Zweites Buͤchlein.
Die Reiſe.
Gelino bemuͤhte ſich waͤhrend dieſer Meerfahrt
den Zoͤgling in mancherlei ihm noch unbekannten
Dingen zu unterrichten. Das Vergnuͤgen der
Bequemlichkeiten mancher Art, die Zerſtreuungen
durch Muſik und Buͤhne, wurden ihm ſparſam zu¬
gemeſſen; er mußte dagegen haͤufig im Kriſtall¬
thurm weilen, und die Natur unter der Wogen¬
flaͤche beobachten.
Mit dieſem Thurme hatte es folgende Be¬
wandniß.
Er war nur ſo groß, daß etwa drei oder vier
Perſonen, ein ſcheidekuͤnſtleriſcher Apparat und
mancherlei Beobachtungsinſtrumente darin Raum
fanden. Von ſtarken Bohlen viereckig gebaut,
mit Seitenfenſtern von ſehr dickem aber voll¬
kommen durchſichtigem Kriſtall. Der Boden
uͤberaus feſt, um bei einem Stoße an Klippen
nicht in Truͤmmern zu fallen. Die Decke an
einen dicken, hohlen Metalltau gebunden, der
ins Innre lief. Zudem vollkommen gegen den
Eindrang der Fluthen geſichert.
Dieſer Thurm ward nun ins Meer gelaſſen,
indem er in der Gegend des Steuerruders be¬
feſtigt blieb. Durch ſeine Schwere ging er
unter. Die Hohlung des Taues ſetzte die un¬
ten befindlichen Perſonen in den Stand, mittelſt
eines Sprachrohrs verlangen zu koͤnnen, ob ſie
tiefer hinab geſenkt, oder hoͤher hinauf gezogen
ſein wollten. Die Chemie hatte lange ſchon die
Mittel entdeckt, eine verſchloſſene Luft durch
Reinigen und Erzeugen von Sauerſtoff athembar
zu erhalten. War das Meer nun nicht in zu
lebhafter Bewegung, ſo konnte man durch die
Fenſter alles weit um ſich entdecken, ja man
bediente ſich einer Art Lampen vor Hohlſpiegeln,
um die Tiefe noͤthigenfalls noch mehr zu er¬
hellen.
Welche Entdeckungen hatte die Naturkunde
ſeit dieſer Erfindung gemacht! Die Welt im
Ozean, von der Ehedem ſo wenig bekannt war,
lag nun dem Auge des Forſchers offen da.
Furchtbar ſchien es dem Neuling, im tiefen
Gebiet der Nereiden und Tritonen zu hauſen,
auch nahten manche ſchlimme Gefahren. Die
Meerungeheuer, ergrimmt uͤber den ſeltſamen
Beſuch, wuͤtheten bisweilen gegen des Thurmes
Fenſter und ſuchten ſie zu zerſtoͤren. Allein es
mangelte auch nicht an Vorkehrungen. Stacheln
an den Ecken empfingen ſie unfreundlich, ſo daß
ſie ſich bald auf die Flucht begaben. Auch gab
es Fallen mit einem kuͤnſtlichen Mechanismus,
die hie und da einen Seeloͤwen, einen Haifiſch,
einen Delphin und andere erſt ſeit dieſer Er¬
findung bekannt gewordene Thiere umklammerten,
die denn als eine Beute fuͤr die Schiffskuͤche
oder fuͤr eine Sammlung von Seltenheiten mit
empor gebracht wurden. Bisweilen fanden ſich
aber zu große Thiere ein, und wenn der Thurm
nicht eilig genug zur Hoͤhe gewunden ward, ging
er mit ſeinen Bewohnern verloren.
Neue Steinarten auf dem Meergrunde, Foſſi¬
lien, andere Gattungen von Perlen und Koral¬
len waren eben ſowohl in großer Menge entdeckt
worden, als man die Ichtiologie bereichert hatte.
Hier blieb Guido halbe Tage lang, uͤbte den
kaltbluͤtigen Sinn in Lebensgefahr und aͤrntete
merkwuͤrdige Kenntniſſe. Von dem was er ſah
und lernte, hielt er ein Tagebuch, brachte das
Vorzuͤglichere davon in einen Auszug und ſandte
ihn durch mitgenommene Tauben an Ini.
Man gelangte in den Archipelagus. Die
meiſten Eilande wurden beſucht. Sie waren jetzt
zum Theil von Hirten bewohnt, die ein dem
alten arkadiſchen aͤhnliches Leben fuͤhrten, denn
Unſchuld und fromme Sitte hatte man einhei¬
miſch gemacht; zum Theil aber ſahe der Rei¬
ſende vortreffliche Anſtalten zur Bildung von
Seeleuten und zum Schiffbau, wozu die Lage
einlud.
Guido geſellte ſich bisweilen zu den Juͤng¬
lingen und Maͤdchen unter den Hirten. Jene
trugen gemeinhin an einem Bande ein Sehrohr
auf dem Ruͤcken weil ſie in klaren Naͤchten die
Beſchaͤftigung ihrer Urvaͤter trieben und die
Sternkunde bereicherten. Daneben fertigten ſie
eine liebliche Art Floͤten und begleiteten den
Geſang froher Maͤdchen, deren Hand zugleich
ungemein wohltoͤnende Citharen ruͤhrte. Wie
weit auch dieſe Muſik der Zephirharmonika nach¬
ſtand, mit welcher Ini ihn bezaubert hatte,
fuͤhlte Guido dennoch die Ruͤhrung einfacher
und tief empfundener Melodien. Natur und
harmloſe Lebensſitte hatten auch dieſe Menſchen
ſo poetiſch gemacht, daß auf Verlangen oder aus
eignem Drang, Hirten und Hirtinnen Lied und
Harmonien auf der Stelle erfanden und vor¬
trugen, was die Hoͤrer in die Zeiten der Amphion
und Homer verſetzte. Guido entwarf davon eine
anziehende Schilderung und ſandte ſie Ini.
Das Verlangen Athen bald zu ſehen, reg¬
te ſich nun lebhafter, denn zu viel hatte ihm
Gelino davon geſagt. Es wurde auch in kurzem
geſtillt, man erblickte das alte Vorland Sunium,
die Berggipfel Parnes und Brileſſus, und lag
bald darauf im Hafen Piraͤus vor Anker
Gelino unterrichtete ihn im Voraus uͤber
die Erſcheinungen, welche ihn auf dieſem merk¬
wuͤrdigen Erdfleck belehren ſollten.
Im achtzehnten Jahrhundert, hub er an,
ereignete ſich in der Provinz Frankreich jene be¬
kannte Staatsveraͤnderung, welche das Schick¬
ſal beſtimmt hatte, nach und nach allen Reichen
am Erdboden eine neue Geſtalt zu geben. Nach
langen blutigen Kriegen, die bis tief ins neun¬
zehnte Jahrhundert gefuͤhrt wurden, kam der
groͤßte Theil von Europa unter eine Obergewalt,
welche aber die Unterregierung mehrerer Koͤnige
feſtſtellte. Man nannte dies Reich, das erneute
roͤmiſch-abendlaͤndiſche und Rom wurde, wie es
jetzt noch iſt, der Wohnſitz des Kaiſers. Der
ſchwerſte Kampf war gegen die Albionen, damals
in Schiffahrt und Seekrieg beruͤhmt, welche un¬
geheure, wenn gleich meiſtens eingebildete, Reich¬
thuͤmer gehaͤuft und den gigantiſchen Entwurf
gemacht hatten, die Handlung des ganzen Erd¬
balls an ſich zu bringen. Doch nach einer ge¬
lungenen Landung flohen die Vornehmen mit
ihren klingenden Schaͤtzen nach dem Indien am
Ganges, und Calcutta ward die Hauptſtadt
ihres neuen Reichs. Das Volk blieb verarmt
zuruͤck und mußte unter fremder Regierung ſei¬
nem Kunſtfleiß eine andere Richtung geben.
Doch bildete ſich neben dem abendlaͤndiſchen
Kaiſerthume auch ein neues morgenlaͤndiſches.
Einen Caͤſar an der Spitze, der ſich den griechiſchen
nannte, drangen die Voͤlker des Nordens hervor,
mit eiſernen Armen, in alt ſcithiſcher wilder
Kraft und dennoch mit den Kuͤnſten der vorhan¬
denen Kultur vertraut. Den Boden des ehema¬
ligen Griechenlands hatten damals die Otto¬
mannen inne, ein kraͤftig Volk, voll Religion
und warmer Phantaſie, doch weit zuruͤckgeblieben
in den Wiſſenſchaften. Sie mußten bald aus
Europa weichen, wo ihr Sultan, durch mehrere
Jahrhunderte, auf Conſtantins Thron geſeſſen
hatte. Allein ihr reizend Gebiet in Europa
ward der Zankapfel zwiſchen den beiden Gro߬
monarchien. Neu-Griechen und Neu-Roͤmer
machten ihre Anſpruͤche darauf mit dem Schwerdte
guͤltig. Eine verheerende Fehde folgte der an¬
dern, die Menſchheit blutete. Man ſah in den
lachenden Gegenden nur Ruinen, entvoͤlkerte
Wohnplaͤtze, verwuͤſtete Auen. Umſonſt mahnte
Philoſophie der blutenden Menſchheit zu ſchonen.
Zu gewaltig fuͤhlten ſich die Streitkraͤfte, zu ent¬
flammt waren die ehrgeizigen Gemuͤther, ſtolzer
gemacht durch bedeutende Erfolge und immer
weiter ſtrebend in ungemeſſenen Entwuͤrfen.
Zuletzt veranſtalteten beide Kaiſer eine Unter¬
redung zu Conſtantinopel. Mein muß Europa
gehoͤren, ſagte der Occidentale, die Natur ſeiner
Graͤnzen weiſt mich darauf an, ich ende den
Kampf darum nicht und ſollte das lebende Ge¬
ſchlecht darin untergehn. Doch nimm dir vom
alten Morgenland Roms, das herrliche Klein-
Aſien, Sirien, dringe zum Euphrat vor, ja
bemaͤchtige dich aller Lande, denen einſt Cirus
gebot. Ich will dir in deinen Eroberungen
treulich beiſtehn. Schon iſt dein Aſien dem um¬
fange nach, groͤßer als mein Gebiet, wie viel
reichere fruchtbarere Provinzen kannſt du ihm
noch zugeſellen.
Die Kuͤhnheit des Plans gefiel dem Monar¬
chen aus dem Hauſe Romanow. Da kamen von
den Stroͤmen Obi, Lena, Jeniſei, von den
Seen Aral, Telegul, Baikal, von den Altaniſchen
und Sajaniſchen Gebirgen ſtreitbare Krieger.
Turalinzen, Kirgiſen, Teleuten, Abinzen, Tſchu¬
limiſche und Werchotomekiſche Tatarn ſtroͤmten
uͤber den Kaukaſus, Huͤlfsvoͤlker aus den ſtolzen
Spaniern, den ehrgeizigen Franken, den markig¬
ten Germanen, den feurigen Polen, den ſchlauen
Italiern und andern Nationen zuſammen ge¬
bracht, drangen uͤber die Meerenge Conſtan¬
tinopel vor oder landeten an den Kuͤſten von
Sirien.
Tapfer vertheidigten ſich die Anhaͤnger der
Religion Muhameds. Doch Uneinigkeit theilte
ihre Kraft, ſie waren der uͤberlegenen Kunſt
nicht gewachſen. Zwar koſtete es Jahre, muͤhe¬
voller Anſtrengung und das Leben von Hundert¬
tauſenden, endlich aber wurden bis zu Meſopo¬
tamien hin alle alt-tuͤrkiſchen Beſitzungen uͤber¬
ſchwemmt. Der Schach von Perſien kam den
Glaubensverwandten zu Huͤlfe, ward ſo in die
Kriege verflochten und erlag am Ende des neun¬
zehnten Jahrhunderts auch.
Nun ward Ispahan des neuen ungeheuren
Staates Mittelpunkt. Man bemuͤhte ſich mit
Weisheit die Voͤlker zu gewinnen, indem ihnen
nach und nach die Wohlthaten der Kultur ein¬
leuchtend gemacht, und die verſchiedenen Reli¬
gionen in einen, von Wahn gereinigten, und durch
allgemeine Moral veredelten, Kultus vereint
wurden.
Bald aber ſahe man ſich genoͤthigt neue
Kriege im Oſt zu beginnen. Die Albionen in
Indien waren maͤchtig geworden. Sie trieben
nicht nur in allen Gewaͤſſern zwiſchen Madagas¬
kar und Japan ihr altes Spiel, ſondern hatten
auch zu Lande ihre Herrſchaft bis uͤber Tibet
hinaus verbreitet, befehdeten den Khan von
Sina, und gaben den Neu-Perſern (ſo nannten
ſich jetzt die vormaligen Moskowier) zu vielen
Klagen Anlaß. Die Waffen mußten entſcheiden,
ein hartnaͤckiger Kampf durch mehrere Jahr¬
zehende folgte. Doch ein Monarch, Cirus Ale¬
xander genannt, drang zuletzt an den Ganges
vor, nahm Calcutta ein und die Albionen ſahen
ſich abermal gezwungen ihr Reich uͤbers Meer
zu verlegen. Sie waͤhlten Neu-Holland, da
Cirus Alexander ihnen auch die Inſelgruppe von
Borneo wegnahm. Doch jenes große Eiland,
das nunmehr den Namen Suͤd-Brittania em¬
pfing, ſammt vielen andern und manchen neu
entdeckten am Pol, bildet jetzt ihr ſtattlich Reich
und die kunſtfleißige und uͤppige. Hauptſtadt
Botani-Bai iſt zu der Bevoͤlkerung einer Million
herangewachſen. Zu Calcutta, das ſie eilig raͤumen
mußten, fand man eine Abtei voll Grabmaͤhler
und Denkbilder großer Seehelden und Gelehrten.
Denn dies Volk war von uralten Zeiten her
ungemein dankbar gegen Verdienſte um das
Vaterland, und darum iſt es ihm auch wohl ge¬
lungen mit anfaͤnglich geringen Huͤlfsmitteln
bewundernswerthe Dinge zu vollziehn.
Nachdem das Neu-Perſiſche Reich geſtiftet
und befeſtigt war, genoß das abendlaͤndiſche
Kaiſerthum einer langen gluͤckſeligen Ruhe. Der
Kaiſer Marcus Aurelius II. berief zu Anfang des
zwanzigſten Jahrhunderts die Fuͤrſten und Weiſen
aus allen Landen, um eine Verfaſſung zu gruͤn¬
den, wie das Beduͤrfniß der vorgeruͤckten Zeiten
ſie verlangte.
Hier wurde nun vorerſt angetragen, den
Namen abendlaͤndiſches Kaiſerthum aufzugeben.
Was duͤrfen wir Rom nachahmen? fragte man.
Unſer Reich iſt an Umfang, Reichthum und Ge¬
walt, bei weitem groͤßer als das Reich der Qui¬
riten in ſeiner uͤppigſten Bluͤthe. Haben wir
allenfalls in Aſien maͤchtigere Feinde zu fuͤrchten
als ſie, ſo fehlt es uns nicht an Bundgenoſſen,
mit denen vereint wir ihnen kraͤftigen Wider¬
ſtand leiſten koͤnnen. Da auch die reinſte Ge¬
meinſache der Zweck dieſes großen Landtags iſt,
ſo heiße das Reich kuͤnftig die Republik Europa.
Aurelius, weit entfernt, ſeine Rechte gekraͤnkt
zu finden, ſahe hier nur ſeine Wuͤnſche ausge¬
ſprochen.
Nur Gleichheit, ſagte der weiſe Gekroͤnte,
iſt Verfaſſung des Rechts. Wenn Spaltung des
Willens Ehedem die Republiken erſchuͤtterte, und
ſie zuletzt in Herrſchaft der Willkuͤhr untergehen
ließ, ſo kam das daher, weil die Volksvernunft
noch nicht hinlaͤnglich gereift war, das Gute
klar einzuſehn. Man nannte die Tugend Stuͤtze
der Gemeinſache, Ehre die des Alleinregiments.
Thoͤrigter Irrwahn beide Begriffe zu ſcheiden.
Heil der Zeit, welche endlich einſah, Ehre koͤnne
allein der Tugend Preis werden und Tugend
ſei durchaus nichts anderes als Huldigung der
Vernunft.
Dann bedingt aber die Verfaſſung, durch ſich
ſelbſt, Volkswillen und Alleinherrſchaft ſo verbun¬
den, daß der Mann auf der Spitze, jenen nach¬
druͤcklich ausſpricht, und, wie er ihn von unten
herauf vernahm, ihn von oben hinunter in Er¬
fuͤllung gehen laͤßt.
Es gab Zeiten wo die Fuͤrſten ſich freuten,
blindgehorſamen, vernunftarmen Sklaven zu ge¬
bieten. Jetzt, dem Himmel ſei Dank, finden wir
nur Ehre darin, freien, edlen, verſtaͤndigen Buͤr¬
gern vorzuſtehn. — So ſprach dieſer Monarch.
Du wirſt auf deiner weitern Reiſe Gelegen¬
heit finden, die Einrichtungen zu ſehn, welche
nun in der monarchiſchen Republik gegruͤndet
wurden, indem man unablaͤßig ſtrebte, Tugend
und Ehre zu gatten, und zugleich die Volksin¬
telligenz und die Fuͤrſtenintelligenz erzog. Viel
Hohes,
Großes, Kraͤftiges, Entzuͤckendes iſt daraus her¬
vorgegangen, wenn gleich freilich immer noch ein
Grundſatz fuͤr die Tugend der Buͤrger mangelt,
der ihre Tugend gewiß, aͤcht und als ſolche er¬
kennbar macht. Ihn zu ſuchen iſt das hohe
Geſchaͤft der Zeit, wiewohl man noch nicht
gluͤcklich darin war.
Vor der Hand merke aber ſo viel von jenen
Anordnungen:
Alle Voͤlker von Europa ſollten zur Sitten¬
einheit erzogen werden.
Man fuͤhrte darum Ueberall daſſelbe Maaß
in Schwere und Umfang, daſſelbe Tauſchmittel,
dieſelben Satzungen des Rechtes, ein.
Die allgemeine Sprache durch ganz Europa
folgte.
Die Voͤlker hatten ihre beſonderen Fuͤrſten,
da Eine Obergewalt unmoͤglich das weite Ganze
im Einzelnen uͤberblicken konnte. Dieſen Fuͤr¬
ſten blieb die Wuͤrdeerblichkeit zugeſtanden, um
den Uebeln der Ehrſucht, Liſt, Beſtechung aus¬
zuweichen, doch haftete ſie nicht an dem erſtge¬
borenen, ſondern an dem edelſten Sohn. Hier¬
uͤber mußte das große Rechtstribunal ſchlichten,
welchem der Kaiſer vorſaß und wo auch alle
D
Streitigkeiten der Fuͤrſten gehoben wurden, wo¬
durch, wie das Staatswohl auch von ſelbſt ver¬
langte, ein immerwaͤhrender Friede in Europa
beſtand, ein wichtiger Triumph der Zeit, wo¬
gegen die Vorwelt, in den Reichen, die jetzt nur,
trotz ihren erblichen Gebieern, als Provinzen be¬
trachtet werden, traurige innere Kriege ſah. So
hatte unter andern einſt Deutſchland einen Foͤde¬
ralismus geſtiftet, wo aber demungeachtet ſich
ein Fuͤrſt gegen den andern der Waffen bediente.
Doch, damit die Erben von Thronen, ſich ihres
erhabenen Berufs wuͤrdig machten, mußten die
Vaͤter, des Gemeinwohls halber, das frohe haͤus¬
liche Verhaͤltniß aufgeben, ſie um ſich zu ſehn.
Zeitig wurden die Soͤhne fernen Erziehungsan¬
ſtalten uͤbergeben, wo ſie, unerkannt und unter
andern Pfleglingen, nach den Grundſaͤtzen gebil¬
det wurden, die die Weisheit fuͤr die beſſeren
erkannte, und welche ſie immerfort veredelten.
Dann bekleideten ſie Aemter mannichfacher Art
und wurden in Lagen gebracht, wo ihre ſchon
entwickelten Talente ſich noch mehr kraͤftigten.
Endlich, maͤnnlich gereift, an Leib und Geiſt
prangend ausgeſtattet, erfuhren ſie ihre hohe
Beſtimmung und traten ſie, von Schmeichelei und
Luͤſten unverdorben, an. Dieſer Gebrauch ging
in der Folge ſogar auf die Fuͤrſtentoͤchter uͤber,
und keineswegs duͤrfen die Kinder der Kaiſer da¬
von ausgenommen ſein.
Was fuͤr die Religion, den Landbau, die
Wiſſenſchaften, Kuͤnſte, Handwerke, die Ausrot¬
tung der Armuth, von Oben geſchah, daß ſie Un¬
ten deſto freier gedeihen konnten, wird ſich dir
an ſeinem Orte verkuͤnden.
Ungeachtet der beſchloßenen und nach und
nach durchgefuͤhrten Identitaͤt der Europaͤer,
glaubte man dennoch, dieſer oder jene Landſtrich
koͤnne durch ſeine Natur, und allenfalls durch
gewiſſe Uebertragungen vom Alterthum, ſollte
es auch nur das begeiſternde Andenken ſein, ſich
fuͤr gewiſſe Beſchaͤftigungen vorzuͤglich eignen.
So wurde den bildenden Kuͤnſten, deren ſchoͤnen,
ſittlichen Einfluß man nicht verkannte, das alte
Griechenland zum Wirkungskreis angewieſen, und
dabei, auf allgemeine Koſten, der lieblich phan¬
taſtiſche Plan ausgefuͤhrt, Athen wieder aufzu¬
bauen. Du wirſt dieſe Stadt nun ſehen und
zwar moͤglichſt genau nachgeahmt, ſo weit nur
die Alterthumskunde dazu Huͤlfsmittel anbot.
Du wirſt dich in die Zeiten des Perikles zuruͤck
D 2
waͤhnen, in ſeine Mauern tretend. Keiner von
den Tempeln, keins der ehmaligen oͤffentlichen
Gebaͤude mangelt. Bildhauer und Maler trei¬
ben vorzuͤglich ihre Kunſt, und wenn der Haupt¬
anreiz vor Zeiten in dem großen vortheilhaften
Abſatz der Statuen und Gemaͤlde beſtand, welche
der alte Politheismus aus der halben bekannten
Welt in Attika kaufte, hat auch der neuere Kul¬
tus dieſen Anreiz wiederholt, indem es ein Ge¬
genſtand des Stolzes geworden iſt, ſimboliſche
Darſtellungen aus Athen zu beſitzen, deren wohl
viele ſchon in Palermo oder Meſſina dir zu Geſicht
kamen. Ohne dieſen beguͤnſtigenden Umſtand
wuͤrden Athens neuere Bildner ſchwerlich die
Phidias und Apelles zuruͤck gelaſſen haben, wie
es wirklich geſchehen iſt. Mitbewerbung iſt je¬
doch, wie ſich von ſelbſt verſteht, hiedurch nicht
aufgehoben, bei der allgemeinen Freiheit in Eu¬
ropa mag die Kuͤnſte uͤben wer da will, und wo
er will, auch wetteifern die Maler in Italien
ſehr gluͤcklich mit denen am Iliſſus, doch die
Fertigkeit in Stein zu geſtalten, drang hier am
weiteſten, wie uͤberhaupt auch die Vorkunde
(Theorie) des Schoͤnen, in Athen am meiſten
einheimiſch iſt.
Bei den Worten Vorkunde des Schoͤnen
ergluͤhte der Zoͤgling und dachte an Ini, die
ſinnige Malerin. Es ſoll mich wundern, ſagte
er zu ſich, ob die Bildner zu Athen meine
holde Geliebte an Zartheit und Imaginazion
uͤbertreffen werden.
Man zog nun in die Stadt ein. Guidos
Herz wallte hoch auf, bei den ruͤhrenden Erinne¬
rungen an das edle Alterthum, ſo lebendig durch
die Nachahmung verſinnlicht. Vor allen Haͤuſern
ſtanden Hermen, deren Vollkommenheit Staunen
erregte, das einfache und doch mit großem Eindruck
erfuͤllende Ebenmaaß der heiter-majeſtaͤtiſchen
Tempel, legte entzuͤckende Bewundrung auf.
Gelino beſuchte mit ſeinem jungen Freund
die Werkſtatt des geruͤhmteſten Meiſters unter
den Bildhauern. Der Mann faßte den Juͤng¬
ling feſt ins Auge, und ſchien befremdet. Dann
zeigte er willig ſeine reichen Vorraͤthe, zu wel¬
chen die meiſten Kuͤnſtler von Belang ihre Ar¬
beiten geliefert hatten, die nun in den weitlaͤuf¬
tigen Saͤaͤlen dieſer Werkſtatt und unter vor¬
theilhafter Beleuchtung, dem Auge der Fremden
ausgeſtellt ſein ſollten.
Was als Kunſtvorwurf gelten konnte, wurde
in Athen auch kuͤnſtleriſch behandelt und man
band ſich durch keine Vorliebe. Aus der alten
Griechenmithologie ſah man nicht nur trefflich ge¬
lungene Nachbildungen jenes Apollon, jener Ve¬
nus, jener Niobe und anderer Statuen, die ſich
einſt gluͤcklich durch die Jahrhunderte der Bar¬
barei retteten und in ſpaͤteren das Morgenroth
des Schoͤnen wieder aufgehen ließen, ſondern
man hatte auch die naͤmlichen Ideen auf andere
Weiſe bearbeitet und der Vorſprung des Genius
ward daran ſichtbar. Foͤbos hatte weit mehr
Goͤttlichkeit, die Goͤttin von Paphos mehr weib¬
liche Anmuth, wenn fruͤhere Zeiten dies ſchon un¬
begreiflich fanden.
Auch aus der alten nordiſchen Goͤtterlehre
waͤhlten die Kuͤnſtler Stoffe. Odin, Wodan,
die Valkiren, waren in trefflichen ſinnlichen Ver¬
herrlichungen aufgeſtellt, eben ſo Brama, Oſir
und was ſonſt dazu ſich eignete.
Fuͤr Saͤaͤle und Gaͤrten der Großen in Europa
fand ſich immer Nachfrage, auch hatte jede
namhafte Sadt einen Park, zur Ergehung der
Bewohner, angelegt, den der Kunſtſinn gern
ſchmuͤckte, uͤberzeugt, dies wirke lebendig auf
den Flug der Gemuͤther ein, und die ſo
vervollkommnete Leichtigkeit der Fortſchaffung
maͤßigte die Koſten.
Der regſamſte Kunſteifer ward aber durch die
Landesreligion unterhalten. Ein Sinod von Wei¬
ſen hatte fruͤherhin fuͤnfzigjaͤhrige Sitzungen ge¬
halten uͤber dieſen hoͤchſt wichtigen Gegenſtand,
etwas Allgemeinguͤltiges, Dauerndes feſtzuſtellen.
Tauſend Vorſchlaͤge hatte man gepruͤft und ver¬
worfen, bis eine anſehnliche Mehrheit ſich fuͤr
die folgenden entſchied.
Die chriſtliche Moral, ſagte der Sinod, iſt
die erhabenſte, noch nicht uͤbertroffene Legislatur
der Rechtsgefuͤhle, doch die chriſtliche Glaubens¬
lehre kann nur einem finſtern Zeitalter anpaſſen.
Wenn jene, ihrem Geiſte nach, und auf die
ehrwuͤrdige Urreinheit zuruͤckgefuͤhrt, nach Jahr¬
tauſenden ſegnend auftreten kann, ſo iſt dieſe,
nach den ungemeſſenern Begriffen vom Welt¬
gebaͤude, welche ein aufgehelltes Geſchlecht er¬
rang, nicht laͤnger brauchbar, wenn die Ver¬
nunft nicht mit ſich ſelbſt im Widerſpruche le¬
ben will.
Was iſt hier aber zu thun? Ein Abſtrakt
bindet, uralten Erfahrungen zufolge, die Herzen
zu wenig, was durch die Phantaſie zur Ver¬
nunft dringt, nimmt nicht nur die Schwaͤche,
auch der kraͤftige Sinn freundlicher auf, vorzuͤg¬
lich wenn es in das Leben der Handlung uͤber¬
gehn ſoll.
Verbannen wir daher vom Denken alles
Bildliche, doch zum thaͤtigen Wirken moͤgen
immer Dichtung und Kuͤnſte uns lieblich be¬
geiſtern.
Der moſaiſch-chriſtliche Theismus ſei und
bleibe die Grundlage unſerer neuen, und den¬
noch aus dem tiefen Alterthume empfangenen
Religion. Wir glauben an eine Gottheit, un¬
begreiflich den Formen, in welchen uns dermalen
unſere Natur zu erkennen geſtattet. Außer dem
Raume, außer der Zeit, unendlich, ewig, all¬
maͤchtig bezeichnen wir dieſe Gottheit, nichts
Hoͤheres wiſſen wir zu nennen, wenn wir uns
auch in tiefer Anbetung beſcheiden, was wir
nennen nicht zu verſtehn, und ein eitles Stre¬
ben, das unſere Kraͤfte uͤberſteigt, ſein Weſen
naͤher zu faſſen, aufgeben.
Keine Ehrengebaͤude dieſer erhabenen Vermu¬
thung! Unwuͤrdig ſtellt ſie die Materie dar. Koͤnn¬
ten hoͤhere Weſen ihm Tempel weihn aus Erdſter¬
nen, Altaͤre darin aus Feuerſternen, es prieſe
ihren Urheber nicht. Nur Einigemal im Jahre
mag ſich die dankbare Andacht unter dem himm¬
liſchen Gewoͤlbe verſammeln, und ſich ſelbſt hei¬
ligen, in heiliger Empfindung. Wenn der Ball
ſich wieder zu den Sonnenflammen dreht, ihren
befruchtenden Segen zu trinken, wenn wir aͤrn¬
teten, was die innere Goͤtterkraft der Auen
naͤhrend geſtaltete, dann wimmle die Menge
in Eintracht hinaus und huldige.
Doch da die ewige Gottheit, nicht wohnend
im Raum, nicht ſchwimmend im Strome der
Zeiten, unſerm jetzt auf dieſen Erdſtern ange¬
wieſenen Geiſte, nur im Simbol ſich offenbart,
ſo iſt es hehr und wuͤrdig, zu ehren, was wir
irrdiſch-goͤttlich nennen, und ſich, ſo weit der
Staub vermag, bildete nach dem Ideal des
Allgoͤttlichen, wie es im Buſen der edleren
Menſchheit geahnet wird.
Laßt uns preiſen, was ſchon das tiefe Alter¬
thum pries, ſchon ſo viele Millionen der Ge¬
ſtorbenen zur Tugend erwaͤrmte, uns im Abbild
erkennbare Muſter des Hohen giebt, es einen
mit den Satzungen unſers Buͤrgervertrags. Laßt
uns Staͤtten des innigen Andenkens erbauen,
die uns ruͤhrender mahnen und zur Nacheife¬
rung weihen.
Moſes, der hohe Urprieſter der einigen Got¬
teslehre, der weiſe Erfinder heiliger Geſetze, der
kraͤftige Held, iſt werth unſerer Ehre. Sei er
uns Heros des Rechtes, des Kampfes, wo uns
geboten wird, gegen innere feindliche Leiden¬
ſchaft, oder aͤußere Krieger die Waffen der Ver¬
nunft oder des Armes zu erheben. In ſeinen
Tempeln werde das Recht gelehrt, geſprochen,
in ſeinen Tempeln entflamme ſich der Muth,
wenn des Vaterlandes Vertheidigung uns zum
Schwerte ruft.
Jahrtauſende nannten den Juͤngling in Palaͤ¬
ſtina goͤttlich, der in wenige Worte die Lehre
der reinſten Menſchlichkeit zuſammen draͤngte.
Er ſei uns der Heros des Bruderſinns. Er
liebte die Kinder, die Erziehung ſei ihm geweiht.
Ehren wir ſein Andenken, indem wir ſtreben,
von ſeinem Geiſte durchdrungen zu werden.
Vor ſeinen Altaͤren hoͤre die bruͤderliche Ver¬
ſammlung, Moral der Gemeinſchaft, und der
Weiſen Unterricht, kluͤglich die Keime im jungen
Herzen zu pflegen. Hier werden die Juͤnglinge,
das aufbluͤhende Maͤdchen oftmal gepruͤft, in
ihren Fortſchritten zur Veredlung.
Schoͤner zarter Mithos deiner himmliſchen
Liebe, o Maria, dir gebuͤhrt eine Staͤtte in
unſrer Religioſitaͤt! Das Weib fuͤhle ſich er¬
hoben, eine Heilige ihres Geſchlechts in Tempeln
gefeiert zu ſehn. Mag der poetiſche Flug in
Marmor und Farben, mag er im Gebiet holder
Dichtung wetteifern, einem gebildeten Volke
ſchoͤne Bildungen der hohen Maria zu geben.
Ihr bringe die Liebe Anbetung, und erhebe ſich
begeiſterter zum Himmliſchen, ſie ſei die idea¬
liſche Koͤnigin aller Schoͤnheit und die Kuͤnſte
machen ſich ihr werther, in dem lieblichen Wahn,
von ihrer Glorie umſtrahlt zu ſein. Die Ehe
knuͤpfte ihre innigen Bande, Maria vor deinen
blumengekraͤnzten Altaͤren.
Des ernſten Moſes Prieſterthum verwalten
ergraute, ruhmgenannte Helden, untadelhafte
Volksrichter und Fuͤrſten, deren weiſe gepflogenes
Amt die allgemeine Liebe lohnte. Des ſanften
Chriſtus Tempeldienſt ſollen die edelſten Jugend¬
lehrer verwalten, wenn ſie dem Gemeinweſen
eine bedeutende Zahl trefflich gedeihender Zoͤg¬
linge gaben. Kuͤnſtler, die verklaͤrenden Genius
in ihren Werken offenbarten, uͤben den Kultus
der ſchoͤnen Heroin Maria, Choͤre von un¬
ſtraͤflichen Jungfrauen im Gefolge.
So geben wir dem Irrdiſchen hoͤheren Adel,
indem es mit den Ahnungstraͤumen goͤttlicher
Natur verwandter gemacht wird.
Dieſe Religion, anfaͤnglich mit vielem Wider¬
ſpruch der lebenden Generation bekaͤmpft, wurde
bei den folgenden allgemein, und gab den Kuͤn¬
ſten reiche Vorwuͤrfe. Man ſah den Heros des
Rechtes und der Waffen, vielfach geſtalten. Die
Idee deſſelben ward von dem ſtrebenden Kunſt¬
ſinn immer herrlicher empfangen, und jene Kraft¬
ſumme, lange in dem Standbilde des Herkules
der Farneſe bewundert, blieb bald gegen den
vollendeteren, zugleich geiſtvoller ausgepraͤgten
Moſes einer geiſtvolleren Zeit, zuruͤck. Neben
einer Anmuth und einem Einklang der Ver¬
haͤltniſſe, wie ſie viele Jahrhunderte an jenem
Apollon ruͤhmten, hatte die reifere Kunſt den
Chriſtusdarſtellungen eine unbeſchreibliche Hoheit
und Milde, uͤber das goͤttliche Antlitz gegoſſen,
ſo daß nicht nur der unterrichtete Kennerſinn,
ſondern jeder im Volke, von dem Geſammtaus¬
druck auf das Innigſte ergriffen, geruͤhrt wurde,
und der Begriff vollkommene Menſchlich¬
keit nach Maasgabe ſeiner geringeren oder vol¬
lendeteren Bildung, ſchwaͤcher oder erhabener vor
ſeiner inneren Seele ſchwebte. Nichts uͤbertraf
aber die Geſtaltungen der Maria. Hier hatte ſich
die reinſte Poeſie der Kunſt entfaltet. Vor den
ſchoͤnſten dieſer Statuen, gingen die lieblichen
Maͤdchen von Athen ſelten weg, ohne einen
neuen Zug eigner Schoͤnheit mitzunehmen.
Wie ſtannte aber der ſchoͤnheitſinnige Guido,
von dieſer Kunſtſammlung umgeben! Er ſchoͤpfte
in der gefuͤhlten Begeiſterung frohen neuen Un¬
terricht uͤber das Ebenmaaß der Formen, und
lernte Inis Gebote klarer verſtehn. Hoch mußte
er jedoch bewundern, daß ſeine Geliebte, die ſich
nimmer in Athen befunden, ſondern ihr Studium
vor den Kunſtwerken in Sizilien geuͤbt hatte,
zu einer Idee gelangt war, welche dennoch naͤher
an die Vollkommenheit zu reichen ſchien, als
alles, was er hier erblickte.
Der geprieſene Meiſter trat wieder zu ihm
heran. Juͤngling, nahm er das Wort, von
wannen du auch ſeiſt, du ſtammſt aus einem Ge¬
ſchlechte, das durch eine lange Reihe von Glie¬
dern, hoher Entwicklung entgegen ſtrebte.
Guido ward verlegen, da ihm nichts uͤber
ſeine Herkunft bekannt war.
Der Bildner fuhr fort: Edler Einklang
ſpricht aus deiner Geſtalt, die Kunſt wuͤrde nichts
zuzugeben vermoͤgen, wenn ſie dich in Marmor
darſtellte, nur am Haupte, an der Stirn, an
Mund und Wange, bleiben einige Umriſſe, einige
Linien zu wuͤnſchen uͤbrig.
Guido erroͤthete, gab aber doch mit unbe¬
fangenem Selbſtgefuͤhl die Antwort: Ich zaͤhle
noch nicht zwanzig Jahre, meine Entwicklung iſt
unvollendet. Wer weiß —
Dann bat er den Kuͤnſtler, ſein Profil ſo zu
zeichnen, wie es die Forderung der hoͤheren
Wiſſenſchaft verlange.
Es geſchah. Neugierig geſpannt blickte Guido
hin. Es duͤnkte ihm jedoch, der Mann ſtaͤnde in
ſeinem Entwurf gegen Ini unvollkommen da.
So uͤberfliegt denn der Liebe Genius weit die
Lehren der Kunſterfahrung, ſagte er ſich mit
geheimen Entzuͤcken.
Waͤhrend dieſer Unterhaltung bemerkte er,
daß viele Schuͤler umher ſaßen, die ihn zeich¬
neten, und geſchmeichelt, weilte er laͤnger. Bei
dem allen pflanzte ſich Eitelkeit nicht in ſeine
Bruſt, dagegen hatte ihn Inis Reinheit ver¬
wahrt.
Man begab ſich nun in die Kunſtſtaͤtte des
beruͤhmteſten unter den Malern, ſo reich an
Schildereien als jene in Werken aus Marmor,
Pophir und Elfenbein. Voll hingen alle Waͤnde,
und die lebendigen, farbigen Geſtalten, zogen
des Juͤnglings Blicke noch mehr an. Gefaͤllig
erklaͤrte ihm der Vorſteher Bedeutung und Werth.
Die Malerei, hub er an, ſtieg vor mehr als
einem halben Jahrtauſend auf eine bedeutende
Hoͤhe, von welcher ſie aber ſpaͤterhin, aus man¬
nichfachen Urſachen, wieder herabſank. Im ſieb¬
zehnten, achzehnten, neunzehnten Jahrhundert
gab es durchaus weder einen Raphael, noch Ru¬
bens, noch Titian. Doch wenn die Ausfuͤhrung
krankte, rettete ſich das Urtheil durch die un¬
fruchtbare Zeit, und bereitete vollkommenere
Schoͤpfungen vor. Ein tiefdenkender Kunſtrich¬
ter zu Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts, maaß
das Verdienſt der ruhmvollen Maler, nach einer
hoͤchſt ſinnig entworfenen Tabelle ab, wo Zeich¬
nung, Zuſammenſtellung, Farbe und Ausdruck,
unter gewiße Staffeln gebracht waren. Zwanzig
Grade enthielt die Tabelle, den achzehnten nahm
ſie bereits erreicht an, den neunzehnten noch
nicht, den zwanzigſten unerreichbar. Sie er¬
kannte Raphael den Preis in Zeichnung und
Ausdruck zu, wenn dagegen Titian im Kolorit
ihn bei weiten uͤbertraf, Rubens im Ausdruck
mit ihm wetteiferte, und ihn in der Zuſammen¬
ſtellung zuruͤckließ. Es mußte nun nothwendig
der Wunſch nach einem Gemaͤlde entſtehen, in
welchem die richtige Hand, die bluͤhende Einbil¬
dung eines Raphael, mit der hohen Kraͤftigkeit
eines Rubens, und der ſorgſamen lieblichen
Ausfuͤhrung eines Titian gegattet waren. Lange
jedoch ward er umſonſt gefuͤhlt. Erſt im zwan¬
zigſten Jahrhundert, nachdem die Kuͤnſte unter
der Aegide eines langen Friedens ungeſtoͤrter auf¬
bluͤhen konnten, und eine kluge Regierung dem
Volke von Europa Reichthum genug erzogen hatte,
ſie freundlich zu naͤhren, ließ ſich erſt die Vor¬
zeit wieder erreichen. Nun eilten die Fortſchritte
gluͤcklich. Die vervollkommnete Lehrmethode ſtaͤrkte
fruͤh der Zoͤglinge Faſſungskraft, die mechaniſche
Fertigkeit konnte zeitiger errungen werden, die
Scheidekunſt erfand eine bei weitem vortheil¬
haftere Bereitung der Farben. Um die Mitte
dieſes Jahrhunderts vereinten die beſſeren Maler
ſchon
ſchon jene ſonſt getrennten Vorzuͤge, gegen das
Ende drang bereits einer bis zu dem von Piles
geahnten aber nie geſehenen Grad empor. Jetzt
darf kein Kuͤnſtler ein Werk in dieſe Ausſtellung
bringen, in welches er nicht richtigere Zeichnung,
vollendeteren Ausdruck wie Raphael, mehr Poeſie
der Verbindung wie Rubens, mehr Farbenideali¬
taͤt wie Titian gebracht haͤtte. Siehe fuͤhlender
Fremdling, hier Werke der Art.
Er fuͤhrte ihn nun zu einem großen Gemaͤlde,
das, nach der altnordiſchen Mithologie, die An¬
kunft eines Helden in Odins Walhalla vor¬
ſtellte. Guido ward betroffen ob all der Wonne
die in dieſem Anblick uͤber ihn kam. Entzuͤckend
war die Dichterphantaſie, welche hier den Pinſel
geleitet hatte, einen Aufenthalt belohnter Seli¬
gen, den Sinnen erkennbar zu machen. Ein lieb¬
licheres Azur, wie unter Siziliens ſanftem Him¬
mel woͤlbte ſich uͤber Gefilde von unſaͤglich ruͤh¬
render Pracht. Blumen, Raſen, Baͤume, waren
zwar aus der uns bekannten Natur genommen,
aber in ſich ſo verſchoͤnt, ſo reitzend znſammen¬
geſtellt, daß das Auge an die Natur einer an¬
dern Welt glaubte. Man ſah die oſtindiſche
Oelpalme, den antilliſchen Kampah-Baum, die
E
peruaniſche Balſamſtaude, Cipreſſen, Granaten,
Lorbeeren, Platanen, aber die Maſſen in welche
ſie gefuͤgt waren, machten einen unweit anmu¬
thigeren Eindruck, als er in irgend einer wirk¬
lichen Gegend empfunden wird. In den man¬
nichfachen Blumen lebte eine Wahrheit, daß man
an ihren Duft in ſuͤßer Taͤuſchung glaubte, und
zum Triumph des Urhebers, viele ſtreitend be¬
haupteten, der Maler habe ſie mit den Eſſenzen ih¬
rer Geruͤche verſehen, ſo wie andere die Hand in
die beruͤckende Tiefe des Gemaͤldes ausdehnen
wollten, und ſie beſchaͤmt von der Leinwand
wegzogen. Was aber dem Ganzen am meiſten
das Fremdartige, uͤberſinnlich, ſelig Erſcheinende
gab, war die zarterfundene Beleuchtung. Eine
tief am Horizont ſchwebende Sonne ſandte ihr
Licht ſparſam durch dunkel gedraͤngte Waldung
an einer Seite. Ihre Scheibe zeigte aber kein
hellleuchtend Goldfeuer, ſondern eine weiße ſanft¬
ſtrahlende Diamantenglut. Hiedurch wurden alle
Tinten veraͤndert und nahmen einen aͤtheriſchen
Charakter an, der mit ſuͤßem Rauſch erfuͤllte, und
die Abſcheidung von Schmerz und Erdenwahn
freudigahnend empfinden ließ. Auch auf die
menſchlichen Geſtalten wirkte das Zauberlicht ſo
wunderbar, daß ſie bei der uns verwandten
Natur ihrer Formen, geiſtiges Leben zu athmen
ſchienen. Den eben angelangten Helden, in
Kraft und Stattlichkeit, den vollen Ausdruck ed¬
ler Seelenhoheit im Antlitz, verklaͤrte die ſtau¬
nende uͤberraſchende Wonne der ihn rings um¬
fangenden Glorie. Die Jungfrauen von Wall¬
halla nahten ihm in der lieblichſten Anmuth,
der holdeſten Freundlichkeit, brachten ihm den
Trank der Unſterblichen und kroͤnten ſein Haupt
mit ewig bluͤhenden Roſen. Ihre heiligen Reitze
geboten zugleich Liebe und ſchalten das Gefuͤhl
Verwegenheit. Die erhabenen Zuͤge forderten
knieende Anbetung, die kindliche Unſchuld un¬
terſagte ihnen goͤttlich zu huldigen.
So war dies Gemaͤlde angethan, von dem
Guido ſich nicht abzuwenden vermochte. Erſt
nach manchen Erinnerungen ging er weiter und
trug die Totalidee eines Helden in ſeiner Seele
davon, der ſich glorreich uͤber alle Schrecken der
Gefahr erhoben und eines unſterblichen Lohnes
werth gemacht hat.
Ihm wurde nun ein Chriſtus gezeigt, der
Iairus Tochter erweckt. Des Heilands Geſicht
zeigte keine Spur von allem was an Leiden¬
E 2
ſchaft erinnert, das reine menſchliche Gepraͤge
ſtand da, doch von erhabner Liebe und feſtem
Goͤtterwillen unausſprechlich heilig beſeelt. Das:
„Stehe auf!“ gebot ſein hohes Auge mit ruhiger
Majeſtaͤt, mild laͤchelte die maͤnnliche durch An¬
muth bewegende Wange. Der Uebergang vom
Tod ins Leben war an dem Maͤdchen mit be¬
zaubernder Kunſt ausgefuͤhrt. Ein leichter Ro¬
ſenhauch goß ſich uͤber das noch ſtarre Antlitz.
Der Augenaufſchlag war frommer Lichtgruß,
kindlicher Engelſinn. Die kaum wieder regen
Haͤnde ſtrebten, ſich zum Gebet zu erheben. Ihr
Vater, ihr Geliebter, ſanken neben dem Sarge
aufs Knie. Die ganze ſiegende Haltung des
Gemaͤldes zwang jeden Zuſchauer, der fuͤhlenden
Sinn mitbrachte, die Anbetung in der nehmli¬
chen Lage zu theilen. So geboten hier die Ma¬
ler dem Herzen. Guido nahm von dieſer Staf¬
felei einen noch weit erhabneren Begriff von Tu¬
gend mit ſich, als er bisher in ihm gelegen
hatte.
Noch viele andere meiſterhafte Werke wurden
ihm gezeigt, von denen er ſchwelgende Erinne¬
rungen bewahrte. Er ſchrieb durch ein Taͤub¬
chen an Ini von ſeinem Entzuͤcken, ſetzte aber
hinzu: Du biſt dennoch ſchoͤner als jedes Maria¬
bild, jede Muſe oder Valkire, die ich ſah.
Gelino zeigte ihm nun das Parthenon, ge¬
nau dem alten nachgeahmt, deſſen Saͤulengaͤnge
einſt ſo große Summen gekoſtet hatten. Phi¬
dias alte Meiſterſtatue der Minerva aus Elfen¬
bein, ward durch eine Heilandsmutter in gedie¬
genem Golde vertreten, der dieſer Tempel nun
geheiligt war.
Gelino, indem er ihm dieſe und andere Merk¬
wuͤrdigkeiten zeigte, hub an: Du ſiehſt Athen der
Welt in ſeinen Schoͤnheiten wiedergegeben, doch
die Sklavenhorden von Ehedem, das wilde, mit
den Archonten kaͤmpfende, den Pnix mit Geſchrei
und Streit erfuͤllende Volk der Vorzeit nicht.
Dieſe Erſcheinungen dulden unſere beſſeren Tage
nimmer. Wir koͤnnten noch das Odeon beſuchen,
wo die Meiſter der Tonkunde wetteifern, die Buͤh¬
nen, wo man Sophokles, Euripides und Ariſto¬
phanes Schoͤpfungen darſtellen ſieht, doch in die¬
ſen Vorwuͤrfen wird Athen anderweitig uͤber¬
troffen, und die Reiſe eilt. Wir wollen jetzt
nach der Graͤnzfeſtung des Staats, lerne dort,
wie man maͤchtig der Feinde Angriffe wehrt.
Nicht immer kannſt du bei den lieblichen Kuͤn¬
ſten weilen.
Dieſe Graͤnzfeſtung war jetzt die Citadelle bei
Konſtantinopel. Die ehemalige Bevoͤlkerung der
Stadt hatte durch den politiſchen Wechſel um
mehr als die Haͤlfte abgenommen, und die Lage
daneben, eignete ſich zu ihrer gegenwaͤrtigen Be¬
ſtimmung. Lange zwar hatte Europa keinen
Krieg mit dem Morgenlande gefuͤhrt, aber die
Neu-Perſer geboten ungeheurer Macht, und die
Vorſicht empfahl, nicht unbereitet zu ſein.
Doch uͤber der Meerenge winkte auch eine
Feſte von aͤhnlichem Umfang, und beim Aus¬
bruch eines Krieges ließ ſich vorausſehen, daß
ſie einander wechſelſeitig beſchießen wuͤrden;
denn der Abſtand der Citadelle von Konſtantino¬
pel bis Neu-Troja, ſo nannte man jenen Ort,
wurde von der nunmehrigen Artillerie bequem
abgereicht.
Schon lange hatte man dem Schießpulver
neue Beſtandtheile gegeben. Seine Wirkung
ging nicht mehr von der Elaſtizitaͤt des ſich ent¬
bindenden Stickſtoff- und Kohlenſtoff-ſauren Ga¬
ſes allein aus, man mengte dem Salpeter noch
Ammoniakgas und Knallſilber bei, deren unzet¬
tigem und zu leichtem Entbinden eine chemiſche
Gegenkraft abhalf. Furchtbar traf dieſes Pul¬
vers zerſtoͤrende Gewalt.
Die Metallroͤhre ſchoſſen Kugeln von funfzig
bis zu dreihundert Pfunden auf zwei oder drei
Meilen, die Moͤrſer warfen noch weiter, und
ſchwerere Laſten. Da aber der Erdkruͤmmung
halber die Flaͤche kaum eine Meile ſichtbar iſt,
ſo mußten die Stuͤcke auf hohe Berge geſchafft
werden, wenn ſie in weiter Entfernung ihr be¬
ſtimmtes Ziel treffen ſollten. Ein gutes Sehrohr
war dann an den Viſirpunkt befeſtigt, und bei
der ſcharfen Genauigkeit der Drehewerke, womit
ſich die Richtung vollzog, konnte man das Ziel nur
ſelten verfehlen. Die Bomben, von ungeheu¬
rem Umfang, trugen deren andere in ſich, die
aberma! mit kleineren gefuͤllt waren, welche
zuletzt unvertilgbar Feuer in ſich trugen. Der
Artilleriſt wußte die Bahn, welche ſie zu durch¬
fliegen hatten, dem Raume und der Zeit nach,
auf die Sekunde zu berechnen, beſonders da auch
ein Windmeſſer ihn von dem Widerſtande, mit
welchem die Luft ihm entgegen ſtreben wuͤrde,
vollkommen unterrichtete. Weil daneben, bei Ver¬
fertigung des neuen Pulvers, mit einer ſo großen
Gewißheit verfahren wurde, daß ein davon be¬
reiteter Zuͤnder, jedesmal die Exploſion in dem
Augenblicke vollzog, den der Konſtabler wuͤnſchte,
(eine Fertigkeit, welche man Ehedem nicht er¬
rang), ſo ward, indem man nach einer feind¬
lichen Stadt warf, die Entzuͤndung gemeinhin
bewirkt, wenn die Bombe in der Hoͤhe von ei¬
nigen hundert Schuhen uͤber den Daͤchern an¬
gekommen war. Nun breiteten ſich die groͤßeren
Granaten der Fuͤllung, deren Exploſion nach
Maaßgabe der Groͤße des Orts erfolgte, ſo aus,
daß dieſer mit den letzten Kugeln und den Truͤm¬
mern der ſchon geſprungenen, uͤberdeckt wurde,
wobei das nach allen Richtungen ſpruͤhende Feuer
die Verwuͤſtung vollendete.
Der nahe Ruin jeder belagerten Feſtung war
unter dieſen Umſtaͤnden unvermeidlich. Allein
die Feſtungen wurden dermalen auf Hoͤhen an¬
gelegt, wo, ohne Waſſer zu finden, tief zu gra¬
ben war. Man woͤlbte dann hundert Schuh un¬
ter der Erde Straßen aus, die durch Zugloͤcher
von oben Luft empfingen, und beſtaͤndig durch
Laternen erleuchtet wurden. Von dieſen waren
hoͤhlenartige, doch gut gemauerte und mit Be¬
quemlichkeit verſehene, Wohnungen ſeitwaͤrts ein¬
gebrochen, in welchen die Soldaten, und was
zu ihnen gehoͤrte, hauſen konnten. Da genoß
man Sicherheit, mochten oben die Bomben ein¬
ſchlagen. Auch alle Waͤlle hatte man ausgehoͤhlt
und mit Felſenlagen hinlaͤnglich gedeckt, damit
ſich die Wachen inwendig aufhalten konnten.
Uebrigens traf die Beſatzung mit eben ſo furcht¬
baren Schluͤnden auch ihre Widerſacher, und
ſo waren die Dinge ſich wieder gleich; denn
der menſchliche Geiſt entdeckt, wie das Zerſtoͤ¬
rungsmittel, auch die Gegenwirkung.
Noch iſt hier der ſchnellen Art zu denken, in
der aus einer Feſtung, oder aus einem Lager,
nach dem Hauptquartiere irgend eines fernen
Heeres, oder auch nach der Hauptſtadt, Briefe
geſchafft wurden. Luftpoſten, Telegraphen, akku¬
ſtiſche Anſtalten, blieben dagegen, entweder an Ge¬
ſchwindigkeit, oder Ausfuͤhrlichkeit, zuruͤck. In
erreichbaren Abſtaͤnden befanden ſich nehmlich auf
befeſtigten Hoͤhen Kanonen, und Zielwaͤnde.
Nun ſandte man eine Kugel ab, an welcher eine
Stahlkette und an dieſer ein dichtes Kaͤſtchen ge¬
heftet war, das die Briefe oder andere zu uͤber¬
machende Gegenſtaͤnde enthielt. Die Kugel
ſchlug in die Zielwand, das Kaͤſtchen blieb zu¬
ruͤck, ward von dort wachenden Konſtablern ſo¬
gleich abgeloͤſet, und an eine andere Kugel ge¬
fuͤgt, wodurch denn hundert Meilen, in weniger
als einer Viertelſtunde, erreicht waren.
Die Citadelle bei Konſtantinopel war, als
die vorzuͤglichſte im Reiche, auch am ſorgſamſten
gebaut. Ihre Waͤlle glichen Gebirgen, die Kel¬
lerſtadt, mit ihrem unterirrdiſchen Leben, bot
den ſehenswuͤrdigſten Anblick dar. Es fehlte
nicht an Tempeln, Marktplaͤtzen, Buͤhnen; die
Genuͤſſe hatten auch ihren Sitz in der Tiefe er¬
richtet, und die treffliche Erhellung ließ das
Tageslicht nicht vermiſſen. Um vorbereitet auf
den Belagerungsſtand zu ſein, mußte auch fort¬
waͤhrend im Frieden, die Beſatzung hier wohnen,
und, indem ſie zahlreich und gut belohnt war,
hatte das viele Buͤrger gelockt, ſich unten anzu¬
ſiedeln, und ihr Leben zu gewinnen, indem ſie
jenen das ihrige bequemer machten. So wuchs
die Bevoͤlkerung nach und nach dort ziemlich an.
Bei der Vervollkommnung des Pulvers hatte
man auch den Minenkrieg weiter ausgedehnt.
Es war nun nicht allein ausfuͤhrbar, einen gro¬
ßen Ort auf Einmal in die Luft zu ſprengen,
ſondern man legte auch außerhalb Minen in
ſchiefer Richtung an, warf durch ſie Maſſen von
Erde dahin, und bedeckte die Feſtung in kurzer
Zeit mit einem ganzen Berg, wobei die Alter¬
thumskundigen bewogen wurden, an die Fabel
der Giganten zu denken, welche einſt den Oſſa,
Pelion und Olimp auf einander thuͤrmten. Allein
die Gegenanſtalten mangelten auch hier nicht.
Der Feind ward nicht dazu gelaſſen, die Feſtung
unterhoͤhlen zu koͤnnen. Weit hinaus vor den
Feſtungswerken liefen Straßen unter der Erde
hin, an Groͤße und Dauer vergleichbar den alt¬
roͤmiſchen Waſſerleitungen. Von ihnen gingen
kleinere Gaſſen aus, welche mit ihren Neben¬
ſteigen ein weitlaͤuftiges Gewebe bildeten. Hier
zogen die Streifwachen raſtlos umher, und er¬
ſpaͤhten zeitig, was der Gegner unter dem Erd¬
horizont beabſichtete. Dann druͤckte man, nach
ihm hin, die Erde ein, ſeine Arbeiter erſtickend.
Warf der Feind einen Berg auf die Feſtung, ſo
war dieſe reichlich genug mit dem Ammoniak- und
Knallſilber-Pulver verſehn, um ſich davon zu
befreien, indem ſein Schutt wieder auf der
Feinde Haͤupter geſchleudert wurde. Dieſe hat¬
ten daher auch auf Laufgraͤben zu denken, welche
in der Tiefe Sicherheit gewaͤhrten.
Guido ſah alle dieſe Anordnungen bewun¬
dernd. Sein Gemuͤth ward entflammt, der Ruhm
eine ſolche Feſte einſt glorreich zu vertheidigen,
oder glorreich einzunehmen, gewann einen ho¬
hen Reiz fuͤr ihn. Sein mathematiſcher, erfin¬
dungreicher Kopf wußte auch von einer Menge
Verbeſſerungen zu reden, die man am Geſchoß,
an den Minen und anderen Kriegverrichtungen
guͤltig machen koͤnne. Gelino lobte dies feurige
Umfaſſen eines hohen Gegenſtandes, ſetzte hinzu:
ihn koͤnne leicht der Kaiſer einſt beim Heere be¬
ſchaͤftigen, und lobenswerth muͤſſe es dann ſein,
wenn er ſich des hoffenden Vertrauens wuͤrdig
mache. Bei dem allen ſei aber nichts lebhafter
zu wuͤnſchen, als daß die Voͤlker des geſammten
Erdbodens dem Beiſpiele jener von Europa folg¬
ten, und, ein Welttribunal zum Schlichten aller
Streitfaͤlle unter Nationen errichtend, die Kriege
fuͤr ewig aufhoͤben.
Dies iſt auch einer von Inis Gedanken, ver¬
ſetzte Guido, aber wodurch ſoll dann die Kraft
Ruhm erwerben? Dann iſt keine ſo hohe Ge¬
ſtalt mehr auszubilden, wie jene, die das
Gemaͤlde von Wallhalla in Athen zeigt. Nur
die Heldenſeele praͤgt die erhabenſte maͤnnliche
Schoͤnheit aus.
Auch die Seele des Tugendhaften, entgegnete
ſein Lehrer. Es giebt Feinde genug in der ei¬
genen Bruſt zu uͤberwinden, der Sieg uͤber ſie
iſt eben ſo glorreich, ja vielleicht noch mehr.
Die Reiſe ging jetzt zu der noͤrdlichen Pro¬
vinz hin, vor Zeiten das europaͤiſche Rußland
genannt. Man bediente ſich dazu einen von den
Frachtwagen, die ſuͤdliche Erzeugungen dorthin,
und noͤrdliche nach den mittaͤglichen Gegenden
brachten.
Zu dem Ende waren hier, wie meiſtens im
ganzen Staate, herrliche Kunſtſtraßen angelegt.
Sie hatten eine Breite von zweihundert Schu¬
hen, und waren in der Tiefe von funfzig Schu¬
hen, mit geſtampftem Granit feſtgerammt. Je
mehr groͤßere und kleinere Straßen der Art es
ſchon gab, je leichter fiel es auch, deren neue
zu bahnen und die Steine nach den Gegenden
zu ſchaffen, wo ſie mangelten.
Auf der Straße von Konſtantinopel waren
Wagen mit zwei Raͤdern gebraͤuchlich. Jedes
Rad hatte aber einen Durchmeſſer von funfzig
Schuhen. Jede ſeiner Speichen beſtand aus einem
maͤßigen Fichtenbaum, und war mit Eiſen reich¬
lich verſtaͤrkt. Die uͤbrigen Theile hatten ange¬
meſſene Verhaͤltniſſe. Durch die gewaltige He¬
belkraft ſolcher hohen Raͤder ließ ſich nun eine
außerordentliche Laſt fortbringen. Die von meh¬
reren Eichenſtaͤmmen zuſammengefuͤgte und mit
zentnerſchweren Eiſenringen verbundene Achſe
hatte eine Breite von funfzig Schuhen, und an
dicken Ketten hing ein Prahmen im Gleichge¬
wicht, etwa ſechs Schuh von der Erde, uͤber
hundert Schuh lang, gegen dreißig breit, und
gegen funfzehn tief. Hierein wurde die an¬
ſehnliche Menge von Waaren geladen, und die
Kajuͤte des Prahmens diente Reiſepaſſagieren
zum angenehmen Aufenthalt, wie auch uͤber den
Waaren ein Verdeck zum Luſtwandeln eingerich¬
tet war. Baͤumchen auf Toͤpfen und Blumen
gewaͤhrten einen lachenden Anblick und erhoͤhten
das Vergnuͤgen der Reiſenden.
Die Art, in welcher die rieſenhaften Karren
gezogen wurden, hatte viel Einfachheit. Zwoͤlf
Pferde waren genug. Dieſe gingen einige hun¬
dert Schritte voraus, an lange dicke Taue ge¬
ſpannt, welche von der Achſe ausliefen. Die
Raͤder gaben, wie ſchon bemerkt wurde, die
mechaniſche Leichtigkeit.
Es verſteht ſich aber, daß die Kunſtſtraßen
horizontal fortliefen. Tiefen zu fuͤllen und ſich
durch Hoͤhen zu brechen, war ja auch nur ein
unbedeutend Werk, ſeitdem die Menſchheit ſich
mit dem neueren Pulver vertraut gemacht hatte,
das, außer den Kriegen, noch ſo mannichfachen
Nutzen in Sprengungen gewaͤhrte.
Was konnte angenehmer ſein, als auf einem
ſolchen, durch Pferde bewegten Prahmen, zu rei¬
ſen. Zwar ging die Luftpoſt ſchneller, zwar konn¬
ten die Meerfahrzeuge ſchwimmenden Pallaͤſten
verglichen werden, allein hier genoß man doch
die Erheiterung, ſtets die nahe Landſchaft und
die Merkwuͤrdigkeiten der Gegend zu ſehen.
Auch war die Sicherheit die vollkommnere, was
immer das Gemuͤth ruhiger laͤßt. Unfaͤlle blie¬
ben nicht denkbar, da auf allen Stationen der
Zuſtand des ganzen Wagens gepruͤft, und das
etwa Schadhafte hergeſtellt wurde. Das Schlimm¬
ſte, was ſich haͤtte ereignen koͤnnen, waͤre ein
Durchgehen der Pferde geweſen. Aber dies haͤtte
nur um ſo zeitiger an Ort und Stelle gebracht,
denn aus der Bahn dieſer Kunſtſtraßen konnten
die Thiere nicht weichen. Sie waren zu beiden
Seiten mit hohen Gittern eingeſchloſſen, und
noͤthigenfalls ſchnitten die vorn reitenden Fuhr¬
leute die Straͤnge ab.
Es ging immer in vollem Sprung. Auf je¬
der geographiſchen Meile befand ſich ein Pferde¬
wechſel, durch Schuͤſſe und Flaggen zeitig be¬
nachrichtigt, in der Nacht durch Feuerſignale.
So war das Abſchirren und Anſpannen das Werk
einer Minute, in der man auch einen Waſſer¬
ſtrom uͤber die erhitzten Raͤder leitete, und ſie
inwendig mit einem ſchluͤpfrigen Oele verſah.
Reverberen brannten in der Dunkelheit zu bei¬
den Seiten des Wegs. So kam man in vier
und zwanzig Stunden gegen zwei geographiſche
Grade weiter, aß, trank und ſchlief im Prah¬
men. Das einzige vorenthaltene Vergnuͤgen blieb,
daß man nicht die Staͤdte und Doͤrfer inwendig
ſehen konnte, denn allerdings mußten die Kunſt¬
ſtraßen umweg laufen.
Nach einigen Tagen langte der Wagen in
Moskau an, wo ſich ſogleich viele gierige Kaͤufer
zu den Suͤdfruͤchten draͤngten, welche er geladen
hatte, und die meiſtens friſch uͤberkamen.
Der Umfang, die zahlreichere Bevoͤlkerung
die¬
dieſes Orts, ſeine großen Fabriken gaben die
Vorwuͤrfe, welche nun Guidos Aufmerkſamkeit
feſſelten. Die meiſte Betriebſamkeit war auf die
Anfertigungen fuͤr die Heere gegruͤndet, welche
in der Nachbarſchaft in ihren Uebungslaͤgern ſtan¬
den. Hier waren die meiſten Soldaten verſam¬
melt, theils der Graͤnze gegen Aſien halber,
theils, weil die rauhe Gegend ſich zu ihrer Ab¬
haͤrtung eignete.
Mit der Werbung, Unterhaltung, Verfaſ¬
ſung der Krieger, hatte es folgende Bewandniß:
Es galt Regel, daß jeder europaͤiſche geſunde
Juͤngling ſich ein Jahr lang an den Waffen¬
plaͤtzen einzufinden hatte. Nicht Geburt, nicht
erkornes Gewerbe, verſtatteten eine Ausnahme.
Gegen das achtzehnte oder zwanzigſte Jahr,
wurden ſie in ihren Provinzen aufgerufen, und
folgten dem Zuge zu den ihnen angewieſenen
Laͤgern.
Sie zaͤhlten hier ſchon den Vortheil der Reiſe,
und konnten bei ihrer Heimkehr ſich mancher Er¬
innerung freuen, auch das geſehene Merkwuͤrdige
auf ihren anderweitigen Lebensberuf nuͤtzlich
anwenden.
Im Lager wurden ſie zunaͤchſt gepruͤft, ob
F
ſie in den Erziehungsſchulen der Heimath auch
im Laufen, Ringen, Schwimmen, daneben im
Gedaͤchtnißrechnen und den erſten Elementen
der Meßkunde und Naturlehre unterrichtet wor¬
den. Auch uͤber ihre wohlbegriffene Religions-
und Buͤrgermoral hatten ſie Zeugniſſe abzulegen,
und von Aeltern und Lehrern, die Beſcheinigung
einer ſorgſamen und von gutem Willen begleite¬
ten Anwendung der Jugend, einzureichen.
Fiel dieſe Pruͤfung zu ihrem Nachtheile aus,
war die Abweiſung von der Ehre, einſt das Va¬
terland vertheidigen zu helfen, die Folge. Hie¬
mit war ein druͤckendes Abwenden der oͤffentli¬
chen Achtung verbunden, kein Maͤdchen von Zart¬
gefuͤhl reichte einem ſolchen die Hand, nie durfte
er hoffen, ein oͤffentlich Amt zu bekleiden. War
es ein Fuͤrſtenſohn, ſah er ſich von der Erbfolge
ſeines Vaters ausgeſchloſſen.
Dieſe harte Ahndung ſowohl, als auch die
Allgemeinheit guter Erziehung, woran auch der
Unbemittelte Theil nehmen konnte, machten ei¬
nen ſolchen Fall hoͤchſt ſelten.
Ward dagegen der Rekrut angenommen, em¬
pfing er ein Kriegergewand und Waffen. Man
theilte ihn einem Haufen zu, er bezog eine La¬
gerbaracke bei den Veteranen, welchen die Uebung
der Kriegsjugend oblag.
Hier ward er im Fechten und Schießen geuͤbt,
mußte fleißig Laufen, oder Laſten tragen, bei
ſpaͤrlicher Nahrung leben, den Schlaf entbehren,
und ſich immer bedeutenderen Abmattungen un¬
terziehen lernen. Die ſtrengſte Moralitaͤt gebot
in dieſen Laͤgern, ſchon durch die ganze Lebens¬
weiſe, die keinem Gedanken an Befriedigung
roher Sinnlichkeit Raum gab, begruͤndet.
Nach einem halben Jahre ging er, von den
Veteranen, zu ſeinem Haufen ins große Lager,
mußte nun den Dienſt eines Fußſoldaten ver¬
richten.
Beſtaͤndig uͤbte man hier, ohne Ruͤckſicht
auf Jahreszeit, Witterung, Beſchaffenheit des
Bodens, oder Tag und Nacht. Die klugen An¬
fuͤhrer ließen mehr in der Dunkelheit als bei
der Tageshelle thaͤtig ſein, ſuchten abſichtlich die
ſchwierigen durchſchnittenen Gegenden aus; nicht
der ſtrenge Froſt, nicht der druͤckende Sonnen¬
ſtrahl, nicht ſtroͤmende Regenguͤſſe machten eine
Abaͤnderung. Denn ſie ſagten: Der Feind wird
unſere Bequemlichkeit nicht ins Auge faſſen.
F 2
Das Fußvolk verfuhr in ſeinen Bewegungen
folgendergeſtalt:
Jeder Einzelne war mit einem Spaten, einer
Lanze und einem kleinen Schießrohre verſehn.
Das letzte trug durch den inneren gewunde¬
nen Bau und das Ammoniakpulver, auf Tauſend
Schritte und hatte am Lauf ebenfalls ein klei¬
nes Fernrohr, durch welches man auf den wei¬
ten Abſtand zielen konnte.
Eine Stellung nahmen die Heerhaufen zu
Fuße gewiſſermaßen nicht, ſondern eine Lage.
Dies heißt: ſobald man ſich im Bereich des
feindlichen Geſchoſſes fand, oder es bei der Uebung
vorausſetzte, ſtreckten ſich die Reihen auf den
Boden hin, nachdem man in groͤßter Eil mit
den Spaten einen Erdaufwurf von einigen Schu¬
hen gefertigt hatte, der nun, den ohnehin durch
ihr Liegen auf dem Geſichte, nur wenig Zielraum
darbietenden Soldaten, viel Bedeckung gab. Ueber
den Erdwurf legten ſie ihre Roͤhre und gaben
wirkſame Feuer.
Auf das Zeichen einer helltoͤnenden Pfeife,
ſprangen ſie ploͤtzlich auf, legten fuͤnfzig Schritte
gebuͤckt, und im vollen Rennen, zuruͤck, worauf
ſich die Reihe wieder zu Boden warf, und die
neue Erdwehr in einigen Sekunden anfer¬
tigte. Die Schuͤſſe huben wieder an, wurden
auf ein abermaliges Signal eingeſtellt, um einen
neuen Anlauf folgen zu laſſen. So nahte man
allmaͤhlig dem Feind, der ſchon durch die wohl¬
gezielten Schuͤſſe aufgerieben ſein mußte, wenn
ſeine Vorkehrungen nicht einem ſolchen Angriffe
entſprachen. Da man aber nicht auf Saͤumniſſe
hoffen durfte, ſo hatten die Soldaten fuͤr den
letzten Abſtand auf zehn Schritten noch Feuer¬
kraͤnze, die entzuͤndet in Feindes Glieder gewor¬
fen wurden, durch ihr Glutſpruͤhen und den
athemraubenden Schwefeldunſt Verwirrung an¬
zurichten, waͤhrend deſſen die Roͤhre der fertigen
Schuͤtzen erlegten, was noch uͤbrig war.
Dieſe Angriffe mußten Berg auf und Thal
ab vollzogen werden, man ſich aber auch dage¬
gegen zu ſchirmen wiſſen.
In dieſer Art bedroht, nahm man ebenfalls
Platz an der Erde, und machte den Aufwurf
um ſo hoͤher, als man hier verharren wollte.
Schoß der Feind, bogen ſich die Vertheidiger
zuruͤck, ließen ſich auch gar nicht darauf ein,
Feuer zu geben, ſo lange jener hinter ſeiner
Wehr lag. Wie er aber aufſprang, befand man
ſich im Anſchlag und verduͤnnte ſeine Reihen.
War er nahe genug gekommen, was nicht an¬
ders als nach großem Menſchenverluſt geſchehen
konnte, begruͤßte man ihn eher mit Feuerkraͤn¬
zen, als er ſelbſt daran dachte. Waren Feuer
und Dunſt verflogen, vollendete man mit Lanze
und Schwert ſeine Niederlage. Auch bereiteten
die militaͤriſchen Chemiker, deren einige jeder
Abtheilung von Hunderten zugeſellt waren,
Saͤuren welche die Stickſtoffe ſchnell aufhoben.
So bekaͤmpfte hoͤhere Kunſt die hoͤhere Kunſt.
Neben dieſen Uebungen mußte das Fußvolk
geometriſche Maͤrſche vollziehen, wodurch man Vor¬
theile uͤber den Feind gewinnen konnte, und was
ſonſt dahin einſchlug.
Nach einem Jahre konnte der junge Soldat
ſeinen Abſchied verlangen und zu den Seinigen
gehen. Geſtaͤrkter, mit mancher Kunde berei¬
chert, kam er dort an, und der Staat hatte
uͤberall Buͤrger, welche im Nothfalle zu den
Waffen gerufen werden konnten. Auch fanden
unter dieſen noch jaͤhrliche Uebungen von eini¬
gen Tagen ſtatt, damit jener Unterricht nicht
zu ſehr dem Gedaͤchtniß entfloͤhe.
Zeigte aber ein Juͤngling nach dieſem Jahre
Neigung, bei dem Heere zu bleiben, ſo nahm
man ihn, nach Maasgabe ſeiner beſondern Anla¬
gen, bei den beſonderen Truppengattungen auf,
deren kunſtvollerer Dienſt eine laͤngere Lehrzeit
forderte.
Eigentlich ward der Krieg in den Luͤften,
auf der Erde, und unter der Erde voll¬
zogen.
Der leichten Truppen Beruf wies ihnen die
hoͤhere Region an. Es wurde ſchon erzaͤhlt, wie
dieſe Zeit Adler einuͤbte, Azotgondeln fortzuzie¬
hen. Bei den Heeren fand man vor allem große
Zuchtanſtalten dieſer Thiere. Es gab kleinere
Nachen und groͤßere Gallionen, alle hingen aber
an vielen kleinen, damit verbundenen Steige¬
kugeln, damit, wenn ein feindliches Geſchoß
traf, nicht gleich das Sinken folgte.
Jene hatten die Beſtimmung, den Feind aus
der Ferne, in ſeiner Zahl und ſeinen Maasre¬
geln zu erſpaͤhen. Da man hoch genug ſtieg,
und die erweitete Optik ſo wichtige Huͤlfe lei¬
ſtete, ergiebt ſich, daß dieſer ſchon auf zwanzig
Meilen ein Gegenſtand der Beobachtung wurde.
Allein der Feind, welcher ſeine Plane gerne heh¬
len wollte, ſaͤumte gewoͤhnlich nicht, aͤhnliche
leichte Fahrzeuge voranzuſchicken, welche die dieſ¬
ſeitigen zuruͤckzutreiben ſuchten. Und ſo ereig¬
neten ſich in der Hoͤhe Vortrabgefechte, wie ſie,
um Jahrhunderte fruͤher, unter Huſaren oder
Koſaken beſtanden.
Gewandt die Adler zu lenken, aus der ſteilen
Entfernung, Gegenden und den Truppenſtand
aufzunehmen, mittelſt der Telegraphie dem Feld¬
herrn davon Meldung zu thun, dies waren die
vorzuͤglichen Obliegenheiten, in welchen dieſe Leute
ſich tuͤchtig zu machen hatten. Daneben mußten
ſie eben ſo fertig als das Fußvolk zielen koͤnnen,
um wo moͤglich ihres Gegenparts Adler zu er¬
legen, wo dann die Eroberung unſtaͤt treibender
Naen ein Spiel ward. Den meiſten Ruhm
brachte es jedoch bei dieſer Truppengattung, wenn
man in Nacht und Dunkel uͤber Feindes Heer
ſchlich, mit anbrechendem Tage ihn bei aller
Vorſicht erkundete, und unerreicht entfloh. Oder
wenn man uͤber dichte Wolken dahin ſchwebte
und ſich zu dem naͤmlichen Zweck in die klare
Region niederließ. Dies war indeſſen ſchwierig
genug, weil dem Feinde die Vorſicht auferlegte,
bei Nacht ſowohl als bei umzogenem Himmel,
oben patrouilliren zu laſſen.
Die groͤßeren Gallionen entfernten ſich nicht
weit und blieben den Gefechten vorbehalten. Sie
luden Granaten mit reinem Knallſilber gefuͤllt
und Feuerkraͤnze, lenkten dann uͤber einen Trup¬
penhaufen, und ließen Verderben auf ihn nieder¬
fallen. Die Kriegskunſt lehrte aber, ihnen ſo¬
gleich andere entgegen zu ſenden, auch wurden
aus Tder iefe, weitreichende Feldſtuͤcke mit gluͤ¬
henden Kugeln, auf ſie gerichtet. Hier moͤglichſt
auszuweichen, und dort doch der Abſicht ein Ge¬
nuͤge zu thun, ſtrebte die Lufttaktik. Allerdings
langte man nicht immer gluͤcklich mit den Theo¬
rien aus, die Fahrzeuge geriethen in Brand, die
Adler wurden getoͤdtet, man war gezwungen
ſich mit dem Fallſchirm erdwaͤrts zu wenden,
und wenn der Feind ſich unten befand, auf
Gnade und Ungnade ſich zu ergeben.
Die regſten, leichteſten Burſche kamen denn
zu dieſen, im aͤchten Sinne des Worts, leichten
Truppen.
Andere kamen zu der Reuterei. Dieſe hatte
jetzt Pferde, welche man eben ſo wohl zum
Krieg abgehaͤrtet hatte, als die Menſchen. Ein¬
gehegte Wildniſſe waren der Ort ihrer Erzeu¬
gung. Dort liefen ſie bis ins fuͤnfte Jahr um¬
her, jeder Witterung blos gegeben, durch keine
warme Stallung, kein regelmaͤßiges Fuͤttern, ver¬
woͤhnt. Schwer ward es dann ſie zu baͤndigen,
doch gelang es endlich durch Guͤte und Strenge.
Im ſchnellen Laufen uͤbte man ſie taͤglich, dann
mußten ſie auch verſchiedene, vor ihnen in Ge¬
ſtalt von Soldaten zu Fuß und zu Pferde, zur
Hoͤhe gerichtete Gegenſtaͤnde, uͤber den Haufen
rennen, in Stickfeuer und Schwefeldunſt gehen,
von Furcht befreit, vertraut mit Schmerzen.
Dabei mußten ſie ſich auf des Reuters Verlan¬
gen ſchnell zur Erde werfen, denn auch hier
war es im Gebrauch, wenn es die Umſtaͤnde
wollten und erlaubten, ſich mit Erdaufwuͤrfen zu
ſichern.
In fruͤheren Zeiten galt es erſchoͤpfende An¬
ſtrengung, wenn Reuterei etwa eine Viertelmeile
im vollen Rennen zuruͤcklegte. Jetzt hatten
die wild aufgewachſenen, durch Uebung immer
mehr gekraͤftigten Kampfroſſe, Athem genug,
dies mehrere Meilen zu vollbringen, obſchon ſie
ſowohl als der Reuter gepanzert waren, und oft
noch ein Schuͤtz hinten auf ſaß, der denn im
vollen Laufe, entweder uͤber des Reuters Schul¬
tern, oder rechts und links, feuerte.
Auf große Abſtaͤnde bediente ſich dieſe Waffe
ſchon des Feuerrohrs, Hundert Schritte vom
Feind pflegte man eine Wurflanze in ſeine Rei¬
hen zu ſchleudern, zwei andere Spieße, die ein
leichter Mechanismus ſenkte oder hob, waren an
des Reuters Fuͤßen befeſtigt.
So geſchah der Einbruch. Zuletzt ſtroͤmten
weite Piſtolen noch kleine Kugeln und Raketen,
dann wuͤthete das Schwert.
Doch der Feind traf auch Gegenmaaßneh¬
mungen. Das Fußvolk zog in bewundernswer¬
ther Geſchwindigkeit Graͤben mit Lanzen ausge¬
ſpickt, uͤber welche die Kampfroſſe fielen. Reuterei
warf Fußangeln an duͤnnen Stricken weit hin¬
aus, den Gegner dadurch zu verwirren, ſie aber
auch gleich wieder aufzunehmen, wenn es Verfol¬
gung galt.
Die jungen Maͤnner, welche hier Anſtellung
fanden, mußten, neben dem ſchon vergangenen
Lehrjahre, drei andere, bei den Uebungen im
Reiten, im Schießen vom Sattel, und dem
Fechtkampfe auf Lanze und Schwert, verleben.
Mitgebrachte Vorkunde und gluͤckliches Auffaſ¬
ſungvermoͤgen minderten gleichwohl dieſe Zeit.
Weit bewundernswerther als andere Waffen,
trat jedoch die Artillerie auf. Wie wuͤrden die
Maͤnner aus dem achtzehnten und dem Anfange
des neunzehnten Jahrhunderts, welche dem gro¬
ßen Geſchoß vorſtanden, haben ſtaunen muͤſſen,
wenn ihnen ein Blick auf ihre ſpaͤten Nachfol¬
ger, von jenſeits der Graͤber her, waͤre vergoͤnnt ge¬
weſen. Es wurde ſchon bei Gelegenheit der
Feſten gemeldet, welche Kaliber die dermalige
Zeit ſah, allein auch im Felde leiteten Metall¬
lehre, Scheidekunſt und Bewegungstheorie, das
Geſchaͤft des Verderbens wunderſam.
Vervielfaͤltigt waren die Mittel, dem Ruͤck¬
lauf zu begegnen, und ſo konnte der Konſtabel
ſich leichter Roͤhre bedienen, wenn ſie gleich
ſchwere Ballen fortzutreiben vermochten. Es gab
viele derſelben auf einem Geſtell, die mit Lade¬
maſchinen in unglaublich kurzer Zeit nach ein¬
ander den Tod ſpieen. Andere wieder, auf ſo
hohen Wagen, daß ſie uͤber Fußvolk und Reu¬
terei emporragten und durch dieſe gedeckt, von
hinterwaͤrts ihre Zerſtoͤrung ausſandten. Es gab
feuerfeſte Wandelthuͤrme, in vielen Stockwerken
mit Kanonen beſetzt. Es gab bewegliche Re¬
duten, auf allen ihren Seiten Batteren. Wie
ſchaffte man die fort? iſt die Frage. O derglei¬
chen haͤtte ſchon um Jahrhunderte fruͤher vor¬
handen ſein koͤnnen, wenn damals nicht eine
ſo große Geiſtestraͤgheit unter den Kriegern zu
finden geweſen waͤre, wenn nicht manche Voͤlker
es vorgezogen haͤtten, dem Verderben zuzueilen,
als das Genie uͤber die Maasregeln ihrer Ret¬
tung zu hoͤren. Das war nun freilich ſpaͤterhin
anders. Niemanden traf Verfolgung, weil er
kluͤger war, als der Haufe, der Verſtand war
kein Monopol ſondern Allmende. Pulverkraft
ſchaffte dieſe Wandelthuͤrme, dieſe Wandelſchanzen
fort, und es iſt gar ſo ſchwer nicht, die Moͤg¬
lichkeit zu ahnen.
Die Artillerie zu Pferde hatte ihre Stuͤcke
nicht auf Wagen, ſondern bei ſich an den Saͤtteln,
in kleine Theile zerlegt, die man in etlichen Se¬
kunden zum Ganzen vereinte. Sie bewegte ſich
noch ſchneller als die gewoͤhnliche Reuterei, in¬
dem ſie die vorzuͤglichſten Pferde empfing, und
jener im Anſprung voraus eilen mußte, durch
einige ſchnell angebrachte Lagen die Bahnen
aufzuhellen.
Das Laboratorium ſetzte in Erſtaunen. Hier
wurden unter andern die Feuermaterien gemengt,
deren Flammen ſich uͤberall vertilgend anhingen.
Die Artillerie bewarf zuweilen eine feindliche
Reihe ſo damit, daß ein dichtes Glutmeer uͤber
ſie hinſtroͤmte und der Erfolg iſt denkbar. Ueber¬
haupt geizte die Artillerie nach der Ehre,
Schlachten und kleinere Gefechte zu entſcheiden,
ohne daß andere Maſſen Theil daran nahmen,
was auch oft gelang.
Den Krieg unter der Erde fuͤhrten die Mi¬
nirer. Reutereiangriffen, wie ſie jetzt angethan
waren, dem ſchnellen Heranbringen mordender
Batterien, konnte faſt nur eine wirkſame Ver¬
theidigung entgegen geſtellt werden, wenn der
Boden an Stellen, wo ſie voruͤberkamen, unter¬
hoͤhlet, und Mine an Mine, mit reinem Knall¬
ſilber gefuͤllt, gereiht wurde. Dann ließen ſich
Tauſende leicht zerreiſſen, nach den Wolken
ſenden. Selten ward ein Lager bezogen, wo
die ruͤſtigen Krieger in der Tiefe, nicht ſogleich
die ganze Linie mit ihren verborgenen Werken
umguͤrtet haͤtten. Brachten ſie dieſe nun zum
Ausbruch, ſo ſchien es, als ob Vulkan neben
Vulkan ſpie, und die fluͤßigen Feuer ſtroͤmten,
der Lava gleich, weit umher.
Bei ſo erſchwertem Zugang, hatte nun der
Angreifer zu ſinnen, wie er ſeinen Kohorten,
vor ihrem Sturme, den Boden ſicherte. Dies
konnte nicht anders als unter ſeinem Rande
geſchehen. Daher mußten die diſſeitigen Minirer
zeitig ihren Weg antreten. Große Erdbohrer,
durch Maſchinen in Bewegung geſetzt, dienten
zu dieſem Zwecke. Man beeilte ſich, die hoͤlliſchen
Anlagen aufzufinden und durch eine fruͤhere
Brandſtiftung ſie unſchaͤdlich zu machen.
Grauſenvoller Krieg, ſchauderhafte Anwen¬
dung entſetzlicher Naturkraͤfte! Doch dies fuͤrch¬
terliche Verfahren war nothwendig geworden,
man durfte ſich nicht ungeſtraft an Mordkunſt
uͤberbieten laſſen. Und die Moͤglichkeit ſolcher
Allvertilgung, mahnte deſto lauter an, den Frieden
zur erſten Tugend der Menſchheit zu erheben.
Noch hoͤrten aber nicht alle Voͤlker darauf.
Wer nun von den jungen Soldaten in eine
der kunſtreichen Truppenarten aufgenommen
worden, und den Unterricht dreier neuen Lehr¬
jahre empfangen hatte, konnte nach Belieben
wieder austreten, denn es war nuͤtzlich, unter
den Buͤrgern im Staate, auch eine Zahl ſo ange¬
lehrter zu wiſſen. Es war nun eine Befreiung
von gewiſſen Gaben und ein Ehrenzeichen ihr
Lohn.
Wer aber noch laͤnger zu weilen Luſt zeigte,
trat ins große Heer, wo ſein Dienſt zehn Jahre
waͤhrte. Nach dieſer Zeit ging er zu den Vete¬
ranen, welche entweder die Beſatzung der Feſten
bildeten, oder der Uebung junger Rekruten ob¬
lagen. Denn es galt der Grundſatz: kein Krie¬
ger im offenen Felde duͤrfe mehr als dreißig
Jahre zaͤhlen. Man kannte den leichten, die
Gefahr hoͤhnenden Sinn, welcher allein mit der
Jugendkraft verbunden iſt. Nothfaͤllen blieben
Ausnahmen vorbehalten.
Die Befoͤrderung zu hoͤheren Stellen beſtimmte
die Dienſtzeit. Im Frieden ward dies durchaus
nicht abgeaͤndert, eine Auszeichnung war da ſel¬
ten, weil alle ebenmaͤßig gebildet wurden. Im
Kriege galten Großthaten Pflicht, und die Vor¬
ausſetzung, Niemand werde ihrer ermangeln,
wenn ihm die Gelegenheit winkte. Es iſt
ſchlimm, ſagte man, von Verdienſt zu reden.
Die Abweſenheit deſſelben bei Vielen, wird ſtill¬
ſchweigend eingeſtanden, wenn des Einzelnen
Lob darum ertoͤnt.
Doch Anfuͤhrer großer Heerhaufen wurden
nach Maaßgabe des hoͤheren Genies ausgewaͤhlt,
das ſie beurkundeten. Sie mußten in den Kriegs¬
uͤbun¬
uͤbungen, waͤhrend vieler Jahre, keinen Tadel
verwirkt haben. Sie mußten aus den Schulen
ihrer Theorien, welche ſich bei den Heeren be¬
fanden, vortheilhafte Zeugniſſe mitbringen. Sie
mußten dann eine Zeitlang dort ſelbſt den Lehr¬
ſtuhl beſteigen, denn man wußte gar wohl, wie
auch der beſte Kopf lehrend am meiſten lernt.
Sie mußten in gehaltvollen Schriften beweiſen,
daß ſie die Kriegskunſt nicht nur ihrem Umfange,
und ihren einzelnen Abtheilungen nach, ergruͤn¬
dend verſtaͤnden, ſondern daß ſie ſie auch mit
neueren Anſichten zu bereichern wuͤßten. Gute
Erfindungen, durch welche das Heer einen wahr¬
haften Vortheil uͤber die der Nachbaren errang,
gaben endlich den Ausſchlag, der Zahl derer bei¬
geſellt zu werden, aus welcher man Heerfuͤhrer
waͤhlte.
Dies geſchah aber von Seiten des Heeres
ſelbſt. Die meiſten Stimmen, im Geheim er¬
theilt, entſchieden. So konnten keine unreine
Mittel angewandt werden, ein ſolches Amt zu
erlangen. Auch war es nicht ausfuͤhrlich, Hun¬
derttauſend Mann zu beſtechen. Nur aͤchte, keine
Scheingenialitaͤt, konnte wohl mit ihrem Rufe
ſo weit dringen, daß die Mehrheit einer ſolchen
G
Zahl in ihren Wuͤnſchen gewonnen ward. Dann
ſandte der aus den Aelteſten zuſammengeſetzte
Rath des Heeres, die Wahl nach Rom, wo das
Strategion, eine Koͤrperſchaft alter Feldherrn
und Kriegsgelehrten, ihre Gruͤnde unterſuchte
und danach abwog, ob ſie dem Kaiſer zur Be¬
ſtaͤtigung vorgelegt werden ſollte, oder nicht.
Dieſem blieb zuletzt ſein ſouveraines Ja oder
Nein.
So weiſe verfuhr dies Zeitalter bei der ge¬
wichtigen Frage: wer ſeinen trefflichen Heeren
gebieten ſollte?
Wie trefflich dieſe Heere aber auch ſein moch¬
ten, ſo koſteten ſie dem Staate nichts. Gewiſ¬
ſermaaßen nichts.
Denn jener zehnjaͤhrige Dienſt nach den Lehr¬
jahren, er mochte bei den kuͤnſtleriſchen Trup¬
penarten oder nur bei dem einfacheren Fußvolke
Statt haben, (wo auch Viele blieben, die jene zu
ſchwierig fuͤr ſich fanden,) ward nicht allein mit
Kriegsuͤbung hingebracht. Dies haͤtte man un¬
noͤthig, uͤberfluͤſſig gefunden. Die großen Heere
tummelten ſich drei Monate im Jahr. Und da¬
bei waͤhlte man nach einander Fruͤhjahr, Som¬
mer, Herbſt und Winter. Dies ſchien hinlaͤng¬
lich, das Handwerk fortgeſetzt in ſeiner Gewalt
zu haben, und der Strenge jeder Witterung
Trotz bieten zu koͤnnen. Zudem hatten dieſe
Uebungen ſo viel Praktik als immer thunlich
blieb. Zwei Heere bildeten ſich und verfuhren
als Feinde gegen einander, auf alle Weiſe die
Wirklichkeit darſtellend, nur daß freilich die
Roͤhre nicht mit Kugeln verſehen waren. Gleich¬
wohl ging es dabei nicht ohne Gefahr ab, wor¬
auf es auch bei Menſchen, deren ganzes Weſen
die Gefahr geringſchaͤtzen ſoll, nicht ankommen
muß. In der Hitze des Streits blieb hie und
da ein Krieger, und ward dann, als ob Ernſt
beſtanden haͤtte, an den Ehrenſaͤulen genannt,
welche der Nachwelt die Namen derer uͤbergaben,
die im Kampfe mit des Vaterlands Feinden ge¬
fallen waren.
Nun hatte aber der Staat ſeit lange den
Heeren Laͤndereien uͤbergeben. In den Provin¬
zen, Polen, Moskau, Schweden, manchen Ge¬
genden der vormaligen Tuͤrkei von Europa, gab
es uͤberfluͤſſige Waldungen, unbewohnte Step¬
pen, Moraͤſte, die einer Austrocknung faͤhig waren,
in Menge. Auch fanden ſich hie und da Berg¬
werke, zeither ungenuͤtzt und ergiebig. In den
G 2
neun Monaten, wo nun die Soldaten ſich nicht
mit den Waffen beſchaͤftigten, war ihr Beruf, zu
urbaren, zu bauen, zu ſaͤen, zu pflanzen, zu
aͤrnten. Dies war im Laufe der Zeit ſchon weit
gediehen, und die Krieger hatten ungemein wohl¬
gepflegte Beſitzungen.
Nach den Lehrjahren wirklicher Soldat, em¬
pfing auch Jeder ſeinen Antheil, den er fuͤr ſich be¬
arbeitete, doch auch die Obliegenheit, einer ne¬
benliegenden Hufe ſeine Sorge zuzuwenden. Die¬
ſe war Vermoͤgen der Geſammtheit, welche,
durch die Menge derſelben, ſich eines hohen
Reichthums erfreute. Aus den Einkuͤnften da¬
von, konnte nicht allein der Sold fuͤr die Rekru¬
ten und Veteranen, beſtritten werden, ſondern
ſie waren auch die Quellen, aus denen man
zum Behuf der anderweitigen Heeresnothwendig¬
keiten ſchoͤpfte.
Das Heer, ließ ſeine Magazine mit Korn
fuͤllen, und haͤufte hier immer Vorraͤthe fuͤr
mehrere moͤgliche Kriegsjahre auf. Es zog ſeine
Pferde in den wilden Stutereien. Es ließ ſeine
Kupferminen, ſeine Eiſen- und Schwefelberg¬
werke bearbeiten, erzeugte Salpeter, Ammoniak
und andere Gegenſtaͤnde fuͤr ſeine Waffenfabri¬
ken und chemiſche Laboratorien in Ueberfluß.
Auf Kunſtſtraßen, welche es bauen half, ſchafte
es mittelſt ihm zugehoͤriger Prahmwagen ſie leicht
an die Orte, wo dieſe Fabriken angelegt waren.
Die Wolle ſeiner Schaͤfereien, die Linnen ſeiner
Flachsſchollen, kleideten die Soldaten. Die Ve¬
teranen, nach dem dreißigſten Jahre keinesweges
veraltet, trieben auch den Feſtungbau. Lobenswer¬
the Einrichtungen in fruͤheren Zeiten, wo man
den Muͤßigang der Krieger willig duldete und
ſie dadurch veilſeitigvielſeitig verdarb, nie ins Daſein
gerufen.
Gelino machte nun dem Zoͤgling bekannt,
wie er, als europaͤiſcher Buͤrger, ſich nun werde
gefallen laſſen, hier ſein Waffenjahr anzutreten.
Guido hoͤrte das mit innigem Vergnuͤgen, von
jeher hatte das Kriegshandwerk fuͤr ſeine lebhafte
Einbildung unſaͤgliche Reitze gehabt, und immer
hoffte er einſt Ruhm darin zu finden, wenn ſchon
eben keine Ausſicht zu ernſtlichen Kaͤmpfen be¬
ſtand.
Drittes Buͤchlein.
Guido im Heere.
Der Lehrer fuͤhrte ihn einige Meilen von
Moskau weg, wo eben die große Uebung des
Heeres Statt fand. Wie begeiſterte den Juͤng¬
ling der ſtrahlende Waffenglanz, der laute Don¬
ner ſo vieler Feuerroͤhre, deren Rauchwolken
den ganzen ſilbernen Himmel dunkel umzogen
und wieder mit tauſendfachem Blitz erhellten.
Am fernen Boden ſchlaͤngelten ſich der Minen
Lavabaͤche, wenn ihre Erdberge emporſtiegen.
Nachdem die Truppen die heutige Uebung
geendet hatten, begab ſich Gelino mit ſeinem
jungen Freund, zum Anfuͤhrer. Er ſtellte ihm
Guido vor und uͤbergab dabei ein Schrei¬
ben. Der Feldherr blickte den Juͤngling wohl¬
gefaͤllig an, und brach darauf das Siegel. Nach¬
dem er geleſen hatte, ſagte er: Wohl ſcheinſt
du es werth, Juͤngling, daß der Kaiſer dich
ſelbſt empfielt. Er muß dich vortheilhaft kennen
gelernt haben, große Waͤrme ſpricht in ſeinem
Briefe, und deine Miene betruͤgt auch wohl
kein Vertrauen. Doch verlangt deines Beſchuͤt¬
zers Weisheit unfehlbar nicht, daß ich dir un¬
verdienten Vorzug einraͤume. Zeige jedoch Wil¬
len und Kraft, ſo kann die Ehre im Heere ge¬
achtet zu werden, dir nicht entſtehn.
Guido ward verlegen, da er von dem Briefe
des Kaiſers nichts wußte. Doch antwortete er
mit beſcheidenem Selbſtgefuͤhl: er achte ſich zu
ſehr, eine Auszeichnung zu verlangen.
Er hatte nun die Pruͤfung zu beſtehn. Seine
ſeltne Gewandheit in Leibesuͤbungen erregte
Staunen, er war ſo keck, die Behendeſten im
Laufen, die Staͤrkſten im Ringen, die Ruͤſtig¬
ſten im Schwimmen, zum Wettkampf einzula¬
den, und trug den Sieg davon. Eine Probe
ſeiner geometriſchen Ueberſicht abzulegen, ſchwang
er ſich an einen Luftball empor, und entwarf
binnen einer Stunde eine hoͤchſt genaue Charte
des ſichtbaren Landhorizonts. Auch anderweitig
beſtand er, nicht nur zur Zufriedenheit, ſondern
zur Bewunderung der Anweſenden, was dem
Lehrer Gelino ſuͤß ſchmeichelte.
Er empfing ſeine Waffen und begann die
Uebungen froh. An Ini ſchrieb er: Ich trage
nun das Kriegerkleid. Neue Kraftuͤbungen wer¬
den meine Formen entfalten, der hohe Gedanke
an Heldenthum, verbunden mit dem entzuͤcken¬
den, verklaͤrenden an dich, werden mir endlich
die Geſtalt vollenden, welche deiner allein werth
ſein kann.
Sie antwortete: Gehe nicht leicht hin uͤber
das Schwere. Sorge und wache. Liebe ſtaͤrke
dich!
Der Seegen einer Geliebten hat immer wun¬
derbare Einwirkungen. Jedes Geſchaͤft geht leich¬
ter von dannen, der Genius erwacht, traͤgt bald
auf den Gipfel des Vorhandenen und laͤßt hoͤ¬
here Vollkommenheit umfaſſen.
Guidos nervigte Arme lernten die Kunſtgriffe
mit dem ſcharfen Spaten bald, und fuͤhrten
Lanze und Schwert mit Geſchicklichkeit, ſein ge¬
uͤbtes Auge brauchte in wenigen Wochen das
Feuerrohr ſo fertig, daß er nie ſein Ziel fehlte.
Was ſollen wir dich lehren, fragten die Ve¬
teranen, dir iſt ſchon alles bekannt, was der
Fußſoldat wiſſen muß, um zu ſeinem Haufen zu
gehen.
Guido beruhigte ſich aber dabei nicht. Er
hatte nachgedacht, ob man nicht uͤber den Erd¬
wurf feuern koͤnne, ohne das Haupt dem feind¬
lichen Geſchoß zum Ziel darzubieten. In der
Optik fand er ein Mittel zu dieſem Zweck. Er
ließ ſich ein hakenfoͤrmiges Sehrohr fertigen,
das die Lichtſtrahlen in einen Winkel brach, und
ſein Feuerrohr mit einem gebogenen Kolben
verſehn. Nun blieb er ganz hinter der Erdwehr
liegen, und ſah durch ſein Inſtrument dennoch
daruͤber hin. Der Schuß erfolgte da bei aller
eignen Sicherheit. Er zeigte den Veteranen,
was er erſonnen hatte. Dieſe gaben ihm großen
Beifall zu erkennen, und ſandten ſein Feuerrohr
an die Rathsverſammlung des Heeres, welche
neue Erfindungen zu unterſuchen hatte. Sie
war von dem wichtigen Nutzen der vorliegenden
zur Stelle uͤberzeugt, und ſchickte ſie wieder
durch einen Eilboten dem Strategion zu Rom.
Dieſes antwortete bald: Man haͤtte ſogleich alle
Feuerroͤhre der Fußſoldaten auf die vorgeſchla¬
gene Weiſe umzuaͤndern.
Man ſprach beim ganzen Heere von dieſem
Ereigniß. Durchaus war es neu, daß ein Juͤng¬
ling, nur einige Wochen unter den Waffen,
ſchon eine Abaͤnderung beim Heere veranlaßt
hatte. Man unterſuchte zwar alles willig, mun¬
terte liebevoll auf, doch ſelten erfolgte die wirk¬
liche Anwendung. Wenn es diesmal auf einmuͤ¬
thigen Beifall geſchah, ſo lagen auch vor Je¬
dermann die Beweiſe der Trefflichkeit jener Er¬
findung.
Man ſprach ihn auch zugleich von der Oblie¬
genheit los, ein Lehrjahr bei den Fußſoldaten
zu weilen. Es ward ihm frei geſtellt, in eine
andere Waffe zu treten, und er waͤhlte die
Meuterei.
Grade waren Pferde aus der eingehegten
Wildniß angelangt, und der Fuͤhrer des Zuges
klagte uͤber die Unbaͤndigkeit des einen darunter,
rathend, es als unbrauchbar zu toͤdten. Guido
bat um die Gunſt, es verſuchen zu duͤrfen.
Man wollte ſie lange nicht zugeſtehn, einwen¬
dend, ſchon die bewaͤhrteſten Reuter haͤtten Un¬
faͤlle mit dieſem Thiere gehabt. Jener ließ aber
nicht nach, zaͤumte und ſattelte das Roß, bei
allem Widerſtreben, und ſchwang ſich darauf.
Es baͤumte ſich hoch, Guido druͤckte ihm mit
ſtarkem Arm den Kopf nieder. Es ging, dem
Zuͤgel nicht mehr gehorchend, athemlos ins
Weite. Guido riß ihm den Kopf herum und
brachte es zum Stehn. Endlich, die Kraft ſei¬
nes Meiſters gewahrend, bequemte ſich die uͤp¬
pige Wildheit zum Nachgeben. Gelehrig folgte
das Pferd, wohin Guido wollte. Er ritt es
vor aller Augen an einen Bombenmoͤrſer, und
ließ ihn neben ſich losbrennen. Ein gewaltiger
Sprung zur Hoͤhe folgte, der Juͤngling ſaß feſt
und hielt ſein Thier auch zugleich wieder an,
es kuͤhn mit dem Sporn fuͤr die Unart ſtrafend.
Es ſchnaubte Wuth, wagte aber, bei einem zwei¬
ten Schuß, nicht mehr, von der Stelle zu gehn.
Endlich legte Guido das Feuerrohr zwiſchen ſeine
Ohren, erlegte tauſend Schritte davon einen
Habicht, der eben durch die Luft flog, und ſein
Pferd ruͤhrte ſich nicht.
Alle Reuter jauchzten ihm Lobſpruͤche, und
er dachte geheim: Haͤtte mich doch Ini jetzt
geſehn!
Eine freundliche Aufnahme in die Reihen
war ſein Lohn, und das Verlangen, dies Pferd
fuͤr den Dienſt behalten zu duͤrfen, fand Be¬
willigung.
Er bewies ſich bald ſo tuͤchtig als Reuter,
daß die Veteranen urtheilten, es beduͤrfe hier
durchaus keiner Lehrzeit mehr. Deshalb bat er
aber, zu dem großen Heere geſandt zu werden,
und das aus folgendem Grunde:
Der Caͤſar von Neu-Perſien hatte Aſien im
Beſitz, mit Ausnahme von Japan und China.
Dieſe alten Reiche hatten in vorigen Kriegen
immer gluͤcklichen Widerſtand geleiſtet, jenes
durch ſeine abgeſonderte, meerumfloſſene und durch
Felſenkuͤſten ſichere Lage, dieſes mittelſt ſei¬
ner ungeheuren Bevoͤlkerung, und indem es, auf¬
geweckt durch die naͤhere Gefahr, das Volks¬
genie auch geweckt und in den Kriegskuͤnſten
neuer Zeit mitgeſtrebt hatte. Grade war aber
eine neue Fehde ausgebrochen, und bei dieſer
Gelegenheit ein Trupp chineſiſcher Tatarn ver¬
ſprengt worden, der, Unfug und Verheerung
uͤbend, den Graͤnzen von Europa nahte.
Man ſandte eine Heerabtheilung, meiſtens
Reuterei, entgegen, im Fall ſie ſich nicht ent¬
bloͤden wuͤrden, das dieſſeitige Gebiet zu betre¬
ten, und da Guido ſehnlich wuͤnſchte, dem et¬
wanigen Feldzuge beizuwohnen, drang er ſo leb¬
haft darauf, zum Heer geſandt zu werden, was
auch geſchah.
Der Ruf war ihm zuvor gegangen, neugie¬
rig ſammelte ſich die Menge, den Juͤngling zu
ſehn, der eine genievolle Erfindung gemacht
hatte und fuͤr den kraͤftigſten Roſſebaͤndiger galt.
Die Art, wie er unter den neuen Kameraden
auftrat, erwarb ihm auch gleich Vertrauen und
Gewogenheit.
Es ging zur Graͤnze, wo eilig das Ge¬
ruͤcht einlief, ſchon waͤren mehrere Doͤrfer
gepluͤndert und verwuͤſtet worden. Der Anfuͤhrer
nahm ſeinen Marſch in die Gegend, welche,
die noch unkultivirteſte in Europa, dichte Wal¬
dungen durchſchnitten.
So leicht der europaͤiſche Stolz dieſen Krieg
gewuͤrdigt hatte, ſo furchtbar-ſchwer war er zu
fuͤhren. Die Waldungen deckten den Feind.
Man konnte ſich nicht uͤber ſeine Zahl oder Stel¬
lung erkundigen, weil die leichten Truppen, fuͤr
dies Geſchaͤft dem Heere zugetheilt, nicht von
oben herab durch die Kronen der Baͤume zu bli¬
cken vermogten. Die Tatarn verbargen ſich ge¬
ſchickt, drangen dann unvermuthet in wilden
Haufen hervor, fielen mit Ungeſtuͤm an, und
entfernten ſich mit einer Schnelligkeit, die den
Vrotheil auf ihre Seite brachte. Denn ihre
Pferde, welche Klugheit bei Zucht und Anleh¬
rung der europaͤiſchen auch thaͤtig war, hatten den
Vorzug.
Die berittene Artillerie ließ ſich in den Ge¬
hoͤlzen nicht brauchen, wider die kleineren Roͤhre
bedienten ſich die Feinde eines Schildes, mit
einem in China erfundenen Lack uͤberzogen, der
bei großer Leichtigkeit Reuter und Pferd deckte,
im Anrennen vorn, im Weichen hinterwaͤrts Ge¬
brauch fand. Schlimmer wie alles das, konnte
man ihre Pfeile anſehn, womit ſie uͤberaus ge¬
ſchickt trafen, und den gepanzterten Mann ent¬
weder im Geſicht oder an den Haͤnden verwun¬
deten. Dieſe Pfeile waren in ein Peſtgift ge¬
taucht, das nicht allein den Getroffenen hin¬
raffte, ſondern auch ſich epidemiſch mittheilte.
Sie dagegen, war mit Recht anzunehmen, mu߬
ten mit einem ſchirmenden Gegenmittel verſehen
ſein, da man von keinen Krankheiten unter ih¬
nen hoͤrte.
Groß war, bei allem anerzogenen tapfern
Sinn, die Beſtuͤrzung, als der Tod in den eu¬
ropaͤiſchen Reihen wuͤthete. Die Aerzte wußten
keinen Rath, fanden ſelbſt ihr Grab. Der An¬
fuͤhrer wagte einen verwegenen Streich, wurde
aber mit ſeinem Vortrab umzingelt und nieder¬
gehauen.
Die Truppen waͤhlten einen neuen Gebieter,
der einſtweilen ſein Amt uͤbernahm, bis die Be¬
ſtaͤtigung darin eingelaufen ſein konnte. Es war
der Sohn eines vornehmen Fuͤrſten, welcher
demungeachtet der erforderlichen Eigenſchaften
nicht ermangelte. Er hielt den Truppen eine
kraͤftige Anrede, worin er die Nothwendigkeit
bewies, die Raͤuber zu vertilgen, wenn dem
ganzen Lande nicht Untergang durch die Peſt
drohen ſollte; mahnte jeden an, den Sinn der
Aufopferung in ſich zu wecken, und zu denken,
auf welchen Wegen ſich der entſetzlichen Gefahr
begegnen ließ. Der Feuerwille, im Kampf dem
Tode zu trotzen, ließ ſich auch uͤberall wahrneh¬
men, doch die natuͤrliche Furcht vor der Peſt
bleichte jedes Antlitz, und im ganzen Lager
toͤnte Wehklage, da keine Minute verging, wo
nicht ein Freund dem Freunde ſtarb.
Guido ſchrieb an ſeinen Lehrer, der nun in
Moskau geblieben war: Komme ich um, ſo ſage
Ini, mein Leben ſei mit ihrem Namen den
Lippen entflohn, vielleicht aber gelingt es mir,
ruhmgekroͤnt wiederzukehren, denn ein Wagſtuͤck
iſt mir beigefallen, das uns retten kann.
Er ging zu dem Heerfuͤhrer, bat ſich einen
Luftnachen und einige muthbewaͤhrte Maͤnner
aus. Du biſt ja Reuter, was willſt du unter den
Spaͤhtruppen? fragte jener. Vertraue mir um
was ich bitte, hieß die Antwort, ich will mein
Leben daran ſetzen, den Tod vom Lager zu
fernen.
Wohlan! Und moͤge das Gluͤck dich geleiten.
Guido ſtieg hoch in die Luͤfte auf, begab ſich
uͤber den Feind und blickte mit einem treflichen
Fernrohre nieder, das ihm der Feldherr auf ſein
Anſuchen noch mitgegeben hatte. Nach langer
vergeblicher Muͤhe entdeckte er in der Waldung
einen kleinen offnen Raum, wo ein praͤchtig
Gezelt ſtand. Hier iſt ohne Zweifel der tata¬
riſche Feldherr, ſagte er zu ſeinen Begleitern,
dies wollte ich erkunden.
Jetzt ſchwebt er zuruͤck uͤber das eigne Lager,
und ließ einen Brief niederfallen, in welchem er
den diſſeitigen Heerfuͤhrer bat, einen Angriff,
wenn auch nur ſcheinbar, zu machen. Er ſah nach
einer halben Stunde, daß ſeine Bitte Gehoͤr
gefunden hatte, die Schlachttrompete klang, die
Glieder ruͤckten aus.
Jetzt mußten ihn die Adler wieder uͤber jenen
lichten Raum bringen, hoch genug, daß, bei
ohnehin truͤber Luft, er nicht mit bloßen Augen
zu entdecken war. Sein gutes Fernrohr zeigte
ihm aber bald, wie auf den Schlachtlaͤrm ein
vor¬
vornehmer Tatar aus dem Gezelte trat, zahl¬
reich begleitet ſich aufs Kampfroß ſchwang und
vorwaͤrts eilte. Nur wenige Einzelne umzingel¬
ten in einiger Entfernung wachend das Haupt¬
quartier.
Sogleich ließ ſich Guido, durch ſtille Luft
und einbrechende Abenddaͤmmerung beguͤnſtigt,
am Fallſchirm nieder. Nicht weit von dem
Hauptgezelt blieb er an einer Eiche hangen, und
kletterte von da zur Erde. Eine Wache entdeckte
ihn, doch ehe der unbeſorgt geweſene Tatar
zum Bogen greifen konnte, hatte er Guidos
Dolch in der Bruſt. Dieſer legte nun ſeine
Kleidung an, verdachtloſer weiter handeln zu
koͤnnen. Er ging einigen Anderen voruͤber, die,
ſeiner Kleidung halber, nicht Acht auf ihn ga¬
ben und gelangte gluͤcklich in das Zelt. Hier
ſtanden viele große Flaſchen mit der tatariſchen
Ueberſchrift: Gegengift. Dies war was Guido
gewollt hatte. Er nahm eine davon, und ſchlich
weit ruͤckwaͤrts in den Wald, indem die Nacht
dunkler wurde. Endlich, niemand mehr gewah¬
rend, zuͤndete er ein kleines Feuer an, was ſei¬
nen Kameraden im Luftnachen zum Zeichen diente,
ſich niederzuſenken.
H
Dies geſchah. Guido beſtieg mit ſeiner
Beute den Nachen, und man eilte durch die
Luft dem eignen Lager zu, wo man gegen Mor¬
gen erſt anlangte, denn das Gefecht hatte eine
ungluͤckliche Wendung genommen, die Europaͤer
waren weit zuruͤck gedraͤngt worden.
Er fand unglaubliche Verwirrung, auch der
Feldherr war geblieben. Getroſt, rief er, ich
bringe vorerſt eine Huͤlfe, das Weitere wird ſich
finden.
Die Aerzte wurden berufen. Man unterſuchte
die Flaſche, mittelte die Beſtandtheile aus, und
traf ſogleich Anſtalt, das Mittel in großer Menge
zu fertigen. Zugleich ward es an den Peſtkran¬
ken, die in großer Zahl ſchmachteten, verſucht,
und alle ſahen ſich nach wenigen Stunden herge¬
ſtellt. Die Art des Gebrauchs enthuͤllte ſich
ſchon aus der Natur dieſer Arzenei. Sie wurde
auch ſchnell nach den ruͤckwaͤrts liegenden Ort¬
ſchaften geſandt, wohin ſich das Uebel auch ſchon
verbreitet hatte.
Hoher Freudejubel! Neuerwachter Muth im
Heere, da keine Peſtpfeile mehr zu fuͤrchten ſtan¬
den. Guidos Lob klang in aller Krieger Munde.
Kein Neid truͤbte einen ſo rein verdienten
Dank.
Die Aelteſten ordneten eine neue Heerfuͤhrer¬
wahl. Jeder im Heerhaufen naͤhrte denſelben
Gedanken. Mag der Juͤngling ſelbſt nicht das
erſte Lehrjahr beſtanden haben, ſein Geiſt, ſeine
Thaten erheben ihn zum Wuͤrdigſten. Man zog
die Namen aus dem Helm, der unter allen Krie¬
gern umhergegangen war. Guido ſtand auf je¬
dem Papier.
Er war beſchaͤmt, verlegen — doch klopfte
ſein Buſen von nicht geringer Freude. „Was
wird Ini ſagen, wenn ſie davon hoͤrt!“ dachte
er, dann — gab er Befehle.
Eine weite Umzingelung des Feindes ſchien
ihm in dieſen Waldungen das Dienlichſte. Je¬
der Krieger empfing eine kleine Viole von dem
Gegengift, um nun bei einer Wunde ſogleich ei¬
nige Tropfen davon anwenden zu koͤnnen. In
der folgenden Nacht traten die Fluͤgel ihren Weg
an, um ſich in den Ruͤcken des Feindes zu begeben.
Zeitmeſſer und Kompaß dienten, ſich genau an
den Stellen einzufinden, wo es der Plan ver¬
langte. Ein Moraſt, durch den die Tatarn nicht
dringen konnten, beguͤnſtigte an einer Seite den
H 2
Entwurf, an der andern ließ Guido ſchnell eine
Meile lang die Baͤume mit Knallſilber umwer¬
fen, daß auch dort der Ausweg geſperrt waͤre.
Dann begann der Angriff von zwei Seiten
in der naͤmlichen Minute. Die Tatarn erſchra¬
ken, da ſie die alte Furcht vor ihren Giftpfeilen
nicht mehr inne wurden. Ja, Beſtuͤrzung ver¬
breitete ſich unter ihnen, als einige gewahrten,
die Verwundeten der Europaͤer bedienten ſich
eines Gegenmittels. Die nehmliche Entdeckung
hatte auch den Neu-Perſern eine Ueberlegenheit
uͤber dieſe Truppen gegeben und ſie in die Noth¬
wendigkeit geſetzt nach dem Norden zu fliehn.
Man drang ſcharf ein. Die fluͤchtige Eil
der tatariſchen Roſſe half nicht, da zu beiden
Seiten der Feind anruͤckte. Im Nahekampf
hatten die europaͤiſchen Waffen den Vorzug.
Jener Feldherr, ſeine mißliche Lage erwaͤgend,
ſammelte auf den Ton eines weitſchallenden In¬
ſtrumentes eine große Maſſe und ſuchte mit die¬
ſer durchzubrechen. Guido, der dies vermuthete,
begann an der Spitze einiger Tauſende ein
Scheingefecht, floh und lockte die Feinde auf
eine große Mine, deren Exploſion in dem Au¬
genblick erfolgte, als der Vortrab des Gegners
den unterwuͤhlten Boden betreten hatte.
Graͤßlich ſchauderhafter Anblick, als Tauſend
entwurzelte Eichen dem Aether zuflogen! Doch
wurde es auch Guidos Leuten verderblich, als
die Baumtruͤmmer, die zu Tauſenden zerriſſe¬
nen Gaͤule und Menſchen, wieder dem Geſetz
der Schwere gehorchten, und ſich weiter verbrei¬
teten als man erwartet hatte. Manche darunter
wurden getoͤdtet, ſelbſt Guidos Pferd von einem
großen Stamm aufs Haupt getroffen. Er ent¬
ging jedoch den Gefahren gluͤcklich, und beſtieg
ein anderes Kampfroß, die Niederlage der Ta¬
tarn zu vollenden.
Ihr Feldherr gab die Hoffnung nicht auf,
wandte ſich nach einer andern Gegend. Guido
ließ ihm aber keine Friſt, fiel den Haufen von
allen Seiten an. Nicht uͤberall konnten die chi¬
neſiſchen Schilde decken, große Verheerungen be¬
wirkten die europaͤiſchen Feuerroͤhre. Endlich
traf Guido auf den Feldherrn ſelbſt, ein innig
gefuͤhlter Wunſch. Er rief ihm zu: laß uns
beide kaͤmpfen; wer faͤllt, deſſen Schaaren ſollen
ſich dem andern ergeben!
Der Tatarfuͤrſt war es zufrieden und warf
ſeine Lanze. Sie wuͤrde, wohl zielend, Guidos
Geſicht getroffen haben, wenn dieſer ſie nicht
mit ſeinem Schwerte hinweggeſchlagen haͤtte.
Er ſchoß, dem Tatar half ſein Schild. Nun
gab Guido dem Pferde den Sporn, flog dicht
neben ſeinen Gegner hin, ihm den Degen in
die Seite zu bohren. Es gelang nicht, weil der
Andere auch mit fechtender Geſchicklichkeit den
Streich abzuwenden wußte. Guidos Pferd, im
Sprung, war nicht gleich aufzuhalten, der Ta¬
tar ſandte einen Pfeil nach, verwundete es toͤdt¬
lich, und Guido mußte auf den Boden ſpringen.
Nun ſuchte der Feind ihn mit ſeinem Kampf¬
roſſe uͤber den Haufen zu rennen. Ohne hohe
Geiſtesgegenwart war Guido verloren. Doch er
dachte an Ini, und fuͤhlte neue Kraft durch
ſeine Adern ſtroͤmen. Er wich rechts und links
dem ſchnaubenden Thiere aus, erſah den Au¬
genblick und bohrte das Eiſen in ſeinen Bauch.
Mit großem Getoͤſe fiel es in den Staub, nach¬
dem es durch die letzte krampfhafte Baͤumung
den Reuter weggeſchleudert hatte.
Dieſer ſtand aber auch gleich wieder auf den
Fuͤßen und Schwert gegen Schwert wuͤthete.
Die Panzer vereitelten Hieb und Stoß, an
ihrer Kraft brachen beider Klingen. Nur die
Arme blieben den ergrimmten Kaͤmpfern noch
uͤbrig. Den fabelhaften Rieſen der Vorzeit gleich
umſchlangen ſie ſich damit, und geriethen auf
das Eis eines kleinen Sees, der dort lag.
Der Tatarfuͤrſt ſchien an Nervengewalt ſei¬
nem Feinde nicht nachzuſtehen, doch lebte ihm
keine hohe Liebe daheim, in deren Anruf er ſeine
Heldenkraft verdoppeln konnte. Allein vor Gui¬
dos Seele ſtand Inis ſegnendes Bild und neue
Goͤtterflammen ſtroͤmten in ſeine Bruſt. Mit
des Bildes Erſcheinung lebte auch das Triumph¬
gefuͤhl in ihm auf. Es ward ihm ein Spiel,
hoch den Tatar empor zu heben und ungeſtuͤm
gegen die gefrorne Flaͤche zu werfen. Der Fall
des Gepanzerten aufs Haupt war entſcheidend,
die Gebeine des Nackens waren zerſchellt, weit
glitt der Leichnam auf das klare Eis hin.
Guido nahm das zertruͤmmerte Schwert, den
Panzer und eine Diamantkette, die an der Bruſt
des Todten hing, alles an Ini zu ſenden. Die
Europaͤer ließen Sieggeſang ertoͤnen, die Raͤu¬
berhorden flehten um Gnade und lieferten die
Waffen ab.
Man fand großen Raub im Lager, den Guido
unter die gepluͤnderten Landleute vertheilen hieß.
Edel genug waren ſeine Soldaten, nur Waffen
ſich zum Andenken des Tages zuzueigenen.
Noch wurde auf die hie und da zerſtreuten
Feinde Jagd gemacht, von denen auch keiner
entkam. Die zahlreiche Schaar der Gefangnen
bewachend eingeſchloſſen, eilte der Heerhaufen
zuruͤck nach dem großen Lager. Das Volk der
Gegend erwartete Guido uͤberall an den Wegen,
und brachte dem Retter von Tauſend Schrecken
ſein Dankopfer in Freudenthraͤnen.
Unterwegs begegnete ihm ein Heer, reich mit
Artillerie und andern Erforderniſſen verſehn. Es
war im Anzuge, da man aus den Berichten
entnommen hatte, jene Meuterei werde dem zu
gering geachteten Feinde, nicht vollen Widerſtand
leiſten koͤnnen. Auch befanden ſich viele Aerzte
im Gefolge, die Natur der Seuche zu pruͤfen.
Krankheiten waren dieſem Zeitalter verhaßt und
ſchrecklich, denn es war in Europa weit damit
gekommen, ſie auszurotten. Seit Jahrhunderten
wußte man nichts mehr von Kinderblattern,
die Krankheiten von Ausſchweifungen im Ge¬
ſchlechtstrieb, hatte man dadurch verbannt, daß
einſt zum Gemeinbeſten, im ganzen Staate,
an einem ausgeſchriebenen und der Menge ge¬
heim gehaltenen Tage, eine jede Perſon, ohne
Ausnahme, Unterſuchung traf und ihre Heilung
bewerkſtelligt wurde. Andere Welttheile waren
klug genug, dieſes Beiſpiel nachzuahmen und
die Uebel beſtanden nur noch in der Geſchichte.
Dem Heere von Fiebern mancher Art, wider¬
ſtanden die durch gute phiſiſche Erziehung und
Maͤßigung in den Leidenſchaften, geſtaͤhlten Or¬
ganiſazionen. Geiſt und Koͤrper bewegten ſich
bei dieſem Geſchlechte zu viel, zu wachſam uͤbte
man die Sorge fuͤr geſunde Nahrung, als daß
Gicht und Podagra haͤtten foltern koͤnnen. Langer
Gebrauch der Milch bei den Kindern, viel fruͤ¬
hes Laufen in freier Luft, bildeten die Lungen
vortheilhaft aus, daher konnten Bruſtkrankhei¬
ten nur hoͤchſt ſeltne Erſcheinungen ſein. Jene
Reſultate von Verderbniß der Saͤfte, in alten
Zeiten bekannt, die ſcheuslichen Waſſerſuchten,
waren mit ihren Urſachen verſchwunden. Die
Aerzte fanden unten dieſen Umſtaͤnden wenig Be¬
ſchaͤftigung, als bei zufaͤlligen aͤußeren Wunden,
oder der auch nicht ſchwierigen Geburtshuͤlfe.
Sie trieben dagegen Chemie, die jetzt ſehr viel
geuͤbte, und auf das Leben uͤberall angewandte
Kunſt, und bekleideten demnaͤchſt, bei den Er¬
ziehungsanſtalten, heilſame Aemter. — Immer
hoͤher reichte das Leben der Menſchen hinauf,
immer gewoͤhnlicher fuͤhrte eine ſanfte ſchmerzen¬
loſe Entkraͤftung hinaus.
Wie hoch mußte alſo die Erkenntlichkeit des
Zeitalters gegen den Mann ſein, der die Ver¬
heerungen der Seuche durch ſeine tapfere Liſt
abgewendet hatte. Indem die Aelteſten in dem
anziehenden Heere, und die Naturkundigen, in
ſein Lob ausbrachen, wich Guido beſcheiden aus
und entgegnete: Es war immer doch nur zu¬
faͤllig, wenn ich das Gegenmittel fand. Haͤtte
ich es ſelbſt entdeckt, bereitet, dann wollte ich
euer Lob annehmen.
Daß er den Feind ſchon uͤberwaͤltigt hatte,
freute jene Soldaten deſto weniger. Sie haͤtten
gern ihren Antheil bei dem Ruhm gehabt. Doch
erklaͤrten die Maͤnner im großen Heeresrath ein¬
muͤthig, man muͤſſe beim Strategion darauf
antragen, daß Guido einen Triumpheinzug zu
Moskau hielt.
Wie wuͤrde mir, dem Juͤngling, das zie¬
men, rief er. Nein, ich bitte um meine Ent¬
laſſung, da ich meine ferneren Reiſen anzutre¬
ten denke. Giebt es aber einſt neuen Krieg,
dann ſtell' ich mich.
Beſcheidener! rief ein Unteranfuͤhrer, du biſt
in ſolchem Fall nicht ſicher, daß ein großes Heer
dich zum Feldherrn erkieſt. Zu laut iſt dein
Name von Ohr zu Ohr gedrungen.
O, dies anzunehmen, muͤßte ich noch weit
mehr Wiſſen errungen haben, antwortete Guido.
Doch einige Vorſchlaͤge, zu Verbeſſerungen, an
dem ſchweren Geſchoß, und den Minen, bitte
ich noch von mir anzuhoͤren. Die Erfahrung
dieſer Tage lenkte mich darauf.
Die kuͤnſtleriſchen Soldaten wurden hier ein
wenig ſchwierig. „Wie, er diente nicht in un¬
ſrer Mitte, und hofft uns lehren zu koͤnnen,
was wir noch nicht wiſſen?“
Doch er eignete ſich Theorien zu, entgegne¬
ten des Erfinders Freunde.
„Ei Theorien! Sie ſind nicht die Erfah¬
rung!“
Auch dieſe hat er geſammelt.
„Aber nicht in zulaͤnglicher Summe.“
Man ſieht, daß die Maͤnner, bei allem Vor¬
ausſein eine Tradizion von ihren Urvaͤtern durch
den Zeitſtrom gerettet hatten. Doch ganz ſo ei¬
genſinnig waren ſie nicht. Sie pruͤften — gin¬
gen vom Tadel zur Billigung uͤber — und nah¬
men an.
Guido hatte aber noch eine andere Idee um¬
faßt, die er gern zur Ausfuͤhrung bringen wollte.
Die Muſik beim Heere mißfiel ihm. Manches,
ſagte er im Rath der Anfuͤhrer, habt ihr von
mir angenommen, was den Nutzen zum Ziel
hatte, laßt mich nun etwas fuͤr die Schoͤnheit
thun, die ohnehin eine gute Wirkung nicht ver¬
fehlen wird.
Aus der Kaſſe, welche zum Erproben neuer
Erfindungen beſtimmt war, wurden ihm belie¬
bige Summen zugewilligt, uͤber die noͤthige Per¬
ſonenzahl konnte er entſcheiden. Er ging eilig
an die Ausfuͤhrung, und der Arbeiter Gewand¬
heit ſtillte bald ſeine Ungeduld.
Er ließ eine Luftgallione bauen, von funfzig
Adlern gezogen, die fuͤr einige Hundert Men¬
ſchen Raum enthielt. Zwei Silberpauken, maͤ¬
ßigen Haͤuſern an Umfang gleich, befanden ſich
darauf, und wurden mit eichenen Knebeln durch
Maſchinen geruͤhrt. Zudem metallene Hoͤrner
von der Laͤnge einer Tanne, deren hintere Muͤn¬
dung an einen großen Blaſebalg gebunden war,
Dieſen konnten zwei Maͤnner durch einen Schnell¬
hebel leicht niederſtoßen. Jedes Horn hatte nur
einen Ton, und es galt geuͤbte Aufmerkſamkeit
der Spielenden, ihn richtig anklingen zu laſſen,
wenn das auszufuͤhrende Stuͤck es verlangte.
Aehnliche Trompeten waren auch in guter Zahl
vorhanden, und Poſaunen, welche ſehr tief und
kraͤftig anſprachen. Daruͤber hing ein reinge¬
ſtimmtes Glockenſpiel, dem akkuſtiſche Kunſt eine
gewaltige Reſonnanz gegeben hatte.
Guido ſahe bald alles dargeſtellt, und uͤbte
ins Geheim ſeine Kuͤnſtler zur Fertigkeit. Dann
ſagte er den Heeranfuͤhrern: Ruͤcket aus mit
den Truppen. Ihr ſollt eine Muſik vernehmen,
dem geſammten Heere, durch das Klirren der
Schwerter, ſelbſt durch den lauten Donner eurer
Kanonen, hoͤrbar. Toͤne ermuthigen in der
Schlacht, fuͤllen dem Tapfern mit noch edlerer
Begeiſterung das Herz. Von derſelben Melodie
ſollen alle Streiter bezaubernd ergriffen werden.
Man gehorchte ihm. Reuterei, Fußvolk und
Artillerie zog auf die Gefilde, in den Bewegun¬
gen eines großen Kampfes. Zu den Wolken ſtieg
der graue Dampf ihrer Roͤhre der Himmel
war verhuͤllt. Da ließ Guido das maͤchtige Feld¬
orcheſter uͤber ſie ſchweben, dreihundert Klafter
hoch, unſichtbar in dem wallenden Rauchnebel.
Die Muſiker hatten die Ohren dicht verſtopft,
nicht Taubheit davon zu tragen.
Welch ein Effekt in der Tiefe, als der Sturm
des Klanges niederbrauſte, auf Meilenfernen in
gleicher Gewalt hoͤrbar. Es war, als ob der
Gott der Heerſchaaren in den Luͤften walte¬
te, ſeine Treuen durch himmliſche Melodien
zum unſterblichen Ruhm weihend. Entzuͤckt,
wonnetrunken, horchten die ſtaunenden Helden.
Warum iſt kein Feind da, den wir, von den
Harmonien umſtroͤmt, bekaͤmpfen koͤnnen, riefen
ſie. Zu unuͤberwindlichen Loͤwen erhuͤbe uns die
wundervolle Magie.
Hatte er zuvor die Liebe der Soldaten ge¬
wonnen, ſo flogen ihm nunmehr alle Herzen zu,
denn dieſe Krieger bargen Schoͤnheitsſinn. Die
Erfindung ward auch einmuͤthig angenommen,
doch beſtimmten die Anfuͤhrer ihren Gebrauch
nur fuͤr den Ernſt, im Frieden ſollte ſich das
Ohr der Soldaten nicht daran gewoͤhnen, da¬
mit einſt in der Schlacht die Wirkung hoͤher
reichte.
Guido wandte ſich nun heimlich von den
Truppen, dem ſchmeichelhaften Abſchied zu ent¬
fliehn, und eilte nach Moskau, wo ihn Gelino
freudig in die Arme ſchloß.
Sich hier ſelbſt mehr gegeben, pruͤfte er ſeine
Geſtalt an Spiegeln, und ward froher noch uͤber
die jetzige Entdeckung, als in dem ſtolzen Au¬
genblick, wo es ihm endlich gelang, den Feld¬
herrn der tatariſchen Horden zu uͤberwaͤltigen.
Denn faſt kannte er ſich nicht gleich, ſo hatte
ſeine Schoͤnheit zugenommen. Entwickelter zu
einer reinen Uebereinſtimmung, ſtellten ſich die
Verhaͤltniſſe der Arme, des Leibes, der unteren
Theile dar, heller gluͤhte das muntere Inkarnat
der Wangen, durch die viele ruͤſtige Bewegung
in der geſunden Nordluft. In dem Auge ſtrahlte
ein unglaublich frohes, edles Feuer, eine ſtolze
Sicherheit, erzogen durch das ſiegende Bewußt¬
ſein vollbrachter Heldenthat, und die Wonne des
Stolzes im Selbſtgefuͤhl, wenn ſchon durch Be¬
ſcheidenheit in gemeſſenen Schranken gehalten,
daß keine Verzerrung einen Ausdruck von Eitel¬
keit entſtehn ließ, der andere durch Tadel be¬
leidigte. Der Hochſinn, bei den Gefuͤhlen der
Liebe und den Entzuͤckungen der Kuͤnſte, hatte
immer nur ſanft des Oberhauptes Rundung em¬
porgehoben, die ungeſtuͤme Heldengluth aber, in
ihrer, beſonders den hohen Theil im Gehirn be¬
wegenden Seelenthaͤtigkeit, hatte ſie ſchnell hin¬
ausgedraͤngt, und wie es Guido ſchien, bis an
die Linie welche Inis Ideal verlangte. Dage¬
gen wenn er ſein Profil in zwei Spiegeln be¬
ſah, konnte er mit ſeiner Stirn noch nicht zu¬
frieden ſein. Denn dort war immer noch nicht
genug geſchehen, noch lag ſie nur in einer Per¬
pendikulaͤre mit dem Kinn, da ſie gleichwohl
um ein Gutes haͤtte vordringen muͤſſen. Guido
ſagte ſich unter dieſen Umſtaͤnden, was ich bis¬
her dachte, war noch immer nicht genug, der
Summe nach, oft auch nur fluͤchtiger Aufflug
der Imaginazion. Ich muß mehrere Gegen¬
ſtaͤnde in die innere Welt rufen, und durch fort¬
fahrende ſchwere Kraftuͤbung des Denkens, des
Gehirnes Maſſe vermehren. Dann habe ich mich
auch vorzuͤglich mit Dingen zu beſchaͤftigen, die
die Empfindung ausſchließen, rein abgezogen
ſind. Nur ſo iſt das vorliegende Mark des
Schaͤdels thaͤtig, waͤchſt an und ſtoͤßt ſeine ge¬
ſtaͤrkte Huͤlle weiter. Die Hoffnung, auch das
werde gelingen, erhob ſeinen Muth.
Er
Er ſchrieb an Ini, ihr ſeine Trophaͤen
ſendend:
„Einem andern Maͤdchen duͤrfte ich ſchon
kuͤhn nahen, und um ihre Hand werben. Denn
ein ſtattlicher Ritter, leg' ich der Geliebten
Feindes Waffen zu Fuͤßen, und ſchmuͤcke ſie mit
einer Eroberung. Du aber ſteigerſt deinen Ver¬
trag, und darfſt, du Goͤttliche, hoͤhern Preis
auf dich ſetzen. Je mehr ich ſinne und handle,
je mehr lerne ich dich verſtehn, je mehr be¬
greife ich, wie deine Idee menſchlicher Wuͤrdig¬
keit weit hinaus liegt, uͤber alles, was ſchon
Sterbliche thaten. Ich muͤßte vor dieſem rei¬
neren Erkennen verzweifeln, deiner Forderung
glorreich Genuͤge zu thun, haͤtte ich nicht die
Wunderkraft fuͤhlen lernen, die dein Bild in
meine Adern gießt. So aber beginne ich hof¬
fend den neuen Lauf, lebt doch das Flehn in
mir, das dich um Beiſtand anrufen kann, wie
in jenes Kampfes Stunde, wo gnaͤdig mich die
Goͤttin erhoͤrte.“
Gelino ſagte darauf, laß uns eine andere
Wohnung beziehn, wo wir mehr Schutz gegen
die Kaͤlte finden. Der Winter iſt ſtrenge, im¬
mer hoͤher deckt ſich der Boden mit Schnee.
I
Guido empfand die Unbehaglichkeit eben nicht,
doch dem ſchwaͤcheren Greis nachgebend, folgte
er willig.
Sie traten am Abend in ein geraͤumig Haus,
deſſen Zimmer trefflich durch Oefen erwaͤrmt und
artig verziert waren. Willſt du nicht deine Be¬
merkungen uͤber die Reiſe aufzeichnen, und die
Geſchichte deines Feldzugs? fragte Gelino. Der
Juͤngling dankte ihm fuͤr die Erinnerung, und
eilte um ſo eher zu ſchreiben, weil ernſthaftere
Beſchaͤftigungen dem eben gefaßten Vorhaben
entſprachen. Mit Ausnahme eines kurzen Schlafs,
und einer Stunde beim Mahl, wich er nicht
von ſeiner Arbeit. Einigemal ward er darin ge¬
ſtoͤrt, weil ihm duͤnkte, das Haus bewege ſich.
ſollte das ein Erdbeben ſein? fragte er den
Lehrer. Weiß man denn hier nicht, wie in Ita¬
lien, die Zeit und die Staͤrke einer ſolchen Na¬
turerſcheinung zu berechnen, oder ſie abzuwen¬
den von den Staͤdten, mittelſt tief gewuͤhlter
Brunnen, durch welche das tiefe Feuer einen
Ausweg findet?
Sei unbeſorgt, erwiederte Gelino, hier ſind
die Erdbeben ſelten, und traͤte ja der Fall ein,
wuͤrden die Naturkundigen ſchon zeitig warnen.
Glaube nicht, man ſei hier noch ſo unwiſſend,
wie in rohen Jahrhunderten einſt durch ganz Eu¬
ropa, wo Staͤdte zertruͤmmert wurden.
Gab es wirklich eine ſo unwiſſende Zeit?
fragte Guido ſtaunend.
Sieh da die Folge deiner Saͤumniß, Ge¬
ſchichte zu lernen, ſtrafte der Lehrer. Liſſabon
und ſelbſt unſer Meſſina haben einſt furchtbar
dadurch gelitten. Du weißt viel, erfindeſt viel,
dennoch ſchoͤpfeſt du zu wenig aus dem rechten
Quell.
Du haſt Recht, gab Guido zur Antwort
hier ſieht mein Streber noch ein weites Feld. O
ich muß auch die Naturkunde noch mehr treiben
und manches Andere.
Nun, wir werden auch ins gelehrte Deutſch¬
land kommen. Da magſt du dich mit Elemen¬
ten vertrauen und deinem kuͤnftigen Denken neue
Richtungen geben.
Der Zoͤgling hatte nach dreien Tagen ſeine
Arbeit vollendet. Freilich waren darin nur hin¬
geworfene Bemerkungen und kurze Ueberſicht der
Thatſachen zu finden; die Urſachen der Erſchei¬
nungen aufzuſuchen, fiel ihm noch nicht genug
ein; ſein Wiſſen, wenn ſchon reich in der Menge,
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hatte zu vielen poetiſchen Anſtrich. Entzuͤckt ſein,
hieß ihm noch oft Bemerken. Gelino beruhigte
ſich aber dabei, indem er wohl wußte, aus dem
jugendlichen Genie koͤnne erſt die Gruͤndlichkeit
als eine Frucht der Jahre hervorkeimen. Laß
uns jetze eine andere Wohnung ſuchen, ſagte
Gelino.
„Schon wieder? Ich meinte, dieſe ſei dir
bequem?“
Eine noch bequemere.
„Wie du willſt, ich will ohnehin ein wenig
ins Freie. Seit drei Tagen kam ich nicht unter
dem Dache weg.“
Sie traten hinaus. Guido ſah einen großen
ſchoͤnen Platz, ihm unbekannt. Was iſt das?
fragte er, den Platz ſah ich noch nicht, und
glaubte doch ganz Moskau durchirrt zu haben.
Auch ſchien mir, unſer Haus laͤge in einer en¬
gen Gaſſe, da wir es neulich am Abend be¬
zogen.
O wir ſind nicht in Moskau, rief Gelino
laͤchelnd.
Guido blickte ihn verwundert an.
Jener fuhr fort: Du biſt in Petersburg.
Das Haus war ein Schlitten. Du haſt nur
einigemal einen kleinen Anſtoß geſpuͤrt. Sonſt
glitten wir in den drei Tagen ſanft uͤber den
Schnee hieher.
Guido freute ſich hoch. Ich geſtehe, ſagte
er, wie mir vor dieſer Reiſe ein wenig bangte.
Durch die Luft, fuͤrchtete ich, wuͤrde es dir zu
kalt ſein, und wie ein Wagen eine Bahn in
der ſtarren Winterdecke finden werde, konnte ich
nicht begreifen.
Sie beſahen nun die ſchoͤne Stadt, reich
durch einen uͤppigen Handel, und einen glaͤnzen¬
den Fuͤrſtenhof. Guido nahm jedoch einen an¬
dern Nahmen an, denn ſein Ruf war voran¬
geeilt, und er wollte ſich ſo wenig durch Schmei¬
cheleien betaͤuben, als in ſeiner Lernbegier ſtoͤ¬
ren laſſen.
Unter den mannichfachen Sehenswuͤrdigkeiten,
gefiel unſern Reiſenden nichts mehr als die Win¬
tergaͤrten, welche man hier angelegt hatte, um
das Anſchauen gruͤnender Natur nicht ſo lange
zu entrathen, als der unfreundliche Himmelſtrich
gebot. Faſt jeder von den Reichen beſaß eine
ſolche liebliche Anſtalt; die weitlaͤuftigſte darunter
war jedoch oͤffentlich, wurde von der Geſammt¬
heit erhalten, und es ſtand jedem Einwohner
und Auswaͤrtigen frei, ſich dort zu vergnuͤgen.
Eine dicke Mauer von Quadern umzog einen
Raum von mehreren Tauſend Schuhen im Ge¬
vierte. Der ganze Boden war hohl, Pfeiler
von großem Umfang trugen ſeine Gewoͤlbe, und
durch viele Eiſenoͤfen, deren Zuͤge und Roͤhren
kuͤnſtlich umhergeleitet waren, empfing die ge¬
laͤuterte, auf alle Weiſe fruchtbar gemachte Erde,
die auf dem Gewoͤlbe lag, Erwaͤrmung.
Von dieſen Vorkehrungen ward jedoch Nie¬
mand oben etwas inne. Man trat durch ein
Thor in eine Vorhalle, die wieder zu einem
geraͤumigen Saal fuͤhrte, ſchon milder in ſeiner
Temperatur als jene. Durch doppelte und ver¬
huͤllte Thuͤren, damit die Kaͤlte nicht eindraͤnge,
gelangte man weiter.
Aus dieſem Saal fuͤhrten andere Thuͤren in
eine breite Gallerie, deren hohe bis zur Erde
reichende Fenſter, von Polkriſtall, nur nach In¬
nen gingen.
Und wohin? Durch die ſtarre Kaͤlte, wie
Dezember und Januar unter dieſer Breite geben,
trat man in die Vorhalle mit frierendem Athem,
das Haar mit Eis behangen. Aufwaͤrter reinig¬
ten die rauhe Fußbekleidung von Schnee, und
ſaͤuberten des Ankoͤmmlings Locken. Im andern
Saale fand man den Pelz beſchwerlich, und gab
ihn ab. In der Gallerie wehten milde Sommer¬
luͤfte, das Auge blickte froh durch die Fenſter
hinaus auf liebliche Gruͤne, auf Veilchen, Jon¬
quillen und Roſen.
Ein angenehmes Parterre bot ſich im Halb¬
rund dar, reich an Florens Pracht, mit holdem
Duft labend, begraͤnzt durch dunkle Katalpen¬
buͤſche, aus denen reizende Marmorgebilde
winkten.
Selige Ueberraſchung! Frohes Athmen, ſuͤße
Wandlung durch den kleinen Platanenhain, an
ſilberhellen Baͤchen hin, uͤber bebluͤmte Huͤgel,
wo ſich hinter Teichen weite Ausſichten in rei¬
zende Gebirglandſchaften oͤffneten. Der Stau¬
nende, nicht vertraut mit des kleinen Paradie¬
ſes Kunſt, begriff nicht, was er ſah, und rief
die Fabeln der Wohnſitze mithiſcher Zauberinnen
und Hesperidengaͤrten in die Erinnerung.
Der kurze Tag entfloh bald; wer vermogte
ſich von dem Heiligthume zu trennen? Im
Daͤmmerlichte gewannen die mannichfachen Schoͤn¬
heiten erhoͤhten Reitz, Nachtigallen floͤteten aus
Bluͤthenzweigen nieder, in Jasminlauben horch¬
ten die Luſtwandelnden ihrem Geſang. Bald
ſtieg aber der Mond empor, hoch im Norden
am Aether hangend, und goß ſeine Schimmer
verklaͤrend nieder. O Ini, ſeufzte Guido tief¬
bewegt, koͤnnt' ich an deinem Arme hier den
Himmel fuͤhlen!
Und wie hatte der kluge Fleiß dies alles ge¬
ſchaffen? In den dicken Mauern der Umgebung
lagen, wie unten, Oefen verborgen. Die gro¬
ßen, hie und da zerſtreuten, Eichen und Fichten,
waren durch Kunſt der Natur nachgeahmt, zum
Theil hohl, um in den durchgefuͤhrten Roͤhren
Waͤrme auszuhauchen, damit auch oben eine
gleichmaͤßige Temperatur erzeugt wuͤrde, zum
Theil beſtimmt die hohe Glasdecke zu tragen,
die ſich zwiſchen ihnen in kleinen Gewoͤlben
ſenkte und hob.
Glasſteine, rein und klar genug, den Licht¬
ſtrahl nicht zu hemmen, und doch von der noͤ¬
thigen Staͤrke, um alle Kaͤlte abzuwenden, bil¬
deten dieſe Gewoͤlbe. Kein Kitt verband ſie,
ſondern man hatte im Bauen ihre Seiten durch
Feuer erweicht und ſie ſich ſo verſchmelzen laſ¬
ſen. Die Anſtalten mangelten nicht, ſie Außen
vom Schnee und Inwendig von Duͤnſten zu rei¬
nigen, und ſo war die gluͤckliche Taͤuſchung voll¬
endet. Die weiten Ausſichten hatte allerdings
die Malerei geſtaltet, aber ſo trefflich, daß das
Auge vollkommen betrogen wurde, um ſo mehr da
es kleine Teiche kluͤglich hinderten, zu den, Fer¬
nen luͤgenden Waͤnden, zu dringen. —
Unterdeſſen kam in Moskau ein Schreiben
vom Strategion zu Rom an. Eine lange Be¬
rathung hatte es aufgehalten. Nicht gern wollte
man ſo fruͤh einen Juͤngling belohnen, damit der
Sporn zu hoͤherem Streben nicht mangle, und
dennoch hatte dieſer Juͤngling durch ſo fruͤhe
Thaten, Lohn verdient. Endlich ſandte das
Strategion dennoch eins von den großen Ehren¬
zeichen, wie ſie Feldherren nach gewonnenen
Schlachten empfingen. Man beſann ſich, daß
Guido ſchon in ſehr fruͤhen Jahren Beweiſe
ſeines erfinderiſchen Kopfes geliefert habe und
dies gab den Ausſchlag. Ein aufmunterndes
Schreiben, von des Kaiſers eigener Hand, lag bei.
Guido befand ſich aber nicht mehr in dieſer
Stadt und Niemand wußte dort, wohin er ge¬
reiſet ſei. Er hatte dagegen die Weiſung zuruͤck
gelaſſen, im Fall Briefe an ihn uͤberkaͤmen, ſie
nach Sizilien zu ſenden, daneben die Aufſchrift,
an Ini.
Dieſe empfing nun durch die Eilpoſt jene
Gegenſtaͤnde. Gleich ſchmeichelhaft fuͤr Geliebte
und Geliebten.
Sie wußte, daß er ſich jetzt in Petersburg
befand, und ſchrieb ihm, jenen Brief zugleich
beantwortend:
„Gern ſeh ich dich in der Heldenreihe, doch
mehr noch wuͤrde es mich erfreuen, wenn du
beitragen koͤnnteſt, daß die Menſchheit den un¬
ſeligen, ihre Natur entehrenden, Krieg verbannte.
Ein Ehrenzeichen liegt fuͤr dich hier, ich ſende
es nicht, hoffend, du werdeſt zu edel denken,
es zu tragen. Es iſt noch ein Reſt alter Bar¬
barei, wenn man ſolche Zeichen ausgiebt, meine
ich immer. Traurig wenn das Vaterland ge¬
bieten muß, Blut zu vergeuden. Wer die ſchreck¬
liche Pflicht uͤbte, ihm zu gehorchen, wozu ſoll
er noch ausgezeichnet ſein, daß ſein Anblick
durch eine ſchauderhafte Erinnerung empoͤre.
Verheimlichen, tief verheimlichen, ſollte unſre
Zeit die ungluͤcklichen Heldenthaten. Glaube auch,
nur der reinſte Menſchenſinn kann deine Schoͤn¬
heit vollenden.“
Dies gefiel freilich dem flammenden Juͤng¬
ling nicht ganz. Lob, warmes Lob, haͤtte er
von dem Maͤdchen gehoft, das begeiſternd mit
Kraft weihte, und es toͤnte nun ſo ſparſam, ſo
bedungen. Doch raͤumte er ihrem feinen Geiſt
den hoͤheren Ausſpruch ein, und antwortete nur,
indem er dieſem ſeine Ehrfurcht darbrachte.
Er blieb noch einige Zeit in Petersburg, ſich
von dem Handel und dem Zuſtande der Wiſſen¬
ſchaften im Norden zu unterrichten.
Jener war ſehr ausgebreitet, und wurde mit
einer der Lage des Landes angemeſſenen Klug¬
heit geleitet. Die Bevoͤlkerung war ſeit zwei
Jahrhunderten in den Gegenden an der finniſchen
Bai, am Ladoga und weißen Meere bedeutend
angewachſen, aber doch nicht in dem Maaße,
daß die großen Waldungen dadurch ſo verdraͤngt
worden waͤren, daß das Holz, kein Gegenſtand
der Ausfuhr bleiben konnte, wie es in vielen,
noch dichter bewohnten Laͤndern, ſchon lange der
Fall war. Man blickte alſo auf dieſe Waldun¬
gen, als einen vorzuͤglichen Handelsvorwurf.
Doch roh ihn zu verkaufen, war man zu weiſe.
Es wurden Schiffe in Menge gebaut, wodurch
ſich denn die dabei thaͤtigen Handwerker in gro¬
ßer Zahl naͤhrten. Andere Voͤlker, der Schiffe
benoͤthigt, und uͤberzeugt, ſie waͤren nur in Pe¬
tersburg am wohlfeilſten zu bekommen, holten
ſie dann fleißig ab, und brachten Erzeugniſſe,
die zufolge des Himmelſtriches hier fehlten. Auſſer
dem noͤthigen Brotgetraide wurde durch den
Landbau ein Ueberfluß an Hanf gewonnen.
Auch dieſen veraͤußerte man nicht im unverar¬
beiteten Zuſtande. Thaue und Straͤnge aller
Art, wie auch Segeltuche, wurden daraus gefer¬
tigt, und wegen ihrer Vollkommenheit uͤberall
beliebt. Hiezu kamen, Pelzwerk, Juchten, Saf¬
fian, Kaviar, welche die Lebhaftigkeit des Ver¬
kehrs mehrten.
Der Handel war jetzt ungemein beguͤnſtigt.
Die große Sicherheit der Schiffahrt, die erhoͤhte
Vollkommenheit der Landtransporte, die ausge¬
dehnteſte Freiheit, die Verbannung aller Privi¬
legien, leiſteten ihm Vorſchub. Die gleiche Guͤte
des Geldes, von der Regierungsweisheit immer
im richtigen Verhaͤltniß zu den Sachen gehalten,
die gleichen Maaße der Dinge verſchafften ihm
erweiterte Bequemlichkeit. Die Ehrliebe der
Kaufleute, welche einen Bankrottirer mit ewiger
Verachtung wuͤrde geſtempelt haben, befeſtigte
den Kredit und es war unerhoͤrt, daß einer dar¬
unter ſein Wort nicht erfuͤllt haͤtte. So knuͤpfte
man Erdtheil an Erdtheil und erfreute ſich der
mannichfachen Gaben der Natur Allenthalben.
Die Wiſſenſchaften bluͤhten in Petersburg an
jedem Zweig, vorzuͤglich aber lag man der Na¬
turkunde ob, und die reich ausgeſtattete Akade¬
mie ließ den Norden fleißig bereiſen, neue
Entdeckungen im Gebiet der Phiſik zu machen,
oder die aͤlteren zu berichtigen. Eine große Zahl
von Foſſilien, erdigt, ſalzig, metalliſch und ge¬
mengt, vor dreihundert Jahren noch ganz unbe¬
kannt, hatten dieſe Verſendete in den Gebirgen
gegen den Pol ausgemittelt, wie man ihnen
auch die erſte Entdeckung der koͤſtlichen, allent¬
halben geſuchten, Polkriſtalle dankte. Denn die
erſte Reiſe zur Erdachſe im Norden, war von
Petersburg geſchehen. Die Naturgeſchichte aller
der Land- und Eisthiere, jenſeits dem achzigſten
Grade Nordbreite gefunden, hatte dieſe Akade¬
mie ſinnreich bearbeitet. Hoͤchſt ſehenswerth konnte
man ihre Sammlung von Petrefakten nennen,
worunter, außer vielen Ichthioliten und Tetrapo¬
dolithen auch ein vortrefflicher ganzer Anthro¬
polith war, mit Mergeltuf durchzogen und in
allen Theilen wohl zu erkennen. Ein verſteiner¬
ter Mammouth befand ſich ebenfalls hier, wie
viele Skelette dieſes verſchwundenen Thieres,
deſſen ganze Organiſazion man aber dennoch
kannte.
Guido wohnte einer Vorleſung uͤber die Ver¬
aͤnderung der Erdachſe, und einer andern uͤber
die Abnahme des Meeres bei, hoͤrte viel Stau¬
nenswuͤrdiges, und lernte ernſter uͤber die großen
Beobachtungen nachſinnen, welche Jahrtauſende
der Vorwelt und Jahrtauſende der Nachwelt
umfaſſen. Man ſprach von einer Zeit, wo die
hohe Tatarei noch unter der Linie gelegen hatte,
und von einer anderen, wo der Polpunkt in Ir¬
kutzk zu finden ſein werde. Man erzaͤhlte von
einem Volke, das vor Zehntauſend Jahren in
Siberien gelebt, und ſich eines ziemlichen Gra¬
des von Kultur erfreut habe. Die Monumente,
unter der Erde gefunden, die alten erhaltenen
und endlich entzifferten Schriften, hatten ein
zweifelfreies Licht daruͤber verbreitet. Man wußte
genau, um welche Zeit Schweden aus der See
hervorgetreten waͤre, und gab wieder jene an,
in welcher der finniſche Meerbuſen trocken liegen,
und ſich zum Anbau eignen wuͤrde.
Dieſe Akademie gab auch bisweilen der Stadt
Petersburg ein ganz eigenthuͤmliches Feſt, und
gemeinhin in den laͤngſten Naͤchten, wenn kein
Mond ſchien. Sie huͤllte ſie dann naͤmlich in
ein kuͤnſtliches Nordlicht, was eine ganz zaube¬
riſche Wirkung hervorbrachte. Denn die Ge¬
ſetze dieſer Meteore, lange ein Geheimniß, wa¬
ren ergruͤndet worden, und man brachte die Ma¬
terie beliebig hervor, was jedoch nur in dieſen
Gegenden, und bei einem gewiſſen Kaͤltegrad
anging.
Es herrſchte hier ein Nachkoͤmmling der Ro¬
manow, denn jenes Haus, da es ſich erobernd
gegen den Orient gewandt hatte, wollte doch
nicht ganz die Vatererde aufgeben, wo einſt
Peters ſchoͤpferiſcher Genius das erſte Licht beſ¬
ſerer Aufklaͤrung anzuͤndete. Auch ſah man Pe¬
ters Standbild, einſt von der genievollen nordi¬
ſchen Semiramis erhoͤht, noch wohlerhalten und
vielgeehrt an der alten Stelle.
Nach Genuͤſſen und Belehrungen mannich¬
facher Art, wandten ſich unſere Reiſenden nach
dem ehmaligen Polen, wo ſie gegen den Fruͤh¬
ling ankamen.
Gelino ſagte: Dies Land war vor einigen
Jahrhunderten durch eine fehlerhafte Regierungs¬
form ſehr arm an Menſchen. Der Landbau, wie
ſehr es durch fruchtbaren Boden darauf ange¬
wieſen iſt, ward unvollkommen getrieben, die
Handwerke und Kuͤnſte lagen ganz danieder. Skla¬
verei der geringen Klaſſen entehrte die Menſch¬
heit. Jetzt hingegen prangen ſeine Gefilde in
uͤppiger Erzeugung, wohlgebaute Staͤdte und
Doͤrfer zeigen reiche Bevoͤlkerung, Kunſtfleiß in
jeder Art iſt regſam. Dies vermag langer Friede
unter weiſer Verwaltung.
Guido ergoͤtzte ſich innig bei dem lachenden
Anblick, der ſich allenthalben darbot. Große
Kunſtſtraßen und Nebenwege waren ohne Aus¬
nahme mit mehreren Reihen nutzbarer Obſt¬
baͤume beflanzt, deren Bluͤthenſchnee mit den
dunkelgruͤnen hochbegraſten Triften und fetten
Kornfluren angenehm wechſelte. Nie hatte
Guido ſo ſtattliche Heerden geſehn als hier wei¬
deten. Er rief: Siziliens Landſchaft iſt man¬
nichfacher, feinere Baumgattungen und Frucht¬
arten ſchmuͤcken ſie, doch ein ſo friſches Gruͤn
labt dort die Blicke nicht.
Gelino antwortete: Die Natur iſt uͤberall
reich,
reich, der Menſch verſtehe nur ihre Winke ge¬
horſam, und ſie lohnt.
Der Zoͤgling wunderte ſich uͤber die vielen
Kanaͤle, mit denen das Land durchzogen war,
und die von Floͤſſen und Fahrzeugen wimmelten.
Wer hat alle dieſe Arbeiten vollbracht, und zu
welchem Ende? fragte er.
Der Lehrer gab ihm die Antwort: Das Land
iſt niedrig und zu Kanaͤlen geeignet, die außer
der erleichterten Fortbringung auch durch Be¬
waͤſſerung nuͤtzen. Sehr einfach hat man ſie
aufgewuͤhlt, und nach den Stroͤmen geleitet.
Ehedem wandten die thoͤrichten Menſchen, die
gewaltige Kraft in Entbindung gewiſſer Gas¬
arten, nur auf das Verderben an. Kluͤglicher hat
man ſpaͤterhin, durch das vervollkommnete Schie߬
pulver, Erdlagen gebeſſert und Kanaͤle erſchaffen.
Dies Land bringt, trotz ſeiner großen Be¬
voͤlkerung, die ja auch nur die Erzeugungen
mehrt, wohl dreimal mehr Getraide, Obſt,
Honig und Schlachtvieh hervor, als es ſelbſt
verbrauchen kann. Dieſer Ueberfluß ladet, wie
einleuchtend iſt, zum Handel ein. Es giebt kein
Land mehr in Europa, das nicht weiſe genug
waͤre, ſeine erſte Subſiſtenz ſelbſt hervorbrin¬
K
gen zu wollen, doch einige, wo es zufolge natuͤr¬
licher Hinderniſſe nicht angeht. Dahin gehoͤrt ein
Theil von Schweden und Norwegen, Lappland,
Nowaja Semlia und Spitzbergen. Die letzt¬
genannten waren Ehedem wenig oder gar nicht
bewohnt, ſpaͤterhin hat man ſie zu Verweiſungs¬
orten fuͤr Europaͤer gemacht, die unklug genug
waren, ſich nicht den Geſetzen unterziehn zu
wollen. Dieſe haben ſich gemehrt, der Handel
andere dahin gefuͤhrt, und ſo ſind auch jene ſo
weit zum Pol hinliegenden Gegenden jetzt be¬
voͤlkert, und man weiß ſich dort gut zu naͤhren.
Dies Land fertigt jedoch aus ſeinem uͤberfluͤſ¬
ſigen Korn, Backwerke aller Art, die ſich Jahre
lang halten, und durch Befeuchtung genießbar
werden. Fleiſch von Rindern und Schaafen wird
durch Salz und Raͤucherung dauerhaft gemacht,
das Obſt getrocknet, oder in geiſtigem Waſſer auf¬
bewahrt. Der Honig dient, mannichfache Kuchen
zu bereiten, welche beliebt ſind. Endlich fertigt
man ſtarke Biere, in Eſſenzen verkuͤrzt, und ge¬
brannte Waſſer an.
Meiſtens gehn dieſe Gegenſtaͤnde nach den
genannten Nordlaͤndern, welche deswegen doch
nicht arm zu achten ſind. Sie bieten wieder
vortreffliche Eiſenwaaren, fertige Pelzkleidun¬
gen, Fett von Wallfiſchen und Robben feil, und
geben ſich daneben fleißig mit dem Hering¬
fange ab.
Die inlaͤndiſchen Kanaͤle, welche du hier
ſiehſt, geben nun all' dieſer Regſamkeit doppeltes
Leben. Denn wenn die Fortbringung auf den
großen Prahmenwagen ſchneller von ſtatten geht,
ſo iſt jene mit geringeren Koſten verbunden,
da auf den ebnen Nebenſteigen, welche am
Waſſer hinlaufen, ein Pferd betraͤchtliche Laſten
zieht. —
In den Staͤdten nahm man die großen Brau-
Back- und Brennanſtalten in Augenſchein, wo
ſich alles durch eine kunſtreiche Behandlung und
Reinlichkeit auszeichnete. Und dennoch, bemerkte
Gelino, melden alte Schriftſteller, ſollen vor
einigen Jahrhunderten dieſe Staͤdte einen ſcheu߬
lichen Anblick gewaͤhrt, Unwiſſenheit und Un¬
ſauberkeit hier ihren Wohnſitz aufgeſchlagen
haben.
Dem Getraide ſeinen geiſtigen Inhalt zu
entziehn, verſtand man vortrefflich, denn chemi¬
ſche Naturkunde leitete die Grundſaͤtze. Lieb¬
K 2
liche und dennoch unſchaͤdliche Einmengungen ver¬
beſſerten den Geſchmack.
Die Anſtalten, Fleiſchwerk durch Rauch dauer¬
haft zu machen, hatten Thurmhoͤhe. Der Rauch
ward durch lang empor gewundene Roͤhren ge¬
leitet, und zog ſich ſo feiner in die Maſſen.
Durch fette Weiden wohl genaͤhrt, lieferten die
Schlachtthiere ſchon ein ungemein nahrungge¬
haltiges Fleiſch, und uͤberaus zart war der
Geſchmack der hier geraͤucherten Gaͤnſebruͤſte,
Schinken u. ſ. w. Leckermaͤuler gaben ihnen den
Rang vor allen uͤbrigen in Europa.
Es laͤßt ſich deuten, wie das Volk in dieſen
Gegenden, ohnehin ſo wohlhabend, auch durch
dieſe Urſachen ſtark an Knochenbau und Muskeln
geweſen ſein muͤſſe. —
Man langte endlich in der weitlaͤuftigen und
freundlich gebauten Vorſtadt Praga vor Warſchau
an. Hier ereignete ſich, ſagte Gelino, um das
Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein ſchau¬
derhafter Auftritt, indem bei einem Sturm faſt
alle Einwohner hingemetzelt wurden. Heil uns!
daß wir Blutſzenen in Europa gar nicht mehr,
und an den Graͤnzen nur ſelten und nothgedrun¬
gen erblicken; daß auch, wenn ja Krieg beſteht,
die Voͤlkeruͤbereinkunft ihn bloß auf die Heere
ausdehnt. Der Soldat wuͤrde ſich entehrt hal¬
ten, wenn ein ruhiger Bewohner des Landes
uͤber ihn klagte. Wenigſtens denkt der Soldat
von Europa ſo.
Eine treffliche Anſicht ſtellte ſich, da ſie an
den majeſtaͤtiſchen, mit Schiffen bedeckten, Strom
kamen, in der mit ihren Vorſtaͤdten und Gaͤr¬
ten unabſehlich ans Ufer hinlaufenden Stadt
Warſchau dar. Der jenſeitige hohe Rand war
terraſſenfoͤrmig mit Pappelalleen geſchmuͤckt, von
der Hoͤhe winkten Prachtgebaͤude, Tempelkup¬
peln mit reicher Vergoldung, Obelisken, Tele¬
graphen- und Glockenthuͤrme. Sternwarten,
Luftpoſtzinnen und andere hohe Gebaͤude, wie
ſie jetzt in Staͤdten uͤblich waren, hoben ſich
aus dem Steinmeere in bezaubernden Verhaͤlt¬
niſſen empor. Man hielt uͤberhaupt in dieſem
Jahrhundert viel auf die Phiſiognomie der
Staͤdte, die ſchon in weiter Ferne dem Wande¬
rer verkuͤndeten, was er im Innern zu finden
hoffen duͤrfe.
Sie fuhren uͤber die praͤchtige Marmorbruͤcke,
zu beiden Seiten mit atheniſchen Bildſaͤulen ge¬
ziert. Guido wunderte ſich, da er den Strom
hinaufblickte und in der Weite viel Feuer und
Rauch aufſteigen ſah. Der Lehrfreund erklaͤrte
ihm die Erſcheinung.
Vor Zeiten, fing er an, war der Eisgang
auf dieſem Strome ſehr ungeſtuͤm, und es ließ
ſich keine dauerhafte Bruͤcke bauen, da man be¬
fuͤrchten mußte, ſie im Fruͤhjahre zerſtoͤrt zu ſehn.
Jetzt iſt man klug genug, das nuͤtzliche Feuer¬
pulver auch hier anzuwenden. Wie eine Gefahr
dieſer Art droht, belegt man die Winterdecke
des Stromes mit einer Menge von Raketen, aus
Pulver und jener heftigen Feuermaterie gemengt,
die auch im Kriege gebraucht wird, und auf
Eis und Waſſerfluthen fortbrennt. Dieſe Rake¬
ten bedecken die ganze Flaͤche mit Funken, und
ſchmelzen durch ihre Menge in kurzem alles Eis.
Da, obgleich der Fruͤhling ſchon um ein Gutes
vorruͤckte, noch hie und da Schollen ankommen,
ſo wirſt du dort jene Thaͤtigkeit inne.
Er ſetzte hinzu: Auch Ueberſchwemmungen,
durch Anhaͤufen der Gebirgwaͤſſer erzeugt, ſuch¬
ten Ehedem manche Laͤnder heim. Nun aber
fließen ſie durch Kanaͤle ab, oder durch die hohen
Bewallungen an den Stroͤmen, immer noch be¬
nutzt, da man gute Fruchtbaͤume darauf zieht. So
traͤgt im Kampfe gegen die feindliche Natur, der
Menſch immer den Sieg davon, wenn er mit
Vernunft den Willen umfaßt.
Auf den Gaſſen der Stadt bemerkte Guido,
daß es hier ungemein viel ſchoͤne Weiber gaͤbe.
War gleich, wie oben im Eingang berichtet
worden, das Geſchlecht uͤberhaupt zu einer ent¬
wickelteren Anmuth erzogen, und die europaͤiſche
Menſchheit durch Gleichheit der Verfaſſung in
einander gefloſſen, ſo mußten dennoch einige
Unterſchiede in der aͤußeren Bildung uͤbrig blei¬
ben, deren Urſachen man in Abſtammung und
Gegendeigenheiten zu ſuchen hatte. Der Lehrer
erklaͤrte: Schon im Alterthum wurden die Sar¬
matiſchen Schoͤnen geprieſen.
Guido fand bald darauf Gelegenheit, dieſe
lieblichen Bluͤthen im vereinten Strauß zu beob¬
achten.
Zu Moskau, dem Hauptorte der Kriegpro¬
vinz, hatte er einen vorzuͤglichen Moſestempel
bewundert, in welchem das Standbild des Ge¬
feierten in einer Groͤße, wie Ehedem der rho¬
diſche Koloß, prangte, und wo ein Heer von
Hunderttauſend Mann auf einmal ſeine An¬
dacht verrichten konnte. In Warſchau dagegen
ſtand ein Heiligthum der Maria, durch ſeine
geſchmackvolle Pracht weit beruͤhmt. Die Jung¬
frauen im Lande hatten es aus ihren Mitteln
erbaut, und ſich dafuͤr das Recht vorbehalten,
hier allein zu beten, und Feiergeſang anzu¬
ſtimmen.
Sie nahmen dann Platz auf dem Marmor¬
boden, doch die Erhoͤhungen welche der Rotunde
Innenwaͤnde umliefen, konnten Maͤnner beſtei¬
gen und Niemand mag zweifeln, daß ſie nicht
angefuͤllt geweſen waͤren.
Gelino haͤtte es vielleicht nicht unumgaͤnglich
noͤthig gefunden, ſeinen Zoͤgling dahin zu fuͤh¬
ren; doch dieſer hatte davon viel gehoͤrt, und
bewies ſehr redſelig, man muͤſſe die Reiſekunde
auf jede Art bereichern.
Es war das Fruͤhlingsfeſt der Maria, der
Kultus hatte einige Aehnlichkeit mit den Flora¬
lien der Alten. Im weißen Gewand, blendend
wie Schnee, fein wie die Schleier der Arachne,
die Sandale mit bunten Baͤndern an den bloßen
Fuß geknuͤpft, die Locken mit jungen Blumen
durchflochten, zogen die Jungfrauen in den
Tempel.
Guido befand ſich im Gedraͤnge auf der Er¬
hoͤhung. Suͤß ſtroͤmte der Duft hinauf, die
Treibhaͤuſer waren von ihren Orangenbluͤthen
und Roſen gepluͤndert, nimmer hatten Guido,
ſelbſt auf dem heimathlichen Eilande, ſo holde
Geruͤche gelabt.
Alle ohne Ausnahme waren ſchoͤn, lieblich,
anmuthig, denn die, welchen die Natur dieſe
Mitgift verſagt hatte, pflegten an einem ſolchen
Tage unpaͤßlich zu ſein, um nicht ſo vielem
Lichte die Schatten zu geben.
Hundert von den Jungfrauen unterhielt der
Tempel fuͤr den muſikaliſchen Kultus. Geſtalt
und wohltoͤnende Stimme, waren die Bedin¬
gungen, unter welchen man ſie annahm. Gute
Lehrer unterwieſen die Huldinnen, erſt nach be¬
deutender Fertigkeit durften ſie oͤffentlich auf¬
treten. Kein Inſtrument begleitete ihre Lieder,
und wie dieſe Zeit auch die Harmonika, die
Floͤte, die Harfe vervollkommnet hatte, den Zu¬
ſammenklang Hundert reiner wohlgeuͤbter Maͤd¬
chenorgane, wuͤrden ſie immer nur geſtoͤrt, nicht
erhoben haben.
Sie ſangen einen Himnus, der in die Sprache
fruͤherer Zeiten uͤbertragen, ſo weit es moͤglich iſt,
den hoͤheren Ausdruck des Idioms im ein und
zwanzigſten Jahrhunderte wiederzugeben, unge¬
faͤhr gelautet haben wuͤrde:
Himmliſch biſt du o Jungfrau!
Du liebteſt himmliſche Liebe,
Und dein Himmel ſteigt nieder,
In der Liebenden Buſen.
Hohe, Reine, Verklaͤrte,
Weihe, heilige mich!
In des Geliebten Schoͤnheit
Deutet ſich ewige Schoͤne,
Dem Goͤttlichen werd ich verwandt
Gluͤh ich von goͤttlicher Liebe.
Hohe, Reine, Verklaͤrte,
Weihe, heilige mich!
Deine Reinheit mich fuͤlle,
Mache unſtraͤflich den Buſen,
Gieb in Liebe mir Tugend,
Daß den Unſterblichen nahend
Ewig Leben ich athme,
In Gefilde des Lohnes
Seligkeit bringe das Herz.
Hohe, Reine, Verklaͤrte,
Weihe, heilige mich!
Weg aus den Raͤumen der Tiefe,
Schwinge dich, heiliger Fittig,
Trage mich auf zu den Gipfeln
Wo mich weihend umfangen,
Lebens Reine und Hoͤhe.
Liebe iſt Himmel im Staube,
Liebe wohnt uͤber den Sternen,
Liebe adelt die Jungfrau,
O du, der Jungfraun Vorbild,
Hohe, Reine, Verklaͤrte,
Weihe, heilige mich!
Als die Feier geendet hatte, ſchrieb Guido
an Ini: Heute Maͤdchen, that dein Bild hohe
Wunder. Ich ſah den lieblichſten Blumenkranz
in Europa, vergaß aber dennoch die Roſe nicht,
fuͤr die ich gluͤhe.
Der Triumph, den eine Geliebte uͤber frem¬
de Schoͤnheiten davon traͤgt, wird auch von dem
Liebenden hoch empfunden, ſeine Flamme lodert
heller, ein edles Selbſtgefuͤhl ſtroͤmt in die
Seele, im Bewußtſein reiner Treue, und praͤgt
ſich im Auge, auf der Wange, mit einem un¬
vergaͤnglichen Zauber aus. So nahm denn Guido
abermal einen neuen Zug der Schoͤhnheit von
hinnen.
Sie beſahen noch den großen Markt, der
hier um dieſe Zeit gehalten wurde. Auf dem
Gefilde von Wola, beruͤhmt im Alterthum durch
die Koͤnigswahlen, hatte man ihn. den Sammel¬
punkt angewieſen, da in der Stadt kein Raum
dazu vorhanden war.
Einen weiten leeren Platz umlief ein uͤber¬
dachter Saͤulengang, hinter welchem ſich unge¬
heure Speicher, die Waaren einzunehmen, be¬
fanden. Auf vielen Kunſtſtraßen hatte ſie der
Voͤlker Thaͤtigkeit hergefuͤhrt. Eine davon lief
nach Konſtantinopel, von dort nach Sirien und
dem rothen Meere. Hier kamen die Araber, auf
lange Reihen von Kamelen, Spezereien und
Gold geladen. Auch die Athener, welche auf
Prahmwagen, Statuen in Marmor und Elfen¬
bein, wie auch treffliche Gemaͤlde brachten.
Die andere ging um die Kaspiſche See nach
Iſpahan und den indiſchen Eilanden. Daher nah¬
ten die Neu-Perſer, mit Elephantenlaſten koͤſt¬
licher Gewuͤrze, feiner Zeuge und Edelſteine.
Eine dritte Straße war dem Chineſen, durch
die Mongolei, Songarei, und das Kirgiſenland
gebahnt. Er brachte Farben, Porzellan und an¬
dere Gegenſtaͤnde ſeines Kunſtfleißes, denn der
Krieg hinderte ſeine Karavanen nicht. Von Pe¬
tersburg erſt uͤbers Meer, und dann auf dem
Weichſelſtrom herbeigeſchafft, langten vortreff¬
liche Schiffe zum innlaͤndiſchen Gebrauch an, die
auf einem Baſſin, zum Marktfelde geleitet, feil
ſtanden. Auf aͤhnlichen Wegen waren vom aͤu¬
ßerſten Norden, Arbeiten in Eiſen und Pelzklei¬
dungen gekommen. Eben daher vortreffliche Ge¬
ſchirre, Fenſterſcheiben und Bauwerkſtuͤcke aus
dem ſo ſpaͤt erſt entdeckten Polkriſtall. Auf
den vielen Kunſtpfaden durch Teutonien langten
noch unendlich mehrere Handelswaaren an. Von
den engliſchen Eilanden, wiſſenſchaftliche und
techniſche Inſtrumente aller Art. Man ſahe
ganz fertige Sternwarten, mit kuͤnſtlichen Trieb¬
werken des Planetenſiſtems, deren Genauigkeit
und Feinheit in Erſtaunen ſetzte, indem ſie außer
den vielen neugewahrten Planeten und ihren
Begleitern, auch alle Kometen dieſes Siſtems
darſtellten, denn den jetzigen vollkommenen Te¬
leskopen, entging keiner mehr davon, wie weit
auch ſeine Bahn ihn von der Sonne wegfuͤhren
mochte. Fing man doch ſchon an, das Leben
im Monde zu beobachten, und ſeine Naturge¬
ſchichte zu entwerfen. — Ferner Thurmuhren,
mit reitzenden Glockenſpielen, an deren Ziffer¬
blatt, ſich außer den Stunden- und Minuten¬
weiſern, ein vollſtaͤndig entworfener Kalender
befand, daneben Thermometer, Barometer und
Eudiometer, welche Kaͤlte oder Waͤrme, Schwere
oder Leichtigkeit der Luft, ſo unterrichtend be¬
zeichneten, daß dadurch die Witterungsveraͤnde¬
rung auf mehrere Tage vorher kund ward, und
Jedermann bei ſeinen Beſchaͤftigungen ſich dar¬
nach fuͤgen konnte. — Ferner, Muͤhlen zum
Stampfen, Zermalmen und Saͤgen zugleich, und
mit einem artigen Mobile perpetuum regirt. —
Ferner, zum Behuf des Landbaues, Pfluͤge mit ei¬
ner geringen Kraft bewegt, die den Boden zehn
bis zwoͤlf Schuh tief aufwuͤhlten, die geruhete
Erde oben, die entkraͤftete unten brachten, ſie
zugleich puderartig zerrieben, und von groͤbern
Beſtandtheilen durch Siebe reinigten. Eben ſo
Pflanzmaſchinen, welche die Getraidekoͤrner in
beliebiger Weite und Tiefe gleichabſtehend ein¬
ſenkten, und ſo Aufwuchs und Gedeihen unge¬
mein erhoͤhten. Eben ſo Waͤſſerungbehaͤlter, ge¬
eignet, aus fernen Seen, Stroͤmen oder Kanaͤlen
mit wenigem Kraftaufwande, Fluͤſſigkeit herbei¬
zuſchaffen, und durch hidrauliſche Vorrichtungen,
in weit ausgebreiteten Fontaͤnen niederſtroͤmen
zu laſſen. — Der Franke lieferte chemiſche
Apparate zu vielen Zwecken dienlich. Auch der
Landmann konnte ſie huͤlfreich gebrauchen, damit
bei großer Duͤrre, aus Waſſerſtoff ein Woͤlk¬
chen zuſammenſetzen, und auf ſeine Scholle nie¬
derfallen laſſen. Zudem Kuͤchen, wo in ſehr
ſinnreich geſtalteten Toͤpfen oder Pfannen, die
Speiſen uͤberaus ſchmackhaft geriethen, und man
auch Schnee und Eis ſogleich bereiten konnte.
Imgleichen Kleidungsmaſchinen, die man belie¬
big mit Seide oder Wolle verſah, und ſich dann
hineinſtellte. In wenigen Minuten webte nun
das Kunſtwerk ein Kleid, den Formen des dar¬
gebotenen Koͤrpers niedlich angeſchmiegt, ohne
Rath, wie ſich von ſelbſt verſteht, faͤrbte es zu¬
gleich in der eben guͤltigen Modetinte, und par¬
fuͤmirte es mit koͤſtlichen Oelen. Die chirurgi¬
ſchen Inſtrumente der Franken waren nicht we¬
niger ſehenswerth. Unter andern erblickte man
da kuͤnſtliche Ohren und Augen mancher Art.
Bei nur geſchwaͤchter Hoͤr- oder Sehkraft wurde
jene durch Roͤhre, dieſe durch Glaͤſer bis zum
Normalzuſtand verſtaͤrkt; außerdem hatte man
aber, ein hoher Triumph menſchlicher Kunſt,
nachgeahmte Trommeln, Euſtachiſche Roͤhren, Au¬
genaͤpfel mit ihren ſechs Haͤuten und drei ver¬
ſchiedenen Feuchtigkeiten, welche mit den Ner¬
ven, durch taͤglich wiederholten Galvanismus in
Verbindung gebracht, Tauben und Blinden,
Schall- und Lichtſtrahlen wunderbar wieder ein¬
fuͤhrten. Ihre Weinlaͤger wurden nur von den
ſpaniſchen und portugieſiſchen uͤbertroffen, wo in
langen Reihen, Tonnen lagen, jede groͤßer als
Ehedem das Faß zu Heidelberg. — Die Ita¬
liaͤner hatten unter andern große Orgeln, fuͤr
die Tempel, feil, in welchen die vielſtimmige
Vox humana, die gewohnten Religionsgeſaͤnge
deutlich vortrug, willkommen fuͤr Ortſchaften die
nicht reich genug waren, Choͤre zu unterhalten.
Zudem auch Orcheſter, wo eine Klaviatur, Hun¬
dert Saiten- und Funfzig Blaſeinſtrumente in
Bewegung ſetzte, welche auch durch Walzen die
beliebteſten Tonſtuͤcke und durch akkuſtiſch nach¬
geahmte Soprane, Alte, Baritone u. ſ. w.
ſchoͤne Lieder ausfuͤhrten. Der Beſitzer konnte
alſo ſeinen Gaſt, wenn er wollte, mit einem
vollſtaͤndigeren Konzert bewirthen, als es vor
Jahrhunderten Koͤnige mit großem Aufwand ver¬
mocht hatten. — Der emſige Deutſche wett¬
eiferte
eiferte mit allen Europaͤern in Allem, und ſandte
daneben die meiſten Buͤcher zum Markt. Buͤ¬
cher, die Materien abhandelten, von denen die
Vorzeit noch keine Ahnung hatte.
Aber auch aus Amerika, Afrika und Poline¬
ſien waren Kaufleute anweſend. Sie fuͤhrten
edle Steine, edle Metalle, ganze Naturalien¬
kabinette aus ihren Landſtrichen, artige Sinzialos,
Jakos, indianiſche Raben, die fertig redeten,
Menagerien von Loͤwen, Tigern, Leoparden,
Giraffen, Armadille, welche man aber nicht er¬
ſtand, wenn ſie nicht auch zugleich in ergoͤtzenden
Kuͤnſten abgerichtet waren. Es gab auch in gro¬
ßen, durchſichtigen, mit Waſſer gefuͤllten Behaͤl¬
tern, Fiſche aller Gattung aus der Fremde. Horn¬
fiſche, Chimaͤren, alle Haiarten, Panzerfiſche,
Seedrachen, Zitteraale, Katoͤdons, und die vie¬
len Geſchlechter, welche erſt entdeckt worden, nach¬
dem die Taucherkunſt ihre jetzige Vollkommen¬
heit erreichte.
So hatte die vermehrte Kultur, die geſetz¬
liche Sicherheit, und die Leichtigkeit der Rei¬
ſen, Menſchen von allen Staͤmmen hieher ge¬
fuͤhrt. Wollige Neger, ſchon lange nicht mehr
zur Sklaverei verdammt, tanzten luſtig am
L
Abend und ſangen Nationallieder. Braungelbe
Sineſen und Japaner zaͤhlten ſorgſam ihre ge¬
wonnenen Summen. Olivenfarbene Araber, Indier,
Malaien, kauten ruhig ihren Betel oder ſchmauch¬
ten ihre Pfeife zur Erholung. Kleine mißge¬
ſtaltete, aber doch ſehr lebendige, Oſtiaken, Sa¬
mojeden, Eskimos liefen neugierig gaffend um¬
her. Roͤthliche Amerikaner, noch den Feder¬
buſch der Altvorderen tragend, zeigten ihre
Kraft im Ringen und Laufen. Neuſeelaͤnder,
Otaheiter, Sandwichinſulaner, Bewohner der
erſt ſpaͤt entdeckten Suͤdpolarlaͤnder, die ſchwaͤr¬
zere oder hellere Haut ſeltſam punktirt, ſaßen in
ihren mitgebrachten Binſenhaͤuschen auf kuͤnſt¬
lichen Matten, die ihnen abgekauft wurden, um
ſie in Gaͤrten aufzuſtellen.
Das Getuͤmmel auf dieſem Markt war unbe¬
ſchreiblich, die Wechſelgeſchaͤfte verbanden durch
Federſtriche, Neu-York und Ulimaroa, den Hoff¬
nungskap und Miako, Liſſabon und Peking.
Noch iſt hier des Komptoirs zu gedenken, welches
die Land- und Seetruppen hielten. Da ſie ſich
durch eigene Thaͤtigkeit unterhalten mußten, be¬
ſchickten ſie auch die Maͤrkte mit uͤberfluͤſſigen
Erzeugungen. Unter andern boten ſie Feuer¬
roͤhre, großer und kleiner Art, feil, welche von
Voͤlkern, die noch keine Waffenmanufakturen hat¬
ten, eingetauſcht oder gekauft wurden. Man
ging aber auch, vorausgeſetzt, daß man reich ge¬
nug war zu ſolchen Ausgaben, in ihre vorhan¬
denen Metallgießereien oder Schmieden, um ſich,
die Geliebte, den Freund, in Erz oder Stahl
bilden zu laſſen. Augenblicklich druͤckten ge¬
ſchickte Meiſter die Geſtalt in Wachs ab, um ſie
gleich darauf in Thon nachzuahmen. Das Me¬
tall floß ſchon in den Gluͤhoͤfen, eilig vollende¬
ten flinke Geſellen die hohle Form, und der
Guß erfolgte. Durch kuͤnſtliche Mittel ward
nun das Metall erkaltet, die Form zerſchlagen,
das Jahrtauſende hoͤhnende Standbild heraus
gewunden und glatt polirt. Noch geſchwinder
gingen die Stahlſchmiede, mittelſt ihrer mecha¬
niſchen Vorrichtungen, Feinheit und Gewalt auf
eine zuvor nie erdachte Weiſe verbindend, zu
Werke. Ein Fuͤrſt aus Amerika, eben mit ſeiner
jungen Gemahlin zugegen, ließ ſich mit derſel¬
ben in Silber darſtellen. Guido haͤtte weinen
moͤgen, nicht Ini hier zu ſehn, und kein Kai¬
ſerſohn zu ſein, um ihre Statue in Gold zu
begehren.
L2
Nach viel erworbnem Unterricht, durch Ge¬
linos Lehren und eigne Anſchauung, wurde des
Juͤnglings Reiſe fortgeſetzt. Er wandte ſich nach
Teutonien, wo das platte Land ihn noch weit
mehr in Erſtaunen ſetzte. Er ſah hier keine
Doͤrfer mehr, ſondern nur die in einander flie¬
ßenden Vorſtaͤdte weitlaͤuftiger Orte. Gelino er¬
klaͤrte ihm die Erſcheinung einer ſo großen Le¬
bensfuͤlle in folgender Art:
Das Klima in dieſem Lande iſt weit milder
geworden, ſeitdem unnuͤtze Kriege, verderbliche
Immoralitaͤt und Krankheiten, gegen welche die
unvollkommene Heilkunde wenig vermochte, nicht
mehr die Zunahme ſeiner Bevoͤlkerung hemmen.
Mit ihrem Anwuchs veredelte ſich der Boden
wovon eine mildere Luft immer die Folge iſt.
Der Mais- und Reisbau ſahen hier ſchon lange
erwuͤnſchten Fortgang, und zwei Ernten ſind
gewoͤhnlich. Wenige Morgen naͤhren eine Fami¬
lie bequem, und werfen noch einen Ueberfluß ab,
von deſſen Verkauf, ſie nicht erzeugte Nothwen¬
digkeiten anſchaffen kann. Das in dem, vor¬
trefflich zubereiteten, Boden durch Maſchinen ge¬
pflanzte Wintergetraide‚ gelangt um die Mitte
des Junius ſchon zur Reife, und lohnt meiſtens
funfzigfaͤltig. Man maͤht es durch kunſtreiche
Sichelwagen, die zugleich abſchneiden, aufladen
und hinterwaͤrts den Boden wieder pfluͤgen,
wodurch die Arbeit gar ſehr vereinfacht wird.
Nun iſt Zeit genug uͤbrig, das Feld wieder mit
Sommerkorn, Gartengewaͤchſen, Fuͤtterungkraͤu¬
tern zu beſtellen, wovon der Fleiß noch reichen
Gewinn im Spaͤtjahre zieht. Dies wuͤrde aber
nicht immer gluͤcklich von Statten gehn, haͤtte
man nicht das Mittel erfunden, die angebauten
Fluren, gegen Kaͤlte im Lenz und Nachſommer
zu ſichern. Wenn die Witterungmeſſer einen
Froſt ankuͤndigen, eilt der Landwirth ſein Feld
mit großen Strohmatten zu uͤberdecken. Bei
den kleinen Landporzionen iſt es leicht dies Mit¬
tel anzuwenden. In Wintertagen fertigt das
Geſinde aus dem reichlichen Stroh die Matten,
uͤber Baͤume ſpannt man ſie zeltartig, Fluren
werden ebenhin damit bedeckt.
Bemerke, wie ſorgſam jeder Eigner, von jedem
Schuhgevierte, Ertrag zu ziehen ſucht. Ein
Zaun von nutzbarem Strauchwerk, umlaͤuft ver¬
wachſen die Scholle. Kleine Beeren und kleine
Nuͤſſe mancher Gattung bluͤhen darauf. Das
Feld iſt mit edlen Obſtbaͤumen beflanzt, an die
uͤppige Weinreben ſich hinaufwinden. Ihr Schat¬
ten faͤhrdet die Saaten nicht, bei einem ſo kraͤf¬
tig gemachten Boden, und beim Pflanzen traͤgt
man kluge Sorge die Wurzeln nicht zu verletzen,
was bei den guten Maſchinen zu dieſem Gebrau¬
che leicht wird.
Futterkraͤuter, gewiſſe wohlnaͤhrende Ruͤben¬
arten, getrocknet Baumlaub, ſind dem Viehe
beſtimmt, und leicht zieht eine Familie davon
ſo viel auf, um mit Milch, Butter und Fleiſch
verſorgt zu ſein. In jedem Hauſe befindet ſich
eine Kelter, eine Anſtalt zum Brauen, eine An¬
ſtalt zum Fertigen gebrannter Waſſer, im Kleinen.
Die Arbeit daran iſt ſo vereinfacht, daß auch ein
Kind ihr vorſteht.
So iſt alſo fuͤr den Unterhalt dieſer Men¬
ſchen reichlich geſorgt, und die eitle Furcht ob
einer zu großen Bevoͤlkerung, in rohen Zeital¬
tern oft angekuͤndigt, wuͤrde nur Lachen erregen.
Jedes neue Glied, das in die Geſellſchaft tritt,
kann auch einen neuen Spielraum nuͤtzlicher
Thaͤtigkeit finden und ſeinen Bedarf gewinnen.
Nach den vielen Erfahrungen welche man ſam¬
melte, nach den vielen lehrreichen Entdeckun¬
gen, welche gute Koͤpfe im Erproben des Aus¬
fuͤhrbaren machten, iſt jedermann lebendig uͤber¬
zeugt, die Fruchtbarkeit des Bodens ſei noch um
ein Anſehnliches weiter zu treiben, ja die Graͤn¬
ze, welche einſt der klugen Pflege ein Ziel
ſetzen koͤnne, durchaus nicht abzuſehn. Und traͤte
ja nach Jahrhunderten, der unerwartete Fall
ein, mehr Menſchen erzeugt zu ſehn, als der
Landesertrag naͤhren koͤnne, ſo weiß man gar
wohl, das es noch ſchlecht bebaute Laͤnder genug
in anderen Erdtheilen giebt, wohin ſich Kolo¬
nien ſenden laſſen. Afrika enthaͤlt in ſeiner
Mitte große Wuͤſten, die, einſt urbar gemacht,
unermeßliche Ausbeute liefern werden. Am
Susquehannach, am Orinoko, am Amazonen-
fluß ſind weitlaͤuftige Strecken bereit, neue Mil¬
lionen aufzunehmen. So ruͤſtig auch der Alt¬
britte daran ging, Ulimaroa, welches den Umfang
von halb Europa hat, und die weitlaͤuftigen
Inſeln, Neu-Guinea und Neu-Seeland, an Be¬
wohnern reich zu machen, ſo hat doch, im Ver¬
lauf weniger Jahrhunderte, immer noch nichts
Erhebliches geſchehen koͤnnen, und Auswanderer
wuͤrden dort hoͤchſt willkommen ſein. Ja, wie
die Lehrer der Wiſſenſchaften behaupten, in de¬
nen die Umgeſtaltung des Erdballs abgehandelt
wird, und wo man die jaͤhrliche Meerabnahme
nach unbezweifelten Erfahrungen berechnen lernte,
wird nach einigen Jahrhunderten, ohne das im
achtzehnten einſt gefundene Polineſien, ein un¬
geheurer neuer Erdtheil, aus dem ſtillen Ozean,
weſtlich von Amerika, treten. Die unter dem
Meere hinſtreifenden Parallel- und Meridian-
Gebirge verbreiteten hieruͤber ſchon in alten Zei¬
ten Licht, jetzt hat man ihren Zuſammenhang
deutlicher erkannt, und vermag uͤberhaupt aus
der Vergangenheit genauer auf die Folge zu ſchlie¬
ßen, weil ſinnige Forſcher, ihre Beobachtungen
der Nachwelt, ein ſchaͤtzbares Erbe, vermachten.
So iſt jetzt unter andern die Inſel Owaihi, weit
groͤßer an Umfang, als zu der Zeit, wo ein
kuͤhner Seefahrer, Cook genannt, ſie entdeckte.
Die ziemlich großen und hohen Eilande, weſt¬
lich von Peru, hießen vor Jahrhunderten die
niedrigen Inſeln, ein Beweis, wie damals die
See hoͤher an ſie hinaufſpuͤlte. Das Senkblei
faͤllt in ihrem Bezirk immer ſeichter, die Meer¬
mooſe nehmen zu, die Taucher koͤnnen dort in
der Tiefe mit Leichtigkeit beobachten, und aus
allen dieſen Umſtaͤnden laͤßt ſich die Richtigkeit
jener Verkuͤndung ahnen. Alle die Inſelketten
in jenem Meere werden dann die Gebirgruͤcken
des neuen Erdtheils ſein.
Guido ſagte hier zu ſeinem Lehrer: Du
draͤngſt mein Nachſinnen in einen noch tieferen
Hintergrund. Es macht zwar froh, ſo viel neue
Moͤglichkeit des Lebens zu traͤumen, auch ſehe
ich nur Vortheil fuͤr das Geſchlecht darin, wenn
junge Laͤnder zum Anbau einladen, wenn die
Kaspiſche See, das ſchwarze Meer, das mittel¬
laͤndiſche Meer, trocken geworden, mit Staͤdten
und Doͤrfern uͤberſaͤet werden koͤnnen. Wo ſoll
das aber endlich hinaus? Wenn nun das Waſ¬
ſer, nach manchen Jahrtauſenden, ganz vom Erd¬
ball verſchwaͤnde, muͤßte nicht die Menſchheit, an
ſeinen Verbrauch unablaͤßig gebunden, jammer¬
voll untergehn?
Gelino laͤchelte und gab ſeinem Zoͤgling die
Antwort: Dies koͤnnte wohl ſein, und wenn
die hoͤchſte Entwickelung, der Menſchheit Zweck
iſt, was waͤre denn noch an ihrer Fortdauer ge¬
legen, wenn ſie das Ziel umfaßt haͤtte, und es
etwa mit jenem Zeitpunkt zuſammentraͤfe? Gleich¬
wohl duͤrfte ſein Untergang auch nicht einmal
an das Verſchwinden des Waſſers gebunden ſein.
Denn, kann der Erdenſohn nicht uͤbernehmen,
was die Natur nicht mehr noͤthig erachtet, fuͤr
ihn zu leiſten, da ſie ihn genug mit Kraͤften
ausſtattete, und der Gebrauch dieſer Kraͤfte hin¬
laͤnglich erweitert iſt? Koͤnnen wir nicht lange
ſchon Waſſer chemiſch bereiten? Wird dieſe Kunſt
ſich nicht vervollkommnen? Freilich, neue Meere,
um ſie luſtig zu beſchiffen, duͤrfte man nicht
hervorbringen lernen; doch Fluͤſſigkeiten fuͤr den
Hausbedarf, Regengewoͤlke zum Traͤnken der
Gefilde, wovon ja ſchon manche Verſuche jetzt
gelangen, ſcheinen keineswegs außer dem Be¬
reiche der Sterblichen zu liegen. Doch du wirſt
daruͤber in Berlin manche Hipotheſe hoͤren.
Blicke einſtweilen ſorgſam auf die Einrich¬
tungen, die unſer Weg dir zur Anſicht darbie¬
tet. Du ſiehſt alle Staͤdte in Teutonien voller
Kunſtfleiß, voller trefflichen Schulen; prachtvolle
Tempel und Buͤhnen zteren die meiſten. Bei ſo
vielem Reichthum, als der kluge Landbau einer
großen Volkmenge, hier dem Boden entlockt,
iſt der Staͤdte Flor eine ganz natuͤrliche Folge.
Der Ackermann naͤhrt den Handwerker, in¬
dem er ihm ſeinen Ueberfluß verkauft, und von
ihm wieder die Lebensbeduͤrfniſſe holt, welche er
nicht allein hervorbringen kann. Letzterer bezieht
wieder die Maͤrkte anderer Gegenden, mit der
Arbeit, welche ihm daheim nicht abgenommen
wurde, und ſchafft dafuͤr ihre Erzeugungen her¬
bei. Das Geld, uͤberall werthhaltig und durch
weiſe Aufmerkſamkeit der Regierungen, im rich¬
tigen Verhaͤltniſſe zum Preis der Sachen, em¬
pfaͤngt einen ſchnellen Umlauf, und regt auf
demſelben die Betriebſamkeit unaufhoͤrlich an.
Wie bluͤhend wir aber dieſe Gegenden finden,
ſo haͤtten wir nur alte Buͤcher zu fragen, um
uͤber die Barbarei, welche noch vor drei oder
vierhundert Jahren ſie druͤckte, belehrt zu ſein.
Damals fand man kaum jede halbe Meile ein
elendes Dorf, in deſſen unreinlichen Strohhuͤtten
ſklavenſinnige Halbmenſchen wohnten.
In den Staͤdten lag der Gewerbfleiß kran¬
kend danieder. Europens Staaten hatten ſich
nicht weiſe verbunden, um durch Handel gegen¬
ſeitig ihre Thaͤtigkeit zu beleben und die Ge¬
nuͤſſe auszutauſchen; man ſann nur auf Ueber¬
vortheilung, die am Ende Allen verderblich war.
Unnatuͤrlich große Heere wurden auf den Beinen
gehalten, wodurch dem Gemeinweſen ſo viel
jugendlich ruͤſtige Kraͤfte entgingen. Dieſe Heere
naͤhrten ſich nicht ſelbſt durch Nebenarbeit, ſon¬
dern mußten Sold empfangen, wodurch die Re¬
gierungen ſich genoͤthigt ſahen, die Voͤlker mit
Abgaben zu erdruͤcken. Unter ſolchen Umſtaͤnden
mußten die meiſten Laͤnder zur Haͤlfte Wuͤſten
bleiben; Tauſend harter Ungerechtigkeiten und
Thorheiten, die natuͤrliche Folge verkehrter Ein¬
richtungen, nicht zu gedenken.
Und die Menſchen hatten doch damals, ſo
gut wie in unſeren Zeiten, die goͤttliche Kraft
der Vernunft, auch Philoſophen in Menge, welche,
die Natur dieſer Vernunft zu erkennen, ſie gleich¬
ſam anatomiſch zu zerlegen und ſcheidekuͤnſtleriſch
in ihre Beſtandtheile aufzuloͤſen ſtrebten. Es
galt demungeachtet von ihnen, was einer ihrer
alten Dichter ſang:
Unſelig Mittelding vom Engel und vom Vieh,
Du prahlſt mit der Vernunft, und du gebrauchſt
ſie nie.
Unter dieſen Geſpraͤchen kamen die Reiſenden
durch einen kleinen Ort, wo ſie ein dichtes Volk¬
gedraͤnge und lauten Jubel wahrnahmen. Sich
von dem Anlaß dieſer Erſcheinung zu unterrich¬
ten, nahten ſie, und ſahen einen Aufzug zum
Mariatempel wimmeln. Wohlgeſchmuͤckte Prie¬
ſterinnen gingen, einen lauten Chorgeſang an¬
ſtimmend, voran; dann folgte ein etwas ge¬
beugter, doch gleichwohl noch munterer Greis
an ſeinem Stabe, am Arm ein Altmuͤtterchen,
das zwar kaum noch den Fuß von der Stelle zu
heben vermochte, dem bei dem Allen aber, aus
einem mit Runzeln uͤberpfluͤgten Geſicht und dem
ermatteten Auge heitre Freude ſchimmerte. Um
die ſchneeweißen duͤnnen Locken des Paares wa¬
ren Blumenkraͤnze geflochten, eine lange Reihe
folgte ihnen, bunt aus Perſonen von dem ver¬
ſchiedenſten Alter zuſammengeſtellt, Greiſe und
Greiſinnen, Maͤnner und Frauen in den Mittel¬
jahren, viel bluͤhende Jugend und ein zahlreicher
froͤhlicher Kinderſchwarm.
Die befragten Zuſchauer unterrichteten Ge¬
lino: wie das Paar die Hundertjaͤhrige Feier
ſeiner Ehe beginge. Im fuͤnf und zwanzigſten
Jahre, erzaͤhlten ſie, heirathete einſt der Greis,
ſeine Gattin zaͤhlte damals zwanzig. Arbeit,
Maͤßigung, zufriedener Sinn, ließen ſie ein ſo
hohes Alter erreichen. Die ihnen zum Tempel
folgen, ſind ihre Kinder, Enkel und Urenkel,
ein markig Geſchlecht, den Stammaͤltern mit
inniger Liebe und Ehrerbietung zugethan.
Tiefere Ruͤhrung empfand Guido waͤhrend
ſeiner ganzen Reiſe nicht, als im Anblick dieſer
Feier. Er verſenkte ſich in die Vorſtellung der
Gluͤckſeligkeit jenes Patriarchen, hinſchauend auf
ſeine Nachwelt, ruͤckblickend in die wonnevolle
Vergangenheit eines Jahrhunderts haͤuslicher
Eintracht. Und wie Liebe alles gern auf ſich be¬
zieht, ſo traͤumte er mit hochwogendem Buſen,
ein Eheleben mit Ini von langer Dauer und
am ſpaͤten Lebensziele gekroͤnt von Urenkeln.
Sie langten bald darauf in der Gegend von
Berlin an. Die Maſten vieler See- und Strom¬
ſchiffe erhoben ſich, einem Walde gleich, aus
ſeinem breiten Hafen, mit leichten bunten Flag¬
gen geziert, ſpielend im friſchen Abendwinde.
Die ſchoͤne Bergkette, welche an einer Seite
den großen Ort umgab, ſtellte eine lachende
Anſicht dar, bepflanzt mit Weingaͤrten, beſchat¬
tet von Luftgehoͤlzen und prangend mit heiteren
Sommerwohnungen reicher Buͤrger.
Hier triumphirte, fing Gelino an, menſch¬
liche Kunſt auf eine ſeltne Art uͤber die wider¬
ſtrebende Natur. Vor Jahrhunderten ſah der
Wanderer hier nur eine langweilende, kaum
von unbedeutenden Erhoͤhungen, die nicht ein¬
mal Huͤgel, ſondern Niederungsraͤnder des
Stromes waren, unterbrochene Flaͤche. Die
Stadt lag gleichwohl ſchon in dem Sand¬
meere da, zeichnete ſich durch regelvolle Anlage,
und, nach damaligen Begriffen, ſchoͤne Pracht¬
gebaͤude aus, wovon man noch manche Ruinen,
ſogar einige noch ziemlich erhalten ſieht, die
dir, wenn wir ihre Plaͤtze und Straßen durch¬
wandeln, zu Geſicht kommen werden.
Da nun aber die inneren Kriege in Europa
geendet hatten, und, als nothwendig gluͤckliche
Folge, die Kultur ſtieg, auch Berlin, der Sitz
des europaͤiſchen Bundesgerichts — welches man
hieher verlegte, weil Berlin ziemlich den Mit¬
telpunkt von Europa einnimmt — ſehr bedeu¬
tend wurde, wollte der Schoͤnheitſinn ihm eine
anmuthigere Umgebung erziehen, ſo wie die
Weisheit noͤthig fand, ſeiner großen Einwohner¬
menge neue Quellen der Erhaltung zu oͤffnen.
Beide konnten, wie faſt immer, Hand in
Hand gehen. Der beruͤhmte Kanal, tief genug
um Meerfahrzeuge zu tragen, der die Elbe und
Oder auf einem nahen Wege verbindet, und bei
Berlin voruͤber geht, wurde gefertigt, dazu der
Hafen, deſſen blaue Wogen dort ſchimmern, an
Groͤße einem maͤßigen Landſee gleich. Ohne die
Pulverſprengungen und die neuerfundenen me¬
chaniſchen Hebewerkzeuge, mit welchen die Grund¬
erde leicht aus der Tiefe zu winden iſt, und man
die Stroͤme gegen Verſandung und Seichtigkeit
ſchuͤtzt, waͤren ſolche Arbeiten unmoͤglich gewe¬
ſen; mit ihnen kam es nur auf Geld und em¬
ſige Haͤnde an, die nicht mehr fehlten, als mit
der Bevoͤlkerung aller Kunſtfleiß maͤchtig heran¬
wuchs. Auch wurde der Elbſtrom, bis gegen die
Boͤhmiſchen Gebirge, ausgetieft, und eine große
Zahl geraͤumiger Schiffe, fuͤhrte aus den dort,
lebhafter als je bearbeiteten Steinbruͤchen, die
Quadern, womit des Kanals Seitenwaͤnde ein¬
gefaßt wurden. Die aus dem Hafen gewonnene
Erde diente nun, jene erhabene Bergkette auf¬
zuthuͤrmen. Iſt ihre Hoͤhe, gegen Urgebirge
gehalten, freilich nicht von großem Belang, ſo
iſt ſie es doch ſcheinbar, da ſie ſich aus der
Ebene erhebt.
Indem, nach dreißig muͤhevollen Jahren, dieſe
Werke ihre Vollendung ſahen, meinten die Zeit¬
genoſſen, ſie waͤren immerhin, an Arbeit, mit
den Piramiden von Egipten zu vergleichen, uͤber¬
traͤfen ſich jedoch weit an Nutzen. Sie hatten
Recht: wer ſtaunte nicht ſie erblickend, und wie
es
es ſich von ſelbſt verſteht, wurden Hafen und
Kanal die Quellen großer Reichthuͤmer fuͤr
Berlin.
Sie waren unter dieſen Geſpraͤchen bis an
ein Thor gekommen, das auf großen Saͤulen
ruhte. Der Lehrer hatte einſt, wie ſich auch
von ſeiner Vertrautheit mit den uͤberall vorhan¬
denen Gegenſtaͤnden erwarten laͤßt, Europa ſchon
durchwandert, und konnte daher ſeinem Zoͤgling
immer Auskunft geben. Dies Thor, das Bran¬
denburger ſeit dem Alterthum genannt, iſt das
ſchlechteſte, es bleibt jedoch als eine ehrwuͤrdige
Antiquitaͤt ſtehen, und trotzt auch ſchon drei
Jahrhunderten durch ſeine Feſtigkeit. Dies darf
um ſo mehr befremden, als ſeine Erbauung noch
in die Zeit faͤllt, wo Bruchſteine nur mit ſchwe¬
rer Muͤhe auf aͤrmlichen Spreekaͤhnen herbeige¬
fuͤhrt wurden, und man ſich meiſtens der Zie¬
gel bediente. Jetzt haben es freilich die Bau¬
meiſter bequemer, da der Elbkanal, von Pirna
her, ſo große Ladungen von Felsbloͤcken traͤgt,
und nun koͤnnen freilich die Tempel und Pallaͤſte
leicht ſo ſtattlich ſein, als wir ſie ſehen.
Schon vor der Stadt hatte Guido zu ſeiner
Verwunderung wahrgenommen, daß eine Menge
M
leuchtender Kugeln uͤber den Haͤuſern ſchwebend
erſchienen. Nun erklaͤrte ſich das. Man erleuch¬
tete nehmlich die langen graden Straßen mit
doppelten Hohlſpiegeln von betraͤchtlichem Um¬
fang, auf hohe Saͤulen geſtellt. Vor ihnen
brannte eine kunſtreiche, durch Luftzuͤge ver¬
ſtaͤrkte Flamme, deren Licht aber, mittelſt einer an¬
gelaufenen Kriſtallſcheibe, ſanfter erſchien, ſo daß
das Ganze den Vollmond um ſo taͤuſchender
nachahmte, als ſeine Karte auf die Scheibe ge¬
zeichnet war. Die Wirkung glich eben ſo, und ein
traulich Silberlicht goß ſeine Schimmer in die
Straßen und Plaͤtze nieder. In der Mitte der
Laͤnge einer jeden Straße, brannte ein ſolcher
Hohlſpiegel, fuͤr die Erleuchtung nach beiden
Seiten genug, doch ſo, daß man ſich mit ſeiner
Groͤß enach der der Straße richtete. Am Abend
gab dies Heer von Monden der Stadt von Außen
ein ſonderbar liebliches Anſehn.
Sie ſtiegen in einem bedeutenden Gaſthofe
ab. Nachdem jedem von ihnen ein Badezimmer
angewieſen worden, erfriſchten ſie ſich in ſilber¬
nen mit Roſenwaſſer gefuͤllten Wannen. Hier¬
auf trugen wohlgekleidete Diener das Mahl zur
Nacht auf. Es beſtand unter andern aus Kalb¬
nieren von Archangel, ſehr von leckeren Gaumen
beliebt, aus einer Surinamſchen Schnecke, de¬
ren gewundenes geſprenkeltes Haus einen Kuͤrbis
an Groͤße uͤbertraf, und aus Vogelneſten, wohl¬
erhalten von Tunkin gebracht. Wein von Cipern
und Buenos Aires, Sorbet in Iſpahan verfer¬
tigt, perlten in Kriſtallflaſchen. — Warum gebt
ihr uns Speiſe und Getraͤnk aus ferner Zone?
fragte Gelino einen Diener, ob ihr gleich in
eurem geſegneten Lande koͤſtlichen Ueberfluß er¬
zieht. Wird es uns doch wohlfeil in den Hafen
gebracht, und gegen unſere Erzeugniſſe vertauſcht,
war die Antwort.
Sie gingen noch auf einen Ball, wo ſehr
ſchoͤne, doch an Betragen uͤberaus ſittſam zuͤch¬
tige, Maͤdchen tanzten. Gelino ſagte: Ihre For¬
men ſind zart und athmen Harmonie, doch die
friſch lebendige Fuͤlle, welche wir an den Gra¬
zien in Polen ſahn, mangelt ihnen dennoch.
Allein der Abkunft iſt dies zuzuſchreiben, ihre
Voraͤltern lebten einſt in argem Sittenverderb.
Jetzt dagegen giebt es nirgend auf der Erde keu¬
ſchere Frauen, wie zu Berlin, und zwar ſind ſie
das aus lauter Geſchmack. Die Feinſinnigen
wiſſen, daß man nur durch Keuſchheit ſich die
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hoͤchſten Freuden der Liebe bereitet. Darin ha¬
ben ſich hier die Zeiten, gegen Ehedem, durchaus
umgewandelt. Merke dir uͤbrigens das lehrende
Wort, Guido!
Dieſer antwortete: Ich bedarf deſſen nicht,
Ini zeichnete es mir mit heiliger Schrift in
den Buſen.
Am andern Morgen hub Jener an: Du ſollſt
hier einer Sitzung des ehrwuͤrdigen Rathes,
Bundesgericht von Europa genannt, beiwohnen,
und hier uͤberhaupt lernen, welche Bewandniß
es mit unſerer Verfaſſung hat.
Noch wenig hoͤrteſt du von den Koͤnigen in
dieſem Erdtheil, wenn wir ſchon einige mit ih¬
ren glanzvollen Umgebungen ſahen. Dies iſt
aber ein großer Segen fuͤr die Menſchheit. Im
Alterthum war es ihre Sucht, von ſich reden zu
machen, und ſie waͤhlten das Verderben, uͤber
Fremde und Unterthanen gebracht, unter dem
Namen Heldenthaten. Jetzt, einem ſchoͤneren
Beruf hingegeben, muß es ihr Ehrgeiz ſein,
daß ihr Name wenig zur Sprache koͤmmt, denn
ſo wird der Beweis, daß keine Noth uͤber ihr
Land hereinbricht, am beſten gefuͤhrt. Den Lohn
fuͤr eine muſterhafte Verwaltung empfangen ſie
beim Leben um ſo weniger, als Schmeichelei in
Europa fuͤr das tiefſte Verbrechen geachtet wird;
doch nach ihrem Tode erkennt das Bundesgericht,
wohin ihre Urne gebracht werden ſoll. Haben
ſie die Bevoͤlkerung gemehrt, erhoben ſich Land¬
bau, Wiſſenſchaft und Kunſt in ihren Gebieten,
koͤmmt ſie in den Tempel der Unſterblichkeit,
den du einſt in Rom beſuchen wirſt. Sahen ſie
aber die Regierung als einen Genuß, nicht als
eine Pflicht an, gelangt ſie in einen gemeinen
Todtenacker, und wird der Vergeſſenheit uͤber¬
geben. Auch iſt es herkoͤmmlich, daß dann die
Geſchichte ihren Namen nicht nennt, ſondern
nur ſagt: In dieſen Jahren herrſchte ein Koͤ¬
nig, dem das Gehorchen beſſer geweſen waͤre.
Als nach vielen blutigen Jahren die neue
Verfaſſung endlich gegruͤndet werden konnte,
wollte man erſt die Koͤnige waͤhlen, und immer
dem Weiſeſten in irgend einem Lande die Krone
geben. Allein die Schwierigkeiten bei der Wahl
mahnten ab, die Buhlerei um die Gunſt des Vol¬
kes wuͤrde heuchleriſchen Sinn hervorgebracht ha¬
ben, und die Stifter des großen Bundes heiligten
uͤberall die Wahrheit. Aurelius, der große Kai¬
ſer, von dem du ſchon oft hoͤrteſt, behielt dem¬
nach die Geburtfolge bei, doch traf er die Ein¬
richtungen ſo, daß, was fruͤherhin nimmer ge¬
ſchehen war, auch die Koͤnige zu ihrem Amte
erzogen wurden.
Hiebei verfuhr man im Laufe der Zeit
abweichend, je nachdem eingeſammelte Er¬
fahrungen die Anſichten umwandelten. Bei ei¬
ner Erziehung, die es, unter ſparſam eingepflanz¬
ten fremden Begriffen, auf moͤglichſt vollkommene
Entwickelung der Eigenthuͤmlichkeit anlegte, hat
ſich gezeigt, daß ſie dann mit dem wirklichen
Zuſtand der Dinge nicht vertraut genug wurden.
Bei der moͤglichſt ſorgſamen, wiſſenſchaftlichen
Bildung iſt es wohl geſchehen, daß die Staaten
Maͤnner auf den Thronen erblickten, welche zu
weit mit den Ideen uͤber die Wirklichkeit hinaus
drangen. Endlich kam man dahin, Eigenthum
und Fremdheit dadurch ins Gleichgewicht zu
bringen, daß die Fuͤrſtenſoͤhne, fruͤh in ein Fuͤnd¬
linghaus gebracht, Herkunft und Beruf nicht
erfahrend, ſolche Pflege genoſſen, daß an Koͤrper-
und Geiſteskraft, vor allen Dingen Maͤnner aus
ihnen wurden. Anſchaun der Welt, nach Stu¬
dien, bei welchen ihnen viel Willkuͤhr gelaſſen
wird, muß hauptſaͤchlich ihr Nachdenken uͤber
die buͤrgerliche Verfaſſung wecken, ſie gerathen
in Lagen, wo ſie, zum Handeln gezwungen, ihre
ganze Thaͤtigkeit kraͤftigen, hie und da giebt
man ihnen, nach dem Maaße ihrer Faͤhigkeit, ir¬
gend ein Amt zu verwalten. Bisweilen ſchoͤpfen
ſie Unterricht in der Regierungskunde von Wei¬
ſen, oder an einem fremden Hofe lebend, wo ſie
ſie ausgeuͤbt beobachten, und muͤſſen ſich dann,
unterrichtet uͤber ihre Beſtimmung, einer Pruͤ¬
fung des großen Rathes hingeben. Faͤllt dieſe
Pruͤfung zu ihrem Vortheile aus, werden ſie
regierungsfaͤhig erklaͤrt, wo nicht, ſind neue
Anſtrengungen unerlaͤſſig. Denn, da es die Klug¬
heit unterſagt, das niedrigſte Amt im Gemein¬
weſen, jemanden zu vertrauen, der nicht ſeine
Tuͤchtigkeit dazu außer Zweifel geſetzt haͤtte, ſo
gilt dies allerdings um ſo mehr vom hoͤchſten,
und eine ſo weit herangereifte Zeit als die un¬
ſere, kann ſich nicht den Tagen roher Barbarei
gleich ſtellen, wo es faſt allein dem blinden Zu¬
fall uͤberlaſſen blieb, ob ein Fuͤrſt ſein Amt be¬
greifen werde oder nicht, wo das fruͤhe Gift
der Schmeichelei ihre Herzen verdarb, wo die
eigne Kraft ſo wenig Anreitz zum eignen Ge¬
brauch fand, weil die Kraft der Diener fuͤr ſie
waltete, wo ſie bald ihre Leidenſchaften zum Ge
ſetz erhoben, bald ſich Ekel an ihrem Amte und ein
ſieches Leben erſchwelgten, bald ganze Geſchlechter
in unſinnigen Kriegen zertraten, bald ihres hohen
Berufes vergeſſend, und mit elenden Kleinigkei¬
ten ergoͤtzt, ihre Voͤlker jedem Sturm von In¬
nen und Außen Preis gaben. Hart mußten
ſolche Zeiten ihren Wahnſinn buͤßen, und das
Loos der Koͤnige fiel auch ſehr traurig. Denn
die reichen Genuͤſſe freuten ſie nicht, da ſie keine
Entbehrungen wuͤrzten. Die Wahrheit kam ih¬
nen ſelten zu Ohr, und ſo im Dunkeln tap¬
pend, konnten ſie faſt nur durch ein Wunder,
die ihrer Zeit jedesmal zutraͤglichen Maaßneh¬
mungen ergreifen. Wiſſenſchaft, die ihnen al¬
lein ein klares Auge haͤtte erziehen koͤnnen, um
durch die dicke Weihrauchumwoͤlkung zu ſchauen,
blieb ihnen meiſtens fremd. Immer waren ſie
von Ehrgeitz und Raubſucht der Nachbarn be¬
droht, eine Kunſt, damals Politik genannt, und
nicht viel beſſer als Schutz durch Trug vor Trug,
aͤngſtete ſie unaufhoͤrlich. Jetzt dagegen ſchirmt
ſie die Moral des Voͤlkerrechtes, ſie ſind nicht
nur heilig dem Unterthan, ſondern allen Voͤl¬
kern, die das große Volk von Europa zuſam¬
menſtellen, edel genug iſt ihre Bildung um hoͤ¬
here Gluͤckſeligkeit, als die ſinnlichen Genuͤſſe
oder eitlen blutigen Ruhm, erkennen und em¬
pfinden zu lernen.
Es iſt uͤbrigens hergebracht, daß vor dem
dreißigſten Jahre kein Fuͤrſt das Szepter in die
Hand nehmen darf, wird ein Thron fruͤher er¬
ledigt, folgt eine Regentſchaft.
Worin beſtehn hauptſaͤchlich die Geſchaͤfte ei¬
nes Koͤnigs? fragte Guido.
Er hat die Satzungen der drei Raͤthe ent¬
weder zu genehmigen oder zu verwerfen, und
laͤßt ſie in jenem Falle mit Machtvollkommen¬
heit zur Vollziehung bringen, antwortete Ge¬
lino.
Aber koͤnnten die Raͤthe nicht allein, durch
Stimmenmehrheit, entſcheiden, und mit Gewalt
zum Vollbringen ausgeruͤſtet ſein? So beduͤrfte
es keiner Koͤnige.
„Trennungen, Partheigeiſt, Unruhen, ſind
dann, wie die Erfahrung bewies, leicht die Folge.
Wir wuͤrden ſie zwar weniger zu fuͤrchten haben,
als jene Zeiten, da beim Einzelnen die Sinn¬
lichkeit ſelten, die Vernunft meiſtens den herr¬
ſchenden Zuͤgel fuͤhrt, aber wenn alle Gewal¬
ten in eine Spitze auslaufen, iſt die Ruͤckwir¬
kung nachdruͤcklicher.“
Beſchraͤnken uͤbrigens dieſe Raͤthe den Koͤnig?
„In Nichts, er kann ſie ſogar aufheben, mit
andern Formen vertauſchen, die er zutraͤglicher fin¬
det. Doch ſeit laͤnger als einem Jahrhundert
ließ ſie jeder Monarch unangetaſtet weil er
die Trefflichkeit der Einrichtung nicht verkennen
konnte. Denn, will ſich der Monarch ſelbſt am
Beſten befinden, muß er am vollkommenſten mit
dem Ganzen verinnigt ſein. Die Raͤthe ſind
das Mittel dazu. Sie fuͤllen den Raum vom
Schlußſtein der Piramide bis an ihre Ausbrei¬
tung, bilden dieſe vielmehr ſelbſt. Unabhaͤngige
Gewalt iſt den Koͤnigen darum verliehen wor¬
den, damit deſto weniger Reitz zu ihrem Mi߬
brauch entſtehen koͤnne. Wer alles hat, kann
nichts mehr fordern wollen. Die gute Verwal¬
tung iſt ihnen durch die Umſtaͤnde auferlegt,
denn verwalten ſie ſchlecht, verlieren ſie mit
dem Ganzen, und ihr Nachruhm ſchwindet auch
hin. Doch ein Opfer muͤſſen ſie fuͤr den uͤber¬
wiegenden Genuß von Rechten, gegen andere
Buͤrger, bringen. Es iſt hart, allein ihre Ver¬
nunft muß die Guͤte des Opfers einſehn, und
die Koͤnige, auch ohnehin in Europa Republika¬
ner, werden es dadurch gewiſſermaaßen noch
mehr. Sie muͤſſen ſich — dies iſt Reichsgeſetz
und wird im Fall der Widerſetzung durch die
Geſammtkraft vollzogen — der Suͤßigkeit ent¬
uͤbrigen, ihre Kinder um ſich zu ſehn. Dieſe wer¬
den, wie du ſchon erfahren haſt, beſonders erzo¬
gen, und das Gemeinweſen kann nur, vollkom¬
men beruhigt, Machtvollkommenheit vertrauen,
wenn ſie uͤberzeugt iſt, ſie der Einſicht zu uͤber¬
tragen.“
Welche Einkuͤnfte genießen die Koͤnige?
„Den Hunderttheil von allem Erwerb im
Lande. Je bevoͤlkerter und regſamer das Land
iſt, je hoͤher ſteigt ihr Gewinn, alſo liegt es in
der Natur ihres eigenen Vortheils, die Men¬
ſchenzahl, durch Erweiterung der Subſiſtenz zu
mehren, und die moͤglichſte Freiheit zu ihrer
Bereicherung zu geſtatten. Und dies iſt denn
auch die beſte Regierung. Geitz waͤre Thorheit,
und Thoren koͤnnen die Throne einmal nicht be¬
ſteigen, Verſchwendung eben ſo, daher ſieht
man Ueberall gute Haushaltung, weil ihr Vor¬
theil, ihr Ruhm, ſie den Koͤnigen auferlegt.
Fremdes Eigenthum an ſich reißen zu wollen,
kann ihnen nicht einfallen, denn die Unſicherheit
deſſelben wuͤrde ohne Zweifel alle Betriebſamkeit
laͤhmen, und ſie um ſo viel im Ganzen verarmen,
als ſie im Einzelnen ungerecht ſich bereicherten.“
Welche Ausgaben beſtreiten die Koͤnige?
„Sie ſolden die Raͤthe, ihre Hofhaltung,
und legen eine jaͤhrliche Summe in den Ge¬
ſammtſchatz von Europa, den Krieg beſtreiten
zu helfen, wenn er gegen andere Erdtheile noth¬
wendig wird.“
Von den drei Raͤthen habe ich manches er¬
fahren, doch wuͤnſchte ich, du nennteſt mir ihre
eigentliche Beſtimmung genau.
„Sie ſind mit der Religion oder Moral,
was Eines und Daſſelbe geachtet wird, verbun¬
den, und die Klugheit gilt auch wieder eben ſo
viel. Die hoͤhere Religion, auch mit dem al¬
ten Namen Philoſophie benannt, iſt vom Irdi¬
ſchen abgezogen, hat darauf keinen vom Staat
gelenkten Einfluß, jeder Einzelne mag zu ſeiner
inneren Wuͤrdigung davon zu erkennen ſuchen,
was er vermag, die Feſte des hoͤchſten Weſens,
vom Volke unter dem Himmelgewoͤlbe begangen,
ſind ohne Prieſter, ohne Kultus, jeder feiert
dort mit dem Herzen. Alles das iſt dir bekannt,
und du haſt das heilige Grauen, die Wonne¬
ſchauer eingeſtanden, welche bei ſolchem Anlaß
uͤber dich kamen. Doch die irdiſche Religion,
in drei Tempelſatzungen getheilt, beſtimmt, das
Leben ſchoͤner mit der Idee zu gatten, ſteigt
auf zur Verehrung hoher Simbole und auch
wieder nieder in die Welt vorhandener Dinge,
kraͤftiger und erleuchteter zu heiligen. Du knie¬
teſt oft geruͤhrt im Chriſtustempel, dem erſten
von allen. Seine Prieſter haben einen obern
Sinod, aus den wuͤrdigſten gewaͤhlt, ſitzend im
Obertempel, in der Hauptſtadt des Monarchen.
Chriſtus iſt uns Heros, oder Beſchuͤtzer und
Verklaͤrer der Erziehung und des Bruderſinnes.
In ſeinem Geiſt, und auf den Zeitfortgang
merkend, haben alſo die Wuͤrdigen aus denen
jener Sinod zuſammen geſtellt iſt, uͤber Erzie¬
hung und Bruderſinn zu wachen, dem Volke
Freiheit und Kunde zu ihrer Verbeſſerung,
auf jede Weiſe zu bereiten, es durch Rath und
auch durch Beiſpiel zu erleuchten, dem Fuͤrſten
Nachricht von allen Fortſchritten zu geben, Vor¬
ſchlaͤge darzubringen, wie neue Stufen der Voll¬
kommenheit zu erſteigen ſind. Das Wort Erzie¬
hung hat aber einen weiten Umfang. Es begreift
nicht nur die Abhaͤrtung und Bildung der Ju¬
gend, auch die Erziehung des Geſchlechtes durch
hoͤheren moraliſchen Adel zu gluͤcklicherer Wohl¬
fahrt. Dies kann auf keinem anderen Wege ge¬
ſchehen, als wenn Arbeitſamkeit zuvor den Ge¬
winn der Lebensnothwendigkeiten erhoͤht. Daher
ſtehen nicht nur die Schulen, ſondern auch der
Landbau, und alle nuͤtzlichen Handwerke, unter
der Leitung des Chriſtustempels. Der obere
Rath ſpaltet ſich in die beſonderen Kammern
und haͤlt in den einzelnen Bezirken untere Ver¬
weſer, gemeinhin Tempeldiener zugleich, welche
heilſame Sorge tragen, und vorzuͤglich ihrem
Beruf darin nachkommen, daß ſie den weiſeſten
Aufflug in Allem beachten, ihm, nach weiſen An¬
zeigen, ſo viel als moͤglich die Richtung geben,
und, indem alle Weisheit in ihre Koͤrperſchaft
ſtroͤmt, dieſe auch wieder der Quell ſei, aus wel¬
chem das Volk ſchoͤpfen koͤnne. Der Bruderſinn
iſt zum Gedeihen aller Volkthaͤtigkeit nothwen¬
dig, weil ohne ihn, ein Theil dem andern, uͤber¬
all Hinderniſſe legen wuͤrde. Er folgt jedoch aus
ihrer hoͤheren Vollkommenheit von ſelbſt, denn
weil alsdann die Noth um das Mein und Dein,
ſich immer mehr verringern muß, ſind die Haupt¬
wurzeln aller Feindſeligkeit auch immer mehr
vertilgt. Ermahnungen in frommen, verſtaͤndi¬
gen, oͤffentlichen Reden, Belebung des Funkens
der Menſchenliebe in jeder Bruſt, durch Lehre
und Beiſpiel, die ruͤhrenden Kuͤnſte zur Mitwir¬
kung rufend, werden keineswegs verſaͤumt; doch
ſtrebt man am muͤhſamſten, die Triebe der Selbſt¬
erhaltung und Geſelligkeit, dem Sterblichen durch
die Hand der Natur gegeben, in Einklang zu brin¬
gen, wobei das Uebrige ſich ziemlich allein giebt.
Du lernteſt nun uͤberſichtlich den erſten Rath der
Koͤnige und ſeine ausgebreiteten Verwaltungzweige
kennen. — Der zweite Rath haͤngt mit der Ver¬
ehrung des Moſes zuſammen. Dieſer iſt Heros
der Gewalt, des Rechtes. Inſofern ſich dies
auf den Krieg bezieht, ſchweige ich, es wurde
dir im großen Feldlager kund. Reden wir von
dem buͤrgerlichen Eingriff. Wie ſchon in Europa
uns ein weit groͤßeres, vollſtaͤndigeres Leben zu
Theil wurde, das immer neue Verhaͤltniſſe
ſchafft, und immer mehr, den Lebenserwerb be¬
quemer geſtaltende, Einſichten hervorbringt; wie
gluͤcklich die, von Wahn gereinigte und durch die
Kuͤnſte veredelte Religion, in einen reinen An¬
trieb zum freien Guten umgewandelt iſt; in
welche zarte Miſtik, die Grundlinien der Buͤrger¬
ehre verwebt wurden; wie klar das, in fruͤher
Erziehung geuͤbte Kombinazionsvermoͤgen, die
Nothwendigkeit des Rechtes, in den viel erwei¬
teten und berichtigten Geſellſchaftsbeziehungen,
einſieht; wie ſorgſam weiſe Jahrhunderte zu fer¬
nen ſuchten, was gereizte Begierden wecken,
niedere Leidenſchaften entflammen kann; immer
war doch der Stoff des Widerſtrebens gegen das
Gute, in der Sterblichen Bruſt nicht ganz zu
tilgen. Die Eigenſucht will hie und da immer
noch zum Schaden des Geſammtvortheils auf
ſich beziehen, und ſind die Verbrechen gleich
bei weitem ſeltener als Ehedem, hoͤren wir,
Dank ſei es den beſſeren Zeiten! nie von ſolchen,
die vor Jahrhunderten noch die menſchliche Na¬
tur entweihten, ſo wird das Geſetz doch biswei¬
len umgangen, und ein ernſterer Widerſtand in
warnenden, auch drohenden Ahndungen, iſt noͤ¬
thig. Er geht vom Moſestempel aus. Hier
wird Recht geſprochen uͤber den Frevler, wie¬
wohl, von zehn Jahren zu zehn Jahren, die Straf¬
ſatzungen haben gemindert werden koͤnnen, in¬
dem die traurigen Faͤlle, wo ſie eintreten mu߬
ten, abnahmen. Hier werden auch Streitigkei¬
ten
ten uͤber Eigenthum, bei denen kein boͤſer Wille,
ſondern Zweifel zum Grunde lag, geſchlichtet.
Doch nicht, wie vormals, haͤlt ſich die Gerech¬
tigkeit verborgen. Oeffentlich im Tempel, vor
der Menge Augen, uͤbt ſie ihr wohlthaͤtig Amt.
Auch predigen die Richter dem verſammelten
Volke, erklaͤren das Geſetz, beweiſen ſein Heil,
ſchaͤrfen ſeine Wuͤrde, und zeigen vorzuͤglich den
Unverſtand aller geſetzwidrigen Handlungen, wo¬
durch denn der erregte Ehrgeitz guter Vernunft,
auch ein Sporn zur Tugend wird. Entſteht eine
Klage uͤber Gewaltthaͤtigkeit — die letzten Jahre
zaͤhlten ſie ſparſam — ſo dingt derjenige, wel¬
cher die Beſchwerde zu fuͤhren hat, einen Ma¬
ler, der die kraͤnkende Handlung nach der Natur
darzuſtellen hat. Das Gemaͤlde wird vor den
Richtern hingehangen, und ſpricht zu ihrer Em¬
pfindung. So braucht es der Anwalde Bered¬
ſamkeit nicht. Doch, der Recht verwaltenden
Prieſter Amt nicht freudelos zu machen, iſt ih¬
nen auch die ſchoͤnere Obliegenheit geworden,
Lohn fuͤr edle That zu ſpenden. Sie rufen den
Buͤrger vor ihren Stuhl, den eine nuͤtzliche Ent¬
deckung verdient machte, der irgend etwas er¬
fand, wovon die Geſammtheit Vortheile ziehen
N
kann, den Mann der funfzig Jahre irgend einen
Beruf ruͤhmlich verwaltete, das Ehepaar, in ei¬
ner langen Reihe von Jahren durch haͤusliche
Tugenden ehrwuͤrdig, den alten treubewaͤhrten
Diener, und ertheilen ihm oͤffentlich Lob oder
Ehrenzeichen. Die aͤlteſten, tadelloſeſten, weiſe¬
ſten unter allen Moſesprieſtern, bilden in der
Hauptſtadt des Koͤnigs den zweiten Rath. —
Im Tempel der Maria fleht die Liebe, der
Ehen heiliges Band wird dort geknuͤpft, die
ſchoͤnen das Leben ſchmuͤckenden Kuͤnſte, die Poeſie,
die aufgebluͤhte Jugend waͤhnen ſich in der Obhut
der Heiligen. Unter ihren Prieſterinnen ſteht nun
das ganze weibliche Geſchlecht. In alter Zeit
wurde es herabwuͤrdigend beengt, wir aber ſahen
ein, daß Vernunftweſen eine andere Stellung
in der Geſellſchaft gebuͤhrt, und ihre Moralitaͤt
ſo durchaus gewinnen muß. Darum uͤben ſie
eignen erhebenden Kultus, werden in Reden
edler Prieſterinnen an die Gattinpflicht gemahnt,
ihnen die Grundſaͤtze der fruͤheſten Kinderzucht
erlaͤutert, ihr Sinn fuͤr das Schoͤne und Gute
geſchaͤrft, wodurch ſie an Anmuth und Lie¬
benswuͤrdigkeit zunehmen. Bei uneinigen Ehen
wird der Frauen Recht wahrgenommen, im ſeltnen
ſchlimmen Fall, Trennung verhaͤngt. Strafe
kann dem Weibe nur von hier zuerkannt werden.
Die edleren unter den edlen dieſer Prieſterin¬
nen, ſtellen des Koͤnigs dritten Rath zuſammen.
Eine fruͤhere Zeit wuͤrde uͤber den Rath von
Frauen gelacht haben, und doch iſt er ſo ange¬
meſſen. Auch hat ihr feiner Sinn ſchon des
Guten unendlich viel geſtiftet.“
Nenne mir die Beſtimmung des Kaiſers!
„Er iſt oberer Kriegsherr. Die geſammten
Truppen ſtehen unter ſeinem Befehl. Er wacht
uͤber den Frieden der Republik, laͤßt die Heere
ins Feld ruͤcken, wenn der Kampf unvermeidlich
wird, und endet ihn, wenn es ihm gelang, die
Feinde zur Verſoͤhnlichkeit zu bewegen. Die Ge¬
ſetze der Rekrutirung ſind bleibend, nicht der
Fuͤrſten ſonſtige Machtvollkommenheit, nur ein
allgemeiner Beſchluß koͤnnte ſie umwandeln. Auch
ziehn die Koͤnige nicht mit ins Feld, da ſie ihre
Staaten daheim zu leiten haben, wohl aber die
Soͤhne, wenn gerade ihre Dienſtzeit in den Aus¬
bruch eines Krieges faͤllt. Die Uebung der
Truppen und Flotten, die Vervollkommnung
derſelben durch beſſer erkannte Technik, ſtehen
unter Kaiſers Vorſorge, und das Strategion, dir
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ſchon bekannt, pruͤft, ſchlaͤgt vor, entſcheidet
uͤber einzelne Faͤlle, theils allein, theils nach¬
dem der Kaiſer beſtaͤtigte. Der Kaiſer iſt auch
Vorſitzer des Bundesgerichts, und hat ſeine
Ausſpruͤche zu ſankzioniren, inſofern von Strei¬
tigkeiten der Koͤnige gegen einander, oder von
Wiederbeſetzung eines erledigten Thrones die
Rede iſt. Wenn dies Gericht nicht in Rom ſei¬
nen Aufenthalt hat, ſo liegt auch die Abſicht zum
Grunde, daß es nicht dem Kaiſer unbedingt un¬
terworfen werden ſoll. Die Telegraphenlinie
kann ihm zudem in wenigen Stunden von den
Verhandlungen Nachricht ſenden. Der Kaiſer
hat auch ſein Koͤnigreich, und zwar das groͤßere,
aus welchem ſeine Einkuͤnfte ihm zufließen.
Seine Vorfahren haͤtten bei ihrem großen Waf¬
fengluͤck leicht ganz Europa ſich unbedingt un¬
terwerfen koͤnnen, ſie wollten es aber nur durch die
gegenwaͤrtige Verfaſſung bedungen, wodurch
das weite Reich bequemer regiert, und der im¬
mer fortgehenden Entwickelung eine freiere Bahn
gelaſſen wird.“
Guido dachte, als ſein Lehrer geendet hatte
viel uͤber die Verfaſſung von Europa nach, es
draͤngten ſich ihm manche Ideen auf, wie ſie
noch geſteigert werden koͤnnte, und er nahm
ſich vor, daruͤber einen Entwurf aufzuſetzen.
Gelino billigte das, ihm zuſagend: wenn ſeine
Vorſchlaͤge gut waͤren, er ſicher auf das Ver¬
gnuͤgen zaͤhlen koͤnne, ſie in Ausfuͤhrung ge¬
bracht zu ſehn.
Sie gingen nach dem Pallaſt, wo das Bun¬
desgericht oder Voͤlkertribunal ſeine Sitzungen
hielt. Es war ein Gebaͤude, das durch ſeine
Feſtigkeit auf ewige Dauer berechnet ſchien. So
viel beſondere Reiche in Europa, ſo viel eherne
Bildſaͤulen von einer Staunen erregenden Groͤße
zierten das Dach. Sie hielten ſich umſchlungen,
ein Adler ſchwebte mit ſeinen breiten deckenden
Fittigen uͤber die majeſtaͤtvolle Gruppe. Im in¬
neren Marmorſaale empfand Guido fromme
Schauer der Ehrfurcht, als er die Verſammlung
der Greiſe ſah, denen ſchneefarbne Baͤrte auf den
Buſen niederfloſſen. Er ſahe zudem hier eben
ein ruͤhrend Schauſpiel.
Die Urne eines ſeit kurzem verſtorbenen Koͤ¬
nigs ward in den Saal gebracht, von ſeinen
vornehmſten Unterthanen getragen. Eine wei¬
nende Menge, aus der Ferne gekommen, die
der Saal nicht aufnehmen konnte, ſtuͤrzte nach,
einmuͤthig flehend, dem Staube ihres Monar¬
chen den Tempel der Unſterblichkeit zu bewil¬
ligen.
Euer Flehen ehrt den Verſtorbenen, ant¬
wortete der hohe Senat, allein es darf uns nicht
beſtechen. Wo liegen die Beweiſe, daß euer
Koͤnig das Grab des Ruhmes verdiene?
Nun draͤngten ſich beſondere Sendungen der
Raͤthe in den Staaten des Todten hervor. Sie
reichten Schriften ein, worin die Zunahme der
Volkzahl waͤhrend ſeiner Regierung berechnet
ſtand, in welchen dargethan wurde, daß ſich die
Klagen in den Tempeln des Rechtes, waͤhrend eben
dieſem Zeitraume, ungemein vermindert hatten;
ferner, daß auch nicht eine Ehe getrennt wor¬
den ſei. Die Papiere wurden laut verleſen.
Bedaͤchtig horchten die Greiſe, ruͤhrende Blicke
auf die Urne wendend. Nach den Berathungen
einer Stunde ſprachen ſie einmuͤthig aus: Seine
Regierung war gut, da dieſe Erfolge Zeugniß
ablegen. Dem Staube werde des Ruhmes Grab,
wenn der Kaiſer das Urtheil heiligt.
Die Todten wurden jetzt uͤberhaupt nicht als
Leichname begraben. Man wollte den ſchauder¬
haften Zuſtand der Verweſung nirgend wiſſen,
auch unter den Raſenhuͤgeln empoͤrte er die Ge¬
fuͤhle einer zartſinnigeren Menſchheit. Hatte der
Verſtorbene, nach einigen Tagen, die untruͤg¬
lichen Kennzeichen des Todes, ſchafften ihn die
Verwandten in ein Leichenhaus, wo durch einen
chemiſchen Prozeß alle Fluͤſſigkeiten verfluͤchtigt,
und die feſten Theile in Erde aufgeloͤſet wurden.
Dieſe kam in die mitgebrachte Urne, und die
Leidtragenden brachten ſie nach dem Todtengar¬
ten, den die Staͤdte mit Baumpflanzungen und
Blumen zu ſchmuͤcken, wetteiferten, um ſie dort
einzuſenken. Ein Denkmal aber durfte auch dann
nur die Stelle bezeichnen, wenn die Mitbuͤrger
des Ortes, durch Stimmenmehrheit, den Verſtor¬
benen dieſer Ehre wuͤrdig achteten. Den Wohn¬
platz der Ruhe ſollten nicht Luͤgen entheiligen.
Perſonen, welche dem Geſetz widerſtrebend gelebt
hatten, kamen auf ein geſondertes entferntes Graͤ¬
berfeld, oͤde, ohne Strauch und Blumen, und
die Staͤdte fanden einen Stolz darin, kein ſol¬
ches Feld auf ihrem Gebiete zu wiſſen.
Das Bundesgericht meldete noch am Mor¬
gen, durch den Telegraphen, ſeinen Ausſpruch
nach Rom. Am Abend langte die Antwort an.
Der Kaiſer ließ durch die akkuſtiſchen Roͤhre zu¬
ruͤckſagen: Was eben berichtet ſei, ſtimme ganz
mit den Kunden uͤberein, welche ihm von der
Amtsfuͤhrung jenes Koͤniges auf anderen Wegen
zugekommen waͤren. Er ehre der Greiſe Weis¬
heit, beſtaͤtigte ihren Spruch, und gebiete, die
Urne nach Rom zu ſenden.
Am anderen Tag wurde ſie nun mit Blu¬
men und Lorbeeren feſtlich gekroͤnt, dann unter
hohem Gepraͤnge, bei den Trauermelodien aller
Glockenſpiele und dem Chorgeſang aller Jung¬
frauen auf einem goldnen Wagen abgefuͤhrt.
Ein Ausſchuß der Greiſe des Voͤlkertribunals
begleitete ihn, wie Tauſende der angelangten
Unterthanen, die ſich das Recht nicht nehmen
laſſen wollten, den Reliquien ihres geliebten
Monarchen bis zum Tempel der Unſterblichkeit
zu folgen. Guido blickte dem Gewimmel mit
froher Wehmuth nach, und geſtand: wie die
Ruͤhrung, welche er heute empfaͤnde, jede bisher
gefuͤhlte, uͤbertraͤfe.
Der andere Tag war jedoch noch merkwuͤr¬
diger fuͤr unſern Juͤngling. Denn jenes Koͤnigs
Nachfolger, von dem Gerichte vorgeladen, ſtellte
ſich.
Er hatte das dreißigſte Jahr erreicht, da je¬
ner in einem hohen Alter verſtorben war. Be¬
ſcheiden trat er in den Saal.
Der Greis, welcher im Namen des Kaiſers
den Vorſitz fuͤhrte, fragte ihn:
Wie wurdeſt du erzogen, Monarchenſohn?
„Zuerſt in einem Fuͤndlinghauſe in Spa¬
nien.„
Haſt du, dort entlaſſen, Proben deiner ſtatt¬
lichen Kraft, deines fruͤh geuͤbten Denkvermoͤ¬
gens, abgelegt? Hat dein Gemuͤth ſich in rei¬
nem Sinn bewaͤhrt?
„Hier ſind die Zeugniſſe, welche ich empfing,
jene Erziehungsanſtalt meidend.“
Sie wurden vorgeleſen und ſtellten den Rath
zufrieden. Der Alte fragte weiter:
Wo befandeſt du dich nachher?
„Ich durchreiſete Europa und Aſien, zu Lande
und durch die Luft, umſchiffte den Erdball.“
Recht. Du haſt deine Bemerkungen auf die¬
ſer Wanderung einſt uns eingeſandt. Wir haben
daraus auf den unterrichteten Denker geſchloſ¬
ſen. — Wohin begabſt du dich alsdann?
„Zum Heere, wo ich vier Jahre verlebte.“
Wann erfuhrſt du deine koͤnigliche Abkunft?
„Im fuͤnf und zwanzigſten Jahre, da der
alternde Vater eine Stuͤtze neben ſich ſehen
wollte.“
Wie ward dir bei der großen Nachricht?
„Ich fuͤhlte die mir bis dahin unbekannten
kindlichen Entzuͤckungen mit Innigkeit, doch er¬
ſchrack ich, daß einſt das ſchwere Koͤnigsamt
mich erwarte.“
Gut und auch nicht gut! Der kraͤftige Mann
ſoll vor nichts erſchrecken, der Koͤnig am we¬
nigſten. — Wie brachteſt du deine Zeit neben dem
Vater hin?
„Ich wohnte den Sitzungen der Raͤthe bei,
beſah unſere Staaten, bis auf das kleinſte Dorf,
ſuchte mich uͤber ihre Natur, ihre Gewerbe zu
unterrichten, den Mann von Verdienſt kennen
zu lernen.“
Wohl! Machteſt du oft Vorſchlaͤge zu Ver¬
beſſerungen in deinem Lande?
„Dazu fuͤhlte ich mich noch zu ſchwach, meinte
nichts hoͤher umfaſſen zu koͤnnen, als der weiſe
Vater.“
Schlimm, Koͤnigſohn, ſchlimm! Der Juͤng¬
ling ſoll nicht ſtehen bleiben, ſondern weiter
dringen. Deine Erziehung konnte die Erfindungs¬
gabe wecken.
Der Befragte erroͤthete. Sanft munterte ihn
aber der Alte auf und fuhr fort:
Willſt du den Thron deiner Vaͤter beſteigen?
„Wenn ihr, fromme Vaͤter, mich deſſen
wuͤrdig achtet.“
Das koͤmmt nur auf dich ſelbſt an. — Was
denkſt du hauptſaͤchlich beim Regieren zu thun?
„Ueberall das Gute zu foͤrdern.“
Ei, dort falſche Beſcheidenheit, hier große
Anmaaßung. Raͤume nur zuvor uͤberall das Boͤſe
hinweg, ſo wird das Gute von ſelbſt folgen.
„Ich hoffe — nicht zu irren — wenn ich
ſtrenge den Vater zum Vorbild waͤhle — „
So? Du hoffſt demnach ſo gut wie der Vater
zu regieren.
„Ganz ſo freilich nicht.“
O, ihn zu uͤbertreffen muß dein Vorſatz ſein,
wie gerechtes Lob er auch fand. Die neue ent¬
wickeltere Zeit laͤßt dir ja ihr Licht flammen.
Durch deine Raͤthe empfaͤngſt du es, kannſt ſeine
Strahlen, in deiner Vernunft geſammelt, wohl¬
thaͤtig zuruͤckgießen. — Biſt du vermaͤhlt?
„Noch nicht.“
Seltſam! Und aus welchem Grunde?
„Ueber die raſtloſen Arbeiten vergaß ich, mich
nach einem geliebten Weibe umzuſehn.“
So war deine Erziehung dennoch fehlerhaft.
Die, welche ſie leiteten, gaben dir nicht Frei¬
heit genug. Du biſt das Werk Anderere gewor¬
den, und die eigenthuͤmlich waltende Kraft keimte
zu wenig auf. Die Liebe hat ihren Goͤtterfunken
nicht in dir entzuͤndet, darum ſo karger Aufflug
deines Herzens. Wir koͤnnen des edlen Vaters
wegen dir nicht nachſehn. Sein Ruhm hat mit
dem Wohl der folgenden Geſchlechter in ſeinen
Staaten nichts gemein. Ich urtheile, daß dein
Land ein Jahrlang unter Regentſchaft geſetzt
werden muß. Waͤhrend dieſer Zeit bemuͤhe dich
um Selbſtvertrauen, um die Kraft des Muthes, die
Koͤnigen ziemt. Vermaͤhle dich liebend, dann kehre
wieder und hoͤre unſern neuen Spruch. So mein
Urtheil, habt ihr es zu tadeln, Vaͤter, ſo tretet
auf und wir wollen die Stimmen ſammeln.
Alles ſchwieg.
Nach einer Pauſe fing der Vorſitzer wieder an:
Euer Schweigen nennt meinen Spruch gerecht,
der Telegraph ſoll ihn zur Stelle nach Rom bringen.
Tief beſtuͤrzt ſtand der abgewieſene Thronfol¬
ger da vor der ſchauenden Menge. Wohl nicht
hatte er dies erwartet. Um ſo erſchuͤtterter mußte
er ſein, als der Gram uͤber des Vaters Tod ihn
wirklich tief verwundet hatte. Dennoch galt
keine Einwendung gegen das Machturtheil, er
durfte die Ehrfurcht dagegen nicht verletzen,
und ſich, wie ihm geboten worden, auf die neue
Pruͤfung vorbereiten.
Still ging er nach einer Verneigung mit ſei¬
nem Gefolge davon. Das im Saal verſammelte
Volk, ſonſt gewohnt, die Ausſpruͤche welche ihm
gerecht ſchienen, mit lautem Beifall zu begruͤ¬
ßen, verhielt ſich diesmal ſtill, und ſchonte ſo
des Prinzen. Doch nicht, als ob es nicht voll¬
kommen mit dem Voͤlkertribunal waͤre zufrieden
geweſen, ſondern, weil es in dieſem zarten Be¬
tragen, den Manen des Koͤnigs eine Huldigung
darbringen wollte.
In aͤlteren Zeiten wuͤrde ein ſolches Bundes¬
gericht wohl ſchwerlich ſeine Beſtimmung erfuͤllt
haben. Die Macht des Goldes haͤtte ohne
Zweifel ſeine Spruͤche gelenkt. Allein man waͤhlte
die tugendhafteſten Maͤnner zu den Richterſtellen.
Und das ein und zwanzigſte Jahrhundert hatte
in der Kunſt, die Tugend zu bilden, Fortſchritte
gemacht, die das achtzehnte oder neunzehnte
nicht ahnen konnte. Dann wechſelte man ſie oft
und unvermuthet. Ferner hatten ſie den feinen
Takt des Volkes zu fuͤrchten, das uͤber die Ge¬
rechtigkeit ihrer Verhandlungen ſcharf fuͤhlte, und
ihre Ehrliebe haͤtte ein mißbilligend Geraͤuſch,
ſeit laͤnger als einem Jahrhunderte nicht erfolgt,
kaum getragen. Eben auch ſtand dem Kaiſer das
Recht zu, den mit der Strafe ewiger Entehrung
zu belegen, der nicht furchtloſe Tugend zu ſeiner
Richtſchnur waͤhlte. Endlich durften die Koͤnige
insgeſammt, wenn ihre Stimmenmehrheit das
Verfahren dieſes Gerichtes tadelnswuͤrdig fand,
Einſpruch thun, und ſich ſelbſt in ſeinem Pal¬
laſte verſammeln, um ſtatt deſſelben zu richten,
wo denn der Kaiſer in Perſon vorſaß und das
Recht der Billigung oder Verwerfung uͤbte.
Alle dieſe Maaßregeln erhielten die Ehre des
Senats unſtraͤflich.
Guido redete viel mit ſeinem Lehrer uͤber
die Antworten des Thronkandidaten. Er behaup¬
tete ſehr keck, ſie beſſer gegeben haben zu wuͤr¬
den, und Gelino ermahnte ihn, im Gefuͤhl ſei¬
nes Feuers auch nicht weiter zu dringen als
Beſcheidenheit es geſtatte.
Aber, rief der Juͤngling, war es denn nicht
eben Beſcheidenheit, was die Vaͤter an dem Koͤ¬
nigſohn ſtraften?
Allerdings, doch ſeine Geburt, ſein Beruf,
die Jahre welche er vor dir voraus hat, leiteten
des Tribunals Urtheil. Du aber, den kein
Purpur erwartet, ſollſt mehr ſtreben als waͤhnen
erſtrebt zu haben.
Ich ſtrebe fort, guter Lehrer, entgegnete der
Juͤngling, aber ich weiß auch, daß ich ſchon er¬
ſtrebte.
Dann ward er nachdenkend, und rief, in eini¬
gen Schmerz aufwallend: O es muß goͤttlich
ſein, von einem Throne herab zu gebieten!
Beneide die Monarchen nicht, warnte Gelino,
ſchwer iſt ihr Amt.
Leicht, leicht! ſchwaͤrmte Guido. Darf ich
die Kraͤfte zuſammenfaſſen, kann ich auch maͤch¬
tig damit walten. Spannt mir nur Sonnen¬
roſſe an den Wagen, ich will ſie ſchon durch den
Aether lenken!
„Und doch laͤßt jene Mithe den Verwe¬
genen, der es unternahm, ſeinen Untergang
finden.“
Ein Furchtſamer hat ſie erdacht. An Phaetons
Stelle flehte ich zu Ini, und Goͤtterkraft durch¬
gluͤhte mich!
„Wahrlich, die Pruͤfung in jenem Tribunal
ſcheint dich hoch zu entflammen.„
Dieſe Bemerkung des Lehrers war richtig.
Guido ſann, von dieſem Tage an, oͤfter einſam
nach, warf Gedanken uͤber manche Voͤlkerange¬
legenheiten aufs Papier, ſchnelle Roͤthe uͤberzog
ſeine Wange, wenn edle Monarchen und ihre
Thaten genannt wurden. Oft ſprach er von dem
Tempel der Unſterblichkeit und erklaͤrte, einen
heißen Drang zu fuͤhlen, ihn zu ſehn. Habe Ge¬
duld, verſetzte Gelino, wir werden nach Rom
kommen.
Die Wanderer beſuchten nun hier verſchiedene
Lehrſtuͤhle, denn, wie der Norden von Teutonien
fuͤr das gelehrteſte Land galt, nannte dies wie¬
der die hohe Schule zu Berlin die gelehrteſte.
Ein Lehrer trug die Geometrie vor, handelte
von den ſeit etwa drei Jahrhunderten erfunde¬
nen neuen Lehrſaͤtzen, und laͤchelte dabei uͤber
die geringfuͤgigen Konzepzionen eines Archimedes,
Galilei, Newton, la Place. Doch ſetzte er auch
billig hinzu: Dieſe Maͤnner bleiben dennoch im
Verhaͤltniß zu ihren Zeiten vorteffliche Koͤpfe, daß
die
die unſrigen unendlich mehr ausſprachen, iſt eine
Erſcheinung, welche durch den wiſſenſchaftlichen
Fortgang und die immer mehr zuſammengedraͤng¬
ten Volkmaſſen nothwendig wurde.
Guido, ſelbſt ein geuͤbter Rechner, bewun¬
derte die arithmetiſchen Formeln, welche ihm
hier zu Geſicht kamen. Der Integral- und Diffe¬
renzialkalkul waren auch ſchon vollkommen ins ge¬
meine Leben uͤbergegangen, und die endlich ge¬
fundene Quadratur der Rundung, erleichterte die
Meſſung aller Groͤßen noch weit mehr.
Ueber die Mechanik vernahm er unerhoͤrte
neue Lehrbegriffe. Nur die Ausfuͤhrung mancher
davon, konnte ihn noch zu mehr Bewunderung
hinreiſſen. Denn man beſchloß waͤhrend ſeiner
Anweſenheit, einen großen Pallaſt, welcher in der
Straße, wo er gegenwaͤrtig ſtand, keine vortheil¬
hafte Anſicht darbot, nach einem freien Markte
zu ſchaffen. Sein Fundament ward geſtuͤtzt,
unterhoͤhlt, gewaltige Hebemaſchinen draͤngten
das Gebaͤude im Gleichgewicht empor, Rollen,
aus Marmorbloͤcken gehauen, empfingen daſſelbe,
und in wenigen Tagen war es unverſehrt nach
der neuen Stelle gebracht, wobei ſich an den
O
noͤthigen Wendungen die ſchwierigſte Kunſt
offenbarte.
Auf der Sternwarte eines durch neue Ent¬
deckungen beruͤhmten Aſtronomen, hoͤrte er meh¬
rere Vorleſungen. Daß man jetzt uͤber Tauſend
Millionen Fixſterne zaͤhlte, wogegen vor etwa
drei Jahrhunderten deren nur fuͤnf und ſiebenzig
Millionen angenommen wurden; daß die Zahl
der Ehedem bekannten Dreihundert und neunzig
Kometen verdreifacht ausgemittelt war, und uͤber
die Geſetze ihres Umſchwungs, die Natur der ſie
umwallenden Duͤnſte, kein Zweifel mehr beſtand;
daß die Vortrefflichkeit der Sehroͤhre ſchon die
Planeten der naͤchſten Sonnenſterne erblicken ließ,
wußte er lange; ganz unerwartet erfuhr er hier
aber, welchen bedeutenden Vorſchub die Chemie
der Sternkunde leiſtete. Denn wenn ſie zuvor
den Waͤrme- und Lichtſtoff nimmer hatte waͤgen
koͤnnen, ſo war ihr dies nunmehr ganz bequem
geworden. Es gab Waagen, die in Theilbarkeit
der Schwere Subtilitaͤten geſtatteten, die mit
denen, welche das Mikroſkop in der Sichtbarkeit
erzielt, verglichen werden konnten. Nun hatte
der genannte Sternkundige, Strahlen der Licht¬
materie, welche uns von den, viele Billionen
Meilen entlegenen, Fixſternen, nach langen Jah¬
renreihen zuſtroͤmt, in luftleeren hohlen Koͤrpern
aufgefangen, gewogen und ſcheidekuͤnſtleriſch zer¬
legt. Er wies nun den Zuhoͤrern ſeine merk¬
wuͤrdigen Reſultate vor. Es wurde durch ſie er¬
klaͤrt, weshalb das Licht vom Sirius weiß, das
vom Arktur roͤthlich ſei, warum die Glanzfarben
an den Hauptſonnen, in den Sternbildern Orion,
Leier, Kaſſiopea, Loͤwe, Eridan u. ſ. w. ſo von
einander abwichen. Aus der Natur ihrer Licht¬
ſtoffe ſchloß nun der gelehrte Mann auf die ihrer
Planeten, ſogar auf die dort nothwendigen Mo¬
difikazionen der anorgiſchen und organiſchen Koͤr¬
per, wodurch er einer ganz neuen, erhabenen
Wiſſenſchaft, ihr bewundernswuͤrdiges Feld oͤff¬
nete.
In einem Hoͤrſal der Naturkunde fanden ſich
unſere Reiſenden auch mit lebhaftem Antheil ein.
Hier zaͤhlte man die Mineralien, Pflanzen, Saͤu¬
gethiere, Voͤgel, Amphibien, Fiſche, Inſekten
und Wuͤrmer auf, welche bis jetzt entdeckt waren.
Gegen die Vorzeit hatte ſich die Zahl mehr als
verdoppelt. Dies galt aber nicht von den Thie¬
ren des Meeres, von denen einige Tauſend Gat¬
tungen in den Regiſtern der Phiſiker genannt
O 2
wurden, wo man ſonſt nur Achthundert beobach¬
tet hatte. Denn bei jeder Reiſe in den Grund
des Ozeans — wo ſich die kuͤhnen Erforſcher der
wunderſamen Tiefe, nach Maasgabe ihres Wei¬
terdringens, einen Ruf bereiteten, wie Ehedem
die Colon, Magellan, Hudſon, van Diemen,
und Tiefgebuͤrge oder Meerthaͤler nach ihren
Namen benannt ſahen — wurde man Arten an¬
ſichtig, die bis jetzt den Blicken verborgen ge¬
blieben waren, und nicht in die hoͤhere Waſſer¬
region zu dringen pflegten. Guido erfuhr viel
Seltſames davon, wandte aber der Anatomie
der Infuſionsthiere noch groͤßere Aufmerkſamkeit
zu, und die meiſte, den Lehren uͤber das Pflan¬
zenleben. Hier ſpottete man jetzt der Vorzeit,
welche die Vegetabilien einſt leblos nannte, un¬
geachtet einſaugende und aushauchende Gefaͤße
ſowohl, als die Erzeugung durch Begatten, ſie
vom Gegentheil haͤtte uͤberzeugen koͤnnen.
Die Geogenie behauptete Hipotheſen, in welche
die Bailli und Gatterer der Vorzeit ſich ſchwerlich
wuͤrden gefunden haben. Sie wollte genau angeben,
wann einſt der Erdball, nur aus Urgebuͤrgen be¬
ſtehend, durch eine aͤtheriſche Revolution von
Waſſerfluthen waͤre umfangen worden, die die
Urſache aller Lebenserſcheinungen in ſich tragend,
in dem Maaße abgenommen haͤtten, als dieſe aus
ihren Mitteln hervorgebracht waͤren. Eben ſo
berechnete ſie die endliche vollkommene Kondenſa¬
zion der Fluͤſſigkeiten, und wies dann dem er¬
ſtorbenen Felsball eine Trabantenſtelle bei einem
weit uͤber den Uranus hinaus entſtehenden oder
dann mit Lebenselement umfloſſenen Planeten an.
Andere Meinungen aber, leiteten die Geburt der
Erde, von der Begattung zweier Kometen her,
da ſie in den Aether geworfen worden, gewiſſer¬
maaßen in Eigeſtalt, wo der Urgranit als das
Gelbe, die Fluthen als das Weiße zu be¬
trachten waͤren. Die allmaͤhlige Umwandlung
der Verhaͤltniſſe des Fluͤſſigen zum Feſten, nannte
dieſe Meinung, den Wachsthum des Eies, und
ſein Entfalten zum Kometen, wo einſt das kindiſche
Einherwandeln am Gaͤngelbande der Sonnenan¬
ziehkraft aufhoͤren, und der kecke Juͤngling ſich
der Leitung ſeiner feurigen Waͤrterin entziehen
werde, nicht mehr waͤrmende Pflege von ihr be¬
duͤrfend. — Freilich zeigte ſich hier auch ſo
gut wie vormals die Beſchraͤnkung des menſch¬
licher Wiſſens, und Guido draͤngte den Lehrer
bald mit Fragen, auf die er keine Antwort hatte.
Die Philoſophie ſah dies gegenwaͤrtig wohl
ein und trug zur Belehrung nur ihre eigne Ge¬
ſchichte vor. Die letzteren Siſteme, die juͤngſten
Traͤume vom Ueberſinnlichen, mußten nothwen¬
dig, nach einem um ſo groͤßern Maaßſtabe ange¬
legt worden ſein, als die Erkenntniß im Gebiet
des Sinnlichen ſich mehr ausgebreitet hatte.
Man trug ſie vor, beſchied ſich abzuſprechen und
uͤberließ jedem Denker — ſich zum hoͤchſten We¬
ſen anbetend zu wenden.
Guido, bereits fruͤh mit jugendlicher Weisheit
ausgeſtattet, zeither, wie wir ſchon berichtet ha¬
ben, eifrig dem Studium der weiſeſten Schrif¬
ten dieſer Zeit hingegeben, umfaßte nun, ſchnell
in ſich aufnehmend, was er hier ſah und hoͤrte,
und vollendeter wurde der tiefe kraͤftige Denker.
Die Hochgefuͤhle ſeines ſtammenden Thatentrie¬
bes, wurden dadurch wechſelnd gemildert und
angefacht.
Wahre geiſtige Religion, in Bewunderung
der Natur und Allmacht, lenkte ſein Gemuͤth
zum hoͤheren Aufflug als je, und die Liebe, in
ihrer immer reineren Miſtik, ſchmiegte ſich an
alles Empfundene und Gedachte.
Allein der Ausdruck eines ſo ſchoͤnen Geiſtes
praͤgte ſich auch immer vollendeter in ſeiner Ge¬
ſtalt aus. Er fuͤhlte, ſah es mit Frohlocken,
ſchrieb an Ini: Wenn ſein Auge, vielmehr ſein
Herz nicht luͤge, muͤſſe er nun ſehr nahe an ſei¬
nem Goͤtterziele ſtehn. —
Man beſah noch das Innere von Berlin em¬
ſig. Ein altes Zeughaus lag in ehrwuͤrdigen
Ruinen da. Es war nicht wieder erbaut worden,
indem bei der jetzigen, gluͤcklichen Verfaſſung
von Europa, in der Mitte des Staates keine
Waffenvorraͤthe noͤthig waren.
Ein Standbild Friedrichs II. zog Guidos
Blicke auf ſich. Sein Lehrer ſagte: Dieſem
Koͤnig war freilich Neigung zum blutigen Ruhm
vorzuwerfen, und er fuͤhrte Kriege, die aller¬
dings zu vermeiden geweſen waͤren. Doch ent¬
ſchuldigt der rohe Charakter ſeiner Zeit viel
daran. Hingegen wußte er den Monarchenberuf,
der ſich mit dem Ganzen zum Vortheil Aller
verinnigen, und das Staatsſchiff im Strome der
Zeit dahin lenken ſoll, ohne ſeine Wogen vor¬
auseilen zu laſſen, oder ihnen ſelbſt voranzuflie¬
gen, ſo richtig zu erfuͤllen, daß manche Zuͤge
ſeines Regentenlebens, ſogar jetzt noch, jungen
Gekroͤnten Muſter leihen duͤrfen. Deshalb prangt
auch nicht allein hier ſein Denkmal, ſondern
ſeine Reſte wurden ſpaͤterhin auch nach Rom ge¬
bracht. Du ſiehſt ſeine Urne dort im Tempel
der Unſterblichkeit. Hatte ſein Volk ſich zur
Groͤße aufzuſchwingen verſtanden, wie ſein Koͤ¬
nig, ſo ging vielleicht Europas ſchoͤnere Ent¬
wickelung, von Friedrichs Monarchie aus.
An dem Marmorbilde einer Koͤnigin des Al¬
terthums, weilte der Juͤngling bewundernd. Ge¬
lino unterrichtete ihn: Dieſe Huldin auf dem
Throne, Luiſe genannt, ſei die ſchoͤnſte Frau ihrer
Zeit geweſen. Auch waͤre die Vorliebe fuͤr ihre
Geſtalt hier ſo lebendig auf die Nachkommen uͤber¬
gegangen, daß man ſie in den Marientempeln,
durch Kuͤnſtler von Athen, noch immer nachah¬
men ließe.
Es befand ſich auch ein Pantheon in dieſer
Stadt, wo die Bildniſſe verdienter Maͤnner in
dieſen Gegenden, aus neuer und aͤlterer Zeit
aufgehangen wurden. Man ſahe hier Al¬
brecht, Waldemar, Luther, Copernikus, Gue¬
rike, Friedrich Wilhelm, Leibnitz, Kant, einen
gewiſſen Rochow, einen gewiſſen B*** — —
doch der Verfaſſer dieſes Werkleins mag es nicht
unternehmen, die noch anzugeben, welche ſein
prophetiſcher Traum ſah, mancher Aſpirant der
Unſterblichkeit wuͤrde zuͤrnen, ſich zu vermiſſen.
Wir wollen nun mit unſerer Reiſe mehr ei¬
len, ſprach Gelino. Hinlaͤnglich ſahſt du das
arbeitſame Treiben kleiner Staͤdte und auf dem
Lande in dieſer Erdgegend. Laß uns die ſchnelle
Luftpoſt dingen.
Noch vor Aurora klang das Horn, die Rei¬
ſenden warfen ſich in die Gondel. Morgen¬
ſchlummer ſank noch uͤber ſie. Als ſie davon auf¬
daͤmmerten, ließ ſich das Fahrzeug ſchon auf
die Boͤhmiſche Bergkuppe nieder, wo ſich die
erſte Station nach Wien befand. Neue Adler
flogen muthiger uͤber die lachenden Ebenen hin,
man ſah die rauchenden Sudeten, gleich Altaͤ¬
ren, von denen dem Ewigen der Andacht Opfer
emporwallte; die Elbe, die Moldau gleich ge¬
ſchlaͤngelten Silberfaͤden; Glockenklaͤnge, Ernte¬
lieder, ineinander gewebt, toͤnten zu ihnen her¬
auf. Gegen Mittag ſchwebte das ſonnenbeglaͤnzte
Prag voruͤber, zwei Stunden danach nahmen ſie
auf einem Huͤgel in Maͤhren, wo die zweite
Luftpoſt erbauet war, ein erfriſchendes Mahl.
Dann ward wieder angeſpannt und das Sehrohr
entdeckte ſchon die ehrwuͤrdige gothiſche Piramide,
Ehedem ſammt ihrer Kirche dem heiligen Ste¬
phan geweiht, nun ein Chriſtustempel, noch
dauerhaft genug, ferne Jahrhunderte zu ſehen.
Am Abend zog man uͤber die Wipfel des Pra¬
ter hin, vielen Luſtwandelnden in der Hoͤhe be¬
gegnend, und der Fuhrmann ſenkte ſeine Paſſa¬
giere auf die Platteforme des Gaſthauſes, zum
Ochſen genannt, nieder, das ſeinen alten Na¬
men in dem Betracht nicht geaͤndert hatte, daß
ein Ochs zu allen Zeiten ein venerables Thier
bleiben wird.
Sie ſpeiſten noch weit leckerer zu Nacht als
in Berlin, die Enkel waren hierin den Vaͤtern
treu geblieben, auch das Bad enthielt mehr aro¬
matiſche Beimengungen, ſtaͤrkte die Lebensgeiſter
und munterte hoͤher zu Genuͤſſen auf.
Am andern Tag beſahen ſie die Stadt und
das von Schiffen wimmelnde Baſſin der Donau,
welches hervorzubringen, die alte Brigittenau
zerſtoͤrt worden.
Gelino erzaͤhlte ſeinem jungen Freunde: wie
kunſtreich-muͤhevoll denkende Regierungen bewirkt
haͤtten, daß Seeſchiffe die Donau ſtromauf haͤt¬
ten befahren koͤnnen, was in alten Zeiten, bei
allem erfinderiſchen Fleiß, nicht einmal mit klei¬
nen Kaͤhnen ſei thunlich geweſen. Eine Ueber¬
einkunft mit Griechenland, große Summen und
das Ausharren bei vieljaͤhriger Arbeit, haͤtten den¬
noch allen Widerſtand beſiegt. Da der zu ſtarke
Fall des Stromes alle Hinderniſſe legte, waren
zu ſeinen Seiten hohe Daͤmme aufgefuͤhrt, das
Flußbette vertieft und geaͤndert, und demnaͤchſt
von dreißig Meilen zu dreißig Meilen bis zum
ſchwarzen Meere Waſſerfaͤlle angelegt worden, die
dem von Niagara fluͤchtig glichen. So hatte
die Hidraulik die Fluthen zu einem ruhigen Lauf
gezwungen. Kam nun ein Schiff dem Strom
entgegen — entweder vom Winde oder von Ma¬
ſchinenruderwerken geleitet — bis an einen Waſ¬
ſerfall, hob es eine Schleuſe empor; im ande¬
ren Falle trug ſie es nieder.
Noch eine andere gigantiſche Arbeit hatte der
Unternehmungsgeiſt hier vollbracht. Lange ſchon
waren die Einwohner der Meinung geweſen, je¬
ner Zweig der Steiermaͤrkiſchen Gebirge, unter
den alten Namen, Kalenberg und Leopoldsberg,
bis ans Donauufer dringend, erkaͤlte die Gegend
und mache die Witterung unbeſtaͤndig. Ohne
ihn, war man uͤberzeugt, muͤſſe das Klima ſo
freundlich ſein, als unter gleicher Breite in Un¬
garn. Nicht nur auf ſich, ſondern auch auf die
Enkel blickend, hatten alſo die Großvaͤter —
dieſen Namen zwiefach tragend — eine Summe
zuſammengebracht, um funfzig oder achtzig Jahre
hindurch, einige Tauſend Arbeiter und Laſtthiere
damit verpflegen zu koͤnnen. Weit hinauf gegen
Steiermark zu, wurden nun die Berge geſprengt,
und zwar nicht mit Pulver, um die Stadt nicht
zu erſchuͤttern, ſondern durch kuͤnſtlich darin er¬
zeugtes Eis, was auch fruͤherhin begreiflich ge¬
weſen waͤre, da man ſchon im achtzehnten Jahr¬
hunderte, die Kraft, welche eine Bombe, mit
Waſſer gefuͤllt, das in Froſt uͤbergegangen iſt,
ſprengt, auf 3351 Pfund berechnete. Die zer¬
ſtuͤckelten Felſen, ſchafften nun Prahmenwagen
von ungewoͤhnlicher Groͤße, auf einer eigen dazu
gefertigten Kunſtſtraße aus Eiſenerz, nach Maͤh¬
ren. Da ſie aber keine Bruͤcke haͤtte tragen
koͤnnen, mußte man ſich entſchließen, einen hoh¬
len Gang unter der Donau hin zu woͤlben, ge¬
gen welchen die geprieſenen unterirdiſchen Kanaͤle
im alten Rom, nur ein Spielwerk zu nennen
waren. In Maͤhren ward das Gebirge wieder
aufgefuͤhrt. Nun wehten die ſuͤdlichen Luͤfte freier,
die aus Norden wurden betraͤchtlich gehemmt.
Durch alle ſolche Maaßregeln hatte die Be¬
voͤlkerung der Stadt bis auf eine Million zuge¬
nommen. Die alten Feſtungwerke vertilgte man
laͤngſt, wo ſonſt die Vorſtaͤdtiſche Linie ging, be¬
graͤnzte ſich nunmehro die Stadt, die neuen Vor¬
ſtaͤdte floſſen nicht nur mit Schoͤnbrunn, Dorn¬
bach, Nußdorf, ſondern ſogar mit Enzersdorf
und Neuburg zuſammen. Vergnuͤgungen und
Wohlleben wurden uͤberall ſichtbar. Guido be¬
ſuchte an einem Abend den maskirten Ball. Sein
Lehrer folgte ihm nicht, hatte Daheim zu ſchrei¬
ben. Die alte Sitte, ſich ſcherzend zu verlar¬
ven, beſtand noch, doch feinſinniger und deu¬
tungreicher. Der Juͤngling erblickte viele Schoͤn¬
heiten, anziehend durch liebliche Formen, bei al¬
lem dichten Gewande. Doch ruhte ſein Auge
mehr neugierig als betroffen darauf. Eine aber
darunter, wie Hebe gekleidet, das Geſicht bis
an den Mund verſchleiert, regte ſeine Aufmerk¬
ſamkeit lebendiger an. Hoͤchſt edler Gang, be¬
zaubernde Harmonie in allen Bewegungen, der
untere Theil des Geſichts, wo ſich das Kinn in
zarten Wellenlinien, der ausdruckvolle, laͤchelnde
Mund in zwei roſenhaft prangenden, ſanft ge¬
ſpannten Lippen, darſtellten, begannen ſeinen Puls
zu erhoͤhen. Alles mahnte ihn an Ini, nur eine
etwas laͤngere Geſtalt ſah er hier. Er konnte
nicht umhin, der freundlichen Erſcheinung im
Gedraͤnge zu folgen, den trunkenen Blick ihr
nachzuſenden, endlich bebend die Maske zum
Tanz einzuladen. Sein Verlangen ward erfuͤllt,
ſelig flog er mit der Schoͤnheit durch die Rei¬
hen. Ihre Beruͤhrung traf ihn wie elektriſche
Funken. Gefuͤhle wie aus anderen Welten
durchſtroͤmten ihn. Die Muſik, nur Melodien
der Liebe und Wolluſt athmend, nahm das noch
Uebrige ſeiner Beſonnenheit hin.
Wien, ſchon im Alterthum ſeiner Tonkuͤnſtler
wegen geruͤhmt, hatte auch zeither hierin den
Vorrang behauptet. Die Revoluzion der Muſik,
Ehedem kaum geahnt, war von Wien ausge¬
gangen. Wo ſonſt die Toͤne wild und dunkel
ſchwaͤrmten, fand jetzt alles klare Bedeutung.
Die Muſik hatte, was ihr immer fehlte, ihre
Grammatik empfangen, auf dieſe gruͤndete ſich
die Uebereinkunft wegen ihrer Sprache. So
konnten die beſtimmten Zuſammenklaͤnge, Figu¬
ren, Zeitmaaße, Worte vertreten; Poeſien, Re¬
den u. ſ. w. ausgefuͤhrt werden, die der leicht
Unterrichtete vollkommen verſtand. Einem Goͤtter¬
idiom glich die herrliche Erfindung. Welchen Ein¬
druck mußte ſie hervorbringen!
Bei der Tanzmuſik entſtanden oft Klagen der
Polizei, wenn ſie zu uͤppige verfuͤhreriſche Klang¬
worte ſprach. Wie jener Grieche einſt die Sai¬
ten der Lira verminderte, wie Gregor VII. bei
dem Tempelchor auf groͤßere Einfalt drang, ließ
ſich jetzt eine Cenſur die Tanzſtuͤcke vorzeigen,
und ſtrich manche Notenphraſe. Bei den maskir¬
ten Baͤllen ſah ſie indeſſen hie und da nach,
vielleicht zu ſehr, und ſo ging dem zu weit hin¬
geriſſenen Juͤngling, die alte Strenge gegen lei¬
denſchaftliche Aufwallung, beinahe zu Grunde.
Guido knuͤpfte, mit ſeiner Taͤnzerin im Neben¬
zimmer ruhend, warme Unterredungen an. Sie
war im Anfang einſilbig, antwortete jedoch im¬
mer mit Witz und Gehalt. Auch tiefe, himmel¬
volle Empfindung verkuͤndete ſich in ihren Wor¬
ten. Guido ſagte ihr, ſeiner nicht laͤnger maͤch¬
tig: Ich liebe ein Maͤdchen daheim, ach mehr
wie das Goͤttliche in der Natur, nimmer wankte
mein Herz — als vor deinem Anblick!
Die Verſchleierte gab zu Antwort: Der
Uebergang von Liebe zu Liebe lohnt mit hoher
Wonne. Der ſtrafende Vorwurf, was kann er,
als den neuen ſeligen Taumel wuͤrzen!
Guido rief: O wie unterwirft mich der Zau¬
berklang deiner Stimme! Dein Auge ſtrahlt
helle Glorien durch den Schleier. O warum
darf ich es, warum die Bluͤthe der Wangen
nicht ſehn?
Hier nicht, entgegnete die Schoͤnheit, doch
folge nach meiner Wohnung.
Sie ſtand auf, eine ganz verhuͤllte, aͤltliche,
weibliche Maske, trat hinzu, begleitete Jene.
Guido zauderte lange. Ein draͤngender Zug,
den Himmel weiſſagend, gebot ihm ihr nachzu¬
eilen, eine innere tadelnde Stimme hielt ihn zu¬
ruͤck. Doch eine weiche Hand, die die ſeinige
ergriff, und mit aͤtheriſcher Waͤrme durchgluͤhte,
ließ keine Wahl mehr.
Unten harrte ein niedlicher Wagen. Die
Masken ſtiegen in denſelben. Guido nahm ruͤck¬
waͤrts ſeinen Platz, man rollte dahin. Das Herz
von ſuͤßen Erwartungen bebend, die Gewiſſensre¬
gungen niederkaͤmpfend, ſaß der Liebegluͤhende da,
zur Rede kaum ermannt.
Man hielt an einem Gartenthor, das ſich auf
ein
ein Zeichen oͤffnete. Holde Blumenduͤfte athme¬
ten den Eintretenden entgegen. Der roͤthlich
aufgehende Mond ſchien durch die bluͤhenden
Orangenbaͤume, die holde Maske fuͤhrte Guido
nach einem Luſthauſe, wo eine kleine Lampe vor
einem hohlgeſchliffenen großen Amathiſt brannte.
Dieſe magiſche Helle verklaͤrte alle Gegenſtaͤnde
umher. Koͤſtliche Teppiche waren im Zim¬
mer ausgebreitet, das Ruhebett im Hintergrunde
umfloß eine kuͤnſtliche Wolke, aus dem Rauche
ſuͤß betaͤubender arabiſchen Spezereien. Die Maske
fuͤhrte Guido hinein, alle Fibern und Nerven
erklangen in ihm. Er ſtammelte: Nun, nun,
laß mich dein Antlitz ſchauen! — „Nicht ehe,
bis du mir, ein Abtruͤnniger deiner vorigen Er¬
waͤhlten, ewige Liebe ſchwoͤrſt.“
Guido erſchrack heftig, ſeine Sinnenverwir¬
rung nahm jedoch zu.
Dann, fuhr ſie fort, biſt du mein Gott die¬
ſe Nacht, deine Jo umarmt dich in dem Zauber¬
gewoͤlk.
Guido ſchlug auf die Bruſt. Die Lippe wollte
ſich oͤffnen, doch ſeine Hand hatte Inis Bild
am Herzen verborgen, getroffen. Dies rief ihm
Ermannung durch die Seele. Er riß das Ge¬
P
maͤlde hervor, warf einen Blick darauf, hohe
Gewalt der Unſchuld kehrte ihm zuruͤck. Nein,
Verfuͤhrerin, rief er, Treue iſt ſchoͤner als Wol¬
luſt! Heil mir, dem der Muth zu fliehen er¬
wacht!
Er eilte aus der Grotte, ſtark, kraͤftig in
wiedergekehrter Tugend. Es ſchien ihm, als ob
himmelſuͤße Stimmen ihn zuruͤck riefen, er
widerſtand.
Am Gartenthor angekommen, fand er es
verſchloſſen, was ihn peinigend aͤngſtete. Er
wollte hinaus in die Freiheit, deſto ehe Meiſter
zu ſein der gefaͤhrlichen Leidenſchaft, in Gelinos
Armen Schutz dagegen ſuchen, wenn die eigne
Kraft nicht mehr zulange. Seine Furcht war
heftig, doch gerecht. Er wußte auch, der wahre
Muth koͤnne ſich der Verfuͤhrung nur entwinden, und
ſein feiges Beben durchflammte Heldengefuͤhl.
Umſonſt bemuͤht das Thor zu oͤffnen, weilte
er mit Einemmale ſtarr und unbeweglich. Eine
Melodie ergriff ihn ſo wunderbar. In holden
Zaubertoͤnen redend, edler, ſiegender, wie alle
die er in Wien gehoͤrt hatte, doch ſchon einſt
von ihm gehoͤrt, loͤſte ſie goͤttlich ſeine innere
Welt. Erinnernd, die ſeligſten Bilder der Vor¬
zeit im Gefolge, traf ihn die Melodie. Die
Saiten einer Zephirharmonika ſtroͤmten ſie nie¬
der, dort in Sizilien hatte ſie ihn einſt zu einem
verklaͤrteren Daſein emporgetragen. Was hieß
das? Was ſollte Guido denken?
Er konnte nicht mehr fliehn, wandte ſich um,
nach der Seite des Klanges horchend. Suͤß lis¬
pelten die Zweige der bluͤthenduftenden Linde,
im ſtaͤrker wehenden, warmen Abendwind. Hoͤ¬
her ſchwebte der klare Mond, heller goſſen ſich
ſeine Strahlen auf die Wipfel nieder, Guido
ſah etwas uͤber dieſen Wipfeln, ſanftleuchtend und
roſig ſchimmern, und wandelte bebend den Pfad
dorthin. Die ſchwarze Maske trat ihm entgegen,
nahm ihn bei der Hand, fuͤhrte ihn durch eine
dunkle Kruͤmmung, wo er aus den Blick ver¬
lor, was er eben geſehen hatte, doch immer
noch, die Melodie vernahm. Kein Wort konnte
die Lippe ſtammeln. Bald endete das Dickigt
vor einem freien mondbeglaͤnzten Huͤgel, und
voͤllig ſichtbar in der ereilten Naͤhe, winkte das
hohe Inſtrument, dem aͤhnlich, das Guido auf
dem heimathlichen Eiland entzuͤckte. Die Hebe
ruͤhrte nun ihre Saiten nicht mehr, ſtieg herab,
ach! wie einſt Ini im Abendſchein. Guido ſank
P 2
aufs Knie, Ahnung, Verwirrung, Furcht und
ſelige Wonne zugleich im Buſen. Des Maͤdchens
weißer Arm zog den Schleier vom Antlitz — o
Himmel! — Geliebte! Mehr vermochte der Juͤng¬
ling nicht zu ſagen.
Ini trat naͤher, erhob ihn laͤchelnd. Pruͤfen
wollt' ich deine Liebe, ſprach ſie, Athania war
Zeugin von Allem. — Die ſchwarze Maske ent¬
huͤllte auch ihr Geſicht.
O ich bin ein Unwuͤrdiger, verdiene den Tod!
rief Guido mit zerriſſenem Gemuͤth.
Richte, Athania! ſprach Ini wieder.
Die Erzieherin fing an: Maͤnnlich haſt du
der ſcheinbaren Verfuͤhrung widerſtanden. Deine
Flucht war Treue und Tugend. Nicht darf dich
die Liebe anklagen.
O Ini, brach Guido aus, der Schrecken in
nie geahnten himmelvollen Entzuͤckungen verwirrt
mir die Seele. Laß mich Beſonnenheit ſammeln,
damit ich mein Herz fragen koͤnne, ob Schuld
ſeine Reinheit truͤbt? Dann — o dann will ich
entfliehn, mich ewig zu verbergen!
Frage, entgegnete hold das Maͤdchen.
Guido ſchwieg lange, mit tief geſenktem Blick;
dann hob er das Auge langſam empor, doch
freier, klarer.
Freudig erroͤthend rief Ini: So blickt nur
die Unſchuld auf. Du biſt rein!
Ach, entgegnete Guido, wenn deine Geſtalt
mich einen Augenblick mir ſelbſt raubte, ſo konnte
es auch nur dieſe, dieſe Geſtalt. Ich habe mich
nicht anzuklagen, ſie gebietet meinem Leben.
Er blieb deiner werth, fiel Athania ein, gluͤck¬
liche Freundin!
Wenn meine alten Bedingungen erfuͤllt ſind,
iſt er meiner werth; und ich ſeiner, wenn ich
ſelbſt vollbrachte, was ich mir einſt aufgelegt
habe, war Inis Antwort.
Sie nahm Guido bei der Hand, ihn in ein
erleuchtet Gemach zu bringen. Er folgte, immer
noch mit einigem Zittern. Ich bin nach Afrika
beſchieden, ſagte ſie auf dem Wege, ohne zu
wiſſen, wie lange ich ausbleibe. Du kamſt nach
Wien, der Abſtand von Sizilien iſt ſo weit nicht,
ich beſchloß, dich hier zu ſehn, zu pruͤfen, mie¬
thete den Garten. Doch nur eine Stunde kann
ich noch weilen, dann ſteige ich in meinem Wa¬
gen auf und fliege zur Heimath.
Sie hatten das Gemach erreicht, hohe freu¬
dige Beſtuͤrzung uͤber des Maͤdchens vollkomme¬
nere Schoͤnheit in Guidos ſtrahlendem Blick, aber
auch das naͤmliche ſuͤße Staunen in Inis gluͤ¬
hendem Auge. O, rief ſie, viel, viel hat mein
Guido waͤhrend ſeiner Entfernung gethan, die
innere Schoͤnheit auszubilden, der letzte Sieg
goͤttlicher Tugend machte dich verwandter noch
mit meinem Ideal, der unverkennbare Zug des
edlen Triumphgefuͤhls iſt dir auf ewig ein¬
gepraͤgt.
„O Ini — ich weiß mich nicht anzuklagen,
und dennoch — ich haͤtte nicht folgen ſollen —“
Ohne Gefahr kein Kampf, ohne Kampf kein
Sieg.
Guido ließ nun ſeinem Entzuͤcken uͤber Inis
neue hinreißende Anmuth freien Lauf.
Sie ſprach: Das Weib kann daheim nur im
Stillen ſinnen, wo der Mann in die Ferne
ſchweift, handelt, wirkt. Doch uͤber ſein Han¬
deln und Wirken ſinnt eben einſame Liebe un¬
geſtoͤrt, und fraͤgt das ruhige Gefuͤhl nach dem
Rechten, Guten, Wahren. Ich, die Malerin,
erſann daheim deine Aufgabe. Mein Gefuͤhl
weiſſagte ihre Loͤſung. Der Geiſt deiner Liebe
mußte ferner walten, und redlich hat er gewal¬
tet. Doch iſt das Ziel noch nicht erreicht. Viel¬
leicht lange noch nicht. Sei nicht traurig. Die
Zeit vor dir, die Kraft in dir, werden maͤchtig
fortgeſtalten. Nur vergiß nicht, daß du Gemuͤth
und Geiſt in immer vollkommeneren Einklang
bringen mußt, den Preis der hoͤchſten Schoͤnheit
davon zu tragen. Noch gab' dein Gemuͤth oft
zu vielen Ausſchlag. Dieſer Durſt nach Helden¬
ruhm, um den ich dich einſt anklagte, wenn er
gleich dem Manne ziemt, muß ſich der Betrach¬
tung uͤber die ſchoͤnere Eintracht der Menſchheit
unterwerfen. Das Wiſſen, die hellere Ueberſicht,
muͤſſen dieſe Betrachtung rufen. Doch wenn Pflicht
es gebeut, mußt du entſagen koͤnnen, auch wirk¬
lich entſagen. Dies Wort verſtehe wohl, dann
wird erſt das Goͤttliche in Herrlichkeit den inne¬
ren Menſchen durchſtrahlen, und von vollendeter
Bildung die verklaͤrte Geſtalt zeugen. Roher
Sinnenwahn, niedere Leidenſchaft gebieten nicht
mehr in dir, durch den letzten Kampf haſt du
dich ihnen ganz entwunden, des Denkers gereif¬
tere Kraft wohnt auf der weit vorgedrungenen
Stirn, was den Linien im Antlitz ſonſt hie und
da ein Mißverhaͤltniß erzog, iſt viel ausgeglichen.
Viel — nicht vollkommen. Noch Uebung im
edlen Denken, im richtigen Empfinden, noch
ein großer Triumph uͤber ſelbſtſuͤchtig Begeh¬
ren, und ich hoffe, du ſtehſt am Ziel.
Es folgte eine himmelvolle Stunde trunk¬
ner Unterhaltung. Sie floh wie ein Augenblick.
Dann mahnte Athania. Kein Flehen hielt Ini
zuruͤck. Sie erhob ſich im mondbeleuchteten aͤthe¬
riſchen Wagen, flog unter den Sternen hin, ei¬
nem Seraph aͤhnlich, in der Glorie aus Lunens
Strahl gewunden, und ſchwand dann in blauer
dunkler Ferne dem entwichenen Meteor gleich.
Guido empfand die Nacht und den folgenden
Tag hindurch, nur den Nachklang der ſeligen Er¬
ſcheinung, alles um ſich vergeſſend; dann er¬
mannte er ſich, und drang wieder, um den ſchoͤ¬
nen Preis kaͤmpfend, ins Leben. —
Die Reiſe ging nun nach Frankreich. Es
wuͤrde zu viele Zeit geraubt haben, noch laͤnger
in Deutſchland zu weilen, ob gleich noch viel
Sehenswerthes uͤbrig blieb, das ſie in Muͤnchen,
Stuttgardt, Frankfurt u. ſ. w. haͤtten betrachten
koͤnnen, als beſonders kluge Einrichtungen, Mo¬
numente alter trefflicher Fuͤrſten, Volkfreuden.
Doch ſie mußten es, nach dem einmal gewaͤhl¬
ten Plan, bei den groͤßten Staͤdten bewenden
laſſen.
Unfreundliche Herbſtwitterung ſtoͤrte die Reiſe
in etwas. Wenn ſich der Luftwagen vom Poſt¬
hauſe aufſchwang oder bei dem folgenden nieder¬
ſenkte, hatten die Adler Muͤhe, gegen die Stuͤrme
anzukaͤmpfen. Außerdem hielt man ſich jedoch in
der hoͤheren Region, wo kein Wind mehr ſauſte,
und die angeſpannten Thiere konnten bequem ih¬
ren Pfad verfolgen. Gegen die Kaͤlte ſchirmten
artige Oefen von duͤnnem Blech, mit Papier ge¬
heißt, und Pelzhuͤllen von Schwanenfell.
Am Rhein und in den Gegenden des ehe¬
maligen Lothringens, freute ſie der laute Winzer¬
jubel der unter ihnen toͤnte, eben ſo die uͤberall
noch dichter als in Germanien angebaute Land¬
ſchaft. Ohne Unfaͤlle erlebt zu haben, erblickten
ſie bald das weitlaͤuftige Paris, deſſen Vorſtaͤdte
jetzt mit Meaux, St. Denis, Verſailles u. ſ. w.
zuſammenhingen.
Guido wunderte ſich uͤber eine duͤnne ſpitze
Saͤule von niegeſehener Hoͤhe, die eine ſeltſame
Geſtalt hatte und fragte ſeinen Lehrer, was er da¬
von zu denken haͤtte? Dieſer erklaͤrte ihm, wie
die Pariſer ſchon lange damit unzufrieden gewe¬
ſen waͤren, bei regnigtem Wetter ihre enggebaute
Stadt ſo unreinlich zu ſehn. Die Erfindung haͤtte
ſich in mancherlei Mitteln gegen dieſen Uebel¬
ſtand erſchoͤpft. Es ſei im Werke geweſen, die
nahenden Regenwolken jedesmal durch Kanonen
von. Luftbatterien zu zerſtreuen und ſo die At¬
moſphaͤre der Stadt zu reinigen. Allein die Ei¬
genthuͤmer der Gaͤrten in den Umgebungen, haͤt¬
ten ſich uͤber dieſe Maaßregeln mit Recht be¬
klagt, weshalb man ſie einſtellen muͤſſen. End¬
lich aber ſei ein Projektant aufgetreten, mit dem
rieſenhaften Entwurf eines Regenſchirms fuͤr die
eigentliche Stadt.
Die duͤnne Spitzſaͤule, fuhr er fort, iſt es.
Eine Geſellſchaft Aktieninhaber beſorgte die Er¬
richtung; eine kleine Abgabe aller Einwohner,
fuͤr die trockne Reinlichkeit willig gezollt, traͤgt
den Zins und die fortlaufenden Koſten. Die
Saͤule ſteht genau in der Mitte von Paris.
Zweitauſend Schuh hoch, beſteht ſie aus ſtarkem
Granit, auf einer hinlaͤnglich feſten Grundlage.
Dann folgen bis zur Spitze wohlzuſammenge¬
fuͤgte Eichenſtaͤmme, um welche Eiſenringe lau¬
fen. Eine Wendeltreppe von Außen fuͤhrt vom
Fuß bis zur Hoͤhe.
Der ungeheure Schirm beſteht aus einem von
Hanffaͤden gewebten Tuch, mit waſſerdichtem
Firniß uͤberzogen. Wallfiſchrippen, durch Klam¬
mern verbunden, ſpannen ihn bis zur Mitte,
von da wird der gardinenartig aufgehobene
Theil, mittelſt gewaltiger Taue, die nach allen
Seiten in Abſtaͤnden von Hundert Klaftern, zur
Erde gehn, niedergezogen und wieder empor ge¬
bracht. Die Erhebung der Wallfiſchrippen voll¬
zieht ein ungemein kunſtreicher Mechanismus.
Indem er noch ſprach, umdunkelte ſich der
ſchon truͤbe Himmel noch mehr, die Gewoͤlke
nahmen gegen die Stadt ihren Lauf. Eine
Fahne wehte ploͤtzlich vom Gipfel der Piramide,
das Zeichen fuͤr ſaͤmmtliche Arbeiter an ihr Werk
zu gehn. Nun waͤhrte es kaum zwei Minuten
und das weite Gezelt breitete ſich uͤber die Tem¬
pel und Haͤuſermaſſen hin. Der Poſtillon trieb
die Adler maͤchtig an, um auch bald den Schutz
zu genießen, und in kurzem befand man ſich
unter der wohlthaͤtigen Decke, auf welche der
Platzregen mit dumpfhohlem Getoͤſe niederſchlug.
Guido bewunderte am meiſten die Roͤhren des
Umkreiſes, die das abſtroͤmende Waſſer auffingen,
und in die verſchiedenen, zu dieſem Zweck gegra¬
benen, Teichbaſſins leiteten, die wieder einen
Abfluß in der Seine fanden. Er betheuerte: un¬
ter allem Merkwuͤrdigen, was er noch auf der
Wanderung geſehen, ſtaͤnde dieſer Paraplu oben
an. Es iſt auch ein Erdenwunder von Kunſt,
ſagte Gelino.
Sie ſtiegen im Poſthauſe ab, uͤbergaben
Traͤgern ihr Gepaͤck, und eilten zu einem Wechs¬
ler, wo der Lehrer Summen, fuͤr ihren Aufent¬
halt noͤthig, in Empfang nehmen wollte. Un¬
terwegs ſtellte ſich ihnen ein ſonderbarer An¬
blick dar.
Ein Menſch bettelte. Dies war ſo unerhoͤrt,
daß das aufgeregte Mitleid keine Graͤnzen kannte.
Aus allen Haͤuſern eilte man hervor, den
Ungluͤcklichen mit Wohlthaten zu uͤberhaͤufen,
der ſich auch bald in Beſitz ſo vielen Geldes
ſah, daß er flehend bitten mußte, nur einzu¬
halten.
Guido reichte ebenfalls hin, was er bei ſich
trug, und fragte den Lehrer: wie ſo eine, die
Menſchheit entwuͤrdigende, Erſcheinung moͤglich
ſei? Dieſer erkundigte ſich naͤher, und erfuhr:
der Mann waͤre aus dem ſuͤdlichen Amerika, und
durch einen Schiffbruch um ſeine Habe ge¬
kommen.
Guido ſchauderte bei der Nachricht von ei¬
nem Schiffbruch. Sie waren jetzt uͤberaus ſel¬
ten, nur ein bedeutender Fehler des Piloten
konnte es dazu kommen laſſen. Denn bei den
genauen Karten vom Meergrunde, der ſchon
ſeit mehr als einem Jahrhundert entdeckten
Berechnung der Laͤnge, den herrlichen Mitteln
bei Nacht einen weiten Umkreis zu erleuchten,
konnte man beliebig jeder Gefahr entfliehn,
auch der dauerhaften Bauart der Schiffe und
der Moͤglichkeit, faſt uͤberall vor Anker zu gehn,
nicht einmal zu gedenken. Hier hatte inzwiſchen
ein Schiffer ſtrafbare Nachlaͤſſigkeit verſchuldet.
Das Betteln aber mußte darum maͤnniglich
ſo befremden, weil auch ſeit laͤnger als einem
Jahrhunderte es in Europa unerhoͤrt war. Denn
Staatsordnung, Sitte, moraliſches Gefuͤhl hiel¬
ten Jeden zur Thaͤtigkeit an, und da Landbau
und Handwerke, durch tiefere Naturkunde und
viel erweitete Technik, ſo leicht, ſo uͤberfluͤſſig
die Lebensnothwendigkeiten hervorbrachten, ſo
war es auch der Betriebſamkeit des Einzelnen, ſie
mochte beſtehn worin ſie wollte, nur ein Spiel,
ſeinen Antheil zu erwerben. Die erhoͤhte Be¬
voͤlkerung, ſtatt dieſe Leichtigkeit zu ſtoͤren; mußte
ſie vielmehr, ihrer ganzen Natur nach, foͤrdern,
woran man, nur bei irriger Kenntniß der moͤg¬
lichen Fruchtbarkeit des Erdbodens, zweifeln kann.
Allein weiſe Anordnungen dachten auch auf
Krankheitfaͤlle Unbemittelter, auf Verſtuͤmmelte,
auf hohes entkraͤftetes Alter. Um nun in ſol¬
chen Faͤllen ein Recht auf Unterſtuͤtzung zu be¬
gruͤnden, hatte jedes Kind, ohne Ausnahme,
bei ſeiner Geburt, eine kleine Summe zu er¬
legen, oder vielmehr die Aeltern ſtatt ſeiner.
Zudem jede einzelne Perſon, einen geringen
monathlichen Beitrag. Die Summen wurden
kluͤglich bewirtſchaftet, wuchſen dann ſehr na¬
tuͤrlich hoch an, und konnten viel beſtreiten. Um
aber die monathliche Erhebung der Beitraͤge
minder weitlaͤuftig zu machen, hatte man ſie in
eine, durch ganz Europa gleichmaͤßig aufgelegte,
ſehr geringe Akziſe, verwandelt. Nun mochte
ſich Jemand aber in Europa auch befinden, wo
er wollte, ſeinen Aufenthalt aͤndern, ſo oft es
ihm gefiel, immer zahlte er unmerklich und be¬
hielt ſein Recht. Die Summe des allgemeinen
Armenſchatzes, den auch der ganze Erdtheil —
bei der vervollkommneten Arithmetik, wovon ſchon
die Rede war, hoͤchſt bequem uͤberſah — mußte
auch darum ſo groͤßer werden, als Reiche oder
Wohlhabende, bei der Geburt eines Kindes nicht
den gewohnten Satz, ſondern mehr beiſteuerten.
Gerieth nun Jemand in Noth, meldete er
ſich bei der naͤchſten Sadtverwaltung. Dieſe un¬
terſuchte ſeinen Zuſtand genau. Einem geſunden
Menſchen ward nicht das Mindeſte ſchenkend ge¬
reicht, ſondern er empfing die Gelegenheit, durch
diejenige Arbeit, welche er verrichten konnte, den
Unterhalt zu erſchwingen. Krank dagegen nahm
ihn ein Spital auf. Das Alter von ſechzig Jah¬
ren durfte auf eine angemeſſene Beihuͤlfe zu der
ihm noch moͤglichen Arheit zaͤhlen, uͤber ſiebzig
Jahr verpflegte man dagegen Greiſe und Grei¬
ſinnen ganz, was auch bei Kruͤppeln und derglei¬
chen geſchah. Bei dem allen hielt ein zartes
Ehrgefuͤhl die Geſchlechter ab, eines ihrer Glie¬
der in die Nothwendigkeit zu verſetzen, die oͤffent¬
liche Wohlthaͤtigkeit in Anſpruch zu nehmen;
wenn es irgend moͤglich ſchien, verheimlichten ſie
den Mangel in den einer der ihrigen geſunken
war, machten es auch zum Gegenſtand ihrer Re¬
ligion, Kranke und Alte ſelbſt zu pflegen.
Ueberlegt man hiebei, daß die meiſten
Urſachen, welche Armuth hervorbringen, ja
lange ſchon aus dem Wege geraͤumt waren, als
Kriegraͤubereien, unmaͤßige Auflagen, falſche
Geldoperazionen der Regierungen, Handelsver¬
bindungen, in welchen ein Volk mit betruͤgeri¬
ſcher Schlauheit, das andere mit Unkunde ſei¬
ner eigenen Kraͤfte auftritt, gehaͤſſige Immora¬
litaͤt des Einzelnen, die zu Verſchwendungen lei¬
tet, ehrloſe Traͤgheit und Unempfindlichkeit ge¬
gen Achtung, die nicht erwerben moͤgen, auch
Almoſen ſpendende Kloͤſter, den Muͤßiggang un¬
terſtuͤtzend; erwaͤgt man noch, daß das furcht¬
bare Heer der Krankheiten ſich unendlich vermin¬
dert hatte, ſo geht ganz von ſelbſt hervor, wie
ein Reiſender Europa durchwandeln konnte, ohne
jemal das widrige unedle Schauſpiel der Bette¬
lei wahrzunehmen. Guidos Befremdung erklaͤrt
ſich demnach ſo gut, als das mitleidige Zudraͤn¬
gen der Pariſer.
Es waͤhrte aber nicht lange, ſo erſchien ein
Polizeibeamter und fragte den Armen zuͤrnend:
warum er nicht zur Stadtobrigkeit gekommen
ſei? Die Antwort hieß: Weil ich kein Euro¬
paͤer bin, folglich nicht zu euren Wohlthaͤtig¬
keitsanſtalten beigetragen habe, durfte ich auch
nicht mit Recht auf ihre Milde bauen. Der
Diener des Geſetzes entgegnete ſtreng: Es rei¬
ſen
ſen viele Buͤrger anderer Erdtheile in Europa,
und die Akziſe gewinnt an ihrer Zehrung. Wie
unbillig wuͤrde es daher ſein, wenn irgend Jemand
darunter ſich arm ankuͤndigte, ihm Huͤlfe zu ver¬
ſagen. Du haſt uns durch Mangel an Vertrauen
beleidigt und ein oͤffentlich Aergerniß gegeben,
deſſen ſich ohne Zweifel der aͤlteſte Greis nicht
mehr entſinnt. Behalte was man dir reichte,
verzehre es jedoch im Kerker. Dann wollen wir
dir eine Summe geben, mit welcher du dein
Vaterland wieder erreichen kannſt. — Wider die¬
ſen Spruch galt keine Einrede, denn er enthielt
den Geiſt der Geſetze.
Gelino und ſein Zoͤgling draͤngten ſich muͤhe¬
voll durch das Volkgewimmel der Straßen, und
um ſo mehr, da, wenn gleich am hohen Mit¬
tage, der Regenſchirm Dunkel verbreitete. Doch
eben da ſie auf einem großen Markt angekom¬
men waren, hatte das Unwetter geendet und
die Bedeckung wurde wieder eingelegt. Man
verrichtete dies ſchnell, und neu, uͤberraſchend,
blendend war die Wirkung des ploͤtzlich nieder¬
ſcheinenden Sonnenlichts.
Sie langten im Hauſe des Wechſlers an.
Gelino uͤbergab ein Schreiben; der Mann war
Q
ſehr hoͤflich und rief einige Traͤger, welche
ſchwere Goldſaͤcke auf einen Wagen luden. Der
Lehrer ſah alles nach, gab ihm Empfangſcheine,
und nahm dann mit ſeinem Zoͤgling Platz auf
dem Wagen.
Dieſer hatte befremdet und nachdenkend
zugeſehn. Nun fragte er: Woher die großen
Summen, und wozu? Gelino antwortete:
Wir behalfen uns bisher mit geringen Koſten,
doch in Paris und London wollen wir einigen
Aufwand machen, damit du auch mit dem Leben
des Reichthumes vertraut wirſt.
Da empfange ich nur eine Auskunft, rief
Guido. Woher, frage ich abermal, die großen
Summen?
„Von dem naͤmlichen Wohlthaͤter, der dich
bisher in den Stand ſetzte, die Welt reiſend
zu betrachten.“
O dieſer Wohlthaͤter muß reich, ſehr reich
ſein. Mein leichter Sinn fragte noch wenig
darum. Was gilts aber, es iſt der Kaiſer
ſelbſt, dem ich ſo viele Zeichen der Milde ver¬
danke?
„Ja mein junger Freund, es iſt der Kaiſer.
Was er von dir hoͤrte, beſonders von deinen
Thaten im Heere, erwaͤrmte ſein Herz noch mehr
fuͤr dich. Frage nicht weiter, genieße, und vor
allen Dingen, lerne, begreife, mache dich der
Guͤte ferner werth.“
Guidos Nachſinnen ward ernſter. Einige
Minuten darauf brach er aus: O daß ich keine
Eltern kenne, und ſo ſuͤße Gefuͤhle, wie die kind¬
lichen, mir verſagt wurden! Erſt bei den Fuͤnd¬
lingen erzogen, hernach unter deiner Leitung, die
mich allerdings keinen Vater miſſen ließ, ahnte
ich tiefere Empfindungen nicht. Allein, nachdem
ich auf der Reiſe ſo oft das entzuͤckende Schau¬
ſpiel eines engen Familienbandes ſah, beweinte
ich im Stillen mein hartes Loos.
Gelino druͤckte ihm geruͤhrt die Hand. Ge¬
duld mein Sohn, vielleicht findeſt du einſt dei¬
nen Vater.
Stuͤrmiſche Ungeduld entbrannte in dem
Juͤngling. Von ſuͤßen Hoffnungen wogte ſein
Buſen. Er drang feurig in den Lehrer, ihm das
Geheimniß ſeiner Geburt aufzuklaͤren, wenn er
anders den Schluͤſſel dazu haͤtte, oder wenn er
nichts genau wiſſe, ihm ſeine Vermuthungen zu
nennen. Der Lehrer brach aber gemeſſen ab,
empfahl ihm ruhiges Erwarten der Loͤſung ſeines
Q 2
Schickſals. Es war Guido bekannt, daß er,
wenn der Lehrer ſchweigen wollte, umſonſt bat,
er mußte ſich alſo mit Geduld waffnen, obgleich
die Neugier uͤber ſeine Herkunft jetzt heißer als
je erwachte, und manche ſonderbare Ahnung in
ihm aufſtieg. Er troͤſtete ſich wohl uͤber den
Maͤngel an Kindesliebe, weil ihn Inis Liebe
beſeligte, und ſein Herz ſo warm an den
edlen Lehrer hing, doch meinte er immer wieder,
dies Herz ſei weit genug noch mehr Liebe gluͤ¬
hend zu umfaſſen.
Gelino hatte ſchon zuvor nach Paris geſchrie¬
ben, und einen Miethpallaſt, wie es deren fuͤr
ſehr reiche Wanderer gab, auf die Tage ihrer
Anweſenheit beſtellt. Sie kamen nun dort, von
den Dienern des Wechslers geleitet, an. Er war
aus rothem und weißen Marmor gebaut, hatte
ein ſtark uͤbergoldet Bleidach, das im Strahl
der Sonne prangend leuchtete. Eine zahlreiche,
glaͤnzende Dienerſchaft, ſtand am Portal. Die
innere Einrichtung entſprach der aͤußeren Pracht
vollkommen. Man erblickte Zimmer, deren Waͤnde
mit dem koͤſtlichſten Moſaik bekleidet waren, an¬
dere mit ſtaunenerregenden Meiſterwerken der
Malerei umhangen. Es befand ſich ein Konzert¬
ſaal hier, den die Standbilder der neun altgrie¬
chiſchen Muſen, zu Athen gefertigt, ſchmuͤckten,
und zum Perſonal des Pallaſtes gehoͤrte zugleich
das treffliche Orcheſter, was ſich auf Verlangen
des Miethers hoͤren ließ. Eben ſo ein kleines
Theater, mit Schauſpieler und Schauſpielerinnen.
Ferner eine große Bibliothek, der einige Ge¬
lehrte vorſtanden. Der Speiſeſaal war mit Sil¬
bergeſchirren erfuͤllt, goldne Lampen hingen von
den Decken nieder. Das Bad war den altroͤ¬
miſchen aͤhnlich, welche die Kaiſer Trajan oder
Tiber anlegten. In der Kuͤche bereitete man
ſich, wie einſt bei Apicius, immer auf eine große
Zahl von Gaͤſten, doch viel ſchmackhafter noch
als bei jenem waren die Speiſen zugerichtet,
was jetzt um ſo mehr anging, da die Kuͤchen¬
chemie eine eigne weitlaͤuftige Wiſſenſchaft galt,
uͤber die Profeſſoren, von Lehrlingen der Tafelkun¬
de gehoͤrt, laſen. Noch fand man im Hofe Wagen
aller Art, einen Stall trefflicher Pferde, einen
andern mit Adlern, und mehrere ſchoͤne Gon¬
deln, denn ein kleiner Kanalarm fuͤhrte von dort
nach dem Strome. Auch ein ſchoͤnes Landhaus
mit weitlaͤuftigen Gaͤrten gehoͤrte noch zu die¬
ſem Miethpallaſt. Allerdings gab man aber auch
eine Miethe, die den zu findenden Bequemlich¬
keiten angemeſſen war.
Guido fragte: Wie iſt es moͤglich, Unter¬
nehmungen der Art zu wagen?
Wirkungen des Reichthums, antwortete der
Lehrer. Das ewige Zuſtroͤmen der Fremden nach
dieſer Stadt, bringt ſo viel Geld hinein, und ſie
ſendet es wieder in die Ferne, um das alles her¬
beizuſchaffen, was die Fremden ferner anreitzen
kann. Es prangen mehrere Gebaͤude der Art, und
ſelten ſtehen ſie leer, weil es vermoͤgende Wan¬
derer genug giebt. In den vergangenen Jahr¬
hunderten waͤren Erſcheinungen der Art unmoͤg¬
lich geweſen, weil man da weder Freiheit, noch
Thaͤtigkeit, noch Kenntniß genug, uͤber den be¬
weglichen Umlauf der Reichthuͤmer, und ihre
Vermehrung der Erzeugniſſe waͤhrend ihrem
ſchnellen Wirbel, hatte. Damals gab es wenige
Reiche und unerhoͤrt viel Armuth. Jetzt ſieht
man Jene in großer Zahl und dieſe iſt meiſtens
verſchwunden. Große Entwuͤrfe im Handel oder
anderer Art, klug und gluͤcklich ausgefuͤhrt, be¬
reichern um ſo leichter, da ſie auf den allgemei¬
nen Wohlſtand berechnet ſind. Damit aber den¬
noch, nicht wenige Familien zuletzt ſo viel wu¬
chernd an ſich reißen koͤnnen, daß andere von
ihnen abhaͤngig ſind, iſt die uͤberaus weiſe
Erbſchaftſteuer eingefuͤhrt worden, die den Zweck
vor Augen hat, den Erwerber zwar die Frucht
ſeiner Thaͤtigkeit vollkommen genießen zu laſſen,
dagegen aber die Unthaͤtigkeit der Erben, die von
der Arbeit des Todten muͤßig ſchwelgen moͤchten,
nach Moͤglichkeit abzuſchneiden. Je vermoͤgen¬
der, je hoͤher die Steuer vom Nachlaß, und ſie
ſteigt auch nach Maaßgabe der naͤheren oder
weitlaͤuftigeren Verwandſchaft der Erben. Dies
hat zur Folge, daß der Reichgewordene auch bei
ſeinem Leben viel wieder in den Umlauf giebt,
und ihm wird auch, in Betracht des Gemein¬
beſten, und inſofern ſie nicht unmoraliſch iſt,
Verſchwendung nachgeſehn. Mag er bauen, rei¬
ſen, Kuͤnſten und Wiſſenſchaften lohnen, da¬
durch empfaͤngt das alles hoͤheres Leben.
Wo bleiben aber die Summen, aus dieſer
Erbſchaftſteuer? fragte Guido?
Der Lehrer gab zur Antwort: Sie werden
zum Vortheil des Landes auf mannichfache Weiſe
angelegt, ſo daß ſie den niederen Staͤnden wie¬
der zuſtroͤmen. Man graͤbt Kanaͤle, wo ſie noch
fehlen, baut, macht Verſuche mit nuͤtzlichen Er¬
findungen, wozu, wie du weißt, auch andere
Summen vorhanden ſind, unternehmende, aber
nicht bemittelten Buͤrger koͤnnen Anleihen nach¬
ſuchen. Kurz auch hier iſt wieder der raſche Zir¬
kelgang, des, die Dinge und den Kunſtfleiß dar¬
ſtellenden, Metalles, Endzweck. Haͤtte die Vor¬
zeit die Wunder der Freiheit und Ruhe ahnen
koͤnnen, traun, ſie wuͤrde um einige Jahrhun¬
derte fruͤher geeilt haben, den Thron der Ver¬
nunft zu erhoͤhn, und in einem Erdtheil, wo die
Menſchen ſchon lange ſich durch Bildung aͤhnlich
wurden, die unſinnigen Kriege einzuſtellen. Viel¬
leicht ging das aber auch nicht ehe an, bis der
Zeitgeiſt alles von ſelbſt ſchoͤnerer Reife entgegen
fuͤhrte. Wie langer, vorbereitender Aufklaͤrung,
bedurfte es unter andern zu dem großen Schritte,
die Religion an die Stelle der Kirchlichkeit zu
bringen. Freilich folgte er erſt dem blutig ge¬
endeten Kampfe der Politik, und haͤtte ihm vor¬
ausgehen koͤnnen, wodurch der Chriſtenſtaat
ohne jene ſchauderhaften Schlachten, wovon die
Geſchichte meldet, zu gruͤnden geweſen waͤre.
Denn in der That, lieſt man einige alte Schrift¬
ſteller aus dem achtzehnten Jahrhundert, in deren
Koͤpfen bereits ſo viel Licht anbrach, kann man
nicht genug uͤber die ſeltſame Verſtocktheit ihrer
Zeitgenoſſen ſtaunen, welche es nicht nuͤtzen woll¬
ten, das Heil, die Beſtimmung der Menſchheit
erkennen, Wahrheit und Irthum, Gutes und
Boͤſes unterſcheiden zu lernen. Indeſſen iſt es
nun einmal ſo. Das Genie der Verbeſſerung
hat zu allen Zeiten Widerſpruch gefunden, oft
mußte der große Mann erſt begraben ſein, ehe
das Recht ſeiner Ausſpruͤche erkannt wurde. Geht
es doch bisweilen noch jetzt nicht anders. Sind
wir doch, trotz aller Religion und Erkenntniß zu¬
weilen genoͤthigt, mit Aſien oder Afrika zu
kriegen.
O ſchoͤner Voranflug ſeines Zeitalters! rief
Guido. O daß ich der Menſchheit irgend eine
Wohlthat erſinnen koͤnnte, daß die Nachwelt
mein Andenken ſegnete!
Der Friede mit anderen Welttheilen waͤre
ſolch eine Wohlthat, antwortete Gelino. Er
fehlt der Menſchheit. Allein die Leidenſchaften
werden nicht uͤberall ſo gluͤcklich bekaͤmpft als in
Europa, und auch hier, wir wollen nicht prah¬
len, gelang es noch nicht ſo weit damit, als
wohl zu wuͤnſchen waͤre. Im Geheim treiben
ſie oft ihr Spiel fort; denn wer ſieht das In¬
nere der Seele, wenn die Menſchen in der
Tugendlarve heucheln. Es giebt doch hie und
da einen Fuͤrſtenrath, einen hohen Prieſter des
Geſetzes von gewichtigem Anſehn, entſcheidenden
Einfluß, der ſein wahres Spiel birgt, und Zwie¬
tracht mit der Fremde, oder Zwietracht im In¬
nern hervorruft. Man muß auf ſeine Tugend
baun, wer vermag ſie genau zu erkennen?
Hier fuͤhlte ſich Guido von einem Gedanken
ergriffen, dem er in der Folge eifrig nachhing.
Jetzt antwortete er dem Lehrer: Die richtige
Erkenntniß des Menſchen ſcheint mir nicht un¬
moͤglich, aber den Frieden aller Voͤlker zu knuͤp¬
fen, iſt ſchwer. Ich ſehe nicht ein, auch wenn
ich Kaiſer waͤre, was ich da thun wollte. Da
muß das Schickſal ſelbſt freundlich zutreten.
Nun das wird auch einſt geſchehn, antwortete
Gelino. Auch gebieten ja die Menſchen dem
Schickſal immer mehr, wie ihre Weisheit
ſteigt. —
Die Reiſenden erborgten in Paris vornehme
Namen und knuͤpften Bekanntſchaften an. Die
angeſehenſten Einwohner, Kuͤnſtler, Gelehrte,
wurden zu ihrer Tafel, zu ihren Konzerten, nach
ihren Gaͤrten geladen, und baten ſie dagegen zu
ſich. Es war noch in Paris wie vormal, das
Neue erregte viel Aufſehn, alle Welt ſprach
davon. Nicht eben die Verſchwendung des rei¬
chen Juͤnglings konnte auffallen, doch er ſelbſt,
ſein Verſtand, mehr noch ſeine Schoͤnheit. Die
Damen waren ganz entzuͤckt, ſie ſchwuren, nie
eine ſo vollkommene maͤnnliche Geſtalt erblickt
zu haben. Dies benutzten Maler, Kupferſtecher
und andere Kuͤnſtler, bildeten ihn vielfach ab,
und wenn er ausging, ſah er beſchaͤmt uͤberall
Gemaͤlde, Gipsabdruͤcke, Statuen von ſich.
Auch Denkmuͤnzen wurden auf ihn geſchlagen
und in den Gaſſen ausgerufen, viele Damen
trugen ihn in Gemmenringen am Finger. Er
empfing auch verliebte Zuſchriften voller Witz,
und uͤbte wieder den eignen Witz, indem er die
zaͤrtlichen Antraͤge ſo ablehnte, daß ſich die Schoͤ¬
nen dennoch bezaubert fuͤhlten. Dadurch ent¬
ſtand viel neues Gerede, und eine gelehrte Dame
veranſtaltete ſogleich eine Sammlung dieſer tu¬
gendhaft witzigen Billets, die man eilig mit
Stereotipen druckte, eines ungemeinen, Abſatzes
gewiß.
Kurze Zeit nach ſeiner Ankunft hoͤrte Guido
von einem ſonderbaren Rechtshandel. Er hatte
ſich ſchon uͤber die Menge von Diamanten ge¬
wundert, welche ihm Ueberall zu Geſichte kam;
die Frauen der niederen Klaſſen waren ſo da¬
mit bedeckt, daß man auf Spatziergaͤngen nicht
nach der Seite blicken konnte, wohin die Sonne
ſchien, ſelbſt die Dienſtmaͤdchen in ſeinem Pal¬
laſte, trugen Haar, Ohren, Buſen und Arme
davon voll. Der Glaube, ſie moͤchten unaͤcht
ſein, fand die Widerlegung der Kenner, allein
man benachrichtigte ihn: es ſei in Paris ein
Juwelenhaͤndler vorhanden, der die edlen Steine
um einen tief geringen Preis verkaufe, da¬
bei ein unerhoͤrt angefuͤlltes Waarenlager hielt,
und ſo auch den Poͤbel in Stand ſetzte, den
geprieſenen Schmuck zu tragen. Deshalb aber,
wie man wohl denken kann, verſchmaͤhten ihn
nun die Damen der feinen Welt, und ſich ohne
Juwelenſchimmer zeigen, hieß glaͤnzen.
Die andern Kleinodienverkaͤufer ſahen ſich zu
Grunde gerichtet, feindeten ihren Nebenbuhler
an, belangten ihn vor Gericht. Hier begriff
auch Niemand, wie der Mann das Theure ſo
wohlfeil losſchlagen koͤnne. Neue Pruͤfungen
uͤber die Guͤte ſeiner Steine folgten, ſie ſchlu¬
gen abermal zu ſeinem Vortheil aus. Man
fragte: Aus welchen Indiſchen Diamantengruben
er kaufe? Er antwortete: Dies habe er, zu¬
folge der Handelgeſetze, nicht noͤthig zu erklaͤ¬
ren. Man verlangte aber wenigſtens, ein frem¬
des Handelshaus zu nennen, mit dem er Ge¬
ſchaͤfte pflege, ein Schiff, das ſeine Waaren
herbeifuͤhre.
Dies konnte er nicht, und nun lag am Tage,
ſeine Steine wuͤrden nicht von Auswaͤrts gezo¬
gen. Er verfertigt ſie ſelbſt, riefen die Gegner,
folglich ſind ſie, trotz allen Proben, unaͤcht.
Gut, ſprach der Juwelier, ich verfertige ſie,
doch eine Unwahrheit iſt eure andere Behaup¬
tung. Unterſuchet ſo lange ihr wollt, ihr wer¬
det keinen andern Gehalt finden, als ob die
Steine von Golkonda oder Braſilien kaͤmen.
Ich betrog nicht, verkaufte aͤchte Diamanten,
dem Kaͤufer kann es gleich ſein, ob die Natur,
ob ich ſie hervorbringe.
Bei naͤherer Unterſuchung fand ſich, daß der
Mann, den lange ſchon in der Chemie genann¬
ten Beſtandtheil, reinen Kohlenſtoff, ſo zu
verdichten gewußt hatte, daß der wirkliche Dia¬
mant erzeugt wurde.
Das Gericht war im Anfang zweifelhaft. Die
große Zerruͤttung des Werthes der Edelſteine,
welche der gluͤckliche Erfinder veranlaßte, machte
ihm Bedenken. Doch zuletzt entſchied die Stim¬
menmehrheit: Dem Manne duͤrfe keine Strafe
anheim fallen, auch die Fortſetzung ſeiner Kunſt
ihm nicht unterſagt werden. Moͤchten die Wei¬
ber gern ſchimmern, ſo waͤre ihnen die Gele¬
genheit aufgethan, um wohlfeilen Preis ihren
Wunſch zu erlangen. Gefiele ihnen der wohl¬
feile Schimmer nicht, zeigten ſie noch groͤßere
Thorheit als zuvor. Der Mann koͤnne dann zu
ihrer Heilung beitragen, und wenn das andere
Geſchlecht mehr auf Pflege der wahren Schoͤn¬
heit hielt, mehr dem Manne durch weibliche
Tugenden, als kindiſche Glanzfunken zu gefallen
ſtrebte, haͤtte das Gemeinwohl dem Kuͤnſtler in¬
nig zu danken. Verloͤren uͤbrigens manche Juwe¬
lenhaͤndler, ſei das zufaͤllig, und das Geſetz
koͤnne ihres einzelnen Vortheils halber, keine ir¬
rige Grundſaͤtze aufſtellen. Dabei blieb es nun.
In der That, rief Guido, als er bald dar¬
auf einige mit Edelſteinen uͤberladene Frauen¬
zimmer ſah, mir ſcheinen ſie ſelbſt nicht mehr
ſo koͤſtlich, als da ihre Seltenheit mich beſtach.
So biſt du denn auch von blinden Vorurthei¬
len nicht frei, fiel der Lehrer ein. Doch moͤchte
nur alles Schoͤne ſo gemein werden, daß man
keine Auszeichnung darin faͤnde, deſto beſſer ſtaͤnde
es um die Menſchheit. Zum Gluͤck iſt es auch
ſchon mit vielen Tugenden dahin gekommen.
Was die Vorwelt ſtaunend geprieſen haͤtte, blik¬
ten wir oft als gleichguͤltige Alltaͤglichkeit an.
Wohl uns! —
Sie begaben ſich eines Tages nach der großen
Oper. Das Haus war ungemein mit Zuſchauern
gefuͤllt. Guidos Blicke ſuchten das Theater.
Er ſah vor ſich ein gefuͤlltes Parterre, Logen,
Kronleuchter, ſo gut als neben und hinter ſich.
Gelind laͤchelte. Wiſſe, ſprach er daß der Vor¬
hang ein Spiegel iſt, der durch die ganze Mitte
des Saales reicht. In dieſen ſiehſt du den
Platz der Zuſchauer wiederholt. Hebt das Stuͤck
an, wird ihn eine Maſchine empor winden.
Dies erfolgte auch zu Guidos Befremdung,
und nun zeigte ſich die Buͤhne. Man ſah jetzt
kein Licht mehr bei den Zuſchauern, zum Vor¬
theil der Theatererhellung, die dem Tage voll¬
kommen glich, waren ſie ſaͤmmtlich erloſchen,
wie aber am Ende eines Aktes der Spiegelvor¬
hang niederſchwebte, wurden ſie alle durch eine
elektriſche Vorrichtung entzuͤndet.
Die alte Mithe, Orpheus war der heutige
Stoff. Im erſten Akt ſah man eine Landſchaft
und einen Meilenweiten Hintergrund, der un¬
moͤglich gemalt ſein konnte. Guido begriff das
nicht. Sein Lehrer erklaͤrte ihm, wie dies Opern¬
haus mit einem Schraubenwerke verſehen ſei,
wodurch es der Theatermeiſter, bei den Akten,
die eine weite Tiefe darbieten ſollten, bis uͤber
die Haͤuſer der Stadt hoͤbe, daß, nach wegge¬
nommener Hinterwand, man das wirkliche Feld
der Gegend erblickte.
Alſo ſchweben wir jetzt in ſolcher Hoͤhe?
fragte Guido.
„Allerdings. Die Bewegung vollzog ſich ſo
ſanft, daß Niemand ſie merkte. Hat ſchon ein
altroͤmiſcher Baumeiſter ein Schauſpielhaus mit
Achzigtauſend Zuſchauer gedreht, wird die Me¬
chanik unſerer Zeiten es doch wohl erheben
koͤnnen.“
Iſt das aber nicht mit Gefahren verbunden?
„Fuͤrchte nichts. Die Polizei laͤßt vor den
Darſtellungen alles Maſchinenwerk durch Sach¬
verſtaͤndige pruͤfen.“
Im
Im zweiten Akt zeigte ſich die Hoͤlle. Un¬
geheure, weite, brennende Kluͤfte und Abgruͤnde,
in deren Flammen gepeinigte Verdammte klag¬
ten. Die Fernſten erſchienen ganz klein, doch
waren es lebende Weſen, wovon ſich Guido durch
ein Sehrohr uͤberzeugte. Wie iſt dies moͤglich?
fragte er abermal.
Gelino antwortete: Das Opernhaus hat mit
großen Koſten ein tiefes Souterrain aushoͤhlen
laſſen, was um ſo eher anging, da es auf der
Hoͤhe des Montmartre liegt. Will man nun
weite Gebaͤude, oder Kluͤfte und Abgruͤnde dar¬
ſtellen, wird das Haus durch jene Schrauben¬
werke in die Tiefe geſenkt, wo man ſich nun der
unterirdiſchen Entfernungen bedienen kann. Wir
befinden uns jetzt unter der Erdflaͤche, die letzten
Geſtalten ſind einige Tauſend Schuh von uns
entfernt.
Im dritten Akt ſah man den Himmel Fremd¬
artige Farben, ungemein zarte Umriſſe aller Ge¬
genſtaͤnde wirkten mit bezaubernder Schoͤnheit.
Ein anderer Mond, andere Sterne mit einer
tiefruͤhrenden Idealitaͤt gezeichnet, blinkten da¬
her, was aber Guido am meiſten in Verwun¬
derung ſetzte, war, daß ihre Strahlen durch
R
Euridizens und der anderen Schatten Koͤrper
leuchteten. Und doch war Euridize die naͤmliche,
welche er im erſten Akte geſehn, doch bewegte
ſie ſich lebend, ſang. Er ward nun durch ſeinen
Lehrer unterrichtet: Alle Geſtalten, die wir
jetzt ſehen, ſind nur der wirklichen, in einem
Nebenge befindlichen, Wiederſcheine, durch
ungemein ſinnreiche, optiſche Laternen, hervorge¬
bracht. Daher muß das Licht dieſe Euridize
durchſchimmern, denn, treu der Fabel, iſt es
wirklich nur ihr Schatten. Daß auch die Blu¬
men, Gebuͤſche, Huͤgel, ſo zarte Umriſſe, ſo
ſeltſam fremdartige Farben zeigen, macht eine
große Platte von gruͤnem doch klaren Glas, wel¬
che davor haͤngt, wie jener Spiegel, im ganzen
Umfang der Buͤhne, ohne daß wir ſie wahr¬
nehmen.
Muſik, Geſang, Taͤnze waren den uͤbrigen
Vorwuͤrfen an Vollkommenheit aͤhnlich, und mit
hohem Entzuͤcken verließ Guido dies Schau¬
ſpiel, ſich lange noch Orpheus, und Ini Euri¬
dize traͤumend.
Sie ſahen auch das große Trauerſpiel. Der
Dichter hatte in dem heutigen Stuͤcke eine That¬
ſache der Vorzeit behandelt, und viel gegen
die Empfindung wagend. Eine junge Monar¬
chin, ſchoͤn, liebenswuͤrdig, geiſtvoll, iſt mit ei¬
nem Gemahl verbunden, dem alle ihre Vorzuͤge
mangeln. Er koͤmmt eben zur Regierung, be¬
legt aber durch ſeine erſten Schritte, dem gro¬
ßen Amte durchaus nicht gewachſen zu ſein.
Die Gemahlin erkennt die Richtung, welche dem
Volke zu ſeinem Wohl gegeben werden muͤſſe, die
Kraft ihres Genius regt ſich kuͤhn, von Liebe
zu den Unterthanen ſtammt ihre edelempfindende
Bruſt. Doch vermag ſie nichts uͤber den Ge¬
mahl, der ſie nicht verſteht, ihren ſchoͤnen Sinn
anfeindet, und in Roheit waltet. Tirannei und
Zerruͤttung drohen dem Reich, die Monarchin
fuͤhlt, ſie koͤnne ihm eine gedeihenvolle Zeit bluͤ¬
hen laſſen.
Ein weiſer Vertrauter ruft ihr zu: Beſteige
den Thron, herrſche, begluͤcke! Sie ſchaudert.
Sie kann nur uͤber den Leichnam des Gemahls
jenen Stufen nahn. Es iſt ein Unwuͤrdiger,
doch ſie ſeine Gattin. Ihr Zartgefuͤhl empoͤrt
der Gedanke an jeden Mord, um wieviel mehr
an den des Gemahls! Ihr Herz traͤgt ſolche Vor¬
ſtellung nicht, ihre Einbildungskraft muß ihr
entfliehn.
R 2
Der Vertraute ſpricht: Beſteige den Thron,
durch ein Verbrechen ihn mit deiner Tugend zu
ſchmuͤcken. Wie edel iſt dann dies Verbrechen!
Es wird die hoͤchſte deiner Tugenden, allen
uͤbrigen, die Bahnen ebnend. Begehſt du es
nicht, wie laut der Nation geheimes Flehn,
wie laut der Beruf deiner Geiſtesgroͤße es ver¬
langen, dann erniedrigt dein Saͤumen dich zur
Frevlerin. Alles Wehleiden der Millionen auf
dein Haupt, ihr Fluch beugt dich ſchwerer,
da du ihn in Seegen haͤtteſt umwandeln
koͤnnen.
Hier ſteht ſie nun an dem furchtbaren Schei¬
deweg. Eine kuͤhne Miſſethat — und dann ein
ſchoͤnes Leben, dem Ruhm, gottaͤhnlich uͤber ein
geliebtes Volk zu herrſchen, geweiht. Eine feige
Tugend — und nichts als der Anblick eines elen¬
den geliebten Volkes. Hier ſteht ſie — weint,
ruft ſich ſelbſt um Kraft an, mahnt ihren Ge¬
nius, Licht in dies ſchauderhafte Dunkel zu
werfen — und — ſtoͤrt endlich nicht, was der
Vertraute vollbringen will.
Nun empfaͤngt ſie das Scepter, und haͤlt den
Hoffnungen des Ruhmes Wort.
Zum Erſtenmale ward heute das Trauerſpiel
gegeben. Die feinſinnige Verſammlung, ſonſt
gewohnt, ſich uͤber alles Schoͤne oder Unedle
ganz beſtimmt zu aͤußern, die der Kunſtwerke
Vorzuͤge, nach dem richtigſten Takt mit Beifall
lohnte, und ihre Maͤngel eben ſo durch Tadel
ſtrafte, wußte — unerhoͤrt in den Annalen die¬
ſer Buͤhne — heute ſich nicht zu entſcheiden.
Kein Lob, kein Mißfallen, allgemeine Stille.
So blieb es auch bei den folgenden, immer ge¬
draͤngt beſuchten Vorſtellungen.
Gelino wollte aber auch auf dem kleinen
Theater des Pallaſtes etwas ſehn. Er ſprach mit
dem Vorſteher der Geſellſchaft, die am liebſten
bunte, regelloſe Sachen auffuͤhrte. Dieſer trug
ihm eine kurzweilige Poſſe an, genannt:
Die Narrheiten vor Dreihundert Jahren.
Gelino war es zufrieden, und lud ſo viele
Fremde, als der Raum nur faſſen konnte.
Als der Vorhang weggenommen war, woll¬
ten die Zuſchauer faſt vor Lachen ſticken, uͤber
die naͤrriſchen Kleidertrachten, der dargeſtellten
Zeit. Wie war es moͤglich, riefen viele, daß
ſich die Menſchen jemals ſo unbequem, geſchmack¬
widrig und laͤcherlich umhuͤllen konnten! Eine
Hauptbedeckung, grade aufſtehend, oben platt,
einem umgekehrten Becher aͤhnlich, oder gar ein
Dreieck mit abentheuerlichen Stuͤlpen! Wie vie¬
lerlei Lappen haͤngen an den Maͤnnern, der
natuͤrlichen Form ganz zuwider, mit haͤßlichen
Ecken, und dennoch uͤbel gegen die Witterung
ſchirmend. Wie muß dies vielfache Einſchnuͤren
die Koͤrper verunſtaltet, ihnen nach und nach
Kraft und Geſundheit entzogen haben! Und ſo
unanſtaͤndig, pfui, ſo unanſtaͤndig! Fuͤrwahr dieſe
Urvaͤter mußten grobe Narren ſein!
Es wurden nun mancherlei Sittenzeichnun¬
gen dargeſtellt, wo denn aber das Gelaͤchter oft
mit Abſcheu und Mitleid wechſelte. Man ſah
die Kirchlichkeit, wo unverſchaͤmte Prieſter ganz
widerſinnige, unnatuͤrliche, die Gottheit herab¬
wuͤrdigende Mithen, einſt einem tief rohen
Zeitalter kaum anpaſſend, immer noch als Wahr¬
heiten lehren wollten, und das thoͤrichte Volk
gaukleriſch betrogen. Man ſahe Fuͤrſtenhoͤfe, wo
eine widrige Erziehung das Oberhaupt aͤrmer
an Geiſt daſtehen ließ, als die Unterthanen am
Fuß der Staatspiramide, wo es, ſtatt mit der
Weisheit, mit dem Vorurtheil umgeben war,
und bloͤdſichtige engherzige Hoͤflinge ihm eitel
Luͤgen ſagten, wo das wahnſinnige Volk endlich
durch heuchleriſche Schmeicheleien alles verdarb.
Man bildete das Fauſtrecht vor drei Jahrhunder¬
ten ab, wo ein europdiſches Volk das andere
um nichtiger Urſachen willen bekriegte, und dies
mußte jetzt grade ſo viel Widerwillen erregen,
als eine Darſtellung des kleineren Fauſtrechtes, zwi¬
ſchen den Gauen des vierzehnten Jahrhunderts,
wenn ſie das neunzehnte ſah. Die Thorheiten,
allerhand Siſteme der Philoſophie zu wechſeln,
durch Buͤcher voll Unſinn Irthuͤmer auszubrei¬
ten, durch falſche Finanzoperationen ganze Laͤn¬
der verarmen zu laſſen, durch Verſchiedenheit
der Dingenmaaße und Sprachen, den Ideen¬
tauſch zu erſchweren, uͤberſtroͤmte eine witzige
Satire mit dem wohlverdienten Spott. Am
Ende begegnete ſich alles in dem Ausruf: O
ihr grobe, grobe Narren der Vorzeit! Gelino
erlaͤuterte aber der Verſammlung, daß doch auch
nicht jeder damals die Schellenkappe getragen
habe, nannte ehrwuͤrdige Namen von Maͤnnern,
die ſich ein großes Verdienſt in Bezeichnung der
beſſeren Pfade erworben haͤtten, und ſchloß: es
ſei fuͤr die Menſchheit nothwendig geweſen, durch
dies dunkle Labirinth zu gehen, um den Gegenſatz
erhellter Vernunft wohlthaͤtiger zu begreifen. —
Guido und ſein Lehrer ſahen noch Tauſend
Merkwuͤrdigkeiten, welche aufzuzaͤhlen der Raum
hier nicht geſtattet. Unter andern folgende auf der
Anatomie, welche ſie als eine der vorzuͤglichſten
Anſtalten zu Paris beſuchten, und wohin ſich
jetzt eine große Zahl geſpannter Neugierigen
draͤngte.
Die Veranlaſſung war dieſe:
Vor funfzig Jahren hatte, zu Befremdung
von ganz Europa, ein Buͤrger in Paris mehrere
todeswuͤrdige Verbrechen begangen. Das Geſetz
zauderte lange mit ſeinem Spruch, und wollte
ihn endlich nach Spitzbergen verweiſen, wohin,
wie wir ſchon wiſſen, ſolche Ungluͤckliche kamen,
deren Vernunft ſie nicht von der Schoͤnheit ei¬
nes geſetzlichen Lebens uͤberzeugen konnte. Die
Kolonie in Spitzbergen hoͤrte aber davon, und
indem jeder Einzelne dort ſich rein gegen jenen
Boͤſewicht halten konnte, ſchrieb ſie an das Ge¬
richt und verbat die Verunehrung.
Man wankte von einer Meinung zur anderen.
Seit mehr als einem Jahrhundert war in Eu¬
ropa keine Todesſtrafe zuerkannt worden, es gab
keine Henker und Hochgerichte mehr. Dennoch
hatte der Menſch die Todesſtrafe vollkommen
verwirkt, und hatte er das furchtbare, graͤßliche
Schauſpiel unerhoͤrter Frevel geben koͤnnen, war
das Beiſpiel einer eben ſolchen oͤffentlichen Ahn¬
dung gerecht. Zuletzt entſchied man denn fuͤr
ſeinen Tod, doch uͤber die Art deſſelben konnte
man ſich nicht einigen.
Da trat ein Lehrer der Zergliederungskunde
auf. Laßt ihn durch ſeinen Tod nuͤtzen, ſprach
der Mann, er mag uns um eine wichtige Er¬
fahrung bereichern. Wir entdeckten eine geiſtige
Fluͤſſigkeit, viel vervollkommnet gegen die, welcher
ſich vormals die Anatomen bedienten, um thie¬
riſche Organe dauernd aufzubewahren. Sie er¬
haͤlt einen Koͤrper genau in dem Zuſtande, worin
er ihr uͤbergeben wird. Ich rathe, wir fuͤllen
ein weites Gefaͤß mit dieſem Fluidum. Der
Verbrecher werde entkleidet und darin ertraͤnkt.
Dann ſoll aber das Gefaͤß verſchloſſen werden und
funfzig Jahre lang unberuͤhrt bleiben. Nach
Verlauf dieſer Zeit aber ſoll man den Koͤrper wie¬
der herausnehmen, und die gewoͤhnlichen Mittel,
welche im Waſſer Verungluͤckte oft ins Leben
rufen, anwenden. Meine Theorie weiſſagt, man
werde ſich nicht umſonſt bemuͤhn, denn die Le¬
benskraft iſt nicht entflohn, alle Theile ſind in
ihrer Vollkommenheit erhalten worden, weil der
Reitz des geiſtigen Feuers in unſrer Fluͤſſigkeit,
der Aufloͤſung Widerſtand leiſtet. Irre ich nicht,
ſo wird es merkwuͤrdig ſein, einen Mann zu
ſehen, der funfzig Jahre lang ſchlief, er wird
manches wiſſen, das die Alten und Geſchicht¬
ſchreiber vergaßen. Kuͤnftig koͤnnte man ſogar
Jahrhunderte lang Leben aufbewahren, und ge¬
wiß mit Nutzen, denn oft geht auch, trotz dem
Weiterſtreben der Menſchheit, manches Gute
unter, deſſen Rettung aus der Vergeſſenheit
heilſam werden kann.
Der Arzt ſah ſich haͤufig beſtritten, man lachte
ſogar uͤber ihn. Endlich aber erklaͤrte ein Ge¬
ſchichtforſcher: er habe in einem alten Buche ge¬
funden, daß einſt im achtzehnten Jahrhundert,
der Mann, welcher die erſten Gewitterableiter
erfunden, Franklin genannt, Fliegen von Ma¬
dera, die im Weinfaſſe nach Nordamerika ge¬
kommen waͤren, und zehn Jahre lang im Keller
geſtanden haͤtten, wieder lebendig gemacht habe.
Was wollt ihr nun? fragte der Arzt.
Fliegen und Menſchen! ſpoͤttelten ſeine
Gegner.
Nun, es koͤmmt auf den Verſuch an, hieß es
endlich, und man beſchloß, den Rath zu voll¬
ziehn, was auch geſchah.
Das Faß mit dem Ertraͤnkten wurde in einem
feſten Gewoͤlbe bewahrt, vor deſſen Thuͤr der
Rath ſein Siegel legte. Ein Protokoll berichtete
der Nachwelt die Thatſache und bat daneben:
falls der Verbrecher wirklich wieder zum Daſein
gelangen ſollte, dann die weitere Strafe, in Be¬
tracht der erlittenen Todesangſt, aufzuheben. —
Jetzt waren die funfzig Jahre verſtrichen.
Der Tag des Verſuches wurde beraumt. Die Na¬
turkundigen ſchrieben fuͤr und gegen jenes, ſchon
lange geſtorbenen, Arztes Meinung. Man ſtellte
Wetten an, ganz Paris ſprach von nichts, als
dem Manne im Spiritus.
Gelino hatte, durch bedeutende Fuͤrſprache,
die Erlaubniß des naͤheren Zutritts fuͤr ſich und
ſeinen Zoͤgling empfangen. Man brach die Siegel,
fand das Gefaͤß unverſehrt, das nun in den
Saal der Anatomie geſchafft wurde.
Auf Erhoͤhungen ſaßen die eingelaſſenen Zu¬
ſchauer, die Naturkundigen hatten ſich um den
Tiſch, in der Mitte des runden Saales, gedraͤngt.
Der Koͤrper ward aus ſeinem feuchten Grabe
gezogen, auf den Tiſch gelegt. Alle Theile wa¬
ren ſo friſch, als haͤtten ſie nur eine Stunde
darin gelegen, das Geſicht blaͤulich aufgetrie¬
ben wie immer bei Ertrunkenen. Verwundernd
blickte alles hin, und harrte ungeduldig auf den
Ausgang.
Die gewoͤhnlichen Rettungsmittel fanden An¬
wendung, man brachte die Fluͤſſigkeiten aus der
Luftroͤhre, rieb, erwaͤrmte, floͤßte ein, u. ſ. w.
Doch verging eine Stunde nach der anderen,
ohne daß der Zuſtand des Kadavers ſich im min¬
deſten umwandelt haͤtte. Nicht wahr, wir hat¬
ten Recht? ſagten die Unglaͤubigen, wer ſeine
Wette verlohren glaubte, zog ein verdrießlich
Geſicht.
Endlich rief ein junger Arzt: Vielleicht hin¬
dert der Spiritus, den die Einſaugungsgefaͤße
aufnahmen, durch den zu großen Reitz den Um¬
ſchwung der Saͤfte. Suchen wir ihn in einem
Schwitzbade auszufuͤhren, das ohnehin durch den
hohen Grad von Hitze die Lebenskraft anregen
wird.
Es iſt nicht mehr die Rede von Lebenskraft,
entgegnete der Vorſteher, indeſſen kann man ein
Uebriges thun.
Das Schwitzbad wurde geheitzt, einige kraͤf¬
tige Maͤnner begaben ſich mit dem Koͤrper hin¬
ein, und ließen die Temperatur hoͤher treiben,
als ſie wohl einſt ein Blagden ausgehalten hat,
waͤhrend ſie ihre Bemuͤhungen unermuͤdet fort¬
ſetzten.
Vom Saale ſchickte man jeden Augenblick
nachzufragen. Die Nachricht langte an: der Ka¬
daver ſchwitze. Ein Lebenzeichen! frohlockte
der eine Theil: es ſind die Duͤnſte des Bades,
die ſich anlegen, ſtritt der Andere.
Nach einer halben Stunde ſchrie ein Bote
athemlos: Athem! — Irrthum, Irrthum! —
Seht ihr, ſeht ihr! — Ich hab' es ſelbſt em¬
pfunden.
Ein anderer ſprang in den Saal, rief, mit
eignem ſtarren Puls: — Puls — Unmoͤglich! Wa¬
rum unmoͤglich? — Meine Hand fuͤhlte ihn.
Man wußte nicht woran man war, doch fing
der Unglaube an, kleinlaut zu werden.
Der Koͤrper ward nun in dichte Pelze gehuͤllt
und wieder in den Saal gebracht. Jedermann
ſah die unzweifelhafte Veraͤndrung des Geſichtes,
die Blaͤue war geſchwunden, ein brennendes Roth
uͤberzog es, wenn ſonſt ſchon ſich keine Bewe¬
gung zeigte, es auch unempfindlich gegen An¬
ruͤhren mit ſpitzigen Inſtrumenten war.
Doch eine Feder, vor den Mund gelegt, flog
weg, alle, welche an die Pulsader griffen, be¬
zeugten, ein leiſes Klopfen wahrzunehmen.
Dabei blieb es aber wohl ſechs Stunden,
ſo daß der Zweifel wieder die Stimme erhob,
und jene Anzeigen Taͤuſchung nannte. Dann
ſchrie aber alles ploͤtzlich auf! Das eine Auge
hatte ſich geoͤffnet und wieder geſchloſſen. Nicht
lange, ſo geſchah das Naͤmliche mit dem zweiten,
eine Stunde noch, und das erſte Wort floh von
den Lippen, die funfzigjaͤhrige Erſtarrung ge¬
ſchloſſen hatte.
Niemand mied den Saal. Man vergaß uͤber
die Neugier die gewohnte Nahrung zu nehmen,
immer das Auge auf den Koͤrper geheftet. Die
ganze Nacht verſtrich ſo, waͤhrend hin und wie¬
der die Sprache, doch verwirrt, hoͤrbar wurde.
Am andern Morgen aber war die Beſonnenheit
vollkommen da, der wieder Lebende ſprach von
ſeinem Verbrechen, ſeiner Reue, flehte um
Erbarmen.
Man ſagte es zu, ſchonte ſeiner auf alle
Weiſe, pflegte, ſtaͤrkte. Er beſann ſich in ein
Faß geworfen worden zu ſein, meinte aber, man
habe ihn nach wenig Minuten wieder herausge¬
nommen, die Todesſtrafe in eine andere zu ver¬
wandeln. Man ſah alſo, daß ihm damals die
eigentliche Abſicht nicht vertraut worden war.
Er rief um ſeinen Anwald, nannte die Namen
der Richter, welche alle nicht mehr lebten, bis
auf einen, der, ein hundertjaͤhriger Greis, ſich
mit im Saale befand, und uͤber das, den mei¬
ſten Unverſtaͤndliche, was der Mann ſagte, Auf¬
ſchluͤſſe gab.
Er trat auch zu ihm. O Himmel! rief er,
wie bleich, wie gerunzelt deine Wangen, Richter,
wie weiß dein Haar! Was hat dich ſeit geſtern
ſo veraͤndert? Und all dieſe Leute, wie ſelt¬
ſam ſind ſie gekleidet! Wo bin ich? Wohin
brachtet ihr mich?
Man half ihm auf, fuͤhrte ihn an ein Fen¬
ſter. Er ſah viele unbekannte Gebaͤude, ver¬
mißte viele alte. Bin ich trunken? Wahn¬
ſinnig? Wo iſt der Pallaſt geblieben, der dort
geſtern noch ſtand? Wie koͤmmt ſo ploͤtzlich der
große Tempel nach jener immer leeren Stelle?
Was ſoll ich denken?
Es war Zeit, ihm die Raͤthſel zu loͤſen, ſein
Verſtand haͤtte durch die unbegreiflichen Erſchei¬
nungen in Zerruͤttung ſinken koͤnnen.
Wer malt nun aber ſein Staunen! „Funfzig
Jahre haͤtte ich geſchlafen? Unmoͤglich!“
Man zeigte ihm Buͤcher mit der laufenden
Jahrzahl, rief einige Perſonen, deren er ſich als
Juͤnglinge oder Kinder entſann, deren jetzige
Geſtalt keinen Zweifel beſtehen ließ. Er konnte
es dennoch immer nicht glauben, ihm war, als
ſei er vor wenigen Minuten verſunken, und
ruͤhmte wiederholt die Suͤßigkeit ſeines tiefen
Schlummers.
Endlich mußte er aber die Wahrheit erkennen,
und wurde durch ganz Paris gefuͤhrt, wo Fenſter
und Daͤcher, wie ſich denken laͤßt, mit Zuſchauern
uͤberfuͤllt waren. Geſchichtforſcher und Antiquare
ließen ihm daheim keinen Augenblick Ruh, und
erfuhren auch in der That, manches ihnen Unbe¬
kannte, durch ſeinen Mund.
Er hatte nun gehoͤrt, die weitere Strafe
ſei ihm erlaſſen. Doch rief er: Mein Gewiſ¬
ſen klagt mich zu laut an, ich verdiene es nicht!
Man entgegnete: Moͤchte vor funfzig Jahren
geſchehen ſein, was da wolle, die Zeit haͤtte
einen Schleier daruͤber geworfen, auch ſeitdem
Erzie¬
Erziehung und Moral wieder ſo viel an Voll¬
kommenheit gewonnen, das ſolche Verbrecher
wohl nicht mehr aufſtaͤnden. — So gebuͤhrt mir
die Strafe jener Zeit. Sendet mich in die Ver¬
weiſung, entgegnete er.
„Nein, nein, die Vorwelt wollte deine Be¬
gnadigung ſelbſt, wenn du die lange Verwei¬
ſung aus der Geſellſchaft uͤberſtaͤndeſt.“
Gut! Laßt mich ein Jahrlang unter euch
leben. Dann will ich, mein Gewiſſen zu ent¬
laden, freiwillig abermal in das Gefaͤß. Ihr
uͤbergebt mich den Enkeln auf Hundert Jahre.
Weit nuͤtzlicher kann ich einſt jener Zeit ſein,
mir iſt es gleich, den Reſt meiner Tage nun oder
dann zu beſchließen, ja es iſt wohl im letzten Fall
noch weit merkwuͤrdiger. In dieſem Jahre will
ich mich von den Veraͤnderungen der Welt waͤh¬
rend meines Schlafes uͤberzeugen, und ohne
Zweifel werde ich oft ſtaunen.
Man konnte nicht umhin, den Zuſtand dieſes
Menſchen von einer Seite zu beneiden, und
willfahrtete ihm uͤbrigens.
Guido und ſein Lehrer warteten jedoch nichts
mehr davon ab, ſondern machten ſich auf den
Weg nach England. Der Luftpoſtillion fuhr
S
diesmal ſo ſchnell, daß Beide, unweit Paris ein
wenig entſchlummernd, nicht ehe als uͤber Lon¬
don wieder erwachten, und deshalb auch den
Damm zwiſchen Calais und Dover nicht ſahn,
welchen man eben zur engeren Verbindung Frank¬
reichs mit Brittanien anlegte. Er lief von bei¬
den Kuͤſten ins Meer, von ungeheuren einge¬
ſenkten Felsſtuͤcken erhoͤht, und, damit der See¬
ſtrom den freien Durchgang behielte, von Hundert
Klaftern zu Hundert Klaftern mit Bruͤcken aus
Hangewerk unterbrochen, die jedoch ſaͤmmtlich
hoͤher waren, als das Gewoͤlbe des Rialto zu
Venedig. Denn die groͤßten Kriegſchiffe fanden
mit allen aufgezogenen Segeln kein Hinderniß.
London fanden ſie jetzt wahrhaft reich, durch
ſeine gluͤckliche, zum Handel bequeme Lage, und
einen edlen Wetteifer im Kunſtfleiß, ohne den
unſinnigen frevelhaften Vorſatz, alle uͤbrigen Na¬
zionen der Erde zu Grunde richten zu wollen.
Gelino ſagte: Vor dem traurigen Ruin, den
ſich England Ehedem zuzog, ſah man hier auch
Reichthum, doch, mehr dem Schein als der
Wirklichkeit nach. Das Land war ſeine ganze
Habe mehr als dreifach ſchuldig. Das baare
Geld, oder vielmehr ſeine Darſtellung in Papier,
war in die Haͤnde von etwa Dreißigtauſend
Glaͤubigern der Nation zuſammengefloſſen. Ihre
Zinsforderungen befriedigen zu koͤnnen, wurden
dem uͤbrigen Volke unerhoͤrt druͤckende Gaben
aufgelegt, Verarmung, Elend jeder Art, und
endlich voͤllig erſchlaffte Staatskraft, mußten die
Folgen ſein. Freilich retteten ſich die Wohlha¬
benderen nach Bengalen, und ſpaͤterhin, wie dir
bekannt iſt, nach Polineſien, wo das jetzt maͤch¬
tige Reich durch ſie gegruͤndet, und mindeſtens
die Kultur nach fruͤherhin faſt unbekannten Erd¬
gegenden, verbreitet wurde; doch die zuruͤckblei¬
benden traf ein Anfangs hartes Loos, bis ſie
ſich auch wieder zum gemeſſenen Streben er¬
mannten, und im freundlichen, auf ewigen inne¬
ren Frieden gegruͤndeten Bund mit Europa, ein
feſteres Gedeihen als je fanden.
Die alte Paulskirche ſtand noch, ſogar, wie¬
wohl verfallen, die Weſtminſterabtei. Ueber das,
dem Brande von 1660 zum Andenken errichtete,
Monument, hatte noch der Zahn der Zeit nichts
vermocht.
Der Luxus war dem in Paris aͤhnlich, die
Reiſenden bezogen wieder einen Miethpallaſt der
jenem nichts nachgab. Man hatte einen oͤffent¬
S 2
lichen Garten, wo das alte Eden nachgeahmt
war und in der That Milch und Honig in Baͤ¬
chen floß. Es gab aber auch Teiche von Port¬
wein, Rum, Punſch, auf denen man in Nachen
aus buntfarbigen Konchilienſchalen oder edlen
Metallen fuhr, Baͤume von denen man leckere
Konfituren pfluͤckte, gebratene Voͤgel die in der
Luft flogen (ſie waren mit brennbarer Luft ge¬
fuͤllt), geſpickte Haaſen, die umherliefen (eben
ſo in Bewegung geſetzt), Puddings, Roßbeef¬
ſtuͤcke, Hammern, Auſtern, Bifſteeks von gro¬
ßem Umfang, die Pilzen gleich aus der Erde
wuchſen, (denn die Kuͤche hatte unterirdiſche
Gaͤnge). Bisweilen regnete es Limonade, ha¬
gelte Zuckerwerk oder fror ſuͤßes Piſtazien¬
eis. Der Eintritt in dieſen Garten koſtete
aber, nach altem Muͤnzfuß gerechnet, Hundert
Guineen.
Auch hatte ein neuer Graham ein himmli¬
ſches Bett aufgeſchlagen. Wer nun die Beſchrei¬
bung davon leſen wollte, mußte ſo viel zahlen,
als fuͤr den Eintritt in jenen Luſtgarten, dane¬
ben einen Eid ſchwoͤren, nicht auszuplaudern.
Guido las, ward von den Vorſtellungen unend¬
lich zauberiſch ergriffen. Der Lehrer ſagte:
Wirſt du einſt im Mariatempel das Band ewi¬
ger Liebe knuͤpfen, dann bediene dich dieſer Er¬
findung. Der Juͤngling loderte in Flammen,
und verwahrte dieſes Wort treu.
Die Buͤhnen zu Coventgarden und Drurylane
waren nicht mehr vorhanden, es gab andere
und in groͤßerer Zahl. Das vorzuͤglichſte hieß
Shakespears Theater, doch nicht nur der Name,
ſondern auch die Werke des alten Dichters hat¬
ten ihr Andenken erhalten. Auch beſtand neben
der Vorliebe fuͤr ihn, viel Nazionalgeſchmack
von Ehedem. Die Identifikazionen mit dem
uͤbrigen Europa, hatten ihn nicht ganz aufge¬
hoben, was auch in anderen großen Provinzen
der Fall, wiewohl im merklichen Abnehmen, war.
Man gab Shakeſpears Trauerſpiele noch im¬
mer, jedoch uͤberſetzt in die allgemeine Sprache
des Erdtheils, deren Vollkommenheit ſie indeſſen
nichts verlieren, ſondern viel an Kraft, Aus¬
druck, Bedeutung gewinnen ließ. Die Theater¬
kunſt trieb es ſo weit als in Paris. Fuͤhrte man
den Sturm auf, ſah der Zuſchauer ein wirkli¬
ches, ſturmerregtes Meer auf welchem das Schiff
ſcheiterte. Denn ein großes Waſſerbecken gehoͤrte
zu dieſer Buͤhne, die man bei ſolchen Gelegen¬
heiten unmerklich an ſeine Ufer rollte. Im
Hamlet war der Geiſt ein Rieſe, deſſen Haupt
weit uͤber den Pallaſt emporragte, und den auch
der Mond durchſchien. Bankos Geſpenſt in
Makbeth und die Zauberinnen zerfloſſen vor aller
Augen in Nichts und dennoch hatten ſie geſpro¬
chen, gehandelt. Dies war immer die WirkuugWirkung
kunſtreicher Phantasmagorie, mittelſt der unglaub¬
liche Illuſionen hervorgebracht wurden.
Guido verlangte jedoch von den Ergoͤtzungen
weg, deren er ſchon ſo vielen beigewohnt hatte,
um die große Flotte zu ſehen. Wie in der Provinz
Moskau das Landheer den Hauptſitz hatte, wa¬
ren Brittaniens Haͤfen, und vorzuͤglich London,
der Aufenthalt von Europas Seemacht. Auf
der Themſe lagen die meiſten Orlogſchiffe, welche
zu ihren Uebungen in die Nordſee ausliefen und
gefahrvolle Kuͤſten und Zwiſchenmeere beſuchten,
die Piloten und niedern Mannſchaften deſto voll¬
kommener zu unterrichten. Jetzt nahte das
Spaͤtjahr, mit den um die Zeit der Nachtgleiche
gewoͤhnlichen Stuͤrmen, wo die Hauptpruͤfung
Statt hatte. Diesmal ſollte die Flotte von
London ins Kattegat gehn, eine andere von
Portsmuth und Plimouth ſich mit der Abtheilung
welche bei Kopenhagen zu liegen pflegte, verbin¬
den, und dann wollte man zwiſchen den Belten
Seekaͤmpfe halten.
Kadix, Toulon, Genua, Ankona, Korfu,
Konſtantinopel waren uͤbrigens auch Kriegshaͤfen,
doch der obern Leitung der Admiralitaͤt zu London
uͤbergeben worden.
Die Flotte gehoͤrte wie das Landheer dem
Foͤderalismus. Ihre junge Mannſchaft zog ſie
aus allen Kuͤſtenlanden. Der Dienſt eines See¬
ſoldaten, wie ſein Unterricht, ſeine Entlaſſung
oder Befoͤrderung zu wichtigeren Stellen, wurden
nach Grundſaͤtzen verfuͤgt, die jenen beim Land¬
heere aͤhnlich waren.
Der Staat zahlte keinen Sold, dennoch aber
war die Seemacht wohlgeruͤſtet, wohlgenaͤhrt, be¬
ſaß ſogar Schaͤtze genug, um einen langen Krieg
aus ihren Mitteln fuͤhren zu koͤnnen. Dies
machte, weil die Schiffe ſechs Monate im Jahre
zum Handel gebraucht werden durften, den die
Admiralitaͤt, fuͤr Rechnung der Flotte, nach allen
Erdgegenden trieb. Unbedingte Hafenfreiheit
durch ganz Europa machte ihn noch weit ein¬
traͤglicher.
Guido meldete ſich bei dem Befehlhaber der
auszulaufenden Fahrzeuge, ſagte ihm, wie er
ſich zwar dem Kriegdienſte zu Lande gewidmet
habe, dennoch aber einer Seeuͤbung als Frei¬
williger beizuwohnen wuͤnſche. Die Erlaubniß
wurde auf ſeine Bitte zugeſtanden, nachdem
er vorher bedeutende Proben ſeiner Geſchicklich¬
keit im Schwimmen, Fechten und Schießen nach
dem Ziel, abgelegt hatte.
Der Seekrieg wurde auf eine weit furchtba¬
rere Art gefuͤhrt als Ehedem. Man zaͤhlte auch
drei Truppengattungen. Eine davon beſtieg Luft¬
fahrzeuge, ſuchte brennende Stoffe auf die feind¬
lichen Galleonen zu werfen und Maſten oder
Segelwerk zu zerſtoͤren. Sie ward im Vollziehen
und Abwenden nach Bedarf geuͤbt. Die andere
diente in den Schiffen ſelbſt auf mancherlei Weiſe.
Es gab Schuͤtzen, welche dicht bepanzert an
Straͤngen hingen. An den Maſten wurden ſie
ſtaffelfoͤrmig zur Hoͤhe gezogen, damit ein dichter
Rohrhagel zugleich konnte abgeſendet werden,
und nach dem Feuer hinter die Bruſtwehr zu¬
ruͤckgeſenkt, dort laden zu koͤnnen. Einem feind¬
lichen Schiffe nahe, mußten ſie auf einer Fallbruͤcke
hinuͤber und mit dem Schwert wuͤthen, blieben
demungeachtet aber an das ihrige gebunden, um
ſie im ſchlimmen Falle, eilig wieder auf das ei¬
gene Verdeck zu ziehn. Es gab Schiffartilleriſten,
noch kunſtfertiger als jene auf dem Lande. Sie
bedienten ſich immer der gluͤhenden Kugeln, de¬
nen zweckmaͤßig erſonnene Oefen, in einem Au¬
genblick die noͤthige Hitze gaben. Auch lange
Schwerter wurden in Boͤgen von oben nach un¬
ten, und von einer Seite zur andern, aus dazu
geeigneten trogartigen Moͤrſern geworfen, Tau¬
werk und Segel zu verwuͤſten. Es gab Schiff¬
chemiker, welche die Brandmaterien anfertigten,
womit man noch wirkſamer als ſelbſt durch die
gluͤhenden Baͤlle zu zerſtoͤren ſtrebte, und auch
wieder Stoffe, welche den verderblichen Lauf
derer, welche der Feind ſandte, hemmen konnten,
alles Reſultate von Erfindungen welche die Vor¬
zeit noch nicht ahnte. Es gab Seemechaniker,
die bewunderswuͤrdige Maſchinen lenkten. Da¬
hin gehoͤrten die ſchnellen Ruderwerke, welche
bei Windſtillen dienten; die kuͤnſtlichen Steuer,
geſchickt ein Fahrzeug in unglaublich kurzer Zeit
zu drehen. Den Krieg unter dem Meere konnte
man dennoch als den wichtigeren betrachten. In
den ſchon beſchriebenen Taucherhuͤtten galt da
der ſchlaue grimmige Kampf. Unter den Bauch
der Schiffe ſuchte man anzulangen, mittelſt fuͤrch¬
terlicher Bohrer Lecke zu bereiten, oder noch
fuͤrchterlichere Petarden anzuſchrauben, deren Pul¬
ver auch im Waſſer ſeine Kraft uͤbte. Wer haͤtte
nicht glauben ſollen, bei ſo vielen Zerſtoͤrungs¬
mitteln muͤßte es in wenigen Minuten um ganze
Flotten geſchehen ſein, dennoch begruͤndeten die
Gegenmittel wieder ein Gleichgewicht der Kraͤf¬
te, und zeigte der Feind dieſelbe Kunſt, hing
die Entſcheidung oft an Zufaͤlligkeiten. Die Be¬
fehlhaber geſtanden auch, wie die Flotten von
Afrika oder Amerika, eben ſo wohlgeruͤſtet und mit
kunſterfahrnen Kriegern bemannet waͤren, daß
alſo hier von keinem uͤberwiegenden Vorzug die
Rede ſei, und derjenige ein wichtiges Verdienſt um
den Meerkrieg erwerben koͤnne, der etwas auf¬
zufinden im Stande ſei, das, den Fremden un¬
bekannt, in der naͤchſten Fehde den gewiſſen
Ausſchlag gaͤbe.
Dies Wort warf einen Funken in Guidos
Einbildungskraft, und ließ ſie aufflammen.
Sollte dieſe Aufgabe nicht zu loͤſen ſein? fragte
er ſich. Und warum nicht? Strebt doch alles
hoͤherer Vollkommenheit entgegen. Er ſann wei¬
ter uͤber dieſen Vorwurf nach.
Die Flotte lichtete die Anker. Guido hatte
von dem Lehrer Abſchied genommen, der in
London zuruͤckblieb. Bei einem wuͤthenden Or¬
kan ſtach man um Mitternacht in See, doch die
Fertigkeit ſpielte nur mit den Hinderniſſen. Ge¬
gen den Wind kaͤmpften die Ruderwerte, die
Klippen und Sandbaͤnke, nach welchen zu ſteuern,
mit gutem Bedacht geboten wurde, umlenkte
Geographie des Meergrundes und der Piloten
Beſonnenheit. So langten die Schiffe nach we¬
nig Tagen in den gefahrvollen Belten an, tra¬
fen bei einem dunkeln Nebel auf jene, welche
die feindliche Rolle gaben, und der Kampf
begann.
Guido flog erſt mit den Luftgondoliren em¬
por, ſtieg dann wieder in ſein Schiff nieder,
und ſenkte ſich endlich mit den Tauchern in die
Tiefe. Er wollte von Allem genaue Kunde zu¬
ruͤckbringen, Jedermann ſah ſich befremdet durch
ſeinen Eifer, ſeine Kraft und Ausdauer.
Es trat jedoch ein ſeltſamer Fall ein. Drei
Schiffe von der Gegenparthei, ſchnitten der dieſ¬
ſeitigen Flotte ein Fahrzeug ab. Es fand ſich
umringt, und von den Maſten dort wehte das
Signal, ſich zu ergeben. Dies wollte es nicht,
den Vorwurf, unachtſam geweſen zu ſein, ab¬
zulehnen. Man wandte alle Mittel an, den
Weg durch die Feinde zu nehmen, die wieder
alle Vorkehrungen trafen, es zu hindern; denn
ſie entflammte der Ehrgeitz, eine wohlgelenkte
Bewegung ausgefuͤhrt zu haben.
Gefahren mangelten dieſen, mitten im Sturm,
im engen, klippenvollen Meere, gehaltenen Uebun¬
gen keineswegs, auch fiel mancher Soldat in die
empoͤrten Fluten, wo ihn weder das eigne fer¬
tige Schwimmen, noch die Huͤlfe der Kamera¬
den zu retten vermochte; doch die Roͤhre lud
man nicht.
Allein auf dem bedraͤngten Schiffe — Guido
befand ſich eben hier — kam ein Artilleriſt auf
den Gedanken, die Widerſacher dadurch abzuhal¬
ten, daß er ihre Segel und Ruderwerke zer¬
ſtoͤrte. Strafwuͤrdig fuͤllte er alſo ſein Geſchoß
ernſthaft, und erprobte auch ſeine Fertigkeit ſo
wohl, daß ein Fahrzeug druͤben bald außer Stand
geſetzt wurde, ſeine Bewegungen willkuͤhrlich zu
lenken.
Dies Verfahren machte aber, daß die andern
wuͤtheten, und Gleiches mit Gleichem bezahlten.
Ohne daß ihren Konſtablern durch die Obern
Einhalt geſchehen konnte, warfen ſie gluͤhende
Baͤlle ab. Das bedraͤngte Schiff hatte ein dop¬
pelt uͤberlegenes Feuer zu leiden, und mußte
ſich nun auch ernſt vertheidigen, oder untergehn.
Das Erſte geſchah mit zuͤgelloſer Hitze, die je¬
doch nicht unbeantwortet blieb, und zur Folge
hatte, daß viele Soldaten an beiden Theilen
todt hinſanken. Nur mehr eiferten die Gemuͤ¬
ther, ergrimmt ſetzte man den Kampf fort. Die
Offiziere fielen ſaͤmmtlich. Guido, deſſen krie¬
geriſches Feuer im raſenden Getuͤmmel hoch auf¬
flammte, lenkte den Streit, ertheilte ſo guten
Rath, daß man ſich willig unter ſeinen Ober¬
befehl ſtellte. Er drang geſchickt auf das eine
Fahrzeug ein, ließ im guͤltigen Augenblick die
Fallbruͤcke werfen, ſtuͤrzte ſich mit der Haͤlfte ſei¬
ner Leute auf das feindliche Verdeck, wo man
ſich dieſer Kuͤhnheit dennoch nicht verſah, und
ſich ergab. Nun wiederholte er daſſelbe bei dem
andern Schiffe, wo es eben ſo gelang, und
fuͤhrte die eroberten Schiffe im Triumphe dem
Admiral zu. Dieſer zuͤrnte, wie billig, verord¬
nete Strenge gegen die frevelhaften Urheber des
blutigen Unfugs, wunderte ſich aber hoch, daß
der neue Freiwillige der Soldaten Vertrauen
habe gewinnen, und ihm mit ſo vieler Sach¬
kunde und Geiſtesgegenwart habe entſprechen
koͤnnen. Er begriff auch gar wohl, wie ohne
die ſchnell beherzte Entſcheidung, noch mehr Le¬
ben wuͤrde gefallen ſein. Guido wurde mit Lob
uͤberhaͤuft, und auf allen Fahrzeugen ruͤhmte
das eilig umlaufende Geruͤcht, den kuͤhnen, wei¬
ſen Juͤngling. Er bewaͤhrte ſein Genie auch
noch hoͤher, indem er in der That die Erfin¬
dung machte, welche, ſo lange ſie dem Feinde un¬
bekannt blieb, ein entſchieden Uebergewicht im
Kampf begruͤndete, und die lange vergeblich ge¬
wuͤnſcht worden war. Sie beſtand in einer ein¬
fachen, doch hoͤchſt wirkſamen und wohlberech¬
neten mechaniſchen Vorrichtung, mittelſt der
man, ohne es ſelbſt zu verlieren, einem feind¬
lichen Schiffe das Gleichgewicht rauben, und es
rettungslos umwerfen konnte. Als ein Geheim¬
niß vertraute er ſeine Theorie dem ſtaunenden
Admiral. Dieſer fand ſie ſo wichtig, daß er ſo¬
gleich die weiteren Uebungen aufhob, um nach
London zuruͤckzuſegeln.
Dort angekommen, ward Guido eingeladen,
vor einem engeren Ausſchuß der oberen Leitung
der Seemacht, Verſuche mit der anzufertigenden
entworfenen Maſchine zu halten. Sie betrogen
die hohe Erwartung nicht; die Admiralitaͤt er¬
theilte ihm ein Ehrenzeichen und machte ihm
bekannt: daß dem Strategion und dem Kaiſer
eine Nachricht von ſeinem bedeutenden Verdienſt
um den Seekrieg wuͤrde zugeſandt werden. Be¬
ſcheiden zog ſich der Juͤngling zuruͤck, und drang
in den erfreuten Lehrer, abzureiſen. Das Ehren¬
zeichen trug er nicht, ſondern uͤbermachte es
Ini, mit der Bitte, es mit jenem aufzubewah¬
ren. — Dieſe hatte ſich aber damals ſchon von
Sizilien entfernt.
Man ſchlug nun den Weg nach Spanien ein.
Hier fand Guido viele Monumente mit trauri¬
gen Bezeichnungen, und uͤberſchrieben: „Denk¬
mal beweinter Irthuͤmer.“ Gelino gab ihm
hieruͤber folgende Auskunft: Spanien hatte vor
mehr als einem halben Jahrtauſend einen hohen
Gipfel des Wohlſtandes eingenommen. Freund¬
lich durch die Natur beguͤnſtigt, ſah man zahl¬
reiche, kunſtfleißige, kluge Bewohner, ſeiner
uͤppigen, reitzenden Gefilde pflegen, in den wei¬
ten bluͤhenden Staͤdten wohnten Thaͤtigkeit und
Ueberfluß. Doch ein Siſtem frevelhafter Kirch¬
lichkeit, weiter von Religion entfernt als irgend
in einem Lande und zu irgend einem Zeitraum
der Verfinſterung, trat mit widrigen Maaßre¬
geln ſeiner Regenten in Bund, und entvoͤlkerte
nach und nach den geſegneten Erdſtrich bis auf
ein Drittheil der alten Menſchenſumme. Der
Zufall ließ Spanien die erſten Vortheile von
Amerikas Entdeckung ziehn, weite reiche Land¬
ſchaften eignete es ſich dort zu, Gold- und Sil¬
berminen, wie ſie zuvor keinem Staate gehoͤr¬
ten, wurden ſein Eigenthum. Doch dieſer Um¬
ſtand brachte, ſtatt wiedererwachten Flor, nur
tiefere Verarmung zuwege; denn Spanien ergab
ſich dem Muͤßiggang, das Gold wich in die
Fremde, man ſank in Schulden. Zuletzt ſchwelg¬
ten nur noch wenige Großen und die Prieſter,
die Geiſteskraft lag in den Banden des wahn¬
ſinnigſten Aberglaubens, die Regierung, trotz
der meerumfloſſenen und durch die Mauer der
Pirenaͤenkette geſicherten Lage von Spanien,
konnte ſich nicht mehr vertheidigen. Die ſpaͤter¬
hin geiſtesentwoͤlkten Nachkommen, blickten nun
mit Wehmuth in eine Vergangenheit zuruͤck, die
ſo viel Saͤumniß, das Gute zu erkennen, zu be¬
klagen darbot. Sie meinten, wenn man der
Kraft und Weisheit billig Denkmale ſtelle, ge¬
buͤhre
buͤhre ſolches auch wohl zerruͤttenden Irthuͤmern,
damit die ſchaudernden Enkel laut gemahnt
wuͤrden, auf edlem Pfad zu wandeln.
Guido ſeufzte bei dieſer Erzaͤhlung, freute
ſich aber deſto inniger uͤber das nun paradieſiſch
angebaute Land, die prangenden Reisgefilde,
die duftenden Orangenhaine, die Weingaͤrten,
alle uͤbrigen, welche er je geſehn, an Schoͤnheit
hinter ſich laſſend.
Madrit, ſagte Gelino, wird dich entzuͤcken.
Ehedem ſoll es eine winklige, ohne Geſchmack
aufgefuͤhrte, und uͤber alle Beſchreibung unrein¬
liche Stadt geweſen ſein, ſpaͤterhin iſt ſie jedoch
von Grund auf neu erbaut worden, und das,
dem an ſich lieblichen, und noch viel veredelten
Klima angemeſſen.
Guido fand die Beſtaͤtigung dieſer Worte.
Hatten Polen und Teutonien, durch Kultur
ihrem Boden Fruͤchte erzogen, die man ſonſt
nur in Spaniens Breite ſah, ſo hatte dies Land,
durch gluͤckliches Streben und bei reicherem Segen
der Naturkraͤfte, manche Erzeugniſſe von Afrika
zu ſich verpflanzt. Die Gaͤrten um Madrit ſa¬
hen die edelſten Feigengattungen reifen, der Pi¬
ſang bluͤhte luſtig, die Dattelpalme, der Kokos¬
T
baum breiteten ihre dichten Laubgewoͤlbe in lan¬
gen Blaͤttern aus, die Brodfrucht gedieh auf
kraͤftigen Staͤmmen und erhoͤhte den Reichthum
an Lebensnahrung. Gewuͤrzſtauden mancher Art,
ſonſt ein Eigenthum indiſcher Eilande, wurden
auch mit Erfolg gezogen und durchhauchten die
Luͤfte mit den angenehmſten Aromen. Madrit
hatte ſehr breite Straßen, in welche, zur erfri¬
ſchenden Kuͤhlung, Kanaͤle geleitet waren. Man
wachte uͤber ihre Sauberkeit mit fleißiger Sorge,
ſpiegelhell wogten ſie langſam zwiſchen den mar¬
mornen Bekleidungen hin. Zu beiden Seiten
prangten Baumgaͤnge, und die Straßen hatten
ihre Benennung davon, je nachdem es Pfirſich,
Granataͤpfel, die ſtattliche Benta von Senegal,
der nuͤtzliche Kapok, die ſchattige Pflaumenpalme
u. ſ. w. waren, welche dort in gleichfoͤrmigen
Reihen ſtanden. In Herbſt- und Winternaͤchten
huͤllte ſie am Stamm eine Decke ein, und oben
waren Froſtableiter angebracht. Vor den Haͤu¬
ſern ſah man auch in graden Abtheilungen
Blumenbeete, und von den platten, mit Gelaͤn¬
dern verſehenen, Daͤchern, winkten allerhand lieb¬
liche Stauden in Vaſen, wie ſie auch, von gu¬
ten Steinwoͤlbungen unterſtuͤtzt, eine Erdlage
fuͤr Luſtpflanzen trugen. Die Einwohner brach¬
ten ſchoͤne Morgen und Abende oben zu, verrich¬
teten hier mancherlei Geſchaͤfte. Oft klang die
kaſtilianiſche Guitarre, noch, wiewohl ſehr ver¬
edelt, im Gebrauch, in ſuͤßen Melodien herab,
begleitet vom Sopran liebeathmender Maͤdchen,
oder der alte Fandango drehte ſich auf den Blu¬
menmatten der Hoͤhe.
Von den vielen Plaͤtzen waren diejenigen,
welche nicht zu Handelsmaͤrkten dienten, entwe¬
der mit Luſtwaͤldchen von Cedern oder uͤppigen
ſuͤdlichen Fruchtbaͤumen bepflanzt, oder in an¬
muthige Wieſenplane umgeſchaffen, oder mit
weiten klaren Waſſerbecken geziert, auf denen
bequeme Gondeln zu Freudenfahrten einluden.
So glich Madrit einem großen Garten, und
die Wohnungen der Menſchen darin, Pavillonen,
Niſchen u. ſ. w. Kaum ließ ſich ein reitzenderer
Aufenthalt ertraͤumen. Es gab auch Tempel
aus Baumgewoͤlben von ſeltner Hoͤhe, unten
mit Meiſterwerken der Bildhauerei geſchmuͤckt,
und die Andacht darin hatte einen feierlichen
Zauber. Der große Hang, die Lieblichkeit der
ſchoͤnen Natur zu genießen, hatte auch mancher
Buͤhne, aus Hecken erbaut, das Daſein gegeben.
T 2
Bei guter Witterung ſah man hier Schauſpiele
unter dem freien Himmelsbogen, oft noch ein
Werk des Lope de Vega voll ſeltſamer Liebes¬
abentheuer, die die romantiſch empfindenden Ein¬
wohner nicht vergeſſen hatten.
Dem Manſanares war ein Bett von mehr
Tiefe und Umfang als Ehedem gehoͤhlt worden,
er ſtand mit dem Minho, Guadiana, Guadal¬
quivir u. ſ. w. in Verbindung, welche, jetzt auch
geeignet Seeſchiffe zu tragen, der Hauptſtadt
den Vortheil eines ausgebreiteten Handels ver¬
ſchafften.
Nur Buenretiro und Aranjuez entzuͤckten Guido
noch mehr, als das liebliche Madrit, und er
haͤtte es beweinen moͤgen, nicht mit Ini in die¬
ſen Eliſaͤen wandeln zu koͤnnen. Denn Geſchmack
und Reichthum hatten wetteifernd ſich verbun¬
den, die Gaͤrten dort, mit Allem, was Phan¬
taſie und Herz gluͤhend fuͤllen kann, verſchwen¬
deriſch auszuſtatten. Obgleich der Winter nahte,
ließ ihn die noch uͤberall gruͤnende Wonne nicht
ahnen.
Der Lehrer ſagte aber: Fort von hier, mein
Guido! Wenn dieſe Luſt dich, dem die uͤppi¬
gen Vergnuͤgungen von London und Paris lang¬
weilten, im Streben nach Unterricht, mehr an¬
kettet, weil die Natur hoͤheren Theil daran hat,
freut es mich, doch deinem Zweck darf ſie dich
auch nicht entfuͤhren. In tieferer Wiſſenſchaft
kannſt du hier nichts Betraͤchtliches erlernen,
dies Volk hat noch manchen Schritt zu thun,
die alte Saͤumniß einzuholen, um neben den
Teutonen, Britten und Franken zu ſtehn. Wir
wollen nach Liſſabon, doch auch da nur kurze Friſt
weilen.
Guido folgte ſogleich, er hatte Selbſtbeherr¬
ſchung genug, um zu wollen, was er ſollte.
Die Luftpoſt trug die Reiſenden bald nach
der weſtlichſten Hauptſtadt in Europa. Dort be¬
fand ſich unter andern eine beruͤhmte Vorkeh¬
rung gegen Erdbeben. Weshalb Liſſabon ſo große
Summen zu dieſem Zweck aufgewendet hatte,
ſieht man leicht ein. Die Anſtalt wuͤrde einem
Buͤrger des achtzehnten oder neunzehnten Jahr¬
hunderts ſo großes Staunen aufgedrungen ha¬
ben, wenn ihm ein prophetiſcher Geiſt davon
haͤtte Meldung thun koͤnnen, wie Jedermann
im zehnten gefuͤhlt haͤtte, wenn damals die
Rede von Feuerroͤhren und Blitzableitern ge¬
weſen waͤre.
Doch eine andere Szene feſſelte Guidos
Aufmerkſamkeit, wo moͤglich, noch mehr. Da
er naͤmlich am Ausfluß des Tago umherging,
kam etwas uͤber die See, keinem Schiffe glei¬
chend. Das Herannahen des Phaͤnomens ſetzte
ihn in nur heißere Verwunderung. Er begriff
nicht, wie ein Gegenſtand von dieſem Umfange
auf den Wogen ſchwimmen koͤnne. Endlich ſah
er klar, daß es eine Inſel ſei, und halb Liſſa¬
bon ſtroͤmte hinaus, ſie anzuſtaunen.
Sie kam noch naͤher. Fernroͤhre hatten die
Verſammlung Neugieriger ſchon uͤberzeugt, daß
ſich viele Menſchen darauf befaͤnden, welche
theils auf dem Raſen und in den kleinen Ge¬
buͤſchen ſich ergingen, theils in einem Wohn¬
hauſe, das man auf dem Eilande erblickte, al¬
lerhand Zeitvertreib hielten. Wer konnte aber
das alles erklaͤren? War ein Stuͤck Land irgendwo
durch ein gewaltſam Naturereigniß losgeriſſen
worden, und ſchwamm es nun zufaͤllig gerade
auf Liſſabon her? Niemand wußte, was er den¬
ken ſollte.
Freundlich gruͤßten aber von der Inſel Kano¬
nenſchuͤſſe, und die dankende Antwort wurde
vom Kaſteel des Hafens nicht vergeſſen.
Endlich hielt die Inſel. Sie hatte eine ſo
geringe Tiefe, daß ſie unfern der Kuͤſte ihren
Lauf enden konnte.
Nun offenbarte ſich aber, daß Wallfiſche von
ungeheurer Groͤße, deren Koͤpfe und Ruͤcken
auch vorher, obwohl nicht deutlich, uͤber der
Fluth bemerkt worden waren, das Eiland ge¬
zogen hatten. Die Maͤnner, mit ihrer Lenkung
bis dahin beſchaͤftigt, ſpannten ſie jetzt von den
unerhoͤrt dicken Geſchirren, warfen Anker von
ſeltener Schwere, und banden die Thiere an
ihren Tau.
Wallfiſche gezaͤhmt, zum Dienſt des Men¬
ſchen angelehrt? rief Alles; in wem erwachte zu¬
erſt der kecke Einfall? welche Mittel erſann er,
ihm Wirklichkeit zu geben?
Mit einem kleinen Nachen kamen nun einige
Maͤnner ans Land, faſt erdruͤckt von Portugie¬
ſen. Sie zeigten auf einen hochbejahrten Greis
in ihrer Mitte, nannten ihn den Beſitzer des
unerhoͤrten Seefuhrwerks. Alles ging dieſen nun
um Auskunft an, er mußte einen Balkon
beſteigen, zu der immer mehr angewachſenen
Menge zu reden.
Ich bin aus Nordamerika, Philadelphia mein
Geburtsort, hub er an. Schon mein Vater kam
in fruͤher Jugend auf die Vermuthung, es werde
moͤglich ſein, ſich Fiſchen mit ſeinem Willen
verſtaͤndlich zu machen, und ihre geringe Denk¬
kraft, mit der vielumfangenden menſchlichen, in
Beziehung zu ſetzen. Denn, dachte er, geht
dies bei Thieren vom Lande an, wo iſt der
Grund, es werde hier nothwendig mißlingen?
Ohne Zweifel gab es einſt Menſchen, die den
verlacht haben wuͤrden, der behauptet haͤtte,
man koͤnne Roß oder Stier zum dienenden Knecht
machen. Genug, mein Vater begann ſein Werk
mit unſaͤglicher Muͤhe. Kleine Flußfiſche in Bek¬
ken waren es, womit er den Anfang machte.
Die Nachbarn fragten, wozu denn das je nuͤtzen
ſolle? Dies mochte mein Vater auch noch nicht
recht einſehen, doch machte ihn nichts irre, und
nach Jahren konnte er doch einen Hecht, einen
Aal zeigen, welche auf ſeinen Wink allerlei kleine
Kuͤnſte vollzogen. Der Neuheit wegen lief man
herzu, ſah es an, zuckte hernach aber die Achſel
ob der eiteln Muͤhe. Doch mein Vater fuhr
fort. Ein Zitterfiſch, ein Kabliau und ein Hai,
ſehr jung eingefangen, kamen an die Reihe.
Er fand bei dieſen Thieren groͤßere Gelehrigkeit,
mit gebaͤndigterem Muth bei dem folgenden Ge¬
ſchlecht verbunden, das er zog. Mit dem drit¬
ten ging es noch weiter. In einem großen
Teich, den Meerwaſſer fuͤllte, hatte der Vater
eine Menge Kabliaue und Haie, ruderte ſich auf
demſelben umher, ſie abrichtend. Sie kamen
auf ſeinen Ruf, empfingen Speiſe, entfernten
ſich wenn er es haben wollte, ließen ſich ergrei¬
fen, ſprangen ſogar in den Nachen, und ſchmei¬
chelten ihrem Herrn, indem ſie aber zu bitten
ſchienen, ſie wieder in ihr Element zu ent¬
laſſen.
Mein Vater genoß keinen Vortheil davon,
als daß er von denen, welche die ſeltſamen
Kuͤnſte ſeiner Thiere zu ſehn begehrten, ſich ein
Zutrittgeld erlegen ließ, wodurch er aber den¬
noch eine artige Summe gewann.
Eines Tages blieb ein großer Hai ganz zu¬
faͤllig an dem Stricke hangen, womit mein Va¬
ter den Nachen am Lande zu befeſtigen pflegte.
Und ſo zog er dieſen, indem er fortſchwamm,
hinter ſich. Das kann ein neues Kunſtſtuͤck ge¬
ben, dachte mein Vater, und fertigte Sielen¬
zeug fuͤr zwei Haie an. Erſt thaten die Thiere
unbaͤndig, eine Laſt hinter ſich empfindend, und
einen Zuͤgel im Mund, ſie wollten ihre Bande
zerreißen, ſchoſſen gegen den Grund, was den
Nachen in Gefahr brachte. Doch fortgeſetzte
Liebkoſung, Fuͤtterung, wie ſie ſie gern empfin¬
gen, und nach Jahr und Tag, gab mein Vater
ſeinen Haien ein Zeichen mit einer im Waſſer
bewegten Glocke, ſie kamen, ließen ſich Zaum
und Geſchirr anlegen, und lenken, wohin man
wollte. Gegen das Ende ſeines Lebens fuhr der
Alte aus ſeinem Teich nach dem hohen Meere,
holte von einem Kuͤſtenorte zum andern allerhand
Waaren.
Ich, noch ein Knabe, ſann dem Dinge weiter
nach. Wie, wenn man Seeſchiffe ſo fortbringen
koͤnnte? Man duͤrfte des entgegenwehenden Windes
oft ſpotten, haͤtte nicht noͤthig zu kreutzen, wuͤrde
mehr Herr der Zeit, beduͤrfte der koſtſpieligen
Ruder nicht, und kaͤme vielleicht ſchneller als mit
ihnen davon. Aber da beduͤrfte es groͤßerer Thiere.
Wenn indeſſen der Hai zum Gehorſam zu brin¬
gen iſt, warum ſollte es nicht auch der Wallfiſch
ſein?
Der Vater ſtarb bald, ich nahm mein Erbe,
und begab mich nach Kanada, mir dort einen
kleinen Meerbuſen als Eigenthum zu verſchaffen.
Seine Enge vorn ließ ich mit einem Damm
verſehn, der durch eine Schleuſe geſperrt wer¬
den konnte. Eine Wohnung erbaute ich mir am
einſamen Strand, machte Niemand zum Zeugen
meines Vorhabens, als einige Knechte, weil ich
vor der Zeit nicht davon geredet wiſſen, und von
keinen Neugierigen uͤberlaufen ſein wollte.
Nun ruhte ich nicht, bis es mir gelungen
war, vieler jungen Wallfiſche habhaft zu werden,
wobei mir Taucherhuͤtten und dazu eingerichtete
Fangwerke dienten.
Dies gelang, aber mein weiteres Beginnen
war muͤhevoll. Doch jung, kraͤftig, ausdauernd
und mein Ziel mit feſtem Willen ins Auge ge¬
faßt, ließ ich mich nicht ermuͤden. Daß ich kurz
bin, ſage ich euch, wie ich mein Vorhaben funfzig
ganzer Jahre lang treu verfolgte. Dann ſahe ich
mich aber auch belohnt. Es war mir ein Schertz,
eine Brigg oder einen Dreimaſter von wohlein¬
gefahrenen Wallfiſchen dahin ſchleppen laſſen, ich
ſah jedoch auch ein, wie die Kraft dieſer Unge¬
heuer noch mehr leiſten koͤnne. Da fertigte ich
einen großen Floß, aus aneinander gefuͤgtem
Treibholz, bewarf ihn mit durchſiebter frucht¬
baren Erde und pflanzte allerhand Gras und
Kraͤuter darauf. Einige erhoͤhte Huͤgel konnten
Katalpen und Akazien, andere Fruchtbaͤume tra¬
gen. Ein gemaͤchlich Wohnhaus und Speicher zu
Waaren folgten. So entſtand das kuͤnſtliche Ei¬
land welches ihr ſeht. Manches Jahr uͤbte ich
erſt die Fahrt in meiner Bai, dann ließ ich den
Damm mit Pulver wegſprengen‚ die Inſel
zum Ozean bringen zu koͤnnen, und langte damit
wohlbehalten auf der Rheede von Philadelphia
an. Die Einwohner ſtaunten wie ihr. Man
uͤberzeugte ſich aber bald von der Feſtigkeit und
Sicherheit meiner Fahrt und gab mir reiche La¬
dung nach Europa, die ich verlangte. Auch ei¬
nige Paſſagiere fanden ſich, andere wagten es
noch nicht, die Reiſe zu theilen. Die meiſten
unter jenen Maͤnnern ſind meine Knechte. Doch
fahrt jetzt zu der Schwimminſel hinuͤber, erſchaut
ihre Bequemlichkeiten. Der Reiſende merkt kaum,
daß es weiter geht. Welch ein angenehmer Auf¬
enthalt. Bei heitrer Witterung luſtwandelt man
auf den Huͤgeln, ſchlummert im Graſe, beluſtigt
ſich mit Fiſchfang. Iſt der Himmel unfreundlich
ladet das Gebaͤude ein', wo ſich mehr angenehme
Einrichtungen finden, als auf dem groͤßten Schiffe,
nicht Buͤcherſammlung, Orcheſterorgel, Luſtthea¬
ter, Fechtboden u. ſ. w. fehlen. Eine Taucher¬
huͤtte haͤngt hinten am Eiland, daß man ſich
auf der Reiſe beliebig in die Tiefe ſenken, und
dort umſehen kann. Dies alles wurde erſt in
Philadelphia vollendet. Und pruͤft auch meine
großen Waarenſpeicher. Wohl mehr noch als ein
Dutzend große Schiffe, vermag ich zu laden,
wohlgeordnet, wohlgepackt, keinem Verderbniß
blosgeſtellt, und dennoch geht meine Inſel nicht
tief, weil ihre Breite und Laͤnge im ausglei¬
chenden Verhaͤltniß zu den aufgebuͤrdeten Laſten
ſteht. Eiliger ſchießen die Wallfiſche dahin, als
der guͤnſtigſte Wind ein Fahrzeug zu treiben ver¬
mag. Der Sturm kann ihnen nichts anhaben,
er trifft ſie nicht in ihrer Tiefe. Das Eiland
iſt zu groß um ein Spiel der Wogen zu ſein, zu
hoch, zu feſt, durch Brandungen zu leiden;
ſtranden kann es nicht leicht, und wenn auch, es
ruhet dann ſicher auf dem Grunde und es ſind
Winden vorhanden, die es bald wegſchaffen.
Seht, ihr Europaͤer, dies alles kann des Men¬
ſchen Fleiß ins Werk richten!
Der Greis endete. Man konnte nicht Cha¬
luppen genug finden, die Neugierigen uͤberzuſetzen.
Daß Gelino und Guido nicht zuruͤckblieben ver¬
ſteht ſich. Man fand alles, wie der Mann ge¬
ſagt hatte, bewunderte am meiſten die Sielen
und Zugketten der ſechs Meerungeheuer, und
ſahe zu, wie ſie gefuͤttert wurden und die Knechte
auf ihren Ruͤcken tanzen ließen.
Das Abladen der Waaren begann und der
Mann verlangte an der Boͤrſe Ruͤckfracht nach
Nordamerika. Sie fand ſich, ſeine Maſchinen
machten Alles in wenigen Tagen ab.
Waͤhrend der Zeit erwachte in Guido eine
heiße Neigung, die Inſelfahrt auch zu theilen.
Wir wollten ja ohnehin nach Weſtindien, ſagte
er zum Lehrer, laß uns Plaͤtze miethen. Gelino
hatte kein Ohr dazu, ſein Alter empfahl mehr
Vorſicht als der jugendlich ungeſtuͤme Muth.
Zu wenig iſt das noch erprobt, mein Freund,
antwortete er, Unfaͤlle, die der Mann ſelbſt
nicht erwartet, koͤnnten uns treffen. Erfahrung
muß noch deutlicher uͤber den Gegenſtand reden,
vielleicht litt dieſe Reiſe nicht von heftigen Stuͤr¬
men, er waͤhnt nun ſeine Anſtalten uͤber alle Ge¬
fahr erhoben, und ein Andermal kann ſie ihn
uͤberwinden. Doch dies alles leuchtete unſerm
Guido nicht ein, ſein Verlangen wuchs nur am
Widerſtande und er drang ſo lange mit Bitten
in den Lehrer, bis er, obwohl bedenklich genug,
einwilligte.