. Der teuflische Mephistopheles erschien in seinem feuerfarbenen Mantel, das Hörnchen vor der Stirn, und Faust unterzeichnete mit seinem Blute den höllischen Vertrag:
„Vierundzwanzig Jahre sollst du mir dienen; dann will ich dein sein mit Leib und Seele.“
Hierauf fuhren Beide in des Teufels Zaubermantel durch die Luft davon. Für Kasperle kam eine ungeheure Kröte mit Fledermausflügeln aus der Luft herab. „Auf dem höllischen Sperling soll ich nach Parma reiten?“ rief er, und als das Ding wackelnd mit dem Kopfe nickte, stieg er auf und flog den Beiden nach.
– – Ich hatte mich ganz hinten an die Wand
gestellt, wo ich besser über alle die Köpfe vor mir hinwegsehen konnte. Und jetzt rollte der Vorhang zum letzten Aufzug in die Höhe.
Endlich ist die Frist verstrichen. Faust und Kasper sind Beide wieder in ihrer Vaterstadt. Kasper ist Nachtwächter geworden; er geht durch die dunklen Straßen und ruft die Stunden ab:
„Hört ihr Herr’n und laßt euch sagen,
Meine Frau hat mich geschlagen;
Hüt’t euch vor dem Weiberrock!
Zwölf ist der Klock! Zwölf ist der Klock!“
Von fern hört man eine Glocke Mitternacht schlagen. Da wankt Faust auf die Bühne; er versucht zu beten; aber nur Heulen und Zähneklappern tönt aus seinem Halse. Von oben ruft eine Donnerstimme:
„Fauste, Fauste, in aeternum damnatus es!“
Eben fuhren in Feuerregen drei schwarzhaarige Teufel herab, um sich des Armen zu bemächtigen, da fühlte ich eins der Bretter zu meinen Füßen sich verschieben. Als ich mich bückte, um es zurecht zu bringen, glaubte ich aus dem dunklen Raume unter mir
ein Geräusch zu hören; ich horchte näher hin; es klang wie das Schluchzen einer Kinderstimme. – „Lisei!“ dachte ich; „wenn es Lisei wäre!“ Wie ein Stein fiel meine ganze Unthat mir wieder auf’s Gewissen; was kümmerte mich jetzt der Doctor Faust und seine Höllenfahrt!
Unter heftigem Herzklopfen drängte ich mich durch die Zuschauer und ließ mich seitwärts an dem Brettergerüst herabgleiten. Rasch schlüpfte ich in den darunter befindlichen Raum, in welchem ich an der Wand entlang ganz aufrecht gehen konnte; aber es war fast dunkel, so daß ich mich an den überall untergestellten Latten und Balken stieß. „Lisei!“ rief ich. Das Schluchzen, das ich eben noch gehört hatte, wurde plötzlich still; aber dort in dem tiefsten Winkel sah ich etwas sich bewegen. Ich tastete mich weiter bis an das Ende des Raumes, und – da saß sie, zusammengekauert, das Köpfchen in den Schooß gedrückt.
Ich zupfte sie am Kleide. „Lisei!“ sagte ich leise, „bist du es? Was machst du hier?“
Sie antwortete nicht, sondern begann wieder vor sich hin zu schluchzen.
„Lisei!“ fragte ich wieder; „was fehlt dir? So sprich doch nur ein einziges Wort!“
Sie hob den Kopf ein wenig. „Was soll i da red’n!“ sagte sie; „du weißt’s ja von selber, daß du den Wurstl hast verdreht.“
„Ja, Lisei!“ antwortete ich kleinlaut; „ich glaub’ es selber, daß ich das gethan habe.“
– „Ja, du! – Und i hab dir’s doch g’sagt!“
„Lisei, was soll ich thun?“
– „Nu, halt nix!“
„Aber was soll denn daraus werden?“
– „Nu, halt aa nix!“ Sie begann wieder laut zu weinen. „Aber i, – wenn i z’ Haus komm – da krieg i die Peitsch’n!“
„Du die Peitsche, Lisei!“ – Ich fühlte mich ganz vernichtet. „Aber ist dein Vater denn so strenge?“
„Ach, mei gut’s Vaterl!“ schluchzte Lisei.
Also die Mutter! O wie ich, außer mir selber, diese Frau haßte, die immer mit ihrem Holzgesichte an der Kasse saß!
Von der Bühne hörte ich Kasperl, den zweiten, rufen: „Das Stück ist aus! Komm Gret’l, laß uns
Kehraus tanzen!“ Und in demselben Augenblicke begann auch über unseren Köpfen das Scharren und Trappeln mit den Füßen, und bald polterte Alles von den Bänken herunter und drängte sich dem Ausgange zu; zuletzt kam der Stadtmusikus mit seinen Gesellen, wie ich aus dem Tönen des Brummbasses hörte, mit dem sie beim Fortgehen an den Wänden anstießen. Dann allmälich wurde es still, nur hinten auf der Bühne hörte man noch die Tendler’schen Eheleute mit einander reden und wirthschaften. Nach einer Weile kamen auch sie in den Zuschauerraum; sie schienen erst an den Musikantenpulten, dann an den Wänden die Lichter auszuputzen; denn es wurde allmälich immer finsterer.
„Wenn i nur wüßt’, wo die Lisei abblieben ist!“ hörte ich Herrn Tendler zu seiner an der gegenüberliegenden Wand beschäftigten Frau hinüberrufen.
„Wo sollt’ sie sein!“ rief diese wieder; „’s ist ’n störrig Ding; ins Quartier wird sie gelaufen sein!“
„Frau,“ antwortete der Mann, „du bist auch zu wüst mit dem Kind gewesen; sie hat doch halt so a weich’s Gemüth!“
„Ei was,“ rief die Frau; „ihr’ Straf’ muß sie hab’n; sie weiß recht gut, daß die schöne Marionett’ noch von mei’m Vater selig ist! Du wirst sie nit wieder kuriren, und der zweit’ Kasper ist doch halt nur ein Nothknecht!“
Die lauten Wechselreden hallten in dem leeren Saale wieder. Ich hatte mich neben Lisei hingekauert; wir hatten uns bei den Händen gefaßt und saßen mäuschenstille.
„G’schieht mir aber schon recht,“ begann wieder die Frau, die eben grade über unseren Köpfen stand, „warum hab ich’s gelitten, daß du das gotteslästerlich’ Stück heute wieder aufgeführt hast! Mein Vater selig hat’s nimmer wollen in seinen letzten Jahren!“
„Nu, nu, Resel!“ rief Herr Tendler von der anderen Wand; „dein Vater war ein b’sondrer Mann. Das Stück giebt doch allfort eine gute Cassa; und ich mein’, es ist doch auch a Lehr’ und Beispiel für die vielen Gottlosen in der Welt!“
„Ist aber bei uns zum letzten Mal heut geb’n. Und nu red’ mir nit mehr davon!“ erwiederte die Frau.
Herr Tendler schwieg. – Es schien jetzt nur noch ein Licht zu brennen, und die beiden Eheleute näherten sich dem Ausgange.
„Lisei!“ flüsterte ich, „wir werden eingeschlossen.“
„Laß!“ sagte sie, „i kann nit; ich geh ni furt!“
„Dann bleib ich auch!“
– „Aber dei Vater und Mutter!“
„Ich bleib’ doch bei dir!“
Jetzt wurde die Thür des Saales zugeschlagen; dann ging’s die Treppe hinab, und dann hörten wir, wie draußen auf der Straße die große Hausthür abgeschlossen wurde.
Da saßen wir denn. Wohl eine Viertelstunde saßen wir so, ohne auch nur ein Wort mit einander zu reden. Zum Glück fiel mir ein, daß sich noch zwei Heißewecken in meiner Tasche befanden, die ich für einen meiner Mutter abgebettelten Schilling auf dem Herwege gekauft und über all’ dem Schauen ganz vergessen hatte. Ich steckte Lisei den einen in ihre kleinen Hände; sie nahm ihn schweigend, als verstehe es sich von selbst, daß ich das Abendbrod besorge, und wir schmausten eine Weile. Dann war auch das zu
Ende. – Ich stand auf und sagte: „Laß uns hinter die Bühne gehen; da wird’s heller sein; ich glaub’, der Mond scheint draußen!“ Und Lisei ließ sich geduldig durch die kreuz und quer stehenden Latten von mir in den Saal hinausleiten.
Als wir hinter der Verkleidung in den Bühnenraum geschlüpft waren, schien dort vom Garten her das helle Mondlicht in die Fenster.
An dem Drahtseil, an dem am Vormittag nur die beiden Puppen gehangen hatten, sah ich jetzt alle, die vorhin im Stücke aufgetreten waren. Da hing der Doctor Faust mit seinem scharfen blassen Gesicht, der gehörnte Mephistopheles, die drei kleinen schwarzhaarigen Teufelchen, und dort neben der geflügelten Kröte waren auch die beiden Kasperls. Ganz stille hingen sie da in der bleichen Mondscheinbeleuchtung; fast wie Verstorbene kamen sie mir vor. Der Hauptkasperl hatte zum Glück wieder seinen breiten Nasenschnabel auf der Brust liegen, sonst hätte ich geglaubt, daß seine Blicke mich verfolgen müßten.
Nachdem Lisei und ich eine Weile, nicht wissend, was wir beginnen sollten, an dem Theatergerüste umhergestanden
und geklettert waren, lehnten wir uns neben einander auf die Fensterbank. – Es war Unwetter geworden; am Himmel, gegen den Mond stieg eine Wolkenbank empor; drunten im Garten konnte man die Blätter zu Haufen von den Bäumen wehen sehen.
„Guck,“ sagte Lisei nachdenklich, „wie’s da aufi g’schwomma kimmt! Da kann mei alte gute Bas’ nit mehr vom Himm’l abi schaun.“
„Was für eine alte Bas’, Lisei? “ fragte ich.
– „Nu, wo i g’west bin, bis sie halt g’storb’n ist.“
Dann blickten wir wieder in die Nacht hinaus. – Als der Wind gegen das Haus und auf die kleinen undichten Fensterscheiben stieß, fing hinter mir an dem Drahtseil die stille Gesellschaft mit ihren hölzernen Gliedern an zu klappern. Ich drehte mich unwillkürlich um und sah nun, wie sie, vom Zugwind bewegt, mit den Köpfen wackelten und die steifen Arm’ und Beine durch einander regten. Als aber plötzlich der kranke Kasperl seinen Kopf zurückschlug und mich mit seinen weißen Augen anstierte, da dachte ich, es sei doch besser, ein wenig an die Seite zu gehen.
Unweit vom Fenster, aber so, daß die Coulissen dort vor dem Anblick dieser schwebenden Tänzer schützen mußten, stand die große Kiste; sie war offen; ein paar wollene Decken, vermutlich zum Verpacken der Puppen bestimmt, lagen nachlässig darüberhin geworfen.
Als ich mich eben dorthin begeben hatte, hörte ich Lisei vom Fenster her so recht aus Herzensgrunde gähnen.
„Bist du müde, Lisei?“ fragte ich.
„O, nei,“ erwiederte sie, indem sie ihre Aermchen fest zusammenschränkte; „aber i frier’ halt!“
Und wirklich, es war kalt geworden in dem großen leeren Raume, auch mich fror. „Komm hierher!“ sagte ich, „wir wollen uns in die Decken wickeln.“
Gleich darauf stand Lisei bei mir und ließ sich geduldig von mir in die eine Decke wickeln; sie sah aus wie eine Schmetterlingspuppe, nur daß oben noch das allerliebste Gesichtchen herausguckte. „Weißt,“ sagte sie und sah mich mit zwei großen müden Augen an, „i steig’ ins Kistl, da hält’s warm!“
Das leuchtete auch mir ein; im Verhältniß zu der wüsten Umgebung winkte hier sogar ein traulicher
Raum, fast wie ein dichtes Stübchen. Und bald saßen wir armen thörichten Kinder wohlverpackt und dicht an einander geschmiegt in der hohen Kiste. Mit Rücken und Füßen hatten wir uns gegen die Seitenwände gestemmt; in der Ferne hörten wir die schwere Saalthür in den Falzen klappen; wir aber saßen ganz sicher und behaglich.
„Friert dich noch, Lisei?“ fragte ich.
„Ka Bißerl!“
Sie hatte ihr Köpfchen auf meine Schulter sinken lassen; ihre Augen waren schon geschlossen. „Was wird mei gut’s Vaterl – – – “ lallte sie noch; dann hörte ich an ihren gleichmäßigen Atemzügen, daß sie eingeschlafen war.
Ich konnte von meinem Platze aus durch die oberen Scheiben des einen Fensters sehen. Der Mond war aus seiner Wolkenhülle wieder hervorgeschwommen, in der er eine Zeit lang verborgen gewesen war; die alte Bas’ konnte jetzt wieder vom Himmel herunterschauen, und ich denke wohl, sie hat’s recht gern gethan. Ein Streifen Mondlicht fiel auf das Gesichtchen, das nahe an dem meinen ruhte; die
schwarzen Augenwimpern lagen wie seidene Fransen auf den Wangen, der kleine rothe Mund athmete leise, nur mitunter zuckte noch ein kurzes Schluchzen aus der Brust herauf; aber auch das verschwand; die alte Bas’ schaute gar so mild vom Himmel. – Ich wagte mich nicht zu rühren. „Wie schön müßte es sein,“ dachte ich, „wenn das Lisei deine Schwester wäre, wenn sie dann immer bei dir bleiben könnte!“ Denn ich hatte keine Geschwister, und wenn ich auch nach Brüdern kein Verlangen trug, so hatte ich mir doch oft das Leben mit einer Schwester in meinen Gedanken ausgemalt, und konnte es nie begreifen, wenn meine Kameraden mit denen, die sie wirklich besaßen, in Zank und Schlägerei geriethen.
Ich muß über solchen Gedanken doch wohl eingeschlafen sein; denn ich weiß noch, wie mir allerlei wildes Zeug geträumt hat. Mir war, als säße ich mitten in dem Zuschauerraum; die Lichter an den Wänden brannten, aber Niemand außer mir saß auf den leeren Bänken. Ueber meinem Kopfe, unter der Balkendecke des Saales, ritt Kasperl auf dem höllischen Sperling in der Luft herum und rief ein Mal über’s
andere: „Schlimm’s Brüderl! Schlimm’s Brüderl!“ oder auch mit kläglicher Stimme: „Mein Arm! Mein Arm!“
Da wurde ich von einem Lachen aufgeweckt, das über meinem Kopfe erschallte, vielleicht auch von dem Lichtschein, der mir plötzlich in die Augen fiel. „Nun seh mir einer dieses Vogelnest!“ hörte ich die Stimme meines Vaters sagen, und dann etwas barscher: „Steig’ heraus, Junge!“
Das war der Ton, der mich stets mechanisch in die Höhe trieb. Ich riß die Augen auf und sah meinen Vater und das Tendler’sche Ehepaar an unserer Kiste stehen; Herr Tendler trug eine brennende Laterne in der Hand. Meine Anstrengung, mich zu erheben, wurde indessen durch Lisei vereitelt, die, noch immer fortschlafend, mit ihrer ganzen kleinen Last mir auf die Brust gesunken war. Als sich aber jetzt zwei knochige Arme ausstreckten, um sie aus der Kiste herauszuheben, und ich das Holzgesicht der Frau Tendler sich auf uns niederbeugen sah, da schlug ich die Arme so ungestüm um meine kleine Freundin, daß ich dabei der guten Frau fast ihren alten italienischen Strohhut vom Kopfe gerissen hätte.
„Nu, nu, Bub!“ rief sie und trat einen Schritt zurück; ich aber, aus unserer Kiste heraus, erzählte mit geflügelten Worten, und ohne mich dabei zu schonen, was am Vormittag geschehen war.
„Also, Madame Tendler,“ sagte mein Vater, als ich mit meinem Bericht zu Ende war, und machte zugleich eine sehr verständliche Handbewegung, „da könnten Sie es mir ja wohl überlassen, dieses Geschäft allein mit meinem Jungen abzumachen.“
„Ach ja, ach ja!“ rief ich eifrig, als wenn mir soeben der angenehmste Zeitvertreib verheißen wäre.
Lisei war indessen auch erwacht und von ihrem Vater auf den Arm genommen worden. Ich sah, wie sie die Arme um seinen Hals schlang und ihm bald eifrig ins Ohr flüsterte, bald ihm zärtlich in die Augen sah oder wie betheuernd mit dem Köpfchen nickte. Gleich darauf ergriff auch der Puppenspieler die Hand meines Vaters. „Lieber Herr,“ sagte er, „die Kinder bitten für einander. Mutter, du bist ja auch nit gar so schlimm! Lassen wir es diesmal halt dabei!“
Madame Tendler sah indeß noch immer unbeweglich aus ihrem großen Strohhute. „Du magst selb’ schauen, wie du ohne den Kasperl fertig wirst!“ sagte sie mit einem strengen Blick auf ihren Mann.
In dem Antlitz meines Vaters sah ich ein gewisses lustiges Augenzwinkern, das mir Hoffnung machte, es werde das Unwetter diesmal so an mir vorüberziehen; und als er jetzt sogar versprach, am anderen Tage seine Kunst zur Herstellung des Invaliden aufzubieten und dabei Madame Tendler’s italienischer Strohhut in die holdseligste Bewegung gerieth, da war ich sicher, daß wir beiderseits im Trocknen waren.
Bald marschirten wir unten durch die dunklen Gassen, Herr Tendler mit der Laterne voran, wir Kinder Hand in Hand den Alten nach. – Dann: „Gut’ Nacht, Paul! Ach, will i schlafa!“ Und weg war das Lisei; ich hatte gar nicht gemerkt, daß wir schon bei unseren Wohnungen angekommen waren.
Am anderen Vormittage, als ich aus der Schule gekommen war, traf ich Herrn Tendler mit seinem Töchterchen schon in unserer Werkstatt. „Nun, Herr College,“ sagte mein Vater, der eben das Innere der Puppe untersuchte, „das sollte denn doch schlimm zugehen, wenn wir zwei Mechanici den Burschen hier nicht wieder auf die Beine brächten!“
„Gel’, Vater,“ rief das Lisei, „da werd’ aa die Mutter nit mehr brummin.“
Herr Tendler strich zärtlich über das schwarze Haar des Kindes; dann wendete er sich zu meinem Vater, der ihm die Art der beabsichtigten Reparatur aus einander setzte. „Ach, lieber Herr,“ sagte er, „ich bin kein Mechanikus, den Titel hab’ ich nur so mit den Puppen überkommen; ich bin eigentlich meines Zeichens ein Holzschnitzer aus Berchtesgaden. Aber mein Schwiegervater selig – Sie haben gewiß von ihm gehört – das war halt einer, und mein Reserl hat noch allweg ihr klein’s Gaudi, daß sie die Tochter vom berühmten Puppenspieler Geiselbrecht ist. Der hat auch die Mechanik in dem Kasperl da g’macht; ich hab’ ihm derzeit nur’s G’sichtl ausgeschnitten.“
„Ei nun, Herr Tendler,“ erwiederte mein Vater, „das ist ja auch schon eine Kunst. Und dann – sagt mir nur, wie war’s denn möglich, daß Ihr Euch gleich zu helfen wußtet, als die Schandthat meines Jungen da so mitten in dem Stück zum Vorschein kam?“
Das Gespräch begann mir etwas unbehaglich zu werden; in Herrn Tendler’s gutmüthigem Angesichte aber leuchtete plötzlich die ganze Schelmerei des Puppenspielers. „Ja, lieber Herr,“ sagte er, „da hat man halt für solche Fäll’ sein Gspaßerl in der Taschen! Auch ist da noch so ein Bruderssöhnerl, ein Wurstl Nummer Zwei, der grad ’ne solche Stimm’ hat, wie dieser da!“
Ich hatte indessen die Lisei am Kleid gezupft und war glücklich mit ihr nach unserem Garten entkommen. Hier unter der Linde saßen wir, die auch über uns Beide jetzt ihr grünes Dach ausbreitet; nur blühten damals nicht mehr die rothen Nelken auf den Beeten dort; aber ich weiß noch wohl, es war ein sonniger Septembernachmittag. Meine Mutter kam aus ihrer Küche und begann ein Gespräch mit dem
dem Puppenspielerkinde; sie hatte denn doch auch so ihre kleine Neugierde.
Wie es denn heiße, fragte sie, und ob es denn schon immer so von Stadt zu Stadt gefahren sei? – – Ja, Lisei heiße es – ich hatte das meiner Mutter auch schon oft genug gesagt – aber dies sei seine erste Reis’; drum könne es auch das Hochdeutsch noch nit so völlig firti krieg’n. – – Ob es denn auch zur Schule gegangen sei? – – Freili; es sei scho zur Schul gang’n; aber das Nähen und Stricken habe es von seiner alten Bas’ gelernt; die habe auch so a Gärtl g’habt, da drin hätten sie zusammen auf dem Bänkerl gesessen; nun lerne es bei der Mutter, aber die sei gar streng!
Meine Mutter nickte beifällig. – Wie lange ihre Eltern denn wohl hier verweilen würden? fragte sie das Lisei wieder. – – Ja, das wüßt es nit, das käme auf die Mutter an; doch pflegten sie so ein vier Wochen am Ort zu bleiben. – – Ja, ob’s denn auch ein warmes Mäntelchen für die Weiterreise habe? denn so im October würde es schon kalt auf dem offenen Wägelchen. – – Nun, meinte Lisei, ein Mäntelchen
habe sie schon, aber ein dünnes sei es nur; sie hab’ auch schon darin gefroren auf der Herreis’.
Und jetzt befand sich meine gute Mutter auf dem Fleck, wonach ich sie schon lange hatte zustreben sehen. „Hör’, kleine Lisei,“ sagte sie, „ich habe einen braven Mantel in meinem Schranke hängen, noch von den Zeiten her, da ich ein schlankes Mädchen war; ich bin aber jetzt herausgewachsen und habe keine Tochter, für die ich ihn noch zurechtschneidern könnte. Komm nur morgen wieder, Lisei, da steckt ein warmes Mäntelchen für dich darin.“
Lisei wurde roth vor Freude und hatte im Umsehen meiner Mutter die Hand geküßt, worüber diese ganz verlegen wurde; denn, du weißt, hier zu Lande verstehen wir uns schlecht auf solche Narretheien! – Zum Glück kamen jetzt die beiden Männer aus der Werkstatt. „Für diesmal gerettet,“ rief mein Vater; „aber!“ – – der warnend gegen mich geschüttelte Finger war das Ende meiner Buße.
Fröhlich lief ich ins Haus und holte auf Geheiß meiner Mutter deren großes Umschlagetuch; denn, um den kaum Genesenen vor dem zwar wohlgemeinten,
aber immerhin unbequemen Zujauchzen der Gassenjugend zu bewahren, das ihn auf seinem Herwege begleitet hatte, wurde der Kasperl jetzt sorgsam eingehüllt; dann nahm Lisei ihn auf den Arm, Herr Tendler das Lisei an der Hand und so, unter Dankesversicherungen, zogen sie vergnügt die Straße nach dem Schützenhof hinab.
Und nun begann eine Zeit des schönsten Kinderglückes. – Nicht nur am anderen Vormittage, sondern auch an den folgenden Tagen kam das Lisei; denn sie hatte nicht abgelassen, bis ihr gestattet worden, auch selbst an ihrem neuen Mäntelchen zu nähen. Zwar war’s wohl mehr nur eine Scheinarbeit, die meine Mutter in ihre kleinen Hände legte; aber sie meinte doch, das Kind müßte recht ordentlich angehalten sein. Ein paar Mal setzte ich mich daneben und las aus einem Bande von Weißens Kinderfreunde vor, den mein Vater einmal auf einer Auction für mich gekauft hatte, zum Entzücken Lisei’s, der solche
Unterhaltungsbücher noch unbekannt waren. „Das is’ g’schickt!“ oder „Ei du, was geit’s für Sachan auf der Welt!“ Dergleichen Worte rief sie oft dazwischen und legte die Hände mit ihrer Näharbeit in den Schooß. Mitunter sah sie mich auch von unten mit ganz klugen Augen an und sagte: „Ja, wenn’s Geschichtl nur nit derlog’n is!“ – Mir ist’s, als hörte ich es noch heute.“
– – Der Erzähler schwieg, und in seinem schönen männlichen Antlitz sah ich einen Ausdruck stillen Glückes, als sei das Alles, was er mir erzählte, zwar vergangen, aber keineswegs verloren. Nach einer Weile begann er wieder.
„Meine Schularbeiten machte ich niemals besser, als in jener Zeit; denn ich fühlte wohl, daß das Auge meines Vaters mich strenger als je überwachte und daß ich mir den Verkehr mit den Puppenspielerleuten nur um den Preis eines strengen Fleißes erhalten könne. „Es sind reputirliche Leute, die Tendlers,“ hörte ich einmal meinen Vater sagen; „der Schneiderwirth drüben hat ihnen auch heute ein ordentliches Stübchen eingeräumt; sie zahlen jeden Morgen ihre
Zeche; nur, meinte der Alte, sei es leider blitzwenig, was sie draufgehen ließen. – Und das,“ setzte mein Vater hinzu, „gefällt mir besser, als dem Herbergsvater; sie mögen an den Nothpfennig denken, was sonst nicht die Art solcher Leute ist.“ – – Wie gern hörte ich meine Freunde loben! Denn das waren sie jetzt Alle; sogar Madame Tendler nickte ganz vertraulich aus ihrem Strohhute, wenn ich – keiner Einlaßkarte mehr bedürftig – Abends an ihrer Kasse vorbei in den Saal schlüpfte. – Und wie rannte ich jetzt Vormittags aus der Schule! Ich wußte wohl, zu Hause traf ich das Lisei entweder bei meiner Mutter in der Küche, wo sie allerlei kleine Dienste für sie zu verrichten wußte, oder es saß auf der Bank im Garten, mit einem Buche oder mit einer Näharbeit in der Hand. Und bald wußte ich sie auch in meinem Dienste zu beschäftigen; denn nachdem ich mich genügend in den inneren Zusammenhang der Sache eingeweiht glaubte, beabsichtigte ich nichts Geringeres, als nun auch meinerseits ein Marionetten-Theater einzurichten. Vorläufig begann ich mit dem Ausschnitzen der Puppen, wobei Herr Tendler, nicht ohne eine gutmüthige
Schelmerei in seinen kleinen Augen, mir in der Wahl des Holzes und der Schnitzmesser mit Rath und Hülfe zur Hand ging; und bald ragte auch in der That eine mächtige Kasperle-Nase aus dem Holzblöckchen in die Welt. Da aber andererseits der Nankinganzug des „Wurstel“ mir zu wenig interessant erschien, so mußte indessen das Lisei aus „Fetzeln“, die wiederum der alte Gabriel hatte hergeben müssen, gold- und silberbesetzte Mäntel und Wämser für Gott weiß welche andere künftige Puppen anfertigen. Mitunter trat auch der alte Heinrich mit seiner kurzen Pfeife aus der Werkstatt zu uns, ein Geselle meines Vaters, der, so lang ich denken konnte, zur Familie gehörte; er nahm mir dann wohl das Messer aus der Hand und gab durch ein paar Schnitte dem Dinge hie und da den rechten Schick. Aber schon wollte meiner Phantasie selbst der Tendler’sche Haupt- und Principalkasperl nicht mehr genügen; ich wollte noch ganz etwas Anderes leisten; für den meinigen ersann ich noch drei weitere, nie dagewesene und höchst wirkungsvolle Gelenke, er sollte seitwärts mit dem Kinne wackeln, die Ohren hin- und herbewegen und die
Unterlippe auf- und abklappen können; und er wäre auch jedenfalls ein ganz unerhörter Prachtkerl geworden, wenn er nur nicht schließlich über all’ seinen Gelenken schon in der Geburt zu Grunde gegangen wäre. Auch sollte leider weder der Pfalzgraf Siegfried, noch irgend ein anderer Held des Puppenspiels durch meine Hand zu einer fröhlichen Auferstehung gelangen. – Besser glückte es mir mit dem Bau einer unterirdischen Höhle, in der ich an kalten Tagen mit Lisei auf einem Bänkchen zusammensaß und ihr bei dem spärlichen Lichte, das durch eine oben angebrachte Fensterscheibe fiel, die Geschichten aus dem Weiße’schen Kinderfreunde vorlas, die sie immer von Neuem hören konnte. Meine Kameraden neckten mich wohl und schalten mich einen Mädchenknecht, weil ich statt wie sonst mit ihnen, jetzt mit der Puppenspielertochter meine Zeit zubrachte. Mich kümmerte das wenig, wußte ich doch, es redete nur der Neid aus ihnen; und wo es mir zu arg wurde, da brauchte ich denn auch einmal ganz wacker meine Fäuste.
– – Aber Alles im Leben ist nur für eine Spanne Zeit. Die Tendlers hatten ihre Stücke durchgespielt;
die Puppenbühne auf dem Schützenhofe wurde abgebrochen; sie rüsteten sich zum Weiterziehen.
Und so stand ich denn an einem stürmischen Octobernachmittage draußen vor unserer Stadt auf dem hohen Haiderücken, sah bald traurig auf den breiten Sandweg, der nach Osten in die kahle Gegend hinausläuft, bald sehnsüchtig nach der Stadt zurück, die in Dunst und Nebel in der Niederung lag. Und da kam es herangetrabt, das kleine Wägelchen mit den zwei hohen Kisten darauf und dem munteren braunen Pferdchen in der Gabeldeichsel. Herr Tendler saß jetzt vorn auf einem Brettchen, hinter ihm Lisei in dem neuen warmen Mäntelchen neben ihrer Mutter. – Ich hatte schon vor der Herberge von ihnen Abschied genommen; dann aber war ich vorausgelaufen, um sie Alle noch einmal zu sehen und um Lisei, wozu ich von meinem Vater die Erlaubniß erhalten hatte, den Band von Weißens Kinderfreunde als Angedenken mitzugeben; auch eine Düte mit Kuchen hatte ich um einige ersparte Sonntags-Sechslinge für sie eingehandelt. – „Halt! Halt!“ rief ich jetzt und stürzte von meinem Haidehügel auf das Fuhrwerk zu. – Herr Tendler
zog die Zügel an, der Braune stand, und ich reichte Lisei meine kleinen Geschenke in den Wagen, die sie neben sich auf den Stuhl legte. Als wir uns aber, ohne ein Wort zu sagen, an beiden Händen griffen, da brachen wir armen Kinder in ein lautes Weinen aus. Doch in demselben Augenblicke peitschte auch schon Herr Tendler auf sein Pferdchen. „Ade, mein Bub! Bleib’ brav, und dank’ aa no schön dei’m Vaterl und dei’m Mutterl!“
„Ade! Ade!“ rief das Lisei; das Pferdchen zog an, das Glöckchen an seinem Halse bimmelte; ich fühlte die kleinen Hände aus den meinen gleiten, und fort fuhren sie, in die weite Welt hinaus.
Ich war wieder am Rande des Weges emporgestiegen, und blickte unverwandt dem Wägelchen nach, wie es durch den stäubenden Sand dahinzog. Immer schwächer hörte ich das Gebimmel des Glöckchens; einmal noch sah ich ein weißes Tüchelchen um die Kisten flattern; dann allmählich verlor es sich mehr und mehr in den grauen Herbstnebeln. – Da fiel es plötzlich wie eine Todesangst mir auf das Herz: du siehst sie nimmer, nimmer wieder! – – „Lisei!“ schrie ich,
„Lisei!“ – Als aber dessen ungeachtet, vielleicht wegen einer Biegung der Landstraße, der nur noch im Nebel schwimmende Punkt jetzt völlig meinen Augen entschwand, da rannte ich wie unsinnig auf dem Wege hinterdrein. Der Sturm riß mir die Mütze vom Kopfe, meine Stiefel füllten sich mit Sand; aber so weit ich laufen mochte, ich sah nichts Anderes, als die öde baumlose Gegend und den kalten grauen Himmel, der darüber stand. – Als ich endlich bei einbrechender Dunkelheit zu Hause wieder angelangt war, hatte ich ein Gefühl, als sei die ganze Stadt indessen ausgestorben. Es war eben der erste Abschied meines Lebens.
Wenn in den nun folgenden Jahren der Herbst wiederkehrte, wenn die Krammetsvögel durch die Gärten unserer Stadt flogen, und drüben vor der Schneiderherberge die ersten gelben Blätter von den Lindenbäumen wehten, dann saß ich wohl manches Mal auf unserer Bank und dachte, ob nicht endlich einmal das Wägelchen mit dem braunen Pferdchen wie damals wieder die Straße heraufgebimmelt kommen würde.
Aber ich wartete umsonst; das Lisei kam nicht wieder.
Es war um zwölf Jahre später. – Ich hatte nach der Rechenmeisterschule, wie es damals manche Handwerkersöhne zu thun pflegten, auch noch die Quarta unserer Gelehrtenschule durchgemacht und war dann bei meinem Vater in die Lehre getreten. Auch diese Zeit, in der ich mich, außer meinem Handwerk, vielfach mit dem Lesen guter Bücher beschäftigte, war vorübergegangen. Jetzt, nach dreijähriger Wanderschaft, befand ich mich in einer mitteldeutschen Stadt. Es war streng katholisch dort, und in dem Punkte verstanden sie keinen Spaß; wenn man vor ihren Processionen, die mit Gesang und Heiligenbildern durch die Straßen zogen, nicht selbst den Hut abnahm, so wurde er einem auch wohl herunter geschlagen; sonst aber waren es gute Leute. – Die Frau Meisterin, bei der ich in Arbeit stand, war eine Wittwe, deren Sohn gleich mir in der Fremde arbeitete, um die nach den Zunftgesetzen vorgeschriebenen Wanderjahre bei der späteren Bewerbung um das Meisterrecht nachweisen zu können. Ich hatte es gut in diesem Hause; die Frau that mir, wovon sie wünschen mochte, daß es in der Ferne andere Leute an ihrem Kinde thun
möchten, und bald war unter uns das Vertrauen so gewachsen, daß das Geschäft so gut wie ganz in meinen Händen lag. – Jetzt steht unser Joseph dort bei ihrem Sohn in Arbeit, und die Alte, so hat er oft geschrieben, hätschelt mit ihm, als wäre sie die leibhaftige Großmutter zu dem Jungen. – – Nun, damals saß ich eines Sonntagnachmittags mit meiner Frau Meisterin in der Wohnstube, deren Fenster der Thür des großen Gefangenhauses gegenüberlagen. Es war im Januar; das Thermometer stand zwanzig Grade unter Null; draußen auf der Gasse war kein Mensch zu sehen; mitunter kam der Wind pfeifend von den nahen Bergen herunter und jagte kleine Eisstücke klingend über das Straßenpflaster.
„Da behagt’n warmes Stübchen und’n heißes Schälchen Kaffee,“ sagte die Meisterin, indem sie mir die Tasse zum dritten Male vollschenkte.
Ich war ans Fenster getreten. Meine Gedanken gingen in die Heimath; nicht zu lieben Menschen, die hatte ich dort nicht mehr, das Abschiednehmen hatte ich jetzt gründlich gelernt. Meiner Mutter war mir noch vergönnt gewesen selbst die Augen zuzudrücken;
vor einigen Wochen hatte ich nun auch den Vater verloren, und bei dem damals noch so langwierigen Reisen hatte ich ihn nicht einmal zu seiner Ruhestatt begleiten können. Aber die väterliche Werkstatt wartete auf den Sohn ihres heimgegangenen Meisters. Indeß, der alte Heinrich war noch da und konnte mit Genehmigung der Zunftmeister die Sache schon eine kurze Zeit lang aufrecht halten; und so hatte ich denn auch meiner guten Meisterin versprochen, noch ein paar Wochen bis zum Eintreffen ihres Sohnes bei ihr auszuhalten. Aber Ruhe hatte ich nicht mehr, das frische Grab meines Vaters duldete mich nicht länger in der Fremde.
In diesen Gedanken unterbrach mich eine scharfe scheltende Stimme drüben von der Straße her. Als ich aufblickte, sah ich das schwindsüchtige Gesicht des Gefängnißinspectors sich aus der halb geöffneten Thür des Gefangenhauses hervorrecken; seine erhobene Faust drohte einem jungen Weibe, das, wie es schien, fast mit Gewalt in diese sonst gefürchteten Räume einzudringen strebte.
„Wird wohl was Liebes drinnen haben,“ sagte die
Meisterin, die von ihrem Lehnstuhle aus ebenfalls dem Vorgange zugesehen hatte; „aber der alte Sünder drüben hat kein Herz für die Menschheit.“
„Der Mann thut wohl nur seine Pflicht, Frau Meisterin,“ sagte ich, noch immer in meinen eigenen Gedanken.
„Ich möcht’ nicht solche Pflicht zu thun haben,“ erwiederte sie, und lehnte sich fast zornig in ihren Stuhl zurück.
Drüben war indeß die Thür des Gefangenhauses zugeschlagen, und das junge Weib, nur mit einem kurzen wehenden Mäntelchen um die Schultern und einem schwarzen Tüchelchen um den Kopf geknotet, ging langsam die übereis’te Straße hinab. – Die Meisterin und ich waren schweigend auf unserem Platz geblieben; ich glaube – denn auch meine Theilnahme war jetzt erweckt – , es war uns Beiden, als ob wir helfen müßten und nur nicht wüßten, wie.
Als ich eben vom Fenster zurücktreten wollte, kam das Weib wieder die Straße herauf. Vor der Thür des Gefangenhauses blieb sie stehen und setzte zögernd einen Fuß auf den zur Schwelle führenden Treppenstein;
dann aber wandte sie den Kopf zurück, und ich sah ein junges Antlitz, dessen dunkle Augen mit dem Ausdruck rathlosester Verlassenheit über die leere Gasse streiften; sie schien doch nicht den Muth zu haben, noch einmal der drohenden Beamtenfaust entgegenzutreten. Langsam und immer wieder nach der geschlossenen Thür zurückblickend, setzte sie ihren Weg fort; man sah es deutlich, sie wußte selbst nicht, wohin. Als sie jetzt aber an der Ecke der Gefangenanstalt in das nach der Kirche hinaufführende Gäßchen einbog, riß ich unwillkürlich meine Mütze vom Thürhaken, um ihr nachzugehen.
„Ja, ja, Paulsen, das ist das Rechte!“ sagte die gute Meisterin; „geht nur, ich werde derweil den Kaffee wieder heiß setzen!“
Es war grimmig kalt, als ich aus dem Hause trat; Alles schien wie ausgestorben; von dem Berge, der am Ende der Straße die Stadt überragt, sah fast drohend der schwarze Tannenwald herab; vor den Fensterscheiben der meisten Häuser saßen die weißen Eisgardinen; denn nicht Jeder hatte, wie meine Meisterin, die Gerechtigkeit von fünf Klaftern Holz
auf seinem Hause. – Ich ging durch das Gäßchen nach dem Kirchenplatz; und dort vor dem großen hölzernen Crucifixe auf der gefrorenen Erde lag das junge Weib, den Kopf gesenkt, die Hände in den Schooß gefaltet. Ich trat schweigend näher; als sie aber jetzt zu dem blutigen Antlitz des Gekreuzigten aufblickte, sagte ich: „Verzeiht mir, wenn ich Eure Andacht unterbreche; aber Ihr seid wohl fremd in dieser Stadt?“
Sie nickte nur, ohne ihre Stellung zu verändern.
„Ich möchte Euch helfen,“ begann ich wieder; „sagt mir nur, wohin Ihr wollt!“
„I weiß nit mehr, wohin,“ sagte sie tonlos und ließ das Haupt wieder auf ihre Brust sinken.
„Aber in einer Stunde ist es Nacht; in diesem Todtenwetter könnt Ihr nicht länger auf der offenen Straße bleiben!“
„Der liebi Gott wird helfen,“ hörte ich sie leise sagen.
„Ja, ja,“ rief ich, „und ich glaube fast, er hat mich selbst zu Euch geschickt!“
Es war, als habe der stärkere Klang meiner
Stimme sie erweckt; denn sie erhob sich und trat zögernd auf mich zu; mit vorgestrecktem Halse näherte sie ihr Gesicht mehr und mehr dem meinen, und ihre Blicke drangen auf mich ein, als ob sie mich damit erfassen wollte. „Paul!“ rief sie plötzlich, und wie ein Jubelruf flog das Wort aus ihrer Brust – „Paul! ja di schickt mir der liebi Gott!“
Wo hatte ich meine Augen gehabt! Da hatte ich es ja wieder, mein Kindsgespiel, das kleine Puppenspieler-Lisei! Freilich, eine schöne schlanke Jungfrau war es geworden, und auf dem sonst so lachenden Kindergesicht lag jetzt, nachdem der erste Freudenstrahl darüberhin geflogen, der Ausdruck eines tiefen Kummers.
„Wie kommst du so allein hierher, Lisei?“ fragte ich. „Was ist geschehen? wo ist denn dein Vater?“
„Im Gefängniß, Paul.“
„Dein Vater, der gute Mann! – Aber komm mit mir; ich stehe hier bei einer braven Frau in Arbeit; sie kennt dich, ich habe ihr oft von dir erzählt.“
Und Hand in Hand, wie einst als Kinder, gingen wir nach dem Hause meiner guten Meisterin, die uns
schon vom Fenster aus entgegensah. „Das Lisei ist's!“ rief ich, als wir in die Stube traten, „denkt Euch, Frau Meisterin, das Lisei!“
Die gute Frau schlug die Hände über ihre Brust zusammen. „Heilige Mutter Gottes, bitt' für uns! das Lisei! – also so hat's ausgeschaut! – Aber,“ fuhr sie fort, „wie kommst denn du mit dem alten Sünder da zusammen?“ – und sie wies mit dem ausgestreckten Finger nach dem Gefangenhause drüben – „der Paulsen hat mir doch gesagt, daß du ehrlicher Leute Kind bist!“
Gleich darauf aber zog sie das Mädchen weiter in die Stube hinein und drückte sie in ihren Lehnstuhl nieder, und als jetzt Lisei ihre Frage zu beantworten anfing, hielt sie ihr schon eine dampfende Tasse Kaffee an die Lippen.
„Nun trink einmal,“ sagte sie, „und komm erst wieder zu dir; die Händchen sind dir ja ganz verklommen.“
Und das Lisei mußte trinken, wobei ihr zwei helle Thränen in die Tasse rollten, und dann erst durfte sie erzählen.
Sie sprach jetzt nicht, wie einst und wie vorhin in der Einsamkeit ihres Kummers, in dem Dialekt ihrer Heimath, nur ein leichter Anflug war ihr davon geblieben; denn waren ihre Eltern auch nicht mehr bis an unsere Küste hier hinabgekommen, so hatten sie sich doch meistens in dem mittleren Deutschland aufgehalten. Schon vor einigen Jahren war die Mutter gestorben. „Verlaß den Vater nicht!“ das hatte sie der Tochter im letzten Augenblicke noch ins Ohr geflüstert, „sein Kindsherz ist zu gut für diese Welt.“
Lisei brach bei dieser Erinnerung in heftiges Weinen aus; sie wollte nicht einmal von der aufs Neue vollgeschenkten Tasse trinken, mit der die Meisterin ihre Thränen zu stillen gedachte, und erst nach einer ziemlichen Weile konnte sie weiter berichten.
Gleich nach dem Tode der Mutter war es ihre erste Arbeit gewesen, an deren Stelle sich die Frauenrollen in den Puppenspielen von ihrem Vater einlernen zu lassen. Dazwischen waren die Bestattungsfeierlichkeiten besorgt und die ersten Seelenmessen für die Todte gelesen; dann, das frische Grab hinter sich lassend, waren Vater und Tochter wiederum ins Land
hineingefahren und hatten, wie vorhin, ihre Stücke abgespielt, den verlorenen Sohn, die heilige Genovefa und wie sie sonst noch heißen mochten.
So waren sie gestern auf der Reise in ein großes Kirchdorf gekommen, wo sie ihre Mittagsrast gehalten hatten. Auf der harten Bank vor dem Tische, an welchem sie ihr bescheidenes Mahl verzehrten, war Vater Tendler ein halbes Stündchen in einen festen Schlaf gesunken, während Lisei draußen die Fütterung ihres Pferdes besorgt hatte. Kurz darauf, in wollene Decken wohlverpackt, waren sie aufs Neue in die grimmige Winterkälte hinausgefahren.
„Aber wir kamen nit weit,“ erzählte Lisei; „gleich hinterm Dorf ist ein Landreiter auf uns zugeritten und hat gezetert und gemordio't. Aus dem Tischkasten sollt' dem Wirth ein Beutel mit Geld gestohlen sein, und mein unschuldigs Vaterl war doch allein in der Stube dort gewesen! Ach, wir haben kei Heimath, kei Freund, kei Ehr; es kennt uns Niemand nit!“
„Kind, Kind,“ sagte die Meisterin, indem sie zu mir hinüberwinkte, „versündige dich auch nicht!“
Ich aber schwieg, denn Lisei hatte ja nicht Unrecht
mit ihrer Klage. – Sie hatten in das Dorf zurückgemußt; das Fuhrwerk mit Allem, was darauf geladen, war vom Schulzen dort zurückgehalten worden; der alte Tendler aber hatte die Weisung erhalten, den Weg zur Stadt neben dem Pferde des Landreiters herzutraben. Lisei, von dem Letzteren mehrfach zurückgewiesen, war in einiger Entfernung hinterher gegangen, in der Zuversicht, daß sie wenigstens, bis der liebe Gott die Sache aufkläre, das Gefängniß ihres Vaters werde theilen können. Aber – auf ihr ruhte kein Verdacht; mit Recht hatte der Inspector sie als eine Zudringliche von der Thür gejagt, die auf ein Unterkommen in seinem Hause nicht den geringsten Anspruch habe.
Lisei wollte das zwar noch immer nicht begreifen; sie meinte, das sei ja härter als alle Strafe, die später doch gewiß den wirklichen Spitzbuben noch ereilen würde; aber, fügte sie gleich hinzu, sie wolle ihm auch so harte Straf’ nit wünschen, wenn nur die Unschuld von ihrem guten Vaterl an den Tag komme; ach, der werd’s gewiß nit überleben!
Ich besann mich plötzlich, daß ich sowohl dem alten
Corporal da drüben, als auch dem Herrn Criminalcommissarius eigentlich ein unentbehrlicher Mann sei; denn dem Einen hielt ich seine Spinnmaschinen in Ordnung, dem Anderen schärfte ich seine kostbaren Federmesser; durch den Einen konnte ich wenigstens Zutritt zu dem Gefangenen erhalten, bei dem Anderen konnte ich ein Leumundszeugniß für Herrn Tendler ablegen und ihn vielleicht zur Beschleunigung der Sache veranlassen. Ich bat Lisei, sich zu gedulden, und ging sofort in das Gefangenhaus hinüber.
Der schwindsüchtige Inspector schalt auf die unverschämten Weiber, die immer zu ihren spitzbübischen Männern oder Vätern in die Zellen wollten. Ich aber verbat mir in Betreff meines alten Freundes solche Titel, so lange sie ihm nicht durch das Gericht „von Rechts wegen“ beigelegt seien, was, wie ich sicher wisse, nie geschehen werde; und endlich, nach einigem Hin- und Widerreden, stiegen wir zusammen die breite Treppe nach dem Oberbau hinauf.
In dem alten Gefangenhause war auch die Luft gefangen, und ein widerwärtiger Dunst schlug uns entgegen, als wir oben durch den langen Corridor schritten,
von welchem aus zu beiden Seiten Thür an Thür in die einzelnen Gefangenzellen führte. An einer derselben, fast zu Ende des Ganges, blieben wir stehen; der Inspector schüttelte sein großes Schlüsselbund, um den rechten herauszufinden; dann knarrte die Thür und wir traten ein.
In der Mitte der Zelle, mit dem Rücken gegen uns, stand die Gestalt eines kleinen mageren Mannes, der nach dem Stückchen Himmel hinaufzublicken schien, das grau und trübselig durch ein oben in der Mauer angebrachtes Fenster auf ihn herabdämmerte. An seinem Haupte bemerkte ich sogleich die kleinen abstehenden Haarspieße; nur hatten sie, wie jetzt draußen die Natur, sich in die Farbe des Winters gekleidet. Bei unserem Eintritt wandte der kleine Mann sich um.
„Sie kennen mich wohl nicht mehr, Herr Tendler?“ fragte ich.
Er sah flüchtig nach mir hin. „Nein, lieber Herr,“ erwiederte er, „hab’ nicht die Ehre.“
Ich nannte ihm den Namen meiner Vaterstadt und sagte: „Ich bin der unnütze Junge, der Ihnen damals Ihren kunstreichen Kasperl verdrehte!“
„O, schad’t nichts, gar nichts!“ erwiederte er verlegen und machte mir einen Diener; „ist lange schon vergessen.“
Er hatte offenbar nur halb auf mich gehört; denn seine Lippen bewegten sich, als spräche er zu sich selber von ganz anderen Dingen.
Da erzählte ich ihm, wie ich vorhin sein Lisei aufgefunden habe, und jetzt erst sah er mich mit offenen Augen an. „Gott Dank! Gott Dank!“ sagte er und faltete die Hände. „Ja, ja, das kleine Lisei und der kleine Paul, die spielten derzeit mit einander! – Der kleine Paul! Seid Ihr der kleine Paul! O, i glaub’s Euch schon; das herzige Gsichtl von dem frischen Bubn, das schaut da no heraus!“ Er nickte mir so innig zu, daß die weißen Haarspießchen auf seinem Kopfe bebten. „Ja, ja, da drunten an der See bei Euch; wir sind nit wieder hinkommen; das war no gute Zeit dermal; da war aa noch mein Weib, die Tochter vom großen Geiselbrecht dabei! „„Joseph!““ pflegte sie zu sagen, „„wenn nur die Menschen aa so Dräht’ an ihre Köpf’ hätten, da könnt’st du aa mit ihne firti werdn!““ – Hätt’ sie nur heute noch gelebt,
sie hätten mich nicht eingesperrt. Du lieber Gott; ich bin kein Dieb, Herr Paulsen.“
Der Inspector, der draußen vor der angelehnten Thür im Gange auf- und abging, hatte schon ein paar Mal mit seinem Schlüsselbunde gerasselt. Ich suchte den alten Mann zu beruhigen und bat ihn, sich bei seinem ersten Verhöre auf mich zu berufen, der ich hier bekannt und wohl geachtet sei.
Als ich wieder zu meiner Meisterin in die Stube trat, rief diese mir entgegen: „Das ist ein trotzigs Mädel, Paulsen; da helft mir nur gleich ein wenig; ich hab’ ihr die Kammer zum Nachtquartier geboten; aber sie will fort, in die Bettelherberg’ oder Gott weiß wohin!“
Ich fragte Lisei, ob sie ihre Pässe bei sich habe.
„Mein Gott, die hat der Schulz im Dorf uns abgenommen.“
„So wird kein Wirth dir seine Thür aufmachen,“ sagte ich, „das weißt du selber wohl.“
Sie wußte es freilich, und die Meisterin schüttelte ihr vergnügt die Hände. „Ich denk’ wohl,“ sagte sie, „daß du dein eignes Köpfchen hast; der da hat mir’s
haarklein erzählt, wie Ihr zusammen in der Kiste habt gesessen; aber so leicht wärst du doch nicht von mir fortgekommen!“
Das Lisei sah etwas verlegen vor sich nieder; dann aber fragte sie mich hastig aus nach ihrem Vater. Nachdem ich ihr Bescheid gegeben hatte, erbat ich mir ein paar Bettstücke von der Meisterin, nahm von den meinigen noch etwas hinzu, und trug es selbst hinüber in die Zelle des Gefangenen, wozu ich vorhin von dem Inspector die Erlaubniß erhalten hatte. – So konnten wir, als nun die Nacht herankam, hoffen, daß im warmen Bette und auf dem besten Ruhekissen, das es in der Welt giebt, auch unseren alten Freund in seiner öden Kammer drüben ein sanfter Schlaf erquicken werde.
Am anderen Vormittage, als ich eben, um, zum Herrn Criminalcommissarius zu gehen, auf die Straße trat, kam von drüben der Inspector in seinen Morgenpantoffeln auf mich zugeschritten. „Ihr habt Recht
gehabt, Paulsen,“ sagte er mit seiner gläsernen Stimme, „für dies Mal ist’s kein Spitzbube gewesen; den richtigen haben sie soeben eingebracht; Euer Alter wird noch heute entlassen werden.“
Und richtig, nach einigen Stunden öffnete sich die Thür des Gefangenhauses und der alte Tendler wurde von der commandirenden Stimme des Inspectors zu uns hinübergewiesen. Da das Mittagsessen eben aufgetragen war, so ruhte die Meisterin nicht, bis auch er seinen Platz am Tische eingenommen hatte; aber er berührte die guten Speisen kaum, und wie sie sich auch um ihn bemühen mochte, er blieb wortkarg und in sich gekehrt neben seiner Tochter sitzen; nur mitunter bemerkte ich, wie er deren Hand nahm und sie zärtlich streichelte. Da hörte ich draußen vom Thore her ein Glöckchen bimmeln; ich kannte es ganz genau, aber es läutete mir weit her aus meiner Kinderzeit.
„Lisei!“ sagte ich leise.
„Ja, Paul, ich hör’ es wohl.“
Und bald standen wir Beide draußen vor der Hausthür. Siehe, da kam es die Straße herab, das Wägelchen mit den beiden hohen Kisten, wie ich daheim es
mir so oft gewünscht hatte. Ein Bauerbursche ging nebenher mit Zügel und Peitsche in der Hand; aber das Glöckchen bimmelte jetzt am Halse eines kleinen Schimmels.
„Wo ist das Braunchen geblieben?“ fragte ich Lisei.
„Das Braunchen,“ erwiederte sie, „das ist uns eines Tags vor’m Wagen hingefallen; der Vater hat sogleich den Thierarzt aus dem Dorf geholt; aber es hat nimmer leben können.“
Bei diesen Worten stürzten ihr die Thränen aus den Augen.
„Was fehlt dir, Lisei?“ fragte ich, „es ist ja nun doch Alles wieder gut!“
Sie schüttelte den Kopf. „Mein Vaterl gefallt mir nit; er ist so still; die Schand’, er verwind’t es nit.“
– – Und Lisei hatte mit ihren treuen Tochteraugen recht gesehen. Als kaum die Beiden in einem kleinen Gasthause untergebracht waren, und der Alte schon seine Pläne zur Weiterfahrt entwarf – denn hier wollte er jetzt nicht vor die Leute treten – da
zwang ihn ein Fieber, im Bett zu bleiben! Bald mußten wir einen Arzt holen, und es entwickelte sich ein längeres Krankenlager. In Besorgniß, daß sie dadurch in Noth gerathen könnten, bot ich Lisei meine Geldmittel zur Hülfe an; aber sie sagte: „I nimm’s ja gern von dir; doch sorg nur nit, wir sind nit gar so karg.“ Da blieb mir denn nichts Anderes zu thun, als in der Nachtwache mit ihr zu wechseln, oder, als es dem Kranken besser ging, am Feierabend ein Stündchen an seinem Bett zu plaudern.
So war die Zeit meiner Abreise herangenaht, und mir wurde das Herz immer schwerer. Es that mir fast weh, das Lisei anzusehen; denn bald fuhr es ja auch mit seinem Vater von hier wieder in die weite Welt hinaus. Wenn sie nur eine Heimath gehabt hätten! Aber wo waren sie zu finden, wenn ich Gruß und Nachricht zu ihnen senden wollte! Ich dachte an die zwölf Jahre seit unserem ersten Abschied; – sollte wieder so lange Zeit vergehen, oder am Ende gar das ganze Leben?
„Und grüß mir aa dein Vaterhaus, wenn du heimkommst!“ sagte Lisei, da sie am letzten Abend mich
an die Hausthür begleitet hatte. „I seh’s mit mein’ Augen, das Bänkerl vor der Thür, die Lind’ im Gartl; ach, i vergiß es nimmer; so lieb hab ich’s nit wieder g’funden in der Welt!“
Als sie das sagte, war es mir, als leuchte aus dunkler Tiefe meine Heimath zu mir auf; ich sah die zärtlichen Augen meiner Mutter, das feste ehrliche Antlitz meines Vaters. „Ach Lisei,“ sagte ich, „wo ist denn jetzt mein Vaterhaus! es ist ja Alles öd und leer.“
Lisei antwortete nicht; sie gab mir nur die Hand und blickte mich mit ihren guten Augen an.
Da war mir, als hörte ich die Stimme meiner Mutter sagen: „Halte diese Hand fest, und kehre mit ihr zurück, so hast du deine Heimath wieder!“ – und ich hielt die Hand fest und sagte: „Kehr du mit mir zurück, Lisei, und laß uns zusammen versuchen, ein neues Leben in das leere Haus zu bringen, ein so gutes, wie es die geführt haben, die ja auch dir einst lieb gewesen sind!“
„Paul,“ rief sie, „was meinst du? I versteh di nit.“
Aber ihre Hand zitterte heftig in der meinen, und ich bat nur: „Ach, Lisei, versteh’ mich doch!“
Sie schwieg einen Augenblick. „Paul,“ sagte sie dann, „i kann nit von mei’m Vaterl gehen.“
„Der muß ja mit uns, Lisei! Im Hinterhause, die beiden Stübchen, die jetzt leer stehen, da kann er wohnen und wirthschaften; der alte Heinrich hat sein Kämmerchen dicht daneben.“
Lisei nickte. „Aber Paul, wir sind landfahrende Leut’. Was werden sie sagen bei dir daheim?“
„Sie werden mächtig reden, Lisei!“
„Und du hast nit Furcht davor?“
Ich lachte nur dazu.
„Nun,“ sagte Lisei, und wie ein Glockenlaut schlug es aus ihrer Stimme, „wenn du sie hast, – i hab schon die Kuraschi!“
„Aber thust du’s denn auch gern?“
– „Ja, Paul, wenn i’s nit gern thät’,“ – und sie schüttelte ihr braunes Köpfchen gegen mich – „gel’, da thät’ i’s nimmermehr!“ –
Und, mein Junge,“ unterbrach sich hier der Erzähler, „wie einen bei solchen Worten ein Paar schwarze
Mädchenaugen ansehen, das sollst du nun noch lernen, wenn du erst ein Stieg Jahre weiter bist!“
„Ja, ja,“ dachte ich, „zumal so ein Paar Augen, die einen See ausbrennen können!“
„Und nicht wahr,“ begann Paulsen wieder, „nun weißt du auch nachgerade, wer das Lisei ist?“
„Das ist die Frau Paulsen!“ erwiederte ich. „Als ob ich das nicht längst gemerkt hätte! Sie sagt ja noch immer „nit“ und hat auch noch die schwarzen Augen unter den fein gepinselten Augenbrauen.“
Mein Freund lachte, während ich mir im Stillen vornahm, die Frau Paulsen, wenn wir in’s Haus zurückkämen, doch einmal recht darauf anzusehen, ob noch das Puppenspieler-Lisei in ihr zu erkennen sei. – „Aber,“ fragte ich, „wo ist denn der alte Herr Tendler hingekommen?“
„Mein liebes Kind,“ erwiederte mein Freund, „wohin wir schließlich Alle kommen. Drüben auf dem grünen Kirchhof ruht er neben unserem alten Heinrich; aber es ist noch Einer mehr in sein Grab mit hineingekommen; der andere kleine Freund aus meiner Kinderzeit. Ich will dir’s wohl erzählen; nur laß uns
ein wenig hinausgehen; meine Frau könnte nachgerade einmal nach uns sehen wollen, und sie soll die Geschichte doch nicht wieder hören.“
Paulsen stand auf, und wir gingen auf den Spazierweg hinaus, der auch hier hinter den Gärten der Stadt entlang führt. Nur wenige Leute kamen uns entgegen; denn es war schon um die Vesperzeit.
„Siehst du“ – begann Paulsen seine Erzählung wieder – „der alte Tendler war derzeit mit unserem Verspruch gar wohl zufrieden; er gedachte meiner Eltern, die er einst gekannt hatte, und er faßte auch zu mir Vertrauen. Ueberdies war er des Wanderns müde; ja, seit es ihn in die Gefahr gebracht hatte, mit den verworfensten Vagabunden verwechselt zu werden, war in ihm die Sehnsucht nach einer festen Heimath immer mehr heraufgewachsen. Meine gute Meisterin zwar zeigte sich nicht so einverstanden; sie fürchtete, bei allem guten Willen möge doch das Kind des umherziehenden Puppenspielers nicht die rechte Frau für einen seßhaften Handwerksmann abgeben. – Nun, sie ist seit lange schon bekehrt worden!
– – Und so war ich denn nach kaum acht Tagen
wieder hier, von den Bergen an die Nordseeküste, in unserer alten Vaterstadt. Ich nahm mit Heinrich die Geschäfte rüstig in die Hand und richtete zugleich die beiden leer stehenden Zimmer im Hinterhause für den Vater Joseph ein. – Vierzehn Tage weiter – es strichen eben die Düfte der ersten Frühlingsblumen über die Gärten – da kam es die Straße heraufgebimmelt. „Meister, Meister,“ rief der alte Heinrich, „sie kommen, sie kommen!“ Und da hielt schon das Wägelchen mit den zwei hohen Kisten vor unserer Thür. Das Lisei war da, der Vater Joseph war da, Beide mit munteren Augen und rothen Wangen; und auch das ganze Puppenspiel zog mit ihnen ein; denn ausdrückliche Bedingung war es, daß dies den Vater Joseph auf sein Altentheil begleiten solle. Das kleine Fuhrwerk dagegen wurde in den nächsten Tagen schon verkauft.
Dann hielten wir die Hochzeit; ganz in der Stille; denn Blutsfreunde hatten wir weiter nicht am Ort; nur der Hafenmeister, mein alter Schulkamerad, war als Trauzeuge mit zugegen. Lisei war, wie ihre Eltern, katholisch; daß aber das ein Hinderniß für
unsere Ehe sein könne, ist uns niemals eingefallen. In den ersten Jahren reiste sie wohl zur österlichen Beichte nach unserer Nachbarstadt; wo, wie du weißt, eine katholische Gemeinde ist; nachher hat sie ihre Kümmernisse nur noch ihrem Mann gebeichtet.
Am Hochzeitsmorgen legte Vater Joseph zwei Beutel vor mir auf den Tisch, einen größeren voll alter Harzdrittel, einen kleinen mit Kremnitzer Dukaten.
„Du hast nit danach fragt, Paul!“ sagte er. „Aber so völlig arm is doch mein’ Lisei dir nit zubracht. Nimm’s! i brauch’s allfurt nit mehr.“ –
Das war der Sparpfennig, von dem mein Vater einst gesprochen, und er kam jetzt seinem Sohne beim Neubeginn seines Geschäfts zu ganz gelegener Zeit. Freilich hatte Lisei’s Vater damit sein ganzes Vermögen hingegeben und sich selbst der Fürsorge seiner Kinder anvertraut; aber er war dabei nicht müßig; er suchte seine Schnitzmesser wieder hervor und wußte sich bei den Arbeiten in der Werkstatt nützlich zu machen.
Die Puppen nebst dem Theater-Apparat waren
in einem Verschlage auf dem Boden des Nebenhauses untergebracht. Nur an Sonntagnachmittagen holte er bald die eine, bald die andere in sein Stübchen herunter, revidirte die Drähte und Gelenke und putzte oder besserte dies und jenes an denselben. Der alte Heinrich stand dann mit seiner kurzen Pfeife neben ihm und ließ sich die Schicksale der Puppen erzählen, von denen fast jede ihre eigene Geschichte hatte; ja, wie es jetzt herauskam, der so wirkungsvoll geschnitzte Kasper hatte einst für seinen jungen Verfertiger sogar den Brautwerber um Lisei’s Mutter abgegeben. Mitunter wurden zur besseren Veranschaulichung der einen oder anderen Scene auch wohl die Drähte in Bewegung gesetzt; Lisei und ich haben oftmals draußen an den Fenstern gestanden, die schon aus grünem Weinlaub gar traulich auf den Hof hinausschauten; aber die alten Kinder drinnen waren meist so in ihr Spiel vertieft, daß ihnen erst durch unser Beifallklatschen die Gegenwart der Zuschauer bemerklich wurde. – – Als das Jahr weiter rückte, fand Vater Joseph eine andere Beschäftigung; er nahm den Garten unter seine Obhut, er säete und pflanzte, und am Sonntage
wandelte er, sauber angethan, zwischen den Rabatten auf und ab, putzte an den Rosenbüschen oder band Nelken und Levkojen an feine selbstgeschnitzte Stäbchen.
So lebten wir einig und zufrieden; mein Geschäft hob sich mehr und mehr. Ueber meine Heirath hatte unsere gute Stadt sich ein paar Wochen lebhaft ausgesprochen; da aber fast Alle über die Unvernunft meiner Handlungsweise einig waren, und dem Gespräche so die gedeihliche Nahrung des Widerspruches vorenthalten blieb, so hatte es sich bald selber ausgehungert.
Als es dann abermals Winter wurde, holte Vater Joseph an den Sonntagen auch wieder die Puppen aus ihrem Verschlage herunter, und ich dachte nicht anders, als daß in solchem stillen Wechsel der Beschäftigung ihm auch künftig die Jahre hingehen würden. Da trat er eines Morgens mit gar ernsthaftem Gesichte zu mir in die Wohnstube, wo ich eben allein an meinem Frühstück saß. „Schwiegersohn,“ sagte er, nachdem er sich wie verlegen ein paar Mal mit der Hand durch seine weißen Haarspießchen gefahren war, „ich kann’s doch nit wohl länger ansehen, daß ich
alleweil so das Gnadenbrod an Euerm Tisch soll essen.“
Ich wußte nicht, wo das hinaus sollte, aber ich fragte ihn, wie er auf solche Gedanken komme; er schaffe ja mit in der Werkstatt, und wenn mein Geschäft jetzt einen größeren Gewinn abwerfe, so sei dies wesentlich der Zins seines eigenen Vermögens, das er an unserem Hochzeitsmorgen in meine Hand gelegt habe.
Er schüttelte den Kopf. Das reiche Alles nicht; aber eben jenes kleine Vermögen habe er zum Teil einst in unserer Stadt gewonnen; das Theater sei ja noch vorhanden, und die Stücke habe er auch alle noch im Kopfe.
Da merkte ich’s denn wohl, der alte Puppenspieler ließ ihm keine Ruhe; sein Freund, der gute Heinrich, genügte ihm nicht mehr als Publicum, er mußte einmal wieder öffentlich vor versammeltem Volke seine Stücke aufführen.
Ich suchte es ihm auszureden; aber er kam immer wieder darauf zurück. Ich sprach mit Lisei, und am Ende konnten wir nicht umhin, ihm nachzugeben. Am
liebsten hätte nun freilich der alte Mann gesehen, wenn Lisei wie vor unserer Verheirathung die Frauenrollen in seinen Stücken gesprochen hätte; aber wir waren übereingekommen, seine dahin zielenden Anspielungen nicht zu verstehen; für die Frau eines Bürgers und Handwerksmeisters wollte sich das denn doch nicht ziemen.
Zum Glück – oder, wie man will, zum Unglück – war derzeit ein ganz reputirliches Frauenzimmer in der Stadt, die einst bei einer Schauspielertruppe als Souffleuse gedient hatte und daher in derlei Dingen nicht unbewandert war. Diese – Kröpel-Lieschen nannten sie die Leute von wegen ihrer Kreuzlahmheit – ging sofort auf unser Anerbieten ein, und bald entwickelte sich am Feierabend und an den Sonntagnachmittagen die lebhafteste Thätigkeit in Vater Joseph’s Stübchen. Während vor dem einen Fenster der alte Heinrich an den Gerüststücken des Theaters zimmerte, stand vor dem anderen zwischen frisch angemalten Coulissen, die von der Zimmerdecke herunterhingen, der alte Puppenspieler und exercirte mit Kröpel-Lieschen eine Scene nach der anderen. Sie sei ein
dreimal gewürztes Frauenzimmer, versicherte er stets nach solcher Probe; nicht einmal die Lisei hab’ es so schnell capirt; nur mit dem Singen ginge es nit gar so schön; sie grunze mit ihrer Stimme immer in der Tiefe, was für die schöne Susanne, die das Lied zu singen habe, nicht eben harmonirlich sei.
Endlich war der Tag der Aufführung festgesetzt. Es sollte Alles möglichst reputirlich vor sich gehen; nicht auf dem Schützenhofe, sondern auf dem Rathaussaale, wo auch die Primaner um Michaelis ihre Redeübungen hielten, sollte jetzt der Schauplatz sein; und als am Sonnabend Nachmittags unsere guten Bürger ihr frisches Wochenblättchen aus einander falteten, sprang ihnen in breiten Lettern die Anzeige in die Augen:
„Morgen Sonntag Abend sieben Uhr auf dem Rathaussaale Marionetten-Theater des Mechanikus Joseph Tendler hieselbst.
Die schöne Susanna, Schauspiel mit Gesang in 4 Aufzügen.“
Es war aber damals in unserer Stadt nicht mehr die harmlose schaulustige Jugend aus meinen Kinderjahren;
die Zeiten des Kosakenwinters lagen dazwischen, und namentlich war unter den Handwerkslehrlingen eine arge Zügellosigkeit eingerissen; die früheren Liebhaber unter den Honoratioren aber hatten ihre Gedanken jetzt auf andere Dinge. Dennoch wäre vielleicht Alles gut gegangen, wenn nur der schwarze Schmidt und seine Jungen nicht gewesen wären.“
Ich fragte Paulsen, wer das sei; denn ich hatte niemals von einem solchen Menschen in unserer Stadt gehört.
„Das glaub’ ich wohl,“ erwiederte er, „der schwarze Schmidt ist schon vor Jahren im Armenhaus verstorben; damals aber war er Meister gleich mir; nicht ungeschickt, aber lüderlich in seiner Arbeit wie im Leben; der sparsame Verdienst des Tages wurde Abends im Trunk und Kartenspiel verthan. Schon gegen meinen Vater hatte er einen Haß gehabt, nicht allein, weil dessen Kundschaft die seinige bei Weitem überstieg, sondern schon aus der Jugend her, wo er dessen Nebenlehrling gewesen und wegen eines schlechten Streiches gegen ihn vom Meister fortgejagt worden war. Seit dem Sommer hatte er Gelegenheit
gefunden, diese Abneigung in erhöhtem Maße auch auf mich auszudehnen; denn bei der damals hier neu errichteten Kattunfabrik war, trotz seiner eifrigen Bemühung um dieselbe, die Arbeit an den Maschinen allein mir übertragen worden, in Folge dessen er und seine beiden Söhne, die bei dem Vater in Arbeit standen und diesen an wüstem Treiben wo möglich überboten, schon nicht verfehlt hatten, mir ihren Verdruß durch allerlei Neckereien kund zu geben. Ich hatte indessen jetzt keine Gedanken an diese Menschen.
So war der Abend der Aufführung herangekommen. Ich hatte noch an meinen Büchern zu ordnen und habe, was geschah, erst später durch meine Frau und Heinrich erfahren, welche zugleich mit unserem Vater nach dem Rathaussaale gingen.
Der erste Platz dort war fast gar nicht, der zweite nur mäßig besetzt gewesen; auf der Gallerie aber hatte es Kopf an Kopf gestanden. – Als man vor diesem Publicum das Spiel begonnen, war anfänglich Alles in der Ordnung vorgegangen; die alte Lieschen hatte ihren Part fest und ohne Anstoß hingeredet. – Dann aber kam das unglückselige Lied! Sie bemühte
sich vergebens, ihrer Stimme einen zarteren Klang zu geben; wie Vater Joseph vorhin gesagt hatte, sie grunzte wirklich in der Tiefe. Plötzlich rief eine Stimme von der Galerie: „Höger up, Kröpel-Lieschen! Höger up!“ Und als sie, diesem Rufe gehorsam, die unerreichbaren Diskanttöne zu erklettern strebte, da scholl ein rasendes Gelächter durch den Saal.
Das Spiel auf der Bühne stockte, und zwischen den Coulissen heraus rief die bebende Stimme des alten Puppenspielers: „Meine Herrschaft'n, i bitt g'wogentlich um Ruhe!“ Kasperl, den er eben an seinen Drähten in der Hand hielt und der mit der schönen Susanna eine Scene hatte, schlenkerte krampfhaft mit seiner kunstvollen Nase.
Neues Gelächter war die Antwort. „Kasperl soll singen!“ – „Russisch! Schöne Minka, ich muß scheiden!“ – „Hurra für Kasperl!“ – „Nichts doch; Kasperl sein' Tochter soll singen!“ – „Ja wohl, wischt euch's Maul! Die ist Frau Meisterin geworden, die thut's halt nimmermehr!“
So ging's noch eine Weile durch einander. Auf
einmal flog, in wohlgezieltem Wurfe, ein großer Pflasterstein auf die Bühne. Er hatte die Drähte des Kasperl getroffen; die Figur entglitt der Hand ihres Meisters und fiel zu Boden.
Vater Joseph ließ sich nicht mehr halten. Trotz Lisei’s Bitten hat er gleich darauf die Puppenbühne betreten. – Donnerndes Händeklatschen, Gelächter, Fußtrampeln empfing ihn, und es mag sich freilich seltsam genug präsentirt haben, wie der alte Mann, mit dem Kopf oben in den Suffiten, unter lebhaftem Händearbeiten seinem gerechten Zorne Luft zu machen suchte. – Plötzlich unter allem Tumult fiel der Vorhang; der alte Heinrich hatte ihn herabgelassen.
– – Mich hatte indeß zu Hause bei meinen Büchern eine gewisse Unruhe befallen; ich will nicht sagen, daß mir Unheil ahnte, aber es trieb mich dennoch fort, den Meinigen nach. – Als ich die Treppe zum Rathhaussaal hinaufsteigen wollte, drängte eben die ganze Menge von oben mir entgegen. Alles schrie und lachte durch einander. „Hurrah! Kasper is dod; Lott is dod. Die Kamedie ist zu End’!“ – Als ich aufsah, erblickte ich die schwarzen Gesichter der
Schmidt-Jungen über mir. Sie waren augenblicklich still und rannten an mir vorbei zur Thür hinaus; ich aber hatte für mich jetzt die Gewißheit, wo die Quelle dieses Unfugs zu suchen war.
Oben angekommen, fand ich den Saal fast leer. Hinter der Bühne saß mein alter Schwiegervater wie gebrochen auf einem Stuhl und hielt mit beiden Händen sein Gesicht bedeckt. Lisei, die auf den Knieen vor ihm lag, richtete sich, da sie mich gewahrte, langsam auf. „Nun, Paul,“ fragte sie, mich traurig ansehend, „hast du noch die Kuraschi?“
Aber sie mußte wohl in meinen Augen gelesen haben, daß ich sie noch hatte; denn bevor ich noch antworten konnte, lag sie schon an meinem Halse. „Laß uns nur fest zusammenhalten, Paul!“ sagte sie leise.
– – Und, siehst du! Damit und mit ehrlicher Arbeit sind wir durchgekommen.
– – Als wir am anderen Morgen aufgestanden waren, da fanden wir jenes Schimpfwort „Pole Poppenspäler“ – denn ein Schimpfwort sollte es ja sein – mit Kreide auf unsere Hausthür geschrieben.
Ich aber habe es ruhig ausgewischt, und als es dann später noch ein paar Mal an öffentlichen Orten wieder lebendig wurde, da habe ich einen Trumpf darauf gesetzt; und weil man wußte, daß ich nicht spaße, so ist es danach still geworden. – – Wer dir es jetzt gesagt hat, der wird nichts Böses damit gemeint haben; ich will seinen Namen auch nicht wissen.
Unser Vater Joseph aber war seit jenem Abend nicht mehr der Alte. Vergebens zeigte ich ihm die unlautere Quelle jenes Unfugs und daß derselbe ja mehr gegen mich, als gegen ihn gerichtet gewesen sei. Ohne unser Wissen hatte er bald darauf alle seine Marionetten auf eine öffentliche Auction gegeben, wo sie zum Jubel der anwesenden Jungen und Trödelweiber um wenige Schillinge versteigert waren; er wollte sie niemals wieder sehen. – Aber das Mittel dazu war schlecht gewählt; denn als die Frühlingssonne erst wieder in die Gassen schien, kam von den verkauften Puppen eine nach der anderen aus den dunklen Häusern an das Tageslicht. Hier saß ein Mädchen mit der heiligen Genovefa auf der Hausthürschwelle, dort ließ ein Junge den Doctor Faust auf
seinem schwarzen Kater reiten; in einem Garten in der Nähe des Schützenhofes hing eines Tages der Pfalzgraf Siegfried neben dem höllischen Sperling als Vogelscheuche in einem Kirschbaume. Unserem Vater that die Entweihung seiner Lieblinge so weh, daß er zuletzt kaum noch Haus und Garten bei uns verlassen mochte. Ich sah es deutlich, daß dieser übereilte Verkauf an seinem Herzen nagte, und es gelang mir, die eine und die andere Puppe zurückzukaufen; aber als ich sie ihm brachte, hatte er keine Freude daran; das Ganze war ja überdies zerstört. Und, seltsam, trotz aller aufgewendeten Mühe konnte ich nicht erfahren, in welchem Winkel sich die wertvollste Figur von allen, der kunstreiche Kasperl verborgen hatte. Und was war ohne ihn die ganze Puppenwelt!
Aber vor einem anderen, ernsteren Spiele sollte bald der Vorhang fallen. Ein altes Brustleiden war bei unserem Vater wieder aufgewacht, sein Leben neigte sich augenscheinlich zu Ende. Geduldig und voll Dankbarkeit für jeden kleinen Liebesdienst lag er auf seinem Bette. „Ja, ja,“ sagte er lächelnd und hob so heiter
seine Augen gegen die Bretterdecke des Zimmers, als sähe er durch dieselbe schon in die ewigen Fernen des Jenseits, „es is scho richtig g’wes’n: mit den Menschen hab’ ich nit immer könne firti werdn; da droben mit den Engeln wird’s halt besser gehen; und – auf alle Fäll’, Lisei, i find’ ja doch die Mutter dort.“
– – Der gute kindliche Mann starb; Lisei und ich, wir haben ihn bitterlich vermißt; auch der alte Heinrich, der ihm nach wenigen Jahren folgte, ging an seinen noch übrigen Sonntagnachmittagen umher, als wisse er mit sich selber nicht wohin, als wolle er zu einem, den er doch nicht finden könne.
Den Sarg unseres Vaters bedeckten wir mit allen Blumen des von ihm selbst gepflegten Gartens; schwer von Kränzen wurde er auf den Kirchhof hinausgetragen, wo unweit von der Umfassungsmauer das Grab bereitet war. Als man den Sarg hinabgelassen hatte, trat unser alter Propst an den Rand der Gruft und sprach ein Wort des Trostes und der Verheißung; er war meinen seligen Eltern stets ein treuer Freund und Rather gewesen; ich war von ihm confirmirt, Lisei und ich von ihm getraut worden. Ringsum
auf dem Kirchhofe war es schwarz von Menschen; man schien von dem Begräbnisse des alten Puppenspielers noch ein ganz besonderes Schauspiel zu erwarten. – Und etwas Besonderes geschah auch wirklich; aber es wurde nur von uns bemerkt, die wir der Gruft zunächst standen. Lisei, die an meinem Arme mit hinausgegangen war, hatte eben krampfhaft meine Hand gefaßt, als jetzt der alte Geistliche dem Brauche gemäß den bereit gestellten Spaten ergriff und die erste Erde auf den Sarg hinabwarf. Dumpf klang es aus der Gruft zurück. „Von der Erden bist du genommen,“ erscholl jetzt das Wort des Priesters; aber kaum war es gesprochen, als ich von der Umfassungsmauer her über die Köpfe der Menschen etwas auf uns zufliegen sah. Ich meinte erst, es sei ein großer Vogel; aber es senkte sich und fiel gerade in die Gruft hinab. Bei einem flüchtigen Umblick – denn ich stand etwas erhöht auf der aufgeworfenen Erde – hatte ich einen der Schmidt-Jungen sich hinter die Kirchhofmauer ducken und dann davonlaufen sehen, und ich wußte plötzlich, was geschehen war. Lisei hatte einen Schrei an meiner Seite ausgestoßen,
unser alter Propst hielt wie unschlüssig den Spaten zum zweiten Wurfe in den Händen. Ein Blick in das Grab bestätigte meine Ahnung: oben auf dem Sarge, zwischen den Blumen und der Erde, die zum Theil sie schon bedeckte, da hatte er sich hingesetzt, der alte Freund aus meiner Kinderzeit, Kasperl, der kleine lustige Allerweltskerl. – Aber er sah jetzt gar nicht lustig aus; seinen großen Nasenschnabel hatte er traurig auf die Brust gesenkt; der eine Arm mit dem kunstreichen Daumen war gegen den Himmel ausgestreckt, als solle er verkünden, daß, nachdem alle Puppenspiele ausgespielt, da droben nun ein anderes Stück beginnen werde.
Ich sah das Alles nur auf einen Augenblick, denn schon warf der Propst die zweite Scholle in die Gruft: „Und zur Erde wieder sollst du werden!“ – Und wie es von dem Sarg hinabrollte, so fiel auch Kasperl aus seinen Blumen in die Tiefe und wurde von der Erde überdeckt.
Dann klang es zum dritten Mal dumpf aus der Gruft herauf. „Und von der Erden sollst du auferstehen!“
Als das Vaterunser gesprochen war, und die Menschen sich verlaufen hatten, trat der alte Propst zu uns, die wir noch immer in die Grube starrten. „Es hat eine Ruchlosigkeit sein sollen,“ sagte er, indem er liebreich unsere Hände faßte. „Laßt uns es anders nehmen! In seiner Jugendzeit, wie Ihr es mir erzähltet, hat der selige Mann die kleine Kunstfigur geschnitzt, und sie hat einst sein Eheglück begründet; später, sein ganzes Leben lang, hat er durch sie, am Feierabend nach der Arbeit, gar manches Menschenherz erheitert, auch manches Gott und den Menschen wohlgefällige Wort der Wahrheit dem kleinen Narren in den Mund gelegt; – ich habe selbst der Sache einmal zugeschaut, da Ihr noch Beide Kinder waret. – Laßt nun das kleine Werk seinem Meister folgen; das stimmt gar wohl zu den Worten unserer heiligen Schrift! Und seid getrost; denn die Guten werden ruhen von ihrer Arbeit.“
– Und so geschah es. Still und friedlich gingen wir nach Hause; den kunstreichen Kasperl aber, wie unseren guten Vater Joseph, haben wir niemals wiedergesehen.
– – Alles das – setzte nach einer Weile mein Freund hinzu – hat uns manches Weh bereitet; aber gestorben sind wir beiden jungen Leute nicht daran. Nicht lange nachher wurde unser Joseph uns geboren, und wir hatten nun Alles, was zu einem vollen Menschenglück gehört. An jene Vorgänge aber werde ich noch jetzt Jahr um Jahr durch den ältesten Sohn des schwarzen Schmidt erinnert. Er ist einer jener ewig wandernden Handwerksgesellen geworden, die, verlumpt und verkommen, ihr elendes Leben von den Geschenken fristen, die nach Zunftgebrauch auf ihre Ansprache die Handwerksmeister ihnen zu verabreichen haben. Auch meinem Hause geht er nie vorbei.“
Mein Freund schwieg und blickte vor sich in das Abendroth, das dort hinter den Bäumen des Kirchhofs stand; ich aber hatte schon eine Zeit lang über der Gartenpforte, der wir uns jetzt wieder näherten, das freundliche Gesicht der Frau Paulsen nach uns ausblicken sehen. „Hab ich’s nit denkt!“ rief sie, als wir nun zu ihr traten. „Was habt Ihr wieder für ein Langes abzuhandeln? Aber nun kommt ins Haus!
Die Gottsgab’ steht auf dem Tisch; der Hafenmeister is auch schon da; und ein Brief vom Joseph und der alt’ Meisterin! – – Aber was schaust mi denn so an, Bub?“
Der Meister lächelte. „Ich hab’ ihm was verrathen, Mutter. Er will nun sehen, ob du auch richtig noch das kleine Puppenspieler-Lisei bist!“
„Ja, freili!“ erwiederte sie, und ein Blick voll Liebe flog zu ihrem Mann hinüber. „Schau nur richti zu, Bub! Und wenn du es nit kannst find’n, – der da, der weiß es gar genau!“
Und der Meister legte schweigend seinen Arm um sie. Dann gingen wir ins Haus zur Feier ihres Hochzeitstages. –
Es waren prächtige Leute, der Paulsen und sein Puppenspieler-Lisei.