I.
Der Menſch und die Kunſt im Allgemeinen.
1.
Natur, Menſch und Kunſt.
Wie der Menſch ſich zur Natur verhält, ſo verhält
die Kunſt ſich zum Menſchen.
Als die Natur ſich zu der Fähigkeit entwickelt hatte,
welche die Bedingungen für das Daſein des Menſchen in
ſich ſchloß, entſtand auch ganz von ſelbſt der Menſch: ſo¬
bald das menſchliche Leben aus ſich die Bedingungen für
das Erſcheinen des Kunſtwerkes erzeugt, tritt dieſes auch
von ſelbſt in das Leben.
Die Natur erzeugt und geſtaltet abſichtslos und un¬
willkürlich nach Bedürfniß, daher aus Nothwendigkeit: die¬
ſelbe Nothwendigkeit iſt die zeugende und geſtaltende Kraft
des menſchlichen Lebens; nur was abſichtslos und unwill¬
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kürlich, entſpringt dem willkürlichen Bedürfniſſe, nur im
Bedürfniſſe liegt aber der Grund des Lebens.
Die Nothwendigkeit in der Natur erkennt der Menſch
nur aus dem Zuſammenhange ihrer Erſcheinungen: ſo
lange er dieſen nicht erfaßt, dünkt ſie ihm Willkür.
Von dem Augenblicke an, wo der Menſch ſeinen
Unterſchied von der Natur empfand, ſomit überhaupt erſt
ſeine Entwickelung als Menſch begann, indem er ſich von
dem Unbewußtſein thieriſchen Naturlebens losriß um zu
bewußtem Leben überzugehen, — als er ſich demnach der
Natur gegenüberſtellte, und, aus dem hieraus zunächſt ent¬
ſpringenden Gefühle ſeiner Abhängigkeit von ihr, ſich das
Denken in ihm entwickelte, — von dieſem Augenblicke an
beginnt der Irrthum als erſte Aeußerung des Bewußtſeins.
Der Irrthum iſt aber der Vater der Erkenntniß, und die
Geſchichte der Erzeugung der Erkenntniß aus dem Irr¬
thume iſt die Geſchichte des menſchlichen Geſchlechts von
dem Mythus der Urzeit bis auf den heutigen Tag.
Der Menſch irrte von da an, wo er die Urſache der
Wirkungen der Natur außerhalb des Weſens der Natur
ſelbſt ſetzte, der ſinnlichen Erſcheinung einen unſinnlichen,
nämlich als menſchlich willkürlich vorgeſtellten Grund unter¬
ſchob, den unendlichen Zuſammenhang ihrer unbewußten,
abſichtsloſen Thätigkeit für abſichtliches Gebahren zuſam¬
menhangsloſer, endlicher Willensäußerungen hielt. In
der Löſung dieſes Irrthumes beſteht die Erkenntniß, und
dieſe iſt das Begreifen der Nothwendigkeit in den Erſchei¬
nungen, deren Grund uns Willkür däuchte.
Durch dieſe Erkenntniß wird die Natur ſich ihrer
ſelbſt bewußt, und zwar im Menſchen, der nur durch ſeine
Selbſtunterſcheidung von der Natur dazu gelangte, die
Natur zu erkennen, indem ſie ihm ſo Gegenſtand wurde:
dieſer Unterſchied hört aber da wieder auf, wo der Menſch
das Weſen der Natur ebenfalls als ſein eigenes, für alles
wirklich Vorhandene und Lebende, alſo für das menſch¬
liche Daſein nicht minder als für das Daſein der Natur,
dieſelbe Nothwendigkeit, daher nicht allein den Zuſammen¬
hang der natürlichen Erſcheinungen unter ſich, ſondern
auch ſeinen eigenen Zuſammenhang mit der Natur erkennt.
Gelangt nun die Natur, durch ihren Zuſammenhang
mit dem Menſchen, im Menſchen zu ihrem Bewußtſein,
und ſoll die Bethätigung dieſes Bewußtſeins das menſch¬
liche Leben ſelbſt ſein, — gleichſam als die Darſtellung,
das Bild der Natur, — ſo erreicht das menſchliche Leben
ſelbſt ſein Verſtändniß durch die Wiſſenſchaft, welche ſich
dieſes wiederum zum Gegenſtande der Erfahrung macht;
die Bethätigung des durch die Wiſſenſchaft errungenen
Bewußtſeins, die Darſtellung des durch ſie erkannten Le¬
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bens, das Abbild ſeiner Nothwendigkeit und Wahrheit
aber iſt — die Kunſt.
d. h. die Kunſt im Allgemeinen, oder die Kunſt der
Zukunft in's Beſondere.
Der Menſch wird nicht eher das ſein, was er ſein
kann und ſein ſoll, als bis ſein Leben der treue Spiegel
der Natur, die bewußte Befolgung der einzig wirklichen
Nothwendigkeit, der inneren Naturnothwendigkeit
iſt, nicht die Unterordnung unter eine äußere, einge¬
bildete und der Einbildung nur nachgebildete, daher nicht
nothwendige, ſondern willkürliche Macht. Dann wird
aber der Menſch auch wirklich erſt Menſch ſein, während er
bis jetzt immer nur noch einem der Religion, der Nationa¬
lität oder dem Staate entnommenen Prädikate nach exiſtirt.
— Ebenſo wird nun auch die Kunſt nicht eher das ſein, was
ſie ſein kann und ſein ſoll, als bis ſie das treue, bewußtſein¬
verkündende Abbild des wirklichen Menſchen und des wahr¬
haften, naturnothwendigen Lebens der Menſchen iſt oder
ſein kann, bis ſie alſo nicht mehr von den Irrthümern,
Verkehrtheiten und unnatürlichen Entſtellungen unſeres
modernen Lebens die Bedingungen ihres Daſeins erbor¬
gen muß.
Der wirkliche Menſch wird daher nicht eher vorhan¬
den ſein, als bis die wahre menſchliche Natur, nicht will¬
kürliche Staatsgeſetze ſein Leben geſtalten und ordnen; die
wirkliche Kunſt aber wird nicht eher leben, als bis ihre
Geſtaltungen nur den Geſetzen der Natur, nicht der deſpo¬
tiſchen Laune der Mode unterworfen zu ſein brauchen.
Denn wie der Menſch nur frei wird, wenn er ſich ſeines
Zuſammenhanges mit der Natur freudig bewußt wird, ſo
wird die Kunſt nur frei, wenn ſie ſich ihres Zuſammen¬
hanges mit dem Leben nicht mehr zu ſchämen hat. Nur
im freudigen Bewußtſein ſeines Zuſammenhanges mit der
Natur überwindet der Menſch aber ſeine Abhängigkeit von
ihr; ihre Abhängigkeit vom Leben überwindet die Kunſt
aber nur im Zuſammenhange mit dem Leben wahrhafter,
freier Menſchen.
2.
Leben, Wiſſenſchaft und Kunſt.
Geſtaltet der Menſch das Leben unwillkürlich nach
den Begriffen, welche ſich aus ſeinen willkürlichen Anſchau¬
ungen der Natur ergeben, und hält er den unwillkürlichen
Ausdruck dieſer Begriffe in der Religion feſt, ſo werden
ſie ihm in der Wiſſenſchaft Gegenſtand willkürlicher, be¬
wußter Anſchauung und Unterſuchung.
Der Weg der Wiſſenſchaft iſt der vom Irrthum zur
Erkenntniß, von der Vorſtellung zur Wirklichkeit, von der
Religion zur Natur. Der Menſch ſteht daher im Beginne
der Wiſſenſchaft dem Leben ſo gegenüber, wie beim An¬
fange des, von der Natur ſich unterſcheidenden, menſch¬
lichen Lebens, er den Erſcheinungen der Natur gegenüber
ſtand. Die Willkürlichkeit der menſchlichen Anſchauungen
in ihrer Totalität nimmt die Wiſſenſchaft auf, während
neben ihr das Leben ſelbſt in ſeiner Totalität einer unwill¬
kürlichen, nothwendigen Entwickelung folgt. Die Wiſſen¬
ſchaft trägt ſomit die Sünde des Lebens, und büßt ſie an
ſich durch ihre Selbſtvernichtung: ſie endet in ihrem reinen
Gegenſatze, in der Erkenntniß der Natur, in der Aner¬
kennung des Unbewußten, Unwillkürlichen, daher Noth¬
wendigen, Wirklichen, Sinnlichen. Das Weſen der Wiſſen¬
ſchaft iſt daher endlich, das des Lebens unendlich, wie der
Irrthum endlich, die Wahrheit aber unendlich iſt. Wahr
und lebendig iſt aber nur, was ſinnlich iſt und den Be¬
dingungen der Sinnlichkeit gehorcht. Die höchſte Steige¬
rung des Irrthumes iſt der Hochmuth der Wiſſenſchaft in
der Verläugnung und Verachtung der Sinnlichkeit; ihr
höchſter Sieg dagegen der, von ihr ſelbſt herbeigeführte,
Untergang dieſes Hochmuthes in der Anerkennung der
Sinnlichkeit.
Das Ende der Wiſſenſchaft iſt das gerechtfertigte Un¬
bewußte, das ſich bewußte Leben, die als ſinnig erkannte
Sinnlichkeit, der Untergang der Willkür in dem Wollen
des Nothwendigen. Die Wiſſenſchaft iſt daher das Mittel
der Erkenntniß, ihr Verfahren ein mittelbares, ihr Zweck
ein vermittelnder; wogegen das Leben das Unmittelbare,
ſich ſelbſt Beſtimmende iſt. Iſt nun die Auflöſung der
Wiſſenſchaft die Anerkennung des unmittelbaren, ſich ſelbſt
bedingenden, alſo des wirklichen Lebens ſchlechtweg, ſo ge¬
winnt dieſes Anerkenntniß ſeinen aufrichtigſten unmittel¬
baren Ausdruck in der Kunſt, oder vielmehr im Kunſt¬
werk.
Wohl verfährt der Künſtler zunächſt nicht unmittel¬
bar; ſein Schaffen iſt allerdings ein vermittelndes, auswäh¬
lendes, willkürliches: aber gerade da, wo er vermittelt und
auswählt, iſt das Werk ſeiner Thätigkeit noch nicht das
Kunſtwerk; ſein Verfahren iſt vielmehr das der Wiſſen¬
ſchaft, der ſuchenden, forſchenden, daher willkürlichen und
irrenden. Erſt da, wo die Wahl getroffen iſt, wo dieſe
Wahl eine nothwendige war und das Nothwendige er¬
wählte, — da alſo, wo der Künſtler ſich im Gegenſtande
ſelbſt wieder gefunden hat, wie der vollkommene Menſch
ſich in der Natur wiederfindet, — erſt da tritt das Kunſt¬
werk in das Leben, erſt da iſt es etwas Wirkliches, ſich
ſelbſt Beſtimmendes, Unmittelbares.
Das wirkliche Kunſtwerk, d. h. das unmittelbar
ſinnlich dargeſtellte, in dem Momente ſeiner
leiblichſten Erſcheinung, iſt daher auch erſt die Er¬
löſung des Künſtlers, die Vertilgung der letzten Spuren
der ſchaffenden Willkür, die unzweifelhafte Beſtimmtheit
des bis dahin nur Vorgeſtellten, die Befreiung des Ge¬
dankens in der Sinnlichkeit, die Befriedigung des Lebens¬
bedürfniſſes im Leben.
Das Kunſtwerk in dieſem Sinne, als unmittelbarer
Lebensakt, iſt ſomit die vollſtändige Verſöhnung der Wiſ¬
ſenſchaft mit dem Leben, der Siegeskranz, den die beſiegte,
durch ihre Beſiegung erlöste, dem freudig von ihr erkann¬
ten Sieger huldigend darreicht.
3.
Das Volk und die Kunſt.
Die Erlöſung des Denkens, der Wiſſenſchaft, in das
Kunſtwerk würde unmöglich ſein, wenn das Leben ſelbſt
von der wiſſenſchaftlichen Spekulation abhängig gemacht
werden könnte. Würde das bewußte, willkürliche Denken
das Leben in Wahrheit vollkommen beherrſchen, könnte es
ſich des Lebenstriebes bemächtigen und ihn nach einer an¬
dern Abſicht, als der Nothwendigkeit des abſoluten Be¬
dürfniſſes verwenden, ſo wäre das Leben ſelbſt verneint
um in die Wiſſenſchaft aufzugehen; und in der That hat
die Wiſſenſchaft in ihrem überſpannteſten Hochmuthe von
ſolchem Triumphe geträumt, und unſer regierter Staat,
unſre moderne Kunſt ſind die geſchlechtsloſen, unfrucht¬
baren Kinder dieſer Träume.
Die großen unwillkürlichen Irrthümer des Volkes,
wie ſie in ihren religiöſen Anſchauungen von Anfang
herein ſich kundgaben und zu den Ausgangspunkten will¬
kürlichen, ſpekulativen Denkens und Syſtematiſirens in der
Theologie und Philoſophie wurden, haben ſich in dieſen
Wiſſenſchaften, namentlich vermittelſt ihrer Adoptivſchweſter,
der Staatsweisheit, zu Mächten erhoben, welche nicht ge¬
ringere Anſprüche machen, als, kraft inwohnender göttli¬
cher Unfehlbarkeit, die Welt und das Leben zu ordnen und
zu beherrſchen. Unlösbar würde demnach der Irrthum in
alle Ewigkeit in ſiegreicher Zerſtörung fortwähren, wenn
dieſelbe Lebensmacht, die ihn unwillkürlich hervorbrachte,
nicht, kraft inwohnender natürlicher Nothwendigkeit, ihn
praktiſch wiederum vernichtete, und zwar mit ſolcher Be¬
ſtimmtheit und Augenſcheinlichkeit, daß die, übermüthig
vom Leben ſich ausſondernde, Intelligenz endlich keine an¬
dere Rettung vor wirklichem Wahnſinne zu erſehen hat,
als in der unbedingten Anerkennung dieſes einzig Be¬
ſtimmten und Augenſcheinlichen. Dieſe Lebensmacht aber
iſt — das Volk. —
Wer iſt das Volk? — Nothwendig müſſen wir
zunächſt in der Beantwortung dieſer überaus wichtigen
Frage uns einigen.
Das Volk war von jeher der Inbegriff aller der
Einzelnen, welche ein Gemeinſames ausmachten. Es
war vom Anfange die Familie und die Geſchlechter; dann
die durch Sprachgleichheit vereinigten Geſchlechter als
Nation. Praktiſch durch die römiſche Weltherrſchaft, welche
die Nationen verſchlang, und theoretiſch durch das Chriſten¬
thum, welches nur noch den Menſchen, d. h. den chriſtli¬
chen, nicht nationalen Menſchen, zuließ, hat ſich der Be¬
griff des Volkes dermaßen erweitert oder auch verflüchtigt,
daß wir in ihm entweder den Menſchen überhaupt, oder
nach willkürlicher politiſcher Annahme, einen gewiſſen, ge¬
wöhnlich den nichtbeſitzenden, Theil der Staatsbürgerſchaft
begreifen können. Außer einer frivolen, hat dieſer Name
aber auch eine unverwiſchbare moraliſche Bedeutung er¬
halten, und um dieſer letzteren Willen geſchieht es nament¬
lich, daß in bewegungsvollen, beängſtigenden Zeiten, ſich
gern Alles zum Volke zählt, Jeder vorgiebt für das Wohl
des Volkes beſorgt zu ſein, Keiner ſich von ihm getrennt
wiſſen will. Auch in unſrer neueſten Zeit iſt daher im ver¬
ſchiedenartigſten Sinne oft die Frage aufgeworfen worden:
wer iſt denn das Volk? Kann in der Geſammtheit aller
Staatsangehörigen ein beſonderer Theil, eine gewiſſe Par¬
tei derſelben, dieſen Namen für ſich allein anſprechen?
Sind wir nicht vielmehr Alle „das Volk“, vom Bettler
bis zum Fürſten?
Dieſe Frage muß nach dem entſcheidenden, weltge¬
ſchichtlichen Sinne, der ihr jetzt zu Grunde liegt, alſo beant¬
wortet werden:
Das Volk iſt der Inbegriff aller Derjenigen, welche
eine gemeinſchaftliche Noth empfinden. Zu ihm
gehören daher alle Diejenigen, welche ihre eigene Noth
als eine gemeinſchaftliche erkennen, oder ſie in einer ge¬
meinſchaftlichen begründet finden; ſomit alle Diejenigen,
welche die Stillung ihrer Noth nur in der Stillung einer
gemeinſamen Noth verhoffen dürfen, und demnach ihre
geſammte Lebenskraft auf die Stillung ihrer, als gemein¬
ſam erkannten, Noth verwenden; — denn nur die Noth,
welche zum Aeußerſten treibt, iſt die wahre Noth; nur dieſe
Noth iſt aber die Kraft des wahren Bedürfniſſes; nur ein
gemeinſames Bedürfniß iſt aber das wahre Bedürfniß;
nur wer ein wahres Bedürfniß empfindet, hat aber ein
Recht auf Befriedigung deſſelben; nur die Befriedigung
eines wahren Bedürfniſſes iſt Nothwendigkeit, und nur
das Volk handelt nach Nothwendigkeit, daher
unwiderſtehlich, ſiegreich und einzig wahr.
Wer gehört nun nicht zum Volke, und wer ſind ſeine
Feinde?
Alle Diejenigen, die keine Noth empfinden,
deren Lebenstrieb alſo in einem Bedürfniſſe beſteht, das
ſich nicht bis zur Kraft der Noth ſteigert, ſomit eingebildet,
unwahr, egoiſtiſch, und in einem gemeinſamen Bedürfniſſe
daher nicht nur nicht enthalten iſt, ſondern als bloßes Be¬
dürfniß der Erhaltung des Ueberfluſſes — als welches ein
Bedürfniß ohne Kraft der Noth einzig gedacht werden
kann — dem gemeinſamen Bedürfniſſe geradezu entgegen¬
ſteht.
Wo keine Noth iſt, iſt kein wahres Bedürfniß; wo
kein wahres Bedürfniß, keine nothwendige Thätigkeit; wo
keine nothwendige Thätigkeit iſt, da iſt aber Willkür; wo
Willkür herrſcht, da blüht aber jedes Laſter, jedes Ver¬
brechen gegen die Natur. Denn nur durch Zurückdrängung,
durch Verſagung und Verwehrung der Befriedigung des
wahren Bedürfniſſes, kann das eingebildete, unwahre Be¬
dürfniß ſich zu befriedigen ſuchen.
Die Befriedigung des eingebildeten Bedürfniſſes iſt
aber der Luxus, welcher nur im Gegenſatze und auf
Koſten der Entbehrung des Nothwendigen von der ande¬
ren Seite erzeugt und unterhalten werden kann.
Der Luxus iſt ebenſo herzlos, unmenſchlich, uner¬
ſättlich und egoiſtiſch, als das Bedürfniß, welches ihn her¬
vorruft, das er aber, bei aller Steigerung und Ueberbie¬
tung ſeines Weſens nie zu ſtillen vermag, weil das Be¬
dürfniß eben ſelbſt kein natürliches, deshalb zu befriedigen¬
des iſt, und zwar aus dem Grunde, weil es als ein un¬
wahres, auch keinen wahren, weſenhaften Gegenſatz hat, in
dem es aufgehen, ſich alſo vernichten, befriedigen könnte.
Der wirkliche, ſinnliche Hunger hat ſeinen natürlichen
Gegenſatz, die Sättigung, in welchem er — durch die
Speiſung — aufgeht: das unnöthige Bedürfniß, das Be¬
dürfniß nach Luxus, iſt aber ſchon bereits Luxus, Ueber¬
fluß ſelbſt; der Irrthum in ihm kann daher nie in die
Wahrheit aufgehen: es martert, verzehrt, brennt und pei¬
nigt ſtets ungeſtillt, läßt Geiſt, Herz und Sinne vergebens
ſchmachten, verſchlingt alle Luſt, Heiterkeit und Freude des
Lebens; verpraßt um eines einzigen, und dennoch unerreich¬
baren Augenblickes der Erlabung willen, die Thätigkeit
und Lebenskraft Tauſender von Nothleidenden; lebt vom
ungeſtillten Hunger abermals Tauſender von Armen, ohne
ſeinen eigenen Hunger nur einen Augenblick ſättigen zu
können; er hält eine ganze Welt in eiſernen Ketten des
Despotismus, ohne nur einen Augenblick die goldenen
Ketten jenes Tyrannen brechen zu können, der es ſich eben
ſelbſt iſt.
Und dieſer Teufel, dieß wahnſinnige Bedürfniß ohne
Bedürfniß, dieß Bedürfniß des Bedürfniſſes, — dieß Be¬
dürfniß des Luxus, welches der Luxus ſelbſt iſt,
— regiert die Welt; er iſt die Seele dieſer Induſtrie, die
den Menſchen tödtet, um ihn als Maſchine zu verwenden;
die Seele unſres Staates, der den Menſchen ehrlos erklärt,
um ihn als Unterthan wieder zu Gnaden anzunehmen; die
Seele unſrer abſtrakten Wiſſenſchaft, welche einem unſinn¬
lichen Gotte, als dem Ausfluſſe alles geiſtigen Luxus, den
Menſchen zur Verzehrung vorwirft; er iſt — ach! — die
Seele, die Bedingung unſrer — Kunſt! —
Wer wird nun die Erlöſung aus dieſem unſeligſten
Zuſtande vollbringen? —
Die Noth, — welche der Welt das wahre Be¬
dürfniß empfinden laſſen wird, das Bedürfniß, welches
ſeiner Natur nach wirklich aber auch zu befrie¬
digen iſt.
Die Noth wird die Hölle des Luxus endigen, ſie
wird die zermarterten, bedürfnißloſen Geiſter, die dieſe
Hölle in ſich ſchließt, das einfache, ſchlichte Bedürfniß des
rein menſchlich ſinnlichen Hungers und Durſtes lehren;
gemeinſchaftlich aber wird ſie uns auch hinweiſen zu dem
nährenden Brote, zu dem klaren ſüßen Waſſer der Natur;
gemeinſam werden wir wirklich genießen, gemeinſam wahre
Menſchen ſein. Gemeinſam werden wir aber auch den
Bund der heiligen Nothwendigkeit ſchließen, und der Bru¬
derkuß, der dieſen Bund beſiegelt, wird das gemeinſame
Kunſtwerk der Zukunft ſein. In ihm wird auch
unſer großer Wohlthäter und Erlöſer, der Vertreter der
Nothwendigkeit in Fleiſch und Blut, — das Volk, kein
Unterſchiedenes, Beſonderes mehr ſein; denn im Kunſt¬
werk werden wir Eins ſein, — Träger und Weiſer der
Nothwendigkeit, Wiſſende des Unbewußten, Wollende des
Unwillkürlichen, Zeugen der Natur, — glückliche
Menſchen.
4.
Das Volk als die bedingende Kraft für das Kunſtwerk.
Alles Beſtehende hängt von den Bedingungen ab,
durch die es beſteht: nichts, weder in der Natur noch im
Leben, ſteht vereinzelt da; Alles hat ſeine Begründung in
einem unendlichen Zuſammenhange mit Allem, ſomit auch
das Willkürliche, Unnöthige, Schädliche. Das Schädliche
übt ſeine Kraft in der Verhinderung des Nothwendigen,
ja es verdankt ſeine Kraft, ſein Daſein, einzig dieſer Ver¬
hinderung, und iſt ſomit in Wahrheit nichts Anderes, als
die Ohnmacht des Nothwendigen. Wäre dieſe Ohnmacht
eine fortwährende, ſo müßte die natürliche Ordnung der
Welt aber eine andere ſein, als ſie iſt; das Willkürliche
wäre das Nothwendige, das Nothwendige aber das Un¬
nöthige. Jene Schwäche iſt aber eine vorübergehende, da¬
her nur anſcheinende; denn die Kraft des Nothwendigen
lebt und waltet namentlich auch als, im Grunde einzige
Bedingung des Beſtehens des Willkürlichen. So beſteht
der Luxus der Reichen einzig durch die Nothdurft der
Armen; und gerade die Noth der Armen iſt es, welche un¬
aufhörlich dem Luxus der Reichen neuen Verzehrungsſtoff
vorwirft, indem der Arme, aus Bedürfniß der Nahrung
für ſeine Lebenskraft, dieſe eigene Lebenskraft dem Reichen
opfert.
So hat auch einſt die Lebenskraft, das Lebensbedürf¬
niß der telluriſchen Natur, diejenigen ſchädlichen Kräfte,
oder vielmehr die Macht des Vorhandenſeins derjenigen
Elementarverbindungen und Erzeugungen genährt, welche
ſie daran verhinderten, die ihrer Lebenskraft und Fähigkeit
wahrhaft entſprechende Aeußerung von ſich zu geben. Der
Grund hiervon iſt der in Wirklichkeit vorhandene Ueber¬
fluß, die ſtrotzende Ueberfülle vorhandener Zeugungskraft
und Lebensſtoffes, die unerſchöpfliche Ergiebigkeit der
Materie: das Bedürfniß der Natur iſt daher höchſte Man¬
nigfaltigkeit und Vielheit, und die Befriedigung dieſes
Bedürfniſſes erreichte ſie endlich dadurch oder vielmehr da¬
mit, daß ſie — um ſo zu ſagen — der Ausſchließlichkeit,
der maſſenhaften, durch ſie ſelbſt zuvor aber üppig genähr¬
ten, Einzelheit ihre Kraft verſagte, d. h. ſie in die Viel¬
heit auflöſte. — Das Ausſchließliche, Einzelne, Egoiſtiſche,
vermag nur zu nehmen, nicht aber zu geben: es kann ſich
nur zeugen laſſen, iſt ſelbſt aber zeugungsunfähig; zur
Zeugung gehört das Ich und das Du, das Aufgehen des
Egoismus in den Kommunismus. Die reichſte Zeugungs¬
kraft iſt daher in der größten Vielheit, und als die Erd¬
natur in ihrer Entäußerung zur mannigfaltigſten Vielheit
ſich befriedigt hatte, gelangte ſie ſomit in den Zuſtand von
Sättigung, Selbſtzufriedenheit, Selbſtgenuß, der ſich in
ihrer gegenwärtigen Harmonie kundgiebt; ſie wirkt jetzt
nicht mehr in maſſenhafter, totaler Umgeſtaltung, ihre
Periode der Revolution iſt abgeſchloſſen, ſie iſt jetzt das,
was ſie ſein kann, ſomit von jeher ſein konnte und werden
mußte; ſie hat ihre Lebenskraft nicht mehr an die Zeugungs¬
unfähigkeit zu vergeuden, ſie hat durch ihr ganzes, unend¬
lich weites Gebiet die Vielheit, das Männliche und das
Weibliche, das ewig ſich ſelbſt Erneuende und Erzeugende,
das ewig ſich ſelbſt Ergänzende, ſich ſelbſt Befriedigende,
in das Leben gerufen, — und in dieſem unendlichen Zuſam¬
menhange iſt ſie nun beſtändig, unbedingt ſie ſelbſt geworden.
In der Darſtellung dieſes großen Entwicklungs-
Prozeſſes der Natur am Menſchen ſelbſt iſt nun das
menſchliche Geſchlecht, ſeit ſeiner Selbſtunterſcheidung von
der Natur, begriffen. Dieſelbe Nothwendigkeit iſt die
treibende Kraft in der großen Menſchheitsrevolution, die¬
ſelbe Befriedigung wird dieſe Revolution abſchließen.
Jene treibende Kraft, die eigentliche Lebenskraft,
ſchlechtweg, wie ſie ſich im Lebensbedürfniſſe geltend macht,
iſt aber ihrer Natur nach eine unbewußte, unwillkürliche,
und eben wo ſie dieß iſt — im Volke — iſt ſie auch einzig
die wahre, entſcheidende. In großem Irrthume ſind daher
unſre Volksbelehrer, wenn ſie wähnen, daß Volk müſſe
erſt wiſſen was es wolle, d. h. in ihrem Sinne wollen
ſolle, ehe es auch fähig und berechtigt wäre, überhaupt zu
wollen. Aus dieſem Irrthume rühren alle unſeligen Halb¬
heiten, alles Unvermögen, alle ſchmachvolle Schwäche der
letzten Weltbewegungen her.
Das wirklich Gewußte iſt nichts anderes als das,
durch das Denken zum erfaßten, dargeſtellten Gegenſtande
gewordene, wirklich und ſinnlich Vorhandene; das Denken
iſt ſo lange willkürlich, als es das ſinnlich Gegenwärtige
und das den Sinnen entrückte Abweſende oder Vergangene,
nicht mit der unbedingteſten Anerkennung ſeines nothwen¬
digen Zuſammenhanges ſich vorzuſtellen vermag; denn das
Bewußtſein dieſer Vorſtellung iſt eben das vernünftige
Wiſſen. Je wahrhafter aber das Wiſſen iſt, deſto aufrich¬
tiger muß es ſich wiederum als einzig durch ſeinen Zuſam¬
menhang mit dem, zur ſinnlichen Erſcheinung gelangten,
wirklich Fertigen und Vollendeten bedingt erkennen, die
Bedingung der Möglichkeit des Wiſſens ſomit als in der
Wirklichkeit begründet ſich eingeſtehen. Sobald das Denken
aber, von der Wirklichkeit abſtrahirend, das zukünftige
Wirkliche konſtruiren will, vermag es nicht das Wiſſen
zu produziren, ſondern es äußert ſich als Wähnen, das
ſich gewaltig unterſcheidet vom Unbewußtſein: erſt wenn
es ſich in die Sinnlichkeit, in das wirklich ſinnliche Be¬
dürfniß ſympathetiſch und rückhaltslos zu verſenken vermag,
kann es an der Thätigkeit des Unbewußtſeins Theil nehmen,
und erſt das, durch das unwillkürliche, nothwendige Be¬
dürfniß zu Tage geförderte, die wirkliche ſinnliche That,
kann wieder befriedigender Gegenſtand des Denkens und
Wiſſens werden; denn der Gang der menſchlichen Ent¬
wickelung iſt der vernunftgemäße, natürliche, vom Unbe¬
wußtſein zum Bewußtſein, vom Unwiſſen zum Wiſſen, vom
Bedürfniß zur Befriedigung, nicht von der Befriedigung
zum Bedürfniſſe — wenigſtens nicht zu dem Bedürfniſſe,
deſſen Ende jene Befriedigung war.
Nicht Ihr Intelligenten ſeid daher erfinderiſch, ſon¬
dern das Volk, weil es die Noth zur Erfindung treibt:
alle großen Erfindungen ſind die Thaten des Volkes, wo¬
gegen die Erfindungen der Intelligenz nur die Ausbeu¬
tungen, Ableitungen, ja Zerſplitterungen, Verſtümme¬
lungen der großen Volkserfindungen ſind. Nicht Ihr habt
die Sprache erfunden, ſondern das Volk; Ihr habt ihre
ſinnliche Schönheit nur verderben, ihre Kraft nur brechen,
ihr inniges Verſtändniß nur verlieren, das Verlorene müh¬
ſelig nur wieder erforſchen können. Nicht Ihr ſeid die
Erfinder der Religion, ſondern das Volk; Ihr habt nur
ihren innigen Ausdruck entſtellen, den in ihr liegenden
Himmel zur Hölle, die in ihr ſich kundgebende Wahrheit
zur Lüge machen können. Nicht Ihr ſeid die Erfinder des
Staates, ſondern das Volk; Ihr habt ihn nur aus der
natürlichen Verbindung Gleichbedürftiger zum unnatür¬
lichen Zuſammenzwang Ungleichbedürftiger, aus einem
wohlthätigen Schutzvertrage Aller zu einem übelthätigen
Schutzmittel der Bevorrechteten, aus einem weichen, nach¬
giebigen Gewande am bewegungsfreudigen Leibe der Men¬
ſchen zu einem ſtarren, nur ausgeſtopften Eiſenpanzer, der
Zierde einer hiſtoriſchen Rüſtkammer gemacht. Nicht Ihr
gebt dem Volke zu leben, ſondern es giebt Euch; nicht Ihr
gebt dem Volke zu denken, ſondern es giebt Euch; nicht
Ihr ſollt daher das Volk lehren wollen, ſondern Ihr ſollt
Euch vom Volke lehren laſſen: und an Euch wende ich
mich ſomit, nicht an das Volk, — denn dem ſind nur
wenige Worte zu ſagen, und ſelbſt der Zuruf: „Thu'
wie Du mußt!“ iſt ihm überflüßig, weil es von ſelbſt thut
wie es muß; ſondern ich wende mich im Sinne des Vol¬
kes — nothwendig aber in Eurer Ausdrucksweiſe — an
Euch, Ihr Intelligenten und Klugen, um Euch mit aller
Gutherzigkeit des Volkes die Erlöſung aus Eurer egoiſti¬
ſchen Verzauberung an dem klaren Quell der Natur, in
der liebevollen Umarmung des Volkes — da wo ich ſie
fand, wo ſie mir als Künſtler ward, wo ich, nach langem
Kampfe zwiſchen Hoffnung aus Innen und Verzweiflung
nach Außen, den kühnſten, zuverſichtlichſten Glauben an
die Zukunft gewann, — ebenfalls anzubieten.
Das Volk alſo wird die Erlöſung vollbringen, in¬
dem es ſich genügt und zugleich ſeine eigenen Feinde erlöſt.
Sein Verfahren wird das Unwillkürliche der Natur ſein:
mit der Nothwendigkeit elementariſchen Waltens wird es
den Zuſammenhang zerreißen, der einzig die Bedingun¬
gen der Herrſchaft der Unnatur ausmacht. So lange dieſe
Bedingungen beſtehen, ſo lange ſie ihren Lebensſaft aus
der vergeudeten Kraft des Volkes ſaugen, ſo lange ſie — ſelbſt
zeugungsunfähig — die Zeugungsfähigkeit des Volkes
nutzlos in ihrem egoiſtiſchen Beſtehen aufzehren, — ſo
lange iſt auch alles Deuten, Schaffen, Aendern, Beſſern,
Reformiren
Wer nährt wohl weniger Hoffnung für den Erfolg ſeiner
reformatoriſchen Bemühungen, als Derjenige, der gerade am
redlichſten dabei verfährt?in dieſen Zuſtänden nur willkürlich, zweck-
und fruchtlos. Das Volk braucht aber nur das durch die
That zu verneinen, was in der That nichts — nämlich
unnöthig, überflüſſig, nichtig — iſt; es braucht dabei
nur zu wiſſen was es nicht will, und dieſes lehrt ihm ſein
unwillkürlicher Lebenstrieb; es braucht dieſes Nichtge¬
wollte durch die Kraft ſeiner Noth nur zu einem Nicht¬
ſeienden zu machen, das Vernichtungswerthe zu vernich¬
ten, ſo ſteht das Etwas der enträthſelten Zukunft auch
ſchon von ſelbſt da.
Sind die Bedingungen aufgehoben, die dem Ueber¬
flüßigen geſtatten vom Marke des Nothwendigen zu zehren,
ſo ſtehen von ſelbſt die Bedingungen da, welche das Noth¬
wendige, das Wahre, das Unvergängliche in das Leben
rufen: ſind die Bedingungen aufgehoben, die das Bedürf¬
niß des Luxus beſtehen laſſen, ſo ſind von ſelbſt die Be¬
dingungen gegeben, welche das nothwendige Bedürfniß
des Menſchen durch den üppigſten Ueberfluß der Natur und
der eignen menſchlichen Erzeugungsfähigkeit im undenklich
reichſten, dennoch aber entſprechendſten Maße zu befriedigen
vermögen. Sind die Bedingungen der Herrſchaft der
Mode aufgehoben, ſo ſind aber auch die Bedingungen der
wahren Kunſt von ſelbſt vorhanden, und wie mit
einem Zauberſchlage wird ſie, die Zeugin edelſten Men¬
ſchenthumes, die hochheilige, herrliche Kunſt, in derſelben
Fülle und Vollendung blühen, wie die Natur, als die
Bedingungen ihrer jetzt uns erſchloſſenen harmoniſchen
Geſtaltung aus den Geburtswehen der Elemente hervor¬
gingen: gleich dieſer ſeligen Harmonie der Natur wird
ſie aber dauern und immer zeugend ſich erhalten, als
reinſte, vollendetſte Befriedigung des edelſten und wahr¬
ſten Bedürfniſſes des vollkommenen Menſchen, d. i. des
Menſchen, der das iſt, was er ſeinem Weſen nach ſein
kann und deshalb ſein ſoll und wird.
5.
Die kunſtwidrige Geſtaltung des Lebens der Gegenwart unter der
Herrſchaft der Abſtraktion und der Mode.
Das Erſte, der Anfang und Grund alles Vorhan¬
denen und Denkbaren, iſt das wirkliche ſinnliche Sein.
Das Innewerden ſeines Lebensbedürfniſſes als des ge¬
meinsamen Lebensbedürfniſſes ſeiner Gattung, im
Unterſchiede von der Natur und der in ihr enthaltenen,
vom Menſchen unterſchiedenen, Gattungen lebendiger
Weſen, — iſt der Anfang und Grund des menſchlichen
Denkens. Das Denken iſt demnach die Fähigkeit des
Menſchen. das Wirkliche und Sinnliche nach ſeinen Aeuße¬
rungen nicht nur zu empfinden, ſondern nach ſeiner Weſen¬
heit zu unterſcheiden, endlich in ſeinem Zuſammenhange zu
erfaſſen und ſich darzuſtellen. Der Begriff von einer
Sache iſt das im Denken dargeſtellte Bild ſeines wirklichen
Weſens: die Darstellung der Bilder aller erkenntlichen
Weſenheiten in einem Geſammtbilde, in welchem das Den¬
ken ſich die im Begriff dargeſtellte Weſenheit aller Reali¬
täten nach ihrem Zuſammenhange vergegenſtändlicht, iſt
das Werk der höchſten Tätigkeit der menſchlichen Seele,
des Geiſtes. Muß in dieſem Geſammtbilde der Menſch
das Bild, den Begriff, auch ſeines eigenen Weſens mit
inbegriffen haben, ja — iſt dieſes vergegenſtändlichte eigene
Weſen überhaupt die künſtleriſch darſtellende Kraft in dem
ganzen Gedankenkunſtwerke, ſo rührt dieſe Kraft und die
durch ſie dargeſtellte Totalität aller Realitäten, doch nur
von dem realen, ſinnlichen Menſchen, ihrem letzten Grunde
nach alſo aus ſeinem Lebensbedürfniſſe, und endlich aus
der Bedingung, welche dieſes Lebensbedürfniß hervorruft,
dem realen, ſinnlichen Daſein der Natur, her. Wo im
Denken dieſe verbindende Kette aber fahren gelaſſen wird,
wo es, nach doppelter und dreifacher Selbſtvergegenſtänd¬
lichung ſich ſelbſt endlich als ſeinen Grund erfaſſen, wo ſich
der Geiſt nicht als letzte und bedingteſte, ſondern als erſte
und unbedingteſte Thätigkeit, daher als Grund und Ur¬
ſache der Natur begreifen will, — da iſt auch das Band
der Nothwendigkeit aufgehoben, und die Willkür raſ't
ſchrankenlos, — unbegrenzt, frei, wie unſre Metaphyſiker
wähnen' — durch die Werkſtätte der Gedanken, ergießt ſich
als Strom des Wahnſinns in die Welt der Wirklichkeit.
Hat der Geiſt die Natur erſchaffen, hat der Gedanke
das Wirkliche gemacht, iſt der Philoſoph eher als der
Menſch, ſo iſt Natur, Wirklichkeit und Menſch auch nicht
mehr nothwendig, ihr Daſein, als überflüſſig, ſogar ſchädlich;
das Ueberflüſſigſte aber iſt das Unvollkommene nach dem
Vorhandenſein des Vollkommenen. Natur, Wirk¬
lichkeit und Menſchen erhielten demnach nur dann einen
Sinn, eine Berechtigung ihres Vorhandenſeins, — wenn
der Geiſt, — der unbedingte, einzig ſich ſelbſt Grund und
Urſache, daher auch Geſetz ſeiende Geiſt, — nach ſeinem
abſoluten, souverainen Gutdünken ſie verwendet. Iſt der
Geiſt an ſich die Nothwendigkeit, ſo iſt das Leben das
Willkürliche, ein phantaſtisches Maskenſpiel, ein müßiger
Zeitvertreib, eine frivole Laune, ein „car tel est notre
plaisir“ des Geiſtes; ſo iſt alle rein menſchliche Tugend,
vor allem die Liebe, etwas nach Gutbefinden Denkbares
und gelegentlich zu Verneinendes; ſo iſt Alles rein menſch¬
liche Bedürfniß Luxus, der Luxus aber das eigentliche
Bedürfniß; ſo iſt der Reichthum der Natur das Unnöthige,
die Auswüchſe der Kultur aber ſind das Nöthige; ſo iſt
das Glück der Menſchen Nebenſache, der abſtrakte Staat
aber Hauptſache; das Volk der zufällige Stoff, der Fürſt
und der Intelligente aber der nothwendige Verzehrer dieſes
Stoffes.
Nehmen wir das Ende für den Anfang, die Befrie¬
digung für das Bedürfniß, die Sättigung für den Hunger,
ſo iſt Bewegung, Fortgang, aber auch nur denkbar in einem
erkünſtelten Bedürfniſſe, in einem durch Stimulation er¬
zeugten Hunger; und dieß iſt in Wahrheit die Lebens¬
regung unſrer ganzen heutigen Kultur, und ihr Ausdruck
iſt — die Mode.
Die Mode iſt das künſtliche Reizmittel, das da ein
unnatürliches Bedürfniß erweckt, wo das natürliche nicht
2
vorhanden iſt: was aber nicht aus einem wirklichen Be¬
dürfniſſe hervorgeht, iſt willkürlich, unbedingt, tyranniſch.
Die Mode iſt deshalb die unerhörteſte, wahnſinnigſte
Tyrannei, die je aus der Verkehrtheit des menſchlichen
Weſens hervorgegangen iſt: ſie fordert von der Natur ab¬
ſoluten Gehorſam; ſie gebietet dem wirklichen Bedürfniſſe
vollkommenſte Selbſtverleugnung zu Gunſten eines einge¬
bildeten; ſie zwingt den natürlichen Schönheitsſinn des
Menſchen zur Anbetung des Häßlichen; ſie tödtet ſeine
Geſundheit, um ihm Gefallen an der Krankheit beizu¬
bringen; ſie zerbricht ſeine Stärke und Kraft, um ihn an
ſeiner Schwäche Behagen finden zu laſſen. Wo die lächer¬
lichſte Mode herrſcht, da muß die Natur als das Lächer¬
lichſte anerkannt werden; wo die verbrecheriſcheſte Unnatur
herrſcht, da muß die Aeußerung der Natur als das höchſte
Verbrechen erſcheinen; wo die Verrücktheit die Stelle der
Wahrheit einnimmt, da muß die Wahrheit als Verrückte
eingeſperrt werden.
Das Weſen der Mode iſt die abſoluteſte Einförmig¬
keit, wie ihr Gott ein egoiſtiſcher, geſchlechtsloſer, zeugungs¬
unfähiger iſt; ihre Thätigkeit iſt daher willkürliche Verän¬
derung, unnöthiger Wechſel, unruhiges, verwirrtes Stre¬
ben nach Gegenſatz zu ihrem Weſen, eben dem der abſolu¬
ten Einförmigkeit. Ihre Macht iſt die Macht der Gewohn¬
heit. Die Gewohnheit aber iſt der unüberwindliche
Deſpot aller Schwachen, Feigen, in Wahrheit Bedürfni߬
loſen. Die Gewohnheit iſt der Kommunismus des Egois¬
mus, das erhaltungszähe Band gemeinſchaftlichen, noth¬
loſen Eigennutzes; ihre künſtliche Lebensregung iſt eben die
der Mode.
Die Mode iſt daher nicht künſtleriſche Erzeugung aus
ſich, ſondern nur künſtliche Ableitung aus ihrem Gegenſatze,
der Natur, von der ſie ſich im Grunde doch einzig ernäh¬
ren muß, wie der Luxus der vornehmen Klaſſen ſich wie¬
derum nur aus dem Drange nach Befriedigung natürlicher
Lebensbedürfniſſe der niederen, arbeitenden Klaſſen ernährt.
Auch die Willkür der Mode kann daher nur aus der wirk¬
lichen Natur ſchaffen: alle ihre Geſtaltungen, Schnörkel
und Zierrathen haben endlich doch nur in der Natur ihr
Urbild; ſie kann, wie all unſer abſtraktes Denken in ſeinen
weiteſten Abirrungen, ſchließlich doch nichts Anderes er¬
denken und erfinden, als was ſeinem urſprünglichen Weſen
nach in der Natur und im Menſchen ſinnlich und förmlich
vorhanden iſt. Aber ihr Verfahren iſt ein hochmüthiges,
von der Natur willkürlich ſich lostrennendes: ſie ordnet und
befiehlt da, wo Alles in Wahrheit ſich nur unterzuordnen
und zu gehorchen hat. Somit kann ſie in ihren Bildungen
nur die Natur entſtellen, nicht aber darſtellen; ſie kann
nur ableiten, nicht aber erfinden, denn Erfinden iſt in
2*
Wahrheit nichts anderes als Auffinden, nämlich Auffin¬
den, Erkennen der Natur.
Das Erfinden der Mode iſt daher ein mechaniſches.
Das Mechaniſche unterſcheidet ſich vom Künſtleriſchen aber
dadurch, daß es von Ableitung zu Ableitung, von Mittel
zu Mittel geht, um endlich doch immer wieder nur ein
Mittel, die Maſchine, hervorzubringen; wogegen das
Künſtleriſche gerade den entgegengeſetzten Weg einſchlägt,
Mittel auf Mittel hinter ſich wirft, von Ableitung auf Ab¬
leitung abſieht, um endlich beim Quell aller Ableitung,
alles Mittels, der Natur, mit verſtändnißvoller Befriedi¬
gung ſeines Bedürfniſſes anzukommen.
So iſt denn die Maſchine der kalte, herzloſe Wohl¬
thäter der luxusbedürftigen Menſchheit. Durch die Ma¬
ſchine hat dieſe endlich aber auch noch den menſchlichen Verſtand
ſich unterthänig gemacht; denn vom künſtleriſchen Streben,
vom künſtleriſchen Auffinden abgelenkt, verleugnet, verunehrt,
verzehrt er ſich endlich im mechaniſchen Raffiniren, im
Einswerden mit der Maſchine, ſtatt im Einswerden mit
der Natur im Kunſtwerke.
Das Bedürfniß der Mode iſt ſomit der ſchnurgerade
Gegenſatz des Bedürfniſſes der Kunſt; denn das Bedürf¬
niß der Kunſt kann unmöglich da vorhanden ſein, wo die
Mode die geſetzgebende Gewalt des Lebens iſt. In Wahr¬
heit konnte das Streben einzelner begeiſterter Künſtler
unſrer Zeit auch nur darauf zielen, jenes nothwendige Be¬
dürfniß vom Standpunkte und durch die Mittel der Kunſt
erſt aufzuregen: fruchtlos und eitel muß jedoch all ſolches
Bemühen angeſehen werden. Das Unmöglichſte für den
Geiſt iſt, Bedürfniß zu erwecken; dem wirklich vorhandenen
Bedürfniſſe zu entſprechen, hat der Menſch überall und
ſchnell die Mittel; nirgends aber, es hervorzurufen, wo
die Natur es verſagt, wo die Bedingungen dazu in ihr
nicht vorhanden ſind. Iſt aber das Bedürfniß des Kunſt¬
werkes nicht da, ſo iſt das Kunſtwerk ebenſo unmöglich;
nur die Zukunft vermag es uns erſtehen zu laſſen, und
zwar durch das Erſtehen ſeiner Bedingungen aus dem
Leben.
Nur aus dem Leben, aus dem einzig auch nur das
Bedürfniß nach ihr erwachſen kann, vermag die Kunſt
Stoff und Form zu gewinnen: wo das Leben von der
Mode geſtaltet wird, kann die Kunſt nicht aus ihm geſtal¬
ten. Der von der Nothwendigkeit des Natürlichen irr¬
thümlich ſich lostrennende Geiſt übt willkürlich, und im
ſogenannten gemeinen Leben ſelbſt unwillkürlich, ſeinen
entſtellenden Einfluß auf Stoff und Form des Lebens in
einer Weiſe aus, daß der in ſeiner Lostrennung endlich
unſelige, nach wirklicher geſunder Nahrung aus der Natur,
nach ſeiner Wiedervereinigung mit ihr verlangende Geiſt
den Stoff und die Form für ſeine Befriedigung im wirk¬
lichen gegenwärtigen Leben nicht mehr zu finden weiß.
Drängt es ihn, im Streben nach Erlöſung, zur rückhalts¬
loſen Anerkennung der Natur, kann er ſich mit dieſer nur
in ihrer getreueſten Darſtellung, in der ſinnlich gegen¬
wärtigen That des Kunſtwerkes verſöhnen, ſo erſieht er,
daß dieſe Verſöhnung nicht durch Anerkennung und Dar¬
ſtellung der ſinnlichen Gegenwart, nämlich dieſes durch die
Mode eben entſtellten Lebens, zu gewinnen iſt. Unwill¬
kürlich muß er deshalb in ſeinem künſtleriſchen Erlöſungs¬
drange willkürlich verfahren; er muß die Natur, die im
geſunden Leben ſich ihm ganz von ſelbſt darbieten würde,
da aufſuchen, wo er ſie in minderer, endlich in mindeſter
Entſtellung zu gewahren vermag. Ueberall und zu jeder
Zeit hat jedoch der Menſch der Natur das Gewand —
wenn nicht der Mode — doch der Sitte umgeworfen; die
natürlichſte, einfachſte, edelſte und ſchönſte Sitte iſt aller¬
dings die mindeſte Entſtellung der Natur, ſie iſt vielmehr
das ihr entſprechendſte menſchliche Kleid: die Nachahmung,
Darſtellung dieſer Sitte, — ohne welche der moderne
Künſtler von nirgends her wiederum die Natur darzuſtellen
vermag, — iſt dem heutigen Leben gegenüber aber den¬
noch ebenfalls ein willkürliches, von der Abſicht unerlös¬
bar beherrſchtes Verfahren, und was ſo im redlichſten
Streben nach Natur geſchaffen und geſtaltet wurde, er¬
ſcheint, ſobald es vor das öffentliche Leben der Gegenwart
tritt, entweder unverſtändlich, oder gar wieder als eine
erfundene neue Mode.
In Wahrheit haben wir auf dieſe Weiſe dem Streben
nach Natur innerhalb des modernen Lebens und im Gegen¬
ſatze zu ihm nur die Manier und den häufigen, unruhi¬
gen Wechſel derſelben zu verdanken. An der Manier hat
ſich aber unwillkürlich wieder das Weſen der Mode offen¬
bart; ohne nothwendigen Zuſammenhang mit dem Leben,
tritt ſie, ebenſo willkürlich maßgebend in die Kunſt, wie
die Mode in das Leben, verſchmilzt ſich mit der Mode, und
beherrſcht, mit einer der ihrigen gleichen Macht, jedwede
Kunſtrichtung. Neben ihrem Ernſte zeigt ſie ſich — mit
faſt nicht minderer Nothwendigkeit — auch in vollſter Lächer¬
lichkeit; und neben Antike, Rennaiſſance und Mittelalter
bemächtigen Roccoco, Sitte und Gewand wilder Stämme
in neuentdeckten Ländern, wie die Urmode der Chineſen
und Japaneſen, ſich als „Manieren“ Zeitweiſe, und mehr
oder weniger, aller unſrer Kunſtarten; ja, der religiös
indifferenteſten vornehmen Theaterwelt wird der Fanatis¬
mus religiöſer Secten, der luxuriöſen Unnatur unſrer
Modewelt, die Naivetät ſchwäbiſcher Dorfbauern, den
feiſtgemäſteten Göttern unſrer Induſtrie, die Noth des
hungernden Proletariers, mit keinen andren Wirkungen
als denen unzureichender Stimulanz, von der leichtwechſeln¬
den Tagesmanier vorgeführt.
Hier ſieht denn der Geiſt, in ſeinem künſtleriſchen
Streben nach Wiedervereinigung mit der Natur im Kunſt¬
werke, ſich zu der einzigen Hoffnung auf die Zukunft hin¬
gewieſen, oder zur traurigen Kraftübung der Reſignation
gedrängt. Er begreift, daß er ſeine Erlöſung nur im ſinn¬
lich gegenwärtigen Kunſtwerke, daher alſo nur in einer
wahrhaft kunſtbedürftigen, d. h. kunſtbedingenden, aus
eigener Naturwahrheit und Schönheit kunſtzeugenden,
Gegenwart zu gewinnen hat, und hofft daher auf die Zu¬
kunft, d. h. er glaubt an die Macht der Nothwendigkeit,
der das Werk der Zukunft vorbehalten iſt. Der Gegen¬
wart gegenüber aber verzichtet er auf die Gegenwart, d. h.
auf das Erſcheinen des Kunſtwerkes auf der Oberfläche der
Gegenwart, der Oeffentlichkeit, folglich auf die Oeffent¬
lichkeit ſelbſt, ſoweit ſie der Mode gehört. Das große Ge¬
ſammtkunſtwerk, das alle Gattungen der Kunſt zu umfaſſen
hat, um jede einzelne dieſer Gattungen als Mittel gewiſſer¬
maßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunſten der Er¬
reichung des Geſammtzweckes aller, nämlich der unbe¬
dingten, unmittelbaren Darſtellung der vollendeten menſch¬
lichen Natur, — dieſes große Geſammtkunſtwerk erkennt
er nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen,
ſondern als das nothwendig denkbare gemeinſame Werk
des Menſchen der Zukunft. Der Trieb, der ſich als einen
nur in der Gemeinſamkeit zu befriedigenden erkennt, ent¬
ſagt der modernen Gemeinſamkeit, dieſem Zuſammenhange
willkürlicher Eigenſucht, um in einſamer Gemeinſamkeit
mit ſich und der Menſchheit der Zukunft ſich Befriedigung
zu gewähren, ſo gut der Einſame es kann.
6.
Maßſtab für das Kunſtwerk der Zukunft.
Nicht kann der einſame, nach ſeiner Erlöſung in der
Natur künſtleriſch ſtrebende Geiſt das Kunſtwerk der Zu¬
kunft ſchaffen; nur der gemeinſame, durch das Leben be¬
friedigte, vermag dieß. Aber er kann es ſich vorſtellen,
und daß dieſe Vorſtellung nicht nur ein Wähnen werde,
dafür bewahrt ihn eben die Eigenſchaft ſeines Strebens,
des Strebens nach der Natur. Der nach der Natur ſich
zurückſehnende und deshalb in der modernen Gegenwart
unbefriedigte Geiſt, findet nicht nur in der Totalität der
Natur, ſondern namentlich auch in der geſchichtlich vor ihm
dargelegten menſchlichen Natur, die Bilder, durch deren
Anſchauung er ſich mit dem Leben im Allgemeinen zu ver¬
ſöhnen vermag. Für alles Zukünftige erkennt er in dieſer
Natur ein in engeren Gränzen bereits dargeſtelltes Bild:
dieſe Gränzen zum weiteſten Umfange ſich ausgedehnt zu
denken, liegt in der Vorſtellungsfähigkeit ſeines natur¬
dürſtigen Triebes.
Zwei Hauptmomente der Entwickelung der
Menſchheit liegen in der Geſchichte deutlich vor: der
geſchlechtlich nationale und der unnationale
univerſelle. Sehen wir jetzt in der Zukunft der Vol¬
lendung dieſes zweiten Entwickelungsganges entgegen, ſo
haben wir in der Vergangenheit den vollendeten Abſchluß
jenes erſteren deutlich erkennbar vor Augen. Bis zu wel¬
cher Höhe der Menſch, — ſoweit er ſich nach geſchlechtlicher
Abkunft, nach Sprachgemeinſchaft, nach Gleichartigkeit des
Klimas und der natürlichen Beſchaffenheit einer gemein¬
ſchaftlichen Heimat, dem Einfluſſe der Natur unbewußt
überließ, — unter dieſem faſt unmittelbar bildenden Ein¬
fluſſe ſich zu entwickeln vermochte, haben wir wahrlich nur
mit freudigſtem Entzücken anzuerkennen vollen Grund. In
der natürlichen Sitte aller Völker, ſoweit ſie den normalen
Menſchen in ſich begreifen, ſelbſt der als roheſt ver¬
ſchrieenen, lernen wir die Wahrheit der menſchlichen Na¬
tur erſt nach ihrem vollen Adel, ihrer wirklichen Schön¬
heit, erkennen. Nicht eine wahre Tugend hat irgend
welche Religion als göttliches Gebot in ſich aufgenommen,
die nicht in dieſer natürlichen Sitte von ſelbſt inbegriffen
geweſen wäre; nicht einen wirklich menſchlichen Rechts¬
begriff hat der ſpätere civiliſirte Staat — nur leider bis
zur vollkommenen Entſtellung! — entwickelt, der in ihr
nicht bereits ſeinen ſichern Ausdruck erhalten; nicht eine
wahrhaft gemeinnützige Erfindung hat die ſpätere Kultur
— mit hochmüthigem Undanke! — ſich zu eigen gemacht,
die ſie nicht aus dem Werke des natürlichen Verſtandes der
Pfleger jener Sitte abgeleitet hätte.
Daß die Kunſt aber nicht ein künſtliches Produkt,
— daß das Bedürfniß der Kunſt nicht ein willkürlich hervor¬
gebrachtes, ſondern ein dem natürlichen, wirklichen und
unentſtellten Menſchen ureigenes iſt, — wer beweiſt dies
ſchlagender als eben jene Völker? Ja, woraus könnte
unſer Geiſt überhaupt den Beweis für ihre Nothwendigkeit
führen, wenn nicht aus der Wahrnehmung dieſes Kunſt¬
triebes und der ihm entſproſſenen herrlichen Früchte bei
jenen natürlich entwickelten Völkern, bei dem Volke über¬
haupt? Vor welcher Erſcheinung ſtehen wir aber mit
demüthigenderer Empfindung von der Unfähigkeit unſrer
frivolen Kultur, als vor der Kunſt der Hellenen? Auf
ſie, auf dieſe Kunſt der Lieblinge der allliebenden Natur,
der ſchönſten Menſchen, die uns die zeugungsfrohe Mutter
bis in die nebelgraueſten Tage heutiger modiſcher Kultur
als ein unleugbares, ſiegreiches Zeugniß von dem, was ſie
zu leiſten vermag, vorhält, — auf die herrliche griechiſche
Kunſt blicken wir hin, um aus ihrem innigen Verſtänd¬
niſſe zu entnehmen, wie das Kunſtwerk der Zukunft be¬
ſchaffen ſein müſſe! Die Natur hat Alles gethan, was ſie
konnte, — ſie hat den Hellenen gezeugt, an ihren Brüſten
genährt, durch ihre Mutterweisheit ihn gebildet: ſie ſtellt
ihn uns hin mit Mutterſtolz, und ruft uns Menſchen allen
aus Mutterliebe nun zu: „Das that ich für Euch, nun
thut Ihr aus Liebe zu Euch, was Ihr könnt!“
So haben wir denn die helleniſche Kunſt zur
menſchlichen Kunſt überhaupt zu machen; die Bedingun¬
gen, unter denen ſie eben nur helleniſche, nicht all¬
menſchliche Kunſt war, von ihr zu löſen; das Gewand
der Religion, in welchem ſie einzig eine gemeinſam
helleniſche Kunſt war, und nach deſſen Abnahme ſie als
egoiſtiſche, einzelne Kunſtgattung, nicht mehr dem Bedürf¬
niſſe der Allgemeinheit, ſondern nur dem des Luxus —
wenn auch eines ſchönen! — entſprechen konnte, — dieß
Gewand der ſpeciell helleniſchen Religion haben wir
zu dem Bande der Religion der Zukunft, der der Allge¬
meinſamkeit, zu erweitern, um eine gerechte Vorſtellung
vom Kunſtwerke der Zukunft ſchon jetzt uns machen zu
können. Aber eben dieſes Band, dieſe Religion der
Zukunft, vermögen wir Unſeligen nicht zu knüpfen,
weil wir, ſo viele wir derer auch ſein mögen, die den Drang
nach dem Kunſtwerke der Zukunft in ſich fühlen, doch nur
Einzelne, Einſame ſind. Das Kunſtwerk iſt die
lebendig dargeſtellte Religion; — Religionen aber er¬
findet nicht der Künſtler, die entſtehen nur aus dem
Volke.—
Genügen wir uns alſo dadurch, daß wir für jetzt —
ohne alle egoiſtiſche Eitelkeit, ohne Befriedigung, in irgend
welcher eigenſüchtigen Illuſion ſuchen zu wollen, redlich
und mit liebevoller Hingebung an die Hoffnung für das
Kunſtwerk der Zukunft, — zunächſt das Weſen der Kunſt¬
arten prüfen, die heute in ihrer Zerſplitterung das allge¬
meine Kunſtweſen der Gegenwart ausmachen; ſtärken wir
unſren Blick zu dieſer Prüfung an der Kunſt der Hellenen,
und führen wir dann kühn und gläubig den Schluß auf
das große, allgemeinſame Kunſtwerk der Zukunft!
II.
Der künſtleriſche Menſch und die von ihm
unmittelbar abgeleitete Kunſt.
1.
Der Menſch als ſein eigener künſtleriſcher Gegenſtand und Stoff.
Der Menſch iſt ein äußerer und innerer. Die
Sinne, denen er ſich als künſtleriſcher Gegenſtand darſtellt,
ſind das Auge und das Ohr: dem Auge ſtellt ſich der
äußere, dem Ohre der innere Menſch dar.
Das Auge erfaßt die leibliche Geſtalt des Men¬
ſchen, vergleicht ſie der Umgebung und unterſcheidet ſie
von ihr. Der leibliche Menſch und die unwillkürlichen
Aeußerungen ſeiner, durch äußere Berührung empfangenen,
Eindrücke in ſinnlichem Schmerz oder ſinnlicher Wohlem¬
pfindung, ſtellen ſich dem Auge unmittelbar dar; mittelbar
theilt er ihm aber auch die Empfindungen des, dem Auge
unmittelbar nicht erkennbaren, inneren Menſchen mit,
durch Miene und Gebärde; namentlich aber wiederum durch
den Ausdruck des Auges ſelbſt, welches dem anſchauenden
Auge unmittelbar begegnet, vermag er dieſem nicht nur die
Gefühle des Herzens, ſondern ſelbſt die charakteriſtiſche
Thätigkeit des Verſtandes mitzutheilen, und je beſtimmter
ſchon der äußere Menſch den innern auszudrücken vermag;
deſto höher giebt er ſich als ein künſtleriſcher kund.
Unmittelbar theilt ſich aber der innere Menſch dem
Ohre mit, und zwar durch den Ton ſeiner Stimme.
Der Ton iſt der unmittelbare Ausdruck des Gefühls, wie
es ſeinen phyſiſchen Sitz im Herzen, dem Punkte des Aus¬
ganges und der Rückkehr der Blutbewegung, hat. Durch den
Sinn des Gehöres dringt der Ton aus dem Herzensgefühle
wiederum zum Herzensgefühle: Schmerz und Freude des Ge¬
fühlsmenſchen theilen ſich durch den mannigfaltigen Ausdruck
des Tones der Stimme wiederum dem Gefühlsmenſchen un¬
mittelbar mit, und wo die Ausdrucks- und Mittheilungs¬
fähigkeit des äußern leiblichen Menſchen für die Eigenſchaft
des auszudrückenden und mitzutheilenden, inneren Herzens¬
gefühles an das Auge, ſeine Schranke findet, da tritt die
entſcheidende Mittheilung durch den Ton der Stimme an das
Gehör, und durch das Gehör an das Herzensgefühl ein.
Wo jedoch wiederum der unmittelbare Ausdruck des
Tones der Stimme, in der Mittheilung und genau unter¬
ſcheidbaren Beſtimmtheit der einzelnen Herzensgefühle an
den mitfühlenden und theilnehmenden inneren Menſchen,
ſeine Schranke findet, da tritt der, durch den Ton der
Stimme vermittelte, Ausdruck der Sprache ein. Die
Sprache iſt das verdichtete Element der Stimme, das
Wort die gefeſtigte Maſſe des Tones. In ihr theilt
ſich das Gefühl durch das Gehör an das Gefühl mit, aber
an das ebenfalls zu verdichtende, zu gefeſtigende Gefühl,
dem es ſich zum ſicheren unfehlbaren Verſtändniſſe bringen
will. Sie iſt ſomit das Organ des ſich verſtehenden und
nach Verſtändigung verlangenden beſonderen Gefühles, des
Verſtandes. — Dem unbeſtimmteren, allgemeinen Ge¬
fühle genügte die unmittelbare Eigenſchaft des Tones; es
verweilte daher bei ihm, als dem an und für ſich ſchon befrie¬
digenden, ſinnlich wohlgefälligen Ausdrucke: in der Quan¬
tität ſeiner Ausdehnung vermochte es ſogar ſeine eigene
Qualität in ihrer Allgemeinheit bezeichnend auszuſprechen.
Das beſtimmte Bedürfniß, das ſich in der Sprache
verſtändlich zu machen ſucht, iſt entſchiedener, drängender;
es verweilt nicht im Behagen an ſeinem ſinnlichen Aus¬
drucke, denn es hat das ihm gegenſtändliche Gefühl in
ſeiner Unterſchiedenheit von einem allgemeinen Gefühle
darzuſtellen, daher zu ſchildern, zu beſchreiben, was
der Ton als Ausdruck des allgemeinen Gefühles un¬
mittelbar gab. Der Sprechende hat deshalb von ver¬
wandten, aber ebenfalls unterſchiedenen Gegenſtänden
Bilder zu entnehmen und ſie zuſammenzuſtellen. Zu dieſem
vermittelten, complicirten Verfahren hat er ſich an und für
ſich auszubreiten; unter dem Hauptdrange nach Verſtän¬
digung beſchleunigt er aber dieſes Verfahren durch mög¬
lichſt kürzeſtes Verweilen beim Tone, durch völliges Außer¬
achtlaſſen ſeiner allgemeinen Ausdrucksfähigkeit. Durch
dieſe nothwendige Entſagung, durch dieſes Aufgeben des
Wohlgefallens am ſinnlichen Elemente des eigenen Aus¬
druckes — mindeſtens des Grades von Wohlgefallen, wie
der Leibesmenſch und Gefühlsmenſch ihn an ihrer Aus¬
drucksweiſe zu finden vermögen, — wird der Verſtandes¬
menſch aber auch fähig vermöge ſeines Organes, der
Sprache, den ſichren Ausdruck zu geben, an welchem jene
ſtufenweiſe ihre Schranken fanden. Sein Vermögen iſt
unbegränzt: er ſammelt und ſcheidet das Allgemeine,
trennt und verbindet nach Bedürfniß und Gutdünken die
Bilder, die alle Sinne ihm von der Außenwelt zuführen;
verknüpft und löſt das Beſondere und Allgemeine je nach
Ermeſſen, um ſeinem Verlangen nach ſicherem, verſtänd¬
lichem Ausdrucke ſeines Gefühles, ſeiner Anſchauung, ſeines
Willens zu genügen. Nur da findet er jedoch wiederum ſeine
Schranke, wo er in der Erregtheit ſeines Gefühles, in der
Lebendigkeit der Freude oder in der Heftigkeit des Schmerzes,
— alſo da, wo das Beſondere, Willkürliche vor der Allgemein¬
heit und Unwillkürlichkeit des ihn beherrſchenden Gefühles an
ſich zurücktritt, wo er aus dem Egoismus ſeiner bedingten,
perſönlichen Empfindung ſich in der Gemeinſamkeit der großen,
allumfaſſenden Empfindung, ſomit der unbedingten Wahr¬
heit des Gefühles und der Empfindung überhaupt wieder¬
findet, — wenn er alſo da, wo er der Nothwendigkeit, ſei
es des Schmerzes oder der Freude, ſeinen individuellen
Eigenwillen unterzuordnen, demnach nicht zu gebieten,
ſondern zu gehorchen hat, — nach dem einzig entſprechen¬
den unmittelbaren Ausdrucke ſeines unendlich geſteigerten
Gefühles verlangt. Hier muß er wieder nach dem allge¬
meinen Ausdrucke greifen, und gerade in der Stufenreihe,
in der er zu ſeinem beſonderen Standpunkte gelangte, hat
er zurückzuſchreiten, bei dem Gefühlsmenſchen den ſinnli¬
chen Ton des Gefühles, bei dem Leibesmenſchen die ſinn¬
liche Gebärde des Leibes zu entlehnen; denn wo es den
unmittelbarſten und doch ſicherſten Ausdruck des Höchſten,
Wahrſten, dem Menſchen überhaupt Ausdrückbaren gilt,
da muß eben auch der ganze, vollkommene Menſch beiſam¬
men ſein, und dies iſt der mit dem Leibes- und Herzens¬
menſchen in innigſter, durchdringendſter Liebe vereinigte
Verſtandesmenſch, — keiner aber für ſich allein. —
Der Fortſchritt des äußeren Leibesmenſchen, durch
den Gefühlsmenſchen zum Verſtandesmenſchen, iſt der einer
immer vermehrten Vermittelung des Verſtandesmenſchen, wie
ſein Ausdrucksorgan — die Sprache, der allervermitteltſte
und abhängigſte, denn alle unter ihm liegenden Qualitäten
müſſen normal entwickelt ſein, ehe die Bedingungen ſeiner
normalen Qualität vorhanden ſind. Die bedingteſte Fähig¬
keit iſt zugleich aber die geſteigertſte, und die, auf die Er¬
kenntniß ſeiner höheren, unüberbotenen Qualität begrün¬
dete Freude an ſich, verführt den Verſtandesmenſchen zu
dem hochmüthigen Wähnen, die Qualitäten, die ihm
Grundlage ſind, als Dienerinnen ſeiner Willkür verwenden
zu dürfen. Dieſen Hochmuth beſiegt aber die Allgewalt der
ſinnlichen Empfindung und des Herzensgefühles, ſobald ſie
als allen Menſchen gemeinſame, als Empfindungen und
Gefühle der Gattung, dem Verſtandesmenſchen ſich kund¬
geben. Die einzelne Empfindung, das einzelne Gefühl,
wie ſie in ihm als Individuum durch dieſe eine, beſondere
und perſönliche Berührung mit dieſem einen, beſonderen
und perſönlichen Gegenſtande, ſich zeigen, vermag er zu
Gunſten einer von ihm begriffenen, reicheren Combination
mannigfacher Gegenſtände zu unterdrücken und zu beherr¬
ſchen; die reichſte Combination aller ihm erkennbaren Ge¬
genſtände führt ihm aber endlich den Menſchen als
Gattung und in ſeinem Zuſammenhange mit der
ganzen Natur vor, und vor dieſem großen allgewaltigen
Gegenſtande bricht ſich ſein Hochmuth. Er kann nur noch das
Allgemeinſame, Wahre, Unbedingte wollen; ſein eigenes
Aufgehen nicht in der Liebe zu dieſem oder jenem Gegenſtande,
ſondern in der Liebe überhaupt: ſomit wird der Egoiſt Kom¬
muniſt, der Eine Alle, der Menſch Gott, die Kunſtart Kunſt.
2.
Die drei reinmenſchlichen Kunſtarten in ihrem urſprünglichen
Verein.
Jene drei künſtleriſchen Hauptfähigkeiten des ganzen
Menſchen haben ſich zum dreieinigen Ausdrucke menſchlicher
Kunſt unmittelbar und von ſelbſt ausgebildet, und zwar im
urſprünglichen, urentſtandenen Kunſtwerke der Lyrik, ſo¬
wie in deſſen ſpäterer bewußtvoller, höchſter Vollendung,
dem Drama.
Tanzkunſt, Tonkunſt und Dichtkunſt heißen die
drei urgebornen Schweſtern, die wir ſogleich da ihren
Reigen ſchlingen ſehen, wo die Bedingungen für die Er¬
ſcheinung der Kunſt überhaupt entſtanden waren. Sie ſind
ihrem Weſen nach untrennbar ohne Auflöſung des Reigens
der Kunſt; denn in dieſem Reigen, der die Bewegung der
Kunſt ſelbſt iſt, ſind ſie durch ſchönſte Neigung und Liebe
ſinnlich und geiſtig ſo wundervoll feſt und lebenbe¬
dingend in einander verſchlungen, daß jede einzelne, aus
dem Reigen losgelöſt, leben- und bewegungslos nur ein
künſtlich angehauchtes, erborgtes Leben noch fortführen kann,
nicht — wie im Dreiverein — ſelige Geſetze gebend, ſondern
zwangvolle Regeln für mechaniſche Bewegung empfangend.
Beim Anſchauen dieſes entzückenden Reigens der
ächteſten, adeligſten Muſen, des künſtleriſchen Menſchen,
gewahren wir jetzt die drei, eine mit der andern liebevoll
Arm in Arm bis an den Nacken verſchlungen; dann bald
dieſe bald jene einzelne, wie um den anderen ihre ſchöne
Geſtalt in voller Selbſtſtändigkeit zu zeigen, ſich aus der
Verſchlingung löſend, nur noch mit der äußerſten Hand¬
ſpitze die Hände der anderen berührend; jetzt die eine, vom
Hinblick auf die Doppelgeſtalt ihrer feſtumſchlungenen
beiden Schweſtern entzückt, ihr ſich neigend; dann zwei,
vom Reize der einen geriſſen, huldigungsvoll ſie grüßend,
— um endlich Alle, feſt umſchlungen, Bruſt an Bruſt,
Glied an Glied, in brünſtigem Liebeskuſſe zu einer einzi¬
gen, wonniglebendigen Geſtalt zu verwachſen. — Das iſt das
Lieben und Leben, Freuen und Freien der Kunſt, der
Einen, immer ſie ſelber, und immer andere, überreich ſich
ſcheidenden und überſelig ſich vereinigenden.
Dieß iſt die freie Kunſt. Der ſüß und ſtark bewe¬
gende Drang in jenem Reigen der Schweſtern, iſt der
Drang nach Freiheit; der Liebeskuß der Umſchlungenen
die Wonne der gewonnenen Freiheit.
Der Einſame iſt unfrei, weil beſchränkt und ab¬
hängig in der Unliebe; der Gemeinſame frei, weil
unbeſchränkt und unabhängig durch die Liebe. —
In Allem, was da iſt, iſt das Mächtigſte der Lebens¬
trieb; er iſt die unwiderſtehliche Kraft des Zuſammen¬
hanges der Bedingungen, die das, was da iſt, erſt hervor¬
gerufen haben, — der Dinge oder Lebenskräfte alſo, die
in dem, was durch ſie iſt, das ſind, was ſie in dieſem Ver¬
einigungspunkte ſein können und ſein wollen. Der Menſch
befriedigt ſein Lebensbedürfniß durch Nehmen von der
Natur: dies iſt kein Raub ſondern ein Empfangen, in ſich
Aufnehmen, Verzehren deſſen, was, als Lebensbedingung
des Menſchen in ihn aufgenommen, verzehrt ſein will; denn
dieſe Lebensbedingungen, ſelbſt Lebensbedürfniſſe, heben
ſich ja nicht durch ſeine Geburt auf, — ſie währen und
nähren ſich in ihm und durch ihn vielmehr ſo lange als er
lebt, und die Auflöſung ihres Bundes iſt eben erſt —
der Tod. Das Lebensbedürfniß des Lebensbedürfniſſes des
Menſchen iſt aber das Liebesbedürfniß. Wie die
Bedingungen des natürlichen Menſchenlebens in dem Lie¬
besbunde untergeordneter Naturkräfte gegeben ſind, die
nach Verſtändniß, Erlöſung, Aufgehen in dem Höheren,
eben dem Menſchen, verlangten — ſo findet der Menſch
ſein Verſtändniß, ſeine Erlöſung und Befriedigung, gleich¬
falls nur in einem Höheren; dieſes Höhere iſt aber die
menſchliche Gattung, die Gemeinſchaft der Men¬
ſchen, denn es giebt für den Menſchen nur ein Höheres
als er ſelbſt: Die Menſchen. Die Befriedigung ſeines
Liebesbedürfniſſes gewinnt aber der Menſch nur durch
das Geben, und zwar durch das Sichſelbſtgeben an
andere Menſchen, in höchſter Steigerung an die Men¬
ſchen überhaupt. Das Entſetzliche in dem abſoluten
Egoiſten iſt, daß er auch in den (anderen) Menſchen nur
Naturbedingungen ſeiner Exiſtenz erkennt, ſie — wenn
auch auf ganz beſondere, barbariſch kultivirte Weiſe —
verzehrt
Dieſer kultivirte Menſchenverzehrer unterſcheidet ſich vom
wilden Menſchenfreſſer nur durch größere und raffinirtere Lecker¬
haftigkeit, indem er den feinſchmeckenden Lebensſaft ſeines Mit¬
menſchen allein verzehrt, wogegen der Wilde alle grobe Zuthat mit
verſchlingt; der Erſtere vermag daher auf einen Sitz eine größere
Anzahl Menſchen zugleich zu genießen, während der Zweite, beim
beſten Appetite, mit einem einzigen kaum fertig wird.wie die Früchte und Thiere der Natur, alſo
nicht geben, ſondern nur nehmen will.
Wie aber der Menſch, ſo wird auch alles von ihm
Ausgehende oder Abgeleitete nicht frei, außer durch die
Liebe. Freiheit iſt befriedigtes nothwendiges Bedürfniß,
höchſte Freiheit befriedigtes höchſtes Bedürfniß: das
höchſte menſchliche Bedürfniß aber iſt die Liebe.
Nichts Lebendiges kann aus der wahren unentſtellten
Natur des Menſchen hervorgehen oder von ihr ſich ab¬
leiten, was nicht auch der charakteriſtiſchen Weſenheit dieſer
Natur vollkommen entſpräche: das charakteriſtiſcheſte Merk¬
mal dieſer Weſenheit iſt aber das Liebesbedürfniß.
Jede einzelne Fähigkeit des Menſchen iſt eine be¬
ſchränkte; ſeine vereinigten, unter ſich verſtändigten, gegen¬
ſeitig ſich helfenden, — alſo ſeine ſich liebenden Fähig¬
keiten ſind aber die ſich genügende, unbeſchränkte, allgemein
menſchliche Fähigkeit. So hat denn auch jede künſt¬
leriſche Fähigkeit des Menſchen ihre natürlichen Schran¬
ken, weil der Menſch nicht einen Sinn, ſondern Sinne
überhaupt hat; jede Fähigkeit leitet ſich aber nur von
einem gewiſſen Sinne her; an den Schranken dieſes
Sinnes hat daher auch dieſe Fähigkeit ihre Schranken.
Die Gränzen der einzelnen Sinne ſind aber auch ihre
gegenſeitigen Berührungspunkte, die Punkte, wo ſie in
einander fließen, ſich verſtändigen: gerade ſo berühren, ver¬
ſtändigen ſich die von ihnen hergeleiteten Fähigkeiten.
Ihre Schranken heben ſich daher in der Verſtändigung auf;
nur was ſich liebt, kann ſich aber verſtändigen und lieben
heißt: den andern anerkennen, zugleich alſo ſich ſelbſt er¬
kennen; Erkenntniß durch die Liebe iſt Freiheit, — die
Freiheit der menſchlichen Fähigkeiten — Allfähigkeit.
Nur die Kunſt, die dieſer Allfähigkeit des Menſchen
entſpricht, iſt ſomit frei, nicht die Kunſtart, die nur
von einer einzelnen menſchlichen Fähigkeit herrührt.
Tanzkunſt, Tonkunſt und Dichtkunſt ſind vereinzelt jede
beſchränkt; in der Berührung ihrer Schranken fühlt jede ſich
unfrei, ſobald ſie an ihrem Gränzpunkte nicht der anderen
entſprechenden Kunſtart in unbedingter anerkennender Liebe
die Hand reicht. Schon das Erfaſſen dieſer Hand hebt ſie
über die Schranke hinweg; die vollſtändige Umſchlingung,
das vollſtändige Aufgehen in der Schweſter, d. h. das
vollſtändige Aufgehen ihrer ſelbſt jenſeits der geſtellten
Schranke, läßt aber die Schranke ebenfalls vollſtändig
fallen; und ſind alle Schranken in dieſer Weiſe gefallen, ſo
ſind weder die Kunſtarten, noch aber auch eben dieſe
Schranken mehr vorhanden, ſondern nur die Kunſt, die
gemeinſame, unbeſchrankte Kunſt ſelbſt.
Eine unſelig falſchverſtandene Freiheit iſt nun aber
die, des in der Vereinzelung, in der Einſamkeit frei ſein
Wollenden. Der Trieb, ſich aus der Gemeinſamkeit zu
löſen, für ſich, ganz im Beſonderen frei, ſelbſtſtändig ſein zu
wollen, kann nur zum geraden Gegenſatze dieſes willkürlich
Erſtrebten führen: zur vollkommenſten Unſelbſtſtändigkeit.
— Selbſtſtändig iſt nichts in der Natur, als das, was die
Bedingungen ſeines Selbſtſtehens nicht nur in ſich, ſondern
auch außer ſich hat: die inneren Bedingungen ſind eben
erſt vermöge der äußeren vorhanden. Was ſich unter¬
ſcheiden ſoll, muß nothwendig das haben, wovon es ſich
zu unterſcheiden hat. Wer ganz er ſelbſt ſein will, muß
erſt erkennen, was er iſt; dies erkennt er aber erſt im Un¬
terſchiede von dem, was er nicht iſt: wollte er das von ihm
ſich Unterſcheidende von ſich abtrennen, ſo wäre er ſelbſt
eben ja nichts Unterſchiedenes, ſomit ſich ſelbſt Erkennbares
mehr. Um ganz das ſein zu wollen, was er für ſich iſt,
muß der Einzelne ganz und gar das nicht zu ſein brauchen,
was er nicht iſt; ganz was er nicht iſt, iſt ja aber das von
ihm Unterſchiedene, und nur in der vollſten Gemeinſam¬
keit mit dem von ihm Unterſchiedenen, im vollſten Aufge¬
hen in der von ihm unterſchiedenen Gemeinſamkeit kann
er eben erſt vollkommen das ſein, was er iſt, ſein ſoll, und
vernünftigerweiſe nur ſein will. Nur im Kommunismus
findet ſich der Egoismus vollſtändig befriedigt.
Der Egoismus, der ſo unermeßlichen Jammer in
die Welt und ſo beklagenswerthe Verſtümmelung und Un¬
wahrheit in die Kunſt gebracht hat, iſt allerdings anderer
Art, als der natürliche, vernünftige, der in der Allgemein¬
ſamkeit ſich vollſtändig befriedigt. Er wehrt voll frommer
Entrüſtung die Bezeichnung des Egoismus von ſich ab,
nennt ſich Bruder- und Chriſten- — Kunſt- und Künſtler¬
3
liebe; ſtiftet Gott und der Kunſt Tempel; errichtet Spitäler
um das kranke Alter jung und geſund, — Schulen, um
die geſunde Jugend alt und krank zu machen; gründet
Fakultäten, Rechtsbehörden, Verfaſſungen und Staaten
und was Alles noch, — nur, um zu beweiſen, daß er
nicht Egoismus ſei: und dieß iſt gerade der allerunerlös¬
barſte und deshalb einzig verderbliche für ſich und die All¬
gemeinheit. Dieß iſt die Vereinzelung der Einzelnen, in
der alles vereinzelte Nichtige Etwas, das ganze Allgemeine
aber Nichts ſein ſoll; in der ſich jeder brüſtet, ganz für ſich
etwas Beſonderes, Originelles zu ſein, während das Ganze
in Wahrheit dann nichts Beſonderes und ewig nur Nach¬
gemachtes iſt. Dieß iſt die Selbſtſtändigkeit des Indivi¬
duums, bei welcher jeder Einzelne, um durchaus „mit
Gottes Hülfe frei“ zu ſein, auf Koſten des Andern lebt,
das zu ſein vorgiebt, was Andere ſind, kurz, die um¬
gekehrte Lehre Jeſus': „Nehmen iſt ſeliger, denn Geben“
— befolgt.
Dieß iſt der wahre Egoismus, in welchem jede ein¬
zelne Kunſtart ſich als allgemeine Kunſt gebärden
möchte, während ſie in Wahrheit dadurch ihre wirkliche
Eigenthümlichkeit nur noch verliert. Prüfen wir näher,
was unter ſolchen Bedingungen aus jenen drei holdſeligen
helleniſchen Schweſtern geworden iſt! —
3.
Tanzkunſt.
Die realſte aller Kunſtarten iſt die Tanzkunſt. Ihr
künſtleriſcher Stoff iſt der wirkliche leibliche Menſch, und
zwar nicht ein Theil desſelben, ſondern der ganze, von der
Fußſohle bis zum Scheitel, wie er dem Auge ſich darſtellt.
Sie ſchließt daher in ſich die Bedingungen für die Kund¬
gebung aller übrigen Kunſtarten ein: der ſingende und
ſprechende Menſch muß nothwendig leiblicher Menſch ſein;
durch ſeine äußere Geſtalt, durch das Gebahren ſeiner
Glieder gelangt der innere, ſingende und ſprechende Menſch,
zur Anſchauung; Ton- und Dichtkunſt werden in der Tanz¬
kunſt (Mimik) dem vollkommenen kunſtempfänglichen Men¬
ſchen, dem nicht nur hörenden, ſondern auch ſehenden, erſt
verſtändlich.
Frei wird das Kunſtwerk erſt, indem es ſich unmittel¬
bar den entſprechenden Sinnen kundgiebt, wenn in ſeiner
Mittheilung an dieſe Sinne, der Künſtler des ſichren Ver¬
ſtändniſſes des von ihm Mitgetheilten ſich bewußt wird.
Der höchſte, mittheilungswertheſte Gegenſtand der Kunſt
iſt der Menſch; zu vollkommen bewußter eigener Beruhi¬
gung theilt ſich der Menſch endlich nur durch ſeine leibliche
Geſtalt dem ihr entſprechenden Sinne, dem Auge, mit.
Ohne Mittheilung an das Auge bleibt alle Kunſt unbefrie¬
3*
digend, daher ſelbſt unbefriedigt, unfrei: ſie bleibt, bei
höchſter Vollendung ihres Ausdruckes für das Ohr oder
gar nur für das combinirende, mittelbar erſetzende Denk¬
vermögen, bis zu ihrer verſtändigungsvollen Mittheilung
auch an das Auge, nur eine wollende, noch nicht aber
vollkommen könnende; können muß aber die Kunſt, und
vom Können hat ſehr entſprechend in unſrer Sprache die
Kunſt auch ihren Namen. —
Sinnliches Schmerz- oder Wohlempfinden giebt der
Leibesmenſch unmittelbar an und mit den Gliedern ſeines
Leibes kund, welche Schmerz oder Luſt empfinden; Schmerz-
oder Wohlempfinden des ganzen Leibes drückt er durch be¬
ziehungsvolle, zu einem Zuſammenhange ſich ergänzende
Bewegung aller oder der ausdrucksfähigſten Glieder aus;
aus der Beziehung zu einander ſelbſt, dann aus dem Wechſel
der ſich ergänzenden, deutenden Bewegungen, endlich aus
der mannigfachen Veränderung dieſer Bewegungen — wie
ſie von dem Wechſel der von weicher Ruhe bis zu leiden¬
ſchaftlichem Ungeſtüm bald allmälig, bald heftig ſchnell
fortſchreitenden Empfindungen bedingt werden, — ent¬
ſtehen die Geſetze unendlich wechſelnder Bewegung ſelbſt,
nach denen der künſtleriſch ſich darſtellende Menſch ſich kund
giebt. Der von roheſter Leidenſchaftlichkeit beherrſchte
Wilde kennt in ſeinem Tanze faſt keinen anderen Wechſel,
als den gleichförmigſten Ungeſtümes und gleichförmigſter,
apathiſcher Ruhe. Im Reichthume und in der Mannigfal¬
tigkeit der Uebergänge ſpricht ſich der edlere gebildete Menſch
aus; je reicher und mannigfaltiger dieſe Uebergänge, deſto
ruhiger und geſicherter die Anordnung ihres beziehungs¬
vollen Wechſels: das Geſetz dieſer Ordnung iſt aber der
Rhythmus.
Der Rhythmus iſt keineswegs eine willkürliche An¬
nahme, nach welcher der künſtleriſche Menſch ſeine Leibes¬
glieder etwa bewegen will, ſondern er iſt die dem künſtle¬
riſchen Menſchen bewußt gewordene Seele der nothwendi¬
gen Bewegungen ſelbſt, durch welche dieſer ſeine Empfin¬
dungen unwillkürlich mitzutheilen ſtrebt. Iſt die Bewegung,
die Gebärde, ſelbſt der gefühlvolle Ton der Empfindung,
ſo iſt der Rhythmus ihre verſtändigungsfähige Sprache.
Je ſchneller der Wechſel der Empfindung, deſto leiden¬
ſchaftlich befangener, deſto unklarer iſt ſich der Menſch ſelbſt,
und deſto unfähiger iſt er daher auch ſeine Empfindung
verſtändlich mitzutheilen; je ruhiger der Wechſel, deſto an¬
ſchaulicher wird dagegen die Empfindung. Ruhe iſt Ver¬
weilen; Verweilen der Bewegung iſt aber Wiederholen der
Bewegung: was ſich wiederholt, läßt ſich zählen, und da
Geſetz dieſer Zählung iſt der Rhythmus.
Durch den Rhythmus wird der Tanz erſt zur Kunſt.
Er iſt das Maß der Bewegungen, durch welche die Em¬
pfindung ſich veranſchaulicht, — das Maß, durch welches
ſie erſt zur verſtändnißfähigen Anſchauung gelangt. Als
ſelbſtgegebenes Geſetz der Bewegung iſt aber ſein Stoff,
durch den er äußerlich erkennbar und maßgebend wird,
nothwendig aus einem anderen, als dem der Leibesbe¬
wegung, entnommen; nur durch ein von mir Unterſchie¬
denes kann ich mich ſelbſt erkennen; das von der Leibes¬
bewegung Unterſchiedene iſt aber das, was ſich einem von
dem Sinne dem die Leibesbewegung ſich kundgiebt, unter¬
ſchiedenen Sinne mittheilt, und dieſer iſt das Ohr. Der
Rhythmus, wie er aus der Nothwendigkeit der nach Ver¬
ſtändigung ſtrebenden Leibesbewegung hervorgegangen,
theilt ſich als äußerlich dargeſtellte, maßgebende Nothwen¬
digkeit, als Geſetz, dem Tanzenden zunächſt durch den nur
dem Ohre wahrnehmbaren Schall mit, — gerade wie in
der Muſik das abſtrahirte Maß des Rhythmus, der Takt,
durch eine wiederum dem Auge erkenntliche Bewegung mit¬
getheilt wird; die, in der Nothwendigkeit der Bewegung
ſelbſt bedingte, gleichmäßige Wiederholung ſtellt ſich dem
Tanzenden als auffordernde, bedingende Leitung ſeiner
Bewegungen in der gleichmäßigen Wiederholung des
Schalles dar, wie er am einfachſten zunächſt durch Zuſam¬
menſchlagen der Hände, dann hölzerner, metallener oder
ſonſtiger ſchallgebender Gegenſtände erzeugt wird.
Dem Tänzer, der ſich die Anordnung ſeiner Bewe¬
gungen durch ein äußerlich wahrnehmbares Geſetz dar¬
ſtellt, genügt jedoch die bloße Beſtimmung des Zeitab¬
ſchnittes, in der ſich die Bewegung wiederholt, nicht voll¬
ſtändig; wie die Bewegung nach dem ſchnellen Wechſel von
Zeitabſchnitt zu Zeitabſchnitt ſelbſt dauernd anhält und zu
einer verweilenden Darſtellung wird, ſo will er auch den
nur plötzlich und mit ſofortigem Verſchwinden ſich kund¬
gebenden Schall zu dauerndem Verweilen, zur Ausdehnung
in der Zeit genöthigt wiſſen; er will endlich die Empfin¬
dung, welche ſeine Bewegungen beſeelt, im Verweilen des
Schalles ebenfalls ausgedrückt haben, denn nur ſo wird
das ſelbſtgegebene Maß des Rhythmus ein dem Tanze voll¬
kommen entſprechendes, indem es nicht nur eine Bedin¬
gung ſeines Weſens, ſondern nach Möglichkeit alle ſeine
Bedingungen umfaßt: das Maß ſoll alſo das in einer
anderen, verwandten Kunſtart vergegenſtändlichte Weſen
des Tanzes ſelbſt ſein.
Dieſe andere Kunſtart, in welcher die Tanzkunſt noth¬
wendig ſich zu erkennen, wiederzufinden, aufzugehen ſich
ſehnt, iſt die Tonkunſt, die das markige Gerüſt ihres
Knochenbaues im Rhythmus eben aus der Tanzkunſt
empfängt.
Der Rhythmus iſt das natürliche, unzerreißbare
Band der Tanzkunſt und Tonkunſt; ohne ihn keine Tanz¬
kunſt und keine Tonkunſt. Iſt der Rhythmus als be¬
wegungbindendes, einheitgebendes Geſetz, der Geiſt der
Tanzkunſt — nämlich die Abſtraktion der leiblichen Be¬
wegung, die Bewegung der Bewegung — ſo iſt er, als
ſich bewegende, fortſchreitende Kraft dagegen das Gebein
der Tonkunſt. Je mehr dieſes Gebein ſich mit dem Fleiſche
des Tones umhüllt, deſto unkenntlicher verliert ſich das
Geſetz der Tanzkunſt in das beſondere Weſen der Tonkunſt,
— um ſo mehr erhebt die Tanzkunſt ſich aber auch zur
Fähigkeit des Ausdruckes tieferer Herzensfülle, mit welchem
ſie einzig dem Weſen des Tones zu entſprechen vermag;
das lebendigſte Fleiſch des Tones iſt jedoch die menſch¬
liche Stimme, das Wort aber gleichſam wieder der
knochige, muskulöſe Rhythmus der menſchlichen Stimme.
In der Entſchiedenheit und Beſtimmtheit des Wortes
findet die bewegungtreibende Empfindung, wie ſie aus der
Tanzkunſt ſich in die Tonkunſt ergoß, aber endlich den un¬
fehlbaren, ſichern Ausdruck, durch welchen ſie ſich als
Gegenſtand zu erfaſſen und klar auszuſprechen vermag.
Somit gewinnt ſie durch den zur Sprache gewordenen Ton,
in der zur Dichtkunſt gewordenen Tonkunſt ihre höchſte
Befriedigung zugleich mit ihrer befriedigendſten Erhöhung,
indem ſie von der Tanzkunſt zur Mimik, von der breiteſten
Darſtellung allgemein leiblicher Empfindungen, zum dich¬
teſten, feinſten Ausdrucke beſtimmter, geiſtiger Momente
des Gefühles und der Willenskraft ſich aufſchwingt. —
Durch dieſes aufrichtigſte, gegenſeitige Durchdringen,
Erzeugen und Ergänzen aus ſich ſelbſt und durch einander,
der einzelnen Künſte — wie es in Bezug auf Ton- und
Dichtkunſt hier vorläufig nur angedeutet wurde, — wird
das einige Kunſtwerk der Lyrik geboren: in ihm iſt
jede was ſie ihrer Natur nach ſein kann; was ſie nicht mehr
zu ſein vermag entlehnt ſie nicht egoiſtiſch von der andren,
ſondern die andre iſt es ſelbſt für ſie. Im Drama der
vollendetſten Geſtaltung der Lyrik, entfaltet jede der einzel¬
nen Künſte aber ihre höchſte Fähigkeit, und namentlich
auch die Tanzkunſt. Im Drama iſt ſich der Menſch nach
ſeiner vollſten Würde künſtleriſcher Stoff und Gegenſtand
zugleich: hat die Tanzkunſt in ihm die ausdrucksvolle Ein¬
zel- oder Geſammtbewegung der von den Einzelnen oder
von den Geſammten kundzugebenden Empfindungen, un¬
mittelbar darzuſtellen, und iſt das aus ihr erzeugte Geſetz
des Rhythmus das verſtändigungleitende Maß alles in ihm
Dargeſtellten überhaupt, — ſo veredelt ſie ſich im Drama
zugleich zu ihrem geiſtigſten Ausdrucksvermögen, dem der
Mimik. Als mimiſche Kunſt wird ſie zum unmittelbaren,
allergreifenden Ausdrucke des inneren Menſchen, und nicht
mehr der rohſinnliche Rhythmus des Schalles, ſondern der
geiſtig ſinnliche der Sprache ſtellt ſich ihr als, ſeinem ur¬
ſprünglichſten Weſen nach, dennoch ſelbſtgegebenes Geſetz dar.
Was die Sprache zu verſtändlichen ſtrebt, alle die Empfin¬
dungen und Gefühle, Anſchauungen und Gedanken, wie
ſie von weichſter Milde bis zur unbeugbarſten Energie ſich
ſteigern und endlich als unmittelbarer Wille ſich kundgeben,
— all dieß wird unbedingt verſtändliche, glaubhafte Wahr¬
heit nur durch die Mimik, ja die Sprache ſelbſt wird als
ſinnlicher Ausdruck nicht anders wahr und überzeugend,
als durch unmittelbares Zuſammenwirken mit der Mimik.
Von dieſer feinen Höhe breitet im Drama die Tanzkunſt
ſich wieder abwärts bis zu ihrer urſprünglichſten Eigen¬
thümlichkeit aus, bis dahin, wo die Sprache nur noch
ſchildert und deutet, wo die Tonkunſt nur als beſeelter
Rhythmus der Schweſter noch huldigt, wo dagegen durch
die Schönheit des Leibes und ſeiner Bewegung einzig der
nöthig gewordene unmittelbare Ausdruck einer allbeherr¬
ſchenden, allerfreuenden Empfindung gegeben zu werden
vermag.
So erreicht im Drama die Tanzkunſt ihre höchſte
Höhe und ihre vollſte Fülle, entzückend wo ſie anordnet,
ergreifend wo ſie ſich unterordnet; immer und überall ſie
ſelbſt, weil immer unwillkürlich und deshalb nothwendig
unentbehrlich: nur da, wo eine Kunſtart nothwendig,
unentbehrlich iſt, iſt ſie zugleich ganz das, was ſie iſt,
ſein kann und ſein ſoll. — —
Wie beim Thurmbau zu Babel die Völker, als ihre
Sprachen ſich verwirrten und ihre Verſtändigung unmög¬
lich wurde, ſich ſchieden, um jedes ſeinen beſondern Weg
zu gehen: ſo ſchieden die Kunſtarten, als alles National¬
gemeinſame in tauſend egoiſtiſche Beſonderheiten ſich zer¬
ſplitterte, ſich aus dem ſtolzen, bis in den Himmel ragen¬
den Bau des Drama, in welchem ſie ihr gemeinſam be¬
ſeelendes Verſtändniß verloren hatten.
Beachten wir für jetzt, welch Schickſal die Tanzkunſt
erlebte, als ſie den Reigen der Schweſtern verließ, um auf
gut Glück allein ſich in die Welt zu verlieren. —
Gab die Tanzkunſt es auf, der griesgrämig-tenden¬
tiös eurypideiſch ſchulmeiſternden Dichtkunſt länger zur Ver¬
ſtändigung die Hand zu reichen, die dieſe übellauniſch hoch¬
müthig von ſich wieß, um ſie nur, zu einer Zweckleiſtung
demüthig dargeboten, wieder zu erfaſſen; — ſchied ſie ſich
von der philoſophiſchen Schweſter, die in trübſinniger
Frivolität ihre jugendlichen Reize nur noch zu beneiden,
nicht mehr zu lieben vermochte, — ſo konnte ſie die Hülfe
der ihr nächſten, der Tonkunſt, doch nie vollſtändig entbehren.
Durch ein unauflösbares Band war ſie an ſie gebunden,
die Tonkunſt hatte den Schlüſſel zu ihrer Seele in ihren
Händen. Wie nach dem Tode des Vaters, in deſſen Liebe
ſie Alle ſich vereinigten und all ihr Lebensgut als ein ge¬
meinſames wußten, die Erben eigenſüchtig abwägen, was
ihnen zum beſondern Eigen gehöre, — ſo erwog aber
auch die Tanzkunſt, daß jener Schlüſſel von ihr geſchmie¬
det ſei, und forderte ihn als Bedingung ihres abgeſonder¬
ten Lebens, für ſich allein zurück. Gern entſagte ſie dem
gefühlvollen Tone der Stimme ihrer Schweſter; durch
dieſe Stimme, deren Mark das Wort der Dichtkunſt
war, hätte ſie ſich ja unerlösbar an dieſe hochmüthige
Leiterin gefeſſelt fühlen müſſen! Aber jenes Werkzeug
aus Holz oder Metall, das muſikaliſche Inſtrument,
das ihre Schweſter — im liebevollen Drange, auch
den todten Stoffen der Natur ihren ſeelenvollen Athem
einzuhauchen — zur Unterſtützung und Steigerung ihrer
Stimme ſich gebildet hatte, — dieß Werkzeug, das ja
genügend die Fähigkeit beſaß, ihr das nothwendige lei¬
tende Maß des Taktes und des Rhythmus' — ſogar mit
Nachahmung des Stimmentonreizes der Schweſter —
darzuſtellen — das muſikaliſche Inſtrument nahm ſie mit
ſich, ließ unbekümmert die Schweſter Tonkunſt im Glau¬
ben an das Wort durch den uferloſen Strom chriſtlicher
Harmonie dahin ſchwimmen, und warf mit leichtfertigem
Selbſtvertrauen ſich in die luxusbedürftigen Räume der
Welt.
Wir kennen dieſe hochaufgeſchürzte Geſtalt: wer iſt
ihr nicht begegnet? Ueberall wo plumpes modernes
Behagen zum Verlangen nach Unterhaltung ſich anläßt,
ſtellt ſie ſich mit höchſter Gefälligkeit ein und leiſtet für's
Geld was man nur will. Ihre höchſte Fähigkeit, mit der
ſie nichts mehr anzufangen wußte, die Fähigkeit, durch
ihre Gebährden, ihre Mienen, den Gedanken der Dicht¬
kunſt in ſeinem Verlangen nach wirklicher Menſchwerdung
zu erlöſen, hat ſie in ſtupider Gedankenloſigkeit — ſie
weiß nicht an wen? — verloren oder verſchenkt. Sie hat
mit allen Zügen ihres Geſichts, wie mit allen Gebärden
ihrer Glieder nur noch unbegränzte Gefälligkeit auszu¬
drücken. Ihre einzige Sorge iſt, ſo erſcheinen zu können
als ob ſie irgend etwas abzuſchlagen vermöchte, und dieſer
Sorge entledigt ſie ſich in dem einzigen mimiſchen Aus¬
drucke, deſſen ſie noch fähig iſt, in dem unerſchütterlichſten
Lächeln unbedingteſter Bereitſamkeit zu Allem und Jedem.
Bei dieſem unveränderlich feſtſtehenden Ausdrucke ihrer
Geſichtszüge entſpricht ſie dem Verlangen nach Abwechſe¬
lung und Bewegung nur noch durch die Beine; alle Kunſt¬
fähigkeit iſt ihr vom Scheitel herab durch den Leib in die
Füße gefahren. Kopf, Nacken, Leib und Schenkel ſind
nur noch zum unvermittelten Einladen durch ſich ſelbſt da,
wogegen die Füße allein übernommen haben darzuſtellen,
was ſie zu leiſten vermöge, wobei Hände und Arme, des
nöthigen Gleichgewichts wegen, ſie ſchweſterlich unter¬
ſtützen. Was im öffentlichen Privatleben, — wenn unſre
moderne Staatsbürgerſchaft, dem Herkommen und einer
geſellſchaftlich zeitvertreibenden Gewohnheit gemäß, ſich
auf ſogenannten Bällen zum Tanze anläßt, — man ſich
mit civiliſirt hölzerner Ausdrucksloſigkeit ſchüchtern anzu¬
deuten erlaubt, das iſt jener grundgütigen Tänzerin
geſtattet auf öffentlicher Bühne mit unumwundenſter Auf¬
richtigkeit auszuſprechen; denn — ihr Gebahren iſt ja nur
Kunſt, nicht Wahrheit, und wie ſie einmal außer dem
Geſetze erklärt iſt, ſteht ſie nun über dem Geſetze: wir
können uns durch ſie reizen laſſen, ohne ja deshalb im
geſitteten Leben ihren Reizungen zu folgen, — wie ja
im Gegenſatze hierzu, auch die Religion Reizungen zur
Güte und Tugend darbietet, denen im gewöhnlichen
Leben uns hinzugeben wir dennoch durchaus nicht genöthigt
ſind. Die Kunſt iſt frei, — und die Tanzkunſt zieht aus
dieſer Freiheit ihren Vortheil; und daran thut ſie recht,
wozu wäre ſonſt die Freiheit da? —
Wie mochte dieſe edle Kunſt ſo tief fallen, daß ſie
in unſrem öffentlichen Kunſtleben nur noch als Spitze aller
in ſich vereinigten Buhlerkünſte ſich Geltung zu verſchaffen,
ihr Leben zu friſten vermag? Daß ſie in den unehren¬
hafteſten Feſſeln niedrigſter Abhängigkeit unrettbar ſich
gefangen geben muß? — Weil alles aus ſeinem Zuſam¬
menhange geriſſene, Einzelne, Egoiſtiſche, in Wahrheit
unfrei, d. h. abhängig von einem ihm Fremdartigen
werden muß. Der bloße leibliche Sinnenmenſch, der
bloße Gefühls- der bloße Verſtandesmenſch, ſind zu jeder
Selbſtſtändigkeit als wirklicher Menſch unfähig; die Aus¬
ſchließlichkeit ihres Weſens läßt dieſes zum ausſchreiten¬
den Unmaß führen, denn das gedeihliche Maß giebt ſich
— und zwar von ſelbſt — nur in der Gemeinſamkeit des
Gleichartigen und doch Unterſchiedenen; das Unmaß aber
iſt die abſolute Unfreiheit eines Weſens, und dieſe Unfrei¬
heit ſtellt ſich nothwendig als äußere Abhängigkeit dar. —
Die Tanzkunſt gab in ihrer Trennung von der
wahren Muſik und namentlich auch von der Dichtkunſt,
nicht nur ihre höchſte Fähigkeit auf, ſondern ſie verlor auch
von ihrer Eigenthümlichkeit. Eigenthümlich iſt nur
das, was aus ſich ſelbſt zu erzeugen vermag: die Tanz¬
kunſt war eine vollkommen eigenthümliche, ſo lange ſie
aus ihrem innerſten Weſen und Bedürfniſſe die Geſetze zu
erzeugen vermochte, nach denen ſie zur verſtändigungsfähi¬
gen Erſcheinung kam. Heut zu Tage iſt nur noch der
Volks- der Nationaltanz eigenthümlich, denn auf
unnachahmliche Weiſe giebt er aus ſich, wie er in die
Erſcheinung tritt, ſein beſondres Weſen in Gebährde,
Rhythmus und Takt kund, deren Geſetze er unwillkürlich
ſelbſt ſchuf, und die als Geſetze erſt erkennbar, mittheilbar
werden, wenn ſie aus dem Volkskunſtwerke, als ſein ab¬
ſtrahirtes Weſen, wirklich zum Daſein gebracht ſind. Wei¬
tere Entwickelung des Volkstanzes zur reicheren, allfähi¬
gen Kunſt iſt nur in Verbindung mit der, durch ihn nicht
allein beherrſchten, ſondern wiederum frei gebahrenden
Tonkunſt und der Dichtkunſt möglich, weil in der ver¬
wandten Fähigkeit und unter den Anregungen dieſer
Künſte, ſie ihre eigenthümliche Fähigkeit allein im vollſten
Maße entfalten und erweitern kann. Das Kunſtwerk der
griechiſchen Lyrik zeigt uns, wie die, der Tanzkunſt eigen¬
thümlichen Geſetze des Rhythmus, in der Tonkunſt und
namentlich in der Dichtkunſt, durch die Eigenthümlichkeit
gerade dieſer Künſte, wieder unendlich mannigfaltig und
charakteriſtiſch weiter entwickelt und bereichert, der Tanz¬
kunſt unerſchöpflich neue Anregung zum Auffinden neuer,
ihr wiederum eigenthümlicher Bewegungen gaben, und wie
ſo in lebensfreudiger, überreicher Wechſelwirkung die
Eigenthümlichkeit einer jeden Kunſtart zu ihrer vollendet¬
ſten Fülle ſich erheben konnte. Dem modernen Volkstanze
durften die Früchte ſolcher Wechſelwirkung nicht zu gut
kommen: wie alle Volkskunſt der modernen Nationen
durch die Einwirkung des Chriſtenthumes und der chriſt¬
lich-ſtaatlichen Civiliſation in ihrem Keime zurückgedrängt
wurde, hat auch er, als einſame Pflanzenart, nie zu reicher
mannigfaltiger Entwickelung gedeihen können. Dennoch
ſind die einzigen eigenthümlichen Erſcheinungen im Gebiete
des Tanzes, die unſerer heutigen Welt bekannt werden,
nur die Produkte des Volkes, wie ſie dem Charakter bald
dieſer oder jener Nationalität entkeimten oder ſelbſt noch
entkeimen. Alle unſre civiliſirte eigentliche Tanzkunſt iſt
nur eine Compilation dieſer Volkstänze: die Volksweiſe
jeder Nationalität wird von ihr aufgenommen, verwendet,
entſtellt — aber nicht weiter entwickelt, weil ſie — als
Kunſt — immer nur von fremder Nahrung ſich erhält.
Ihr Verfahren iſt daher immer nur ein abſichtsvolles,
künſtliches Nachahmen, Zuſammenſetzen, ein Ineinander¬
ſchieben, keineswegs aber Zeugen und Neugeſtalten; ihr
Weſen iſt das der Mode, die aus bloßem Verlangen nach
Abwechſelung heute dieſer, morgen jener Weiſe den Vor¬
zug giebt. Sie muß ſich daher willkürliche Syſteme
machen, ihre Abſicht in Regeln bringen, in unnöthigen
Vorausſetzungen und Annahmen ſich kund geben, um von
ihren Jüngern begriffen und ausgeführt werden zu kön¬
nen. Dieſe Syſteme und Regeln vereinſamen ſie aber
als Kunſt vollends ganz, und verwehren ihr jede geſunde
Verbindung zur gemeinſchaftlichen Wirkſamkeit mit einer
anderen Kunſtart. Die nur durch Geſetze und willkürliche
Normen am künſtlichen Leben erhaltene Unnatur iſt durch¬
aus egoiſtiſch, und wie ſie aus ſich ſelbſt zeugungsunfähig iſt,
wird ihr auch jede Begattung unmöglich.
Dieſe Kunſt hat daher kein Liebesbedürfniß; ſie kann
nur nehmen, nicht aber geben; ſie zieht allen fremden
Lebensſtoff in ſich hinein, zerſetzt und verzehrt ihn, löſt
ihn in ihr eigenes unfruchtbares Weſen auf, vermag aber
nicht mit einem außer ihr begründeten Lebenselemente
ſich zu vermiſchen, weil ſie ſelbſt ſich nicht zu geben ver¬
mag.
So läßt ſich unſre moderne Tanzkunſt in der Pan¬
tomime auch zu der Abſicht des Drama's an; ſie will,
wie jede vereinſamte egoiſtiſche Kunſtart, für ſich Alles
ſein, Alles können und Alles allein vermögen; ſie will
Menſchen, menſchliche Vorfälle, Zuſtände, Conflicte,
Charactere und Beweggründe darſtellen, ohne von der
Fähigkeit, durch welche der Menſch erſt fertig iſt, der
Sprache, Gebrauch zu machen; ſie will dichten, ohne der
Dichtkunſt ſich zuzugeſellen. Was gebiert ſie nun in dieſer
ſpröden Unvermiſchtheit und „Unabhängigkeit?“ Das aller¬
abhängigſte, krüppelhaft verſtümmeltſte Geſchöpf: Menſchen,
die nicht reden können, und nicht etwa, weil ihnen durch
ein Unglück die Gabe der Sprache verſagt wäre, ſondern
die aus Eigenſinn nicht ſprechen wollen; Darſteller, die uns
jeden Augenblick aus einer unſeligen Verzauberung erlöſt
dünken, ſobald ſie es einmal über ſich gewännen dem pein¬
lichen Stammeln der Gebärde durch ein geſund geſproche¬
nes Wort ein Ende zu machen, denen aber die Regeln
und Vorſchriften der pantomimiſchen Tanzkunſt verbieten,
durch einen natürlichen Sprachlaut ihr unbeflecktes Tanz¬
ſelbſtſtändigkeitsgefühl zu entweihen.
So jammervoll abhängig iſt aber dieſes ſtumme ab¬
ſolute Schauſpiel, daß es im glücklichen Falle nur mit
dramatiſchen Stoffen ſich abzugeben getraut, die zu der
menſchlichen Vernunft in gar keine Beziehung zu treten
brauchen, — aber ſelbſt in den günſtigſten Fällen dieſer
Art ſich zu dem ſchmähligen Auskunftsmittel genöthigt
ſieht, ſeine eigentliche Abſicht dem Zuſchauer durch ein er¬
klärendes Programm mitzutheilen!
Und hierbei giebt ſich unleugbar noch das edelſte
Beſtreben der Tanzkunſt kund; ſie will doch wenigſtens
Etwas ſein, ſie ſchwingt ſich doch zu der Sehnſucht nach
dem höchſten Kunſtwerke, dem Drama auf; ſie ſucht ſich
dem widerlich lüſternen Blicke der Frivolität zu entziehen,
indem ſie nach einem künſtleriſchen Schleier greift, der ihre
ſchmachvolle Blöße decken ſoll. Aber in welche unwürdigſte
Abhängigkeit muß ſie gerade bei der Kundgebung dieſes
Strebens ſich werfen! Mit welch jämmerlicher Entſtellung
muß ſie das eitle Verlangen nach unnatürlicher Selbſtſtän¬
digkeit büßen. Sie, ohne deren höchſte, eigenthümlichſte
Mitwirkung das höchſte, edelſte Kunſtwerk nicht zur Erſchei¬
nung gelangen kann, muß — aus dem Vereine ihrer
Schweſtern geſchieden — von Proſtitution zur Lächerlich¬
keit, von Lächerlichkeit zur Proſtitution ſich flüchten! —
O herrliche Tanzkunſt! o ſchmähliche Tanzkunſt! —
4.
Tonkunſt.
Das Meer trennt und verbindet die Länder: ſo trennt
und verbindet die Tonkunſt die zwei äußerſten Gegenſätze
menſchlicher Kunſt, die Tanz- und Dichtkunſt.
Sie iſt das Herz des Menſchen; das Blut, das von
ihm aus ſeinen Umlauf nimmt, giebt dem nach außen ge¬
wandten Fleiſche ſeine warme, lebenvolle Farbe, — die
nach innen ſtrebenden Nerven des Gehirnes nährt es aber
mit wellender Schwungkraft. Ohne die Thätigkeit des
Herzens bliebe die Thätigkeit des Gehirnes nur ein
mechaniſches Kunſtſtück; die Thätigkeit der äußeren
Leibesglieder ein ebenſo mechaniſches, gefühlloſes Ge¬
bahren. Durch das Herz fühlt der Verſtand ſich dem gan¬
zen Leibe verwandt, ſchwingt der bloße Sinnenmenſch ſich
zur Verſtandesthätigkeit empor.
Das Organ des Herzens aber iſt der Ton; ſeine
künſtleriſch bewußte Sprache, die Tonkunſt. Sie iſt die
volle, wallende Herzensliebe, die das ſinnliche Luſt¬
empfinden adelt, und den unſinnlichen Gedanken vermenſch¬
licht. Durch die Tonkunſt verſtehen ſich Tanz und Dicht¬
kunſt: in ihr berühren ſich mit liebevollem Durchdringen
die Geſetze, nach denen Beide ihrer Natur gemäß ſich kund¬
geben; in ihr wird das Wollen beider zum Unwillkürlichen,
das Maß der Dichtkunſt, wie der Takt der Tanzkunſt, zum
nothwendigen Rhythmus des Herzensſchlages.
Empfängt ſie die Bedingungen, unter denen ſie ſich
kund giebt, von ihren Schweſtern, ſo giebt ſie ihnen ſie in
unendlicher Verſchönerung als Bedingung ihrer eigenen
Kundgebungen zurück; führt die Tanzkunſt ihr eigenes Be¬
wegungsgeſetz der Tonkunſt zu, ſo weiſt dieſe ihr es als
ſeelenvoll ſinnlich verkörperten Rhythmus zum Maße ver¬
edelter, verſtändlicher Bewegung wieder an; erhält ſie von
der Dichtkunſt die ſinnvolle Reihe ſcharfgeſchnittener,
durch Bedeutung und Maß verſtändnißvoll vereinter,
Wörter als gedankenreich ſinnlichen Körper zur Feſtigung
ihres unendlich flüſſigen Tonelementes, ſo führt ſie ihr
dieſe geſetzvolle Reihe mittelbar vorſtellender, zu Bildern
— noch nicht aber zu unmittelbarem, unwillkürlich-noth¬
wendig wahrem Ausdrucke verdichteter, gedankenhaft-ſehn¬
ſüchtiger Sprachlaute, als gefühlesunmittelbare, unfehl¬
bar rechtfertigende und erlöſende Melodie wieder zu.
In tonbeſeeltem Rhythmus und Melodie ge¬
winnen Tanzkunſt und Dichtkunſt ihr eigenes Weſen,
ſinnlich vergegenſtändlicht und unendlich verſchönert und
befähigt, wieder zurück, erkennen und lieben ſich ſelbſt.
Rhythmus und Melodie ſind aber die Arme der Tonkunſt,
mit denen dieſe ihre Schweſtern zu liebevollem Verwachſen
umſchlingt; ſie ſind die Ufer, durch die ſie, das Meer,
zwei Continente verbindet. Tritt dieſes Meer von den
Ufern zurück, und breitet ſich die Wüſte des Abgrundes
zwiſchen ihm und den Ufern aus, ſo wird kein ſegelfrohes
Schiff mehr von dem einen zum andern Continente tragen;
auf immer bleiben ſie getrennt, — bis etwa mechaniſche
Erfindungen, vielleicht Eiſenbahnen, die Wüſte fahrbar zu
machen vermögen: dann ſetzt man wohl auch mit Dampf¬
ſchiffen vollends über das Meer, die Athemkraft des
allbelebenden Windhauches erſetzt der Qualm der Ma¬
ſchine: weht der Wind naturgemäß nach Oſten, was
kümmert's? — Die Maſchine klappert nach Weſten, wo¬
hin man gerade will; der Tanzmacher holt ſich ſo über den
dampfbezwungenen Meeresrücken der Muſik, vom Dich¬
tungscontinente her das Programm zu einer neuen Panto¬
mime, der Bühnenſtückverfertiger vom Tanzcontinente ſo¬
viel Beinſchwungſtoff, als ihm gerade zum Lockermachen
einer verſtockten Situation nöthig dünkt — ſehen wir,
was aus der Schweſter Tonkunſt ward ſeit dem Tode des
allliebenden Vaters Drama! —
Noch dürfen wir das Bild des Meeres für das Weſen
der Tonkunſt nicht aufgeben. Sind Rhythmus und Melo¬
die die Ufer, an denen die Tonkunſt die beiden Continente
der ihr urverwandten Künſte erfaßt und befruchtend be¬
rührt, ſo iſt der Ton ſelbſt ihr flüſſiges ureigenes Ele¬
ment, die unermeßliche Ausdehnung dieſer Flüſſigkeit aber
das Meer der Harmonie. Das Auge erkennt nur die
Oberfläche dieſes Meeres: nur die Tiefe des Herzens erfaßt
ſeine Tiefe. Aus ſeinem nächtlichem Grunde herauf dehnt
es ſich zum ſonnighellen Meeresſpiegel aus: von dem einen
Ufer kreiſen auf ihm die weiter und weitergezogenen Ringe
des Rhythmus; aus den ſchattigen Thälern des andern
Ufers erhebt ſich der ſehnſuchtsvolle Lufthauch, der dieſe
ruhige Fläche zu den anmuthig ſteigenden und ſinkenden
Wellen der Melodie aufregt.
In dieſes Meer taucht ſich der Menſch, um erfriſcht
und ſchön dem Tageslichte ſich wiederzugeben; ſein Herz
fühlt ſich wunderbar erweitert, wenn er in dieſe, aller un¬
erdenkbarſten Möglichkeiten fähige Tiefe hinabblickt, deren
Grund ſein Auge nie ermeſſen ſoll, deren Unergründlichkeit
ihn daher mit Staunen und der Ahnung des Unendlichen
erfüllt. Es iſt die Tiefe und Unendlichkeit der Natur ſelbſt,
die dem forſchenden Menſchenauge den unermeßlichen Grund
ihres ewigen Keimens, Zeugens und Sehnens verhüllt,
eben, weil das Auge nur das zur Erſcheinung Gekommene,
das Entkeimte, Gezeugte und Erſehnte erfaſſen kann. Dieſe
Natur iſt aber wiederum keine andere, als die Natur des
menſchlichen Herzens ſelbſt, das die Gefühle des
Liebens und Sehnens nach ihrem unendlichſten Weſen in ſich
ſchließt, das die Liebe und das Sehnen ſelbſt iſt, und —
wie es in ſeiner Unerſättlichkeit ſich ſelbſt nur will — ſich
ſelbſt auch nur erfaßt und begreift.
Regt dieſes Meer aus ſeiner eigenen Tiefe ſich ſelbſt
auf, gebiert es den Grund ſeiner Bewegung aus der un¬
ergründlich Tiefe ſeines eigenen Elementes, ſo iſt auch
ſeine Bewegung eine endloſe, nie beruhigte, ewig unge¬
ſtillt zu ſich ſelbſt zurückkehrende, ewig wiederverlangend
von Neuem ſich erregende. Entbrennt die ungeheure Fülle
dieſes Sehnens aber an einem außerhalb ihm liegenden
Gegenſtande, — tritt aus der ſichern, feſtbeſtimmten Er¬
ſcheinungswelt dieſer maßgebende Gegenſtand zu ihm, —
zündet der ſonnenumſtrahlte, ſchlank und rüſtig ſich bewe¬
gende Menſch durch den Blitz ſeines glänzenden Auges die
Flamme dieſes Sehnens, — erregt er mit ſeinem ſchwellen¬
den Athem die elaſtiſche Maſſe des Meerkryſtalles, möge die
Gluth noch ſo hoch lodern, möge der Sturm noch ſo ge¬
waltig die Meeresfläche aufwühlen, — die Flamme leuchtet
endlich, nach dem Verdampfen wilder Gluthen, doch als
mildglänzendes Licht, — die Meeresfläche, nach dem Ver¬
ſchäumen rieſiger Wogen, kräuſelt ſich endlich doch nur
noch zum wonnigen Spiele der Wellen, und der Menſch,
froh der ſüßen Harmonie ſeines ganzen Weſens, überläßt
ſich im leichten Nachen dem vertrauten Elemente, ſteuert
ſicher nach der Weiſung jenes wohlbekannten, mild¬
glänzenden Lichtes. —
Der Hellene, wenn er ſein Meer beſchiffte, verlor
nie das Küſtenland aus dem Auge: ihm war es der ſichere
Strom, der ihn von Geſtade zu Geſtade trug, auf dem
er zwiſchen den wohlvertrauten Ufern nach dem melodiſchen
Takte der Ruder dahinfuhr, — dort das Auge dem Tanze
der Waldnymphen, dort das Ohr dem Götterhymnus zu¬
gewandt, deſſen ſinnig melodiſchen Wortreigen die Lüfte
aus dem Tempel von der Berghöhe ihm zuführten. Auf
der Fläche des Waſſers ſpiegelten ſich ihm, von blauem
Aetherſaume begränzt, getreu die Küſten des Landes mit
Felſen, Thälern, Bäumen, Blumen und Menſchen: und
dieſes reizend wogende, vom friſchen Fächeln der Lüfte an¬
muthig bewegte Spiegelbild dünkte ihm Harmonie. —
Von den Ufern des Lebens ſchied ſich der Chriſt.
Weiter und unbegränzter ſuchte er das Meer auf, um end¬
lich auf dem Oceane zwiſchen Meer und Himmel gränzen¬
los allein zu ſein. Das Wort, das Wort des Glaubens
war ſein Kompaß, der ihn unverwandt nur nach dem
Himmel wieß. Ueber ihm ſchwebte dieſer Himmel, nach
jedem Horizonte hin ſenkte er ſich als Grenze des Meeres
herab; nie aber erreichte der Segler dieſe Gränze: von
Jahrhundert zu Jahrhundert ſchwamm er unerlöſt der im¬
mer vorſchwebenden und nie doch erreichten neuen Heimath
zu, bis ihn der Zweifel an die Tugend ſeines Kompaßes
erfaßte, bis er auch ihn als letztes menſchliches Gaukelwerk
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grimmig über Bord warf und nun aller Bande ledig,
ſteuerlos der unerſchöpflichen Willkür der Meereswogen ſich
übergab. In ungeſtillter, zorniger Liebeswuth regte er
die Tiefen des Meeres gegen den unerreichbaren Himmel auf:
die Unerſättlichkeit der Gier des Liebens und Sehnens ſelbſt,
das gegenſtandslos ewig und ewig nur ſich ſelbſt lieben und
erſehnen muß, — dieſe tiefſte, unerlösbarſte Hölle des
raſtloſeſten Egoismus, der ohne Ende ſich ausdehnt,
wünſcht und will, und ewig und ewig doch nur ſich wün¬
ſchen und wollen kann, — trieb er gegen die abſtrakte blaue
Himmelsallgemeinheit an, — das gegenſtandsbedürftigſte
allgemeine Verlangen — gegen die abſolute Ungegenſtänd¬
lichkeit ſelbſt. Selig, unbedingt ſelig, im weiteſten, un¬
gemeſſenſten Sinne ſelig ſein, und zugleich doch ganz es
ſelbſt bleiben zu wollen, war die unerſättliche Sehnſucht
des chriſtlichen Gemüthes. So hob ſich das Meer aus ſeinen
Tiefen zum Himmel, ſo ſank es vom Himmel immer wieder
zu ſeinen Tiefen zurück; ewig es ſelbſt, und deshalb ewig
unbefriedigt, — wie das maßloſe, allbeherrſchende Sehnen
des Herzens, das nie ſich geben, in einem Gegenſtande
aufgehen zu dürfen, ſondern nur es ſelbſt zu ſein ſich ver¬
dammt.
Doch in der Natur ringt alles Unmäßige nach Maß;
alles Gränzenloſe ziehet ſich ſelbſt Gränzen; die Elemente
verdichten ſich endlich zur beſtimmten Erſcheinung, und auch
das ſchrankenloſe Meer chriſtlichen Sehnens fand das neue
Küſtenland, an dem ſich ſein Ungeſtüm brechen konnte.
Wo wir am fernen Horizonte die ſtets erſtrebte, nie aber
gefundene Einfahrt in den unbegränzten Himmelsraum
wähnten, da entdeckte endlich der kühnſte aller Seefahrer
Land, menſchenbewohntes, wirkliches, ſeliges Land. Durch
ſeine Entdeckung iſt der weite Ocean nicht nur ermeſſen,
ſondern den Menſchen auch zum Binnenmeere gemacht
worden, um das ſich die Küſten nur zu undenklich weiterem
Kreiſe ausbreiten. Hat Columbus uns aber gelehrt den
Ocean zu beſchiffen und ſo alle Continente der Erde zu
verbinden; iſt durch ſeine Entdeckung weltgeſchichtlich der
kurzſichtige nationale Menſch zum allſichtigen, univerſellen,
— zum Menſchen überhaupt geworden, — ſo ſind durch
den Helden, der das weite, uferloſe Meer der abſoluten
Muſik bis an ſeine Gränzen durchſchiffte, die neuen, unge¬
ahnten Küſten gewonnen worden, die dieſes Meer von
dem alten unmenſchlichen Continente nun nicht mehr trennt,
ſondern für die neugeborene, glückſelige künſtleriſche Menſch¬
heit der Zukunft verbindet; und dieſer Held iſt kein
anderer als — Beethoven. —
Als die Tonkunſt ſich aus dem Reigen der Schwe¬
ſtern löſte nahm ſie, als unerläßlichſte nächſte Lebens¬
bedingung, — wie die leichtfertige Schweſter Tanzkunſt
ſich von ihr das rhythmiſche Maß entnommen hatte, —
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von der ſinnenden Schweſter Dichtkunſt das Wort mit;
aber nicht etwa das menſchenſchöpferiſche, geiſtig dichtende
Wort, ſondern nur das körperlich unerläßliche, den verdich¬
teten Ton. Hatte ſie der ſcheidenden Tanzkunſt den ryth¬
miſchen Takt zum beliebigen Gebrauche überlaſſen, ſo erbaute
ſie ſich nun einzig durch das Wort, das Wort des chriſt¬
lichen Glaubens, dieſes flüſſige, gebeinlos verſchwimmende,
das ihr ohne Widerſtreben und gern bald vollkommen
Macht über ſich ließ. Je mehr das Wort zum bloßen
Stammeln der Demuth zum bloßen Lallen unbedingter
kindlicher Liebe ſich verflüchtigte, deſto nothwendiger ſah
die Tonkunſt ſich veranlaßt, aus den unerſchöpflichen
Grunde ihres eigenen flüſſigen Weſens ſich zu geſtalten.
Das Ringen nach ſolcher Geſtaltung iſt der Aufbau der
Harmonie.
Die Harmonie wächſt von unten nach oben als
ſchnurgerade Säule aus der Zuſammenfügung und Ueber¬
einanderſchichtung verwandter Tonſtoffe. Unaufhörlicher
Wechſel ſolcher immer neu aufſteigenden neben einander
gefügten Säulen macht die einzige Möglichkeit abſoluter
harmoniſcher Bewegung nach der Breite zu aus. Das
Gefühl nothwendiger Sorge für die Schönheit dieſer
Bewegung nach der Breite iſt dem Weſen der abſoluten
Harmonie fremd; ſie kennt nur die Schönheit des Farben¬
lichtwechſels ihrer Säulen, nicht aber die Anmuth ihrer
zeitlich wahrnehmbaren Anordnung, — denn dieſe iſt das
Werk des Rhythmus. Die unerſchöpflichſte Mannigfaltig¬
keit jenes Farbenlichtwechſels iſt dagegen der ewig ergiebige
Quell, aus dem ſie mit maßloſem Selbſtgefallen unauf¬
hörlich neu ſich darzuſtellen vermag; der Lebenshauch, der
dieſen raſtloſen — nach unwillkürlicher Willkür ſich wie¬
derum ſelbſtbedingenden — Wechſel bewegt und beſeelt, iſt
das Weſen des Tones ſelbſt, der Athem unergründlicher,
allgewaltiger Herzensſehnſucht. Im Reiche der Harmonie
iſt daher nicht Anfang und Ende, wie die gegenſtandloſe,
ſich ſelbſt verzehrende Gemüthsinbrunſt, unkundig ihres
Quelles, nur ſie ſelbſt iſt, Verlangen, Sehnen, Stürmen,
Schmachten — Erſterben, d. h. Sterben ohne in einem
Gegenſtande ſich befriedigt zu haben, alſo Sterben ohne
zu ſterben, ſomit immer wieder Zurückkehr zu ſich ſelbſt.
So lange das Wort in Macht war, gebot es Anfang
und Ende; als es in den bodenloſen Grund der Harmonie
verſank, als es nur noch „Aechzen und Seufzen der Seele“
war — wie auf der brünſtigſten Höhe der katholiſchen
Kirchenmuſik, — da ward auch das Wort willkürlich auf
der Spitze jener harmoniſchen Säulen, der unrhythmiſchen
Melodie, wie von Woge zu Woge geworfen, und die uner¬
meßliche harmoniſche Möglichkeit mußte aus ſich nun ſelbſt
die Geſetze für ihr endliches Erſcheinen geben. Dem Weſen
der Harmonie entſpricht kein anderes künſtleriſches Ver¬
mögen des Menſchen: nicht an den ſinnlich beſtimmten Be¬
wegungen des Leibes, nicht an der ſtrengen Folge des Den¬
kens vermag es ſich zu ſpiegeln, — nicht wie der Gedanke
an der erkannten Nothwendigkeit der ſinnlichen Erſchei¬
nungswelt, nicht wie die Leibesbewegung an der zeitlich
wahrnehmbaren Darſtellung ihrer unwillkürlichen, ſinnlich
wohlbedingten Beſchaffenheit, ſein Maß ſich vorzuſtellen:
ſie iſt wie eine dem Menſchen wahrnehmbare, nicht aber
begreifliche Naturmacht. Aus ihrem eigenen maßloſen
Grunde muß die Harmonie ſich, aus äußerer — nicht
innerer — Nothwendigkeit zu ſicherer, endlicher Erſchei¬
nung ſich abzuſchließen, Geſetze bilden und befolgen. Dieſe
Geſetze der Harmoniefolge, auf das Weſen der Verwandt¬
ſchaft ſo gegründet, wie jene harmoniſchen Säulen, die
Accorde, ſelbſt aus der Verwandtſchaft der Tonſtoffe ſich
bildeten vereinigen ſich nun zu einem Maße, welches dem
ungeheuren Spielraum willkürlicher Möglichkeiten eine
wohlthätige Schranke ſetzt. Sie geſtatten die mannigfal¬
tigſte Wahl aus dem Bereiche harmoniſcher Familien,
dehnen die Möglichkeit wahlverwandtſchaftlicher Verbin¬
dungen mit den Gliedern fremder Familien bis zum Be¬
lieben aus, verlangen jedoch vor Allem ſichere Befolgung
der verwandtſchaftlichen Hausgeſetze der einmal gewählten
Familie und getreues Verharren bei ihr um eines ſeligen
Endes willen. Dieſes Ende, alſo das Maß der zeitlichen
Ausdehnung des Tonſtückes überhaupt, zu geben oder zu
bedingen, vermögen die unzähligen Anſtandsregeln der
Harmonie aber nicht; ſie können, als wiſſenſchaftlich lehr-
und erlernbarer Theil der Tonkunſt, die flüßige Ton¬
maſſe der Harmonie ſondern und zu begränzten Körpern
abſcheiden, nicht aber das zeitliche Maß dieſer begränzten
Maſſen beſtimmen.
War die ſchrankenſetzende Macht der Sprache ver¬
ſchlungen, und konnte die zur Harmonie gewordene Ton¬
kunſt unmöglich auch noch ihr zeitlich maßgebendes Geſetz
aus ſich finden, ſo mußte ſie ſich an den Reſt des, von der
Tanzkunſt ihr übrig gelaſſenen, rhythmiſchen Taktes wen¬
den; rhythmiſche Figuren mußten die Harmonie beleben;
ihr Wechſel, ihre Wiederkehr, ihre Trennung und Vereini¬
gung, mußten die flüſſige Breite der Harmonie; — wie
urſprünglich das Wort den Ton, verdichten und zum
zeitlich ſichren Abſchluß bringen. Eine innere, nach rein
menſchlicher Darſtellung verlangende Nothwendigkeit lag
dieſer rhythmiſchen Belebung aber nicht zum Grunde;
nicht der fühlende, denkende und wollende Menſch, wie er
durch Sprache und Leibesbewegung ſich kundgiebt, war
ihre treibende Kraft, — ſondern eine in ſich aufgenom¬
mene äußere Nothwendigkeit der nach egoiſtiſchem Ab¬
ſchluß verlangenden Harmonie. Dieſes rhythmiſche Wech¬
ſeln und Geſtalten, das ſich nicht nach innerer Nothwen¬
digkeit bewegte, konnte daher nur nach willkürlichen Ge¬
ſetzen und Erfindungen belebt werden; und dieſe Geſetze
und Erfindungen ſind die des Contrapunktes.
Der Contrapunkt, in ſeinen mannigfaltigen Gebur¬
ten und Ausgeburten, iſt das künſtliche Mitſichſelbſtſpielen
der Kunſt, die Mathematik des Gefühles, der mechaniſche
Rhythmus der egoiſtiſchen Harmonie. In ſeiner Erfin¬
dung gefiel ſich die abſtrakte Tonkunſt dermaßen, daß ſie
ſich einzig und allein als abſolute, für ſich beſtehende Kunſt
ausgab; — als Kunſt, die durchaus keinen menſchlichen
Bedürfniſſe, ſondern rein ſich, ihrem abſoluten göttlichen
Weſen ihr Daſein danke. Der Willkürliche dünkt ſich
ganz natürlich auch der abſolut Alleinberechtigte. Ihrer
eigenen Willkür allein hatte aber allerdings auch die
Muſik nur ihr ſelbſtſtändiges Gebahren zu danken, denn
einem Seelenbedürfniſſe zu entſprechen waren jene
tonmechaniſchen, contrapunktiſchen Kunſtwerkſtücke durch¬
aus unfähig. In ihrem Stolze war daher die Muſik zu
ihrem geraden Gegentheile geworden: aus einer Herzens¬
angelegenheit zur Verſtandesſache, aus dem Ausdrucke
unbegränzter chriſtlicher Gemüthsſehnſucht zum Rechnen¬
buche modernjüdiſcher Börſenſpeculation.
Der lebendige Athem der ewig ſchönen, gefühls¬
adligen Menſchenſtimme, wie ſie aus der Bruſt des Vol¬
kes unerſtorben, immer jung und friſch herausdrang, bließ
auch dieſes contrapunktiſche Kartenhaus über den Haufen.
Die in unentſtellter Anmuth ſich treu gebliebene Volks¬
weiſe, das mit der Dichtung innig verwebte, einige und
ſicher begränzte Lied, hob ſich auf ſeinen elaſtiſchen
Schwingen, freudige Erlöſung kündend, in die Regionen
der ſchönheitsbedürftigen, wiſſenſchaftlich muſikaliſchen
Kunſtwelt hinein. Dieſe verlangte es wieder Menſchen
darzuſtellen, Menſchen — nicht Pfeifen — ſingen zu laſ¬
ſen; der Volksweiſe bemächtigte ſie ſich hierzu, und con¬
ſtruirte aus ihr die Opern-Arie. Wie die Tanzkunſt
ſich des Volkstanzes bemächtigte, um nach Bedürfniß an
ihm ſich zu erfriſchen, und ihn nach ihrem maßgeblichen
Modebelieben zur Kunſtcombination zu verwenden, — ſo
machte es aber auch die vornehme Operntonkunſt mit der
Volksweiſe: nicht den ganzen Menſchen hatte ſie erfaßt,
um ihn in ſeinem ganzen Maße nun künſtleriſch nach ſei¬
ner Naturnothwendigkeit gewähren zu laſſen, ſondern nur
den ſingenden, und in ſeiner Singweiſe nicht die Volks¬
dichtung mit ihrer inwohnenden Zeugungskraft, ſondern
eben bloß die vom Gedicht abſtrahirte melodiſche Weiſe,
der ſie nach Belieben nun modiſch conventionelle, abſicht¬
lich nichtsſagenſollende Wortphraſen unterlegte, nicht das
ſchlagende Herz der Nachtigall, ſondern nur ihren Kehl¬
ſchlag begriff man, und übte ſich ihr nachzuahmen. Wie
der Kunſttänzer ſeine Beine abrichtete, in den mannigfach¬
ſten und doch einförmigſten Biegungen, Renkungen und
Wirbelungen den natürlichen Volkstanz, den er aus ſich
nicht weiter entwickeln konnte, zu variiren, — ſo richtete
der Kunſtſänger eben nur ſeine Kehle ab, jene von dem
Munde des Volkes abgelöſte Weiſe, die er nimmer
aus ihrem Weſen neu zu erzeugen fähig war, durch
unendliche Verzierungen zu umſchreiben, durch Schnörkel
aller Arten zu verändern; und ſo nahm eine mechaniſche
Fertigkeit andrer Art nur wieder den Platz ein, den die
contrapunktiſche Geſchicklichkeit geräumt hatte. Die wider¬
liche, unbeſchreiblich ekelhafte Entſtellung und Verzerrung
der Volksweiſe, wie ſie in der modernen Opernarie —
denn nur eine verſtümmelte Volksweiſe iſt ſie in Wahrheit,
keineswegs eine beſondere Erfindung, — ſich kund giebt,
wie ſie zum Hohn aller Natur, alles menſchlichen Gefühles,
von aller ſprachlich dichteriſchen Baſis abgelöſt, als leb-
und ſeelenloſer Modetand die Ohren unſerer blödſinnigen
Operntheaterwelt kitzelt, — brauchen wir hier nicht wei¬
ter zu charakteriſiren; wir müſſen nur mit jammervoller
Aufrichtigkeit uns eingeſtehen, daß unſre moderne Oeffent¬
lichkeit in ihr eigentlich das ganze Weſen der Muſik
begreift. —
Aber abgelegen von dieſer Oeffentlichkeit und den
ihr dienenden Modewaarenverfertigern und Händlern,
ſollte das eigenthümlichſte Weſen der Tonkunſt aus ſeiner
bodenloſeſten Tiefe, mit aller unverlorenen Fülle ſeiner
ungemeſſenen Fähigkeit, ſich zur Erlöſung am Sonnen¬
lichte der allgemeinſamen, einen Kunſt der Zukunft auf¬
ſchwingen, und dieſen Aufſchwung ſollte ſie von dem
Boden ausnehmen, der der Boden aller rein menſchlichen
Kunſt iſt: der plaſtiſchen Leibesbewegung dargeſtellt
im muſikaliſchen Rhythmus.
Hatte die menſchliche Stimme, im Lallen des chriſt¬
lich ſtereotypiſchen, ewig und ewig, bis zur vollſten
Gedankenloſigkeit wiederholten Wortes, ſich endlich voll¬
ſtändig bis nur noch zum ſinnlich flüſſigen Tonwerk¬
zeuge verflüchtigt, vermöge deſſen die von der Dichtkunſt
gänzlich abgezogene Tonkunſt allein noch ſich darſtellte, —
ſo waren neben ihr die, durch die Mechanik vermittelten,
Tonwerkzeuge, als üppige Begleiter der Tanzkunſt, zu
immer geſteigerter Ausdrucksfähigkeit ausgebildet worden.
Als Trägern der Tanzweiſe war ihnen die rhythmiſche
Melodie zum ausſchließlichen Eigenthume angewieſen;
dadurch, daß ſie in ihrem vereinigten Wirken mit Leichtig¬
keit das Element der chriſtlichen Harmonie in ſich auf¬
nahmen, fiel ihnen der Beruf aller weiteren Entwickelung
der Tonkunſt aus ſich zu. Der harmoniſirte Tanz
iſt die Baſis des reichſten Kunſtwerkes der modernen
Symphonie. — Auch der harmoniſirte Tanz fiel als
wohlſchmeckende Beute in die Hände des contrapunktirenden
Mechanismus: dieſer löſte ihn von ſeiner gehorſamen Er¬
gebenheit an ſeine Gebieterin, die leibliche Tanzkunſt, und
ließ ihn nun nach ſeinen Regeln Sprünge und Wendun¬
gen machen. In das lederne Riemenwerk dieſes contra¬
punktiſch geſchulten Tanzes durfte aber nur der warme
Athemhauch der natürlichen Volksweiſe dringen, ſo dehnte
es ſich alsbald zu dem elaſtiſchen Fleiſche menſchlich ſchö¬
nen Kunſtwerkes aus, und dieſes Kunſtwerk iſt in ſeiner
höchſten Vollendung die Symphonie Haydn's, Mo¬
zart's und Beethoven's.
In der Symphonie Haydn's bewegt ſich die rhyth¬
miſche Tanzmelodie mit heiterſter jugendlicher Friſche: ihre
Verſchlingungen, Zerſetzungen und Wiedervereinigungen,
wiewohl durch die höchſte contrapunktiſche Geſchicklichkeit
ausgeführt, geben ſich doch faſt kaum mehr als Reſultate
ſolch geſchickten Verfahrens, ſondern vielmehr als dem
Charakter eines, nach phantaſiereichen Geſetzen geregelten,
Tanzes eigenthümlich, kund: ſo warm durchdringt ſie der
Hauch wirklichen menſchlich freudigen Lebens. Den, in
mäßigerem Zeitmaße ſich bewegenden Mittelſatz der Sym¬
phonie ſehen wir von Haydn der ſchwellenden Ausbreitung
der einfachen Volksgeſangsweiſe angewieſen; ſie dehnt ſich
in ihm nach Geſetzen des Melos', wie ſie dem Weſen des
Geſanges eigenthümlich ſind, durch ſchwungvolle Steige¬
rung und, mit mannigfaltigem Ausdruck belebte, Wieder¬
holung aus. Die ſo ſich bedingende Melodie ward das Ele¬
ment der Symphonie des geſangreichen und geſangfrohen
Mozart. Er hauchte ſeinen Inſtrumenten den ſehnſuchts¬
vollen Athem der menſchlichen Stimme ein, der ſein
Genius mit weit vorwaltender Liebe ſich zuneigte. Den
unverſiegbaren Strom reicher Harmonie leitete er in das
Herz der Melodie, gleichſam in raſtloſer Sorge, ihr, der nur
von Inſtrumenten vorgetragenen, erſatzweiſe die Gefühls¬
tiefe und Inbrunſt zu geben, wie ſie der natürlichen menſch¬
lichen Stimme als unerſchöpflicher Quell des Ausdruckes
im Innerſten des Herzens zu Grunde liegt. Während
Mozart in ſeiner Symphonie Alles, was von der Befrie¬
digung dieſes ſeines eigenthümlichſten Dranges oblag,
mehr oder weniger, nach herkömmlicher und in ihm ſelbſt
ſtabil werdender Annahme, mit ungemein geſchicktem
contrapunktiſchen Verfahren, gewiſſermaßen nur abfertigte,
erhob er ſo die Geſangsausdrucksfähigkeit des Inſtrumen¬
tale zu der Höhe, daß ſie nicht allein Heiterkeit, ſtilles,
inniges Behagen — wie bei Haydn, ſondern die ganze
Tiefe unendlicher Herzensſehnſucht in ſich zu faſſen ver¬
mochte.
Die unermeßliche Fähigkeit der Inſtrumentalmuſik
zum Ausdrucke urgewaltigen Drängens und Verlangens
erſchloß ſich Beethoven. Er vermochte es, das eigen¬
thümliche Weſen der chriſtlichen Harmonie dieſes uner¬
gründliche Meer unbeſchränkteſter Fülle und raſtloſeſter
Bewegung zur losgebundenſten Freiheit zu entfeſſeln. Die
harmoniſche Melodie — denn ſo müſſen wir die vom
Sprachvers getrennte zum Unterſchied von der rhythmiſchen
Tanzmelodie bezeichnen, — war, nur von Inſtrumenten
getragen, des unbegränzteſten Ausdruckes, wie der ſchran¬
kenloſeſten Behandlung fähig. In langen zuſammenhän¬
genden Zügen, wie in größeren, kleineren, ja kleinſten
Bruchtheilen, wurde ſie in den dichteriſchen Händen des
Meiſters zu Lauten, Sylben, Worten und Phraſen einer
Sprache, in der das Unerhörteſte, Unſäglichſte, nie
Ausgeſprochene, ſich kund geben konnte. Jeder Buchſtabe
dieſer Sprache war unendlich ſeelenvolles Element,
und das Maß der Fügung dieſer Elemente unbegränzt
freies Ermeſſen, wie es nur irgend der nach uner¬
meßlichem Ausdrucke des unergründlichſten Sehnens ver¬
langende Tondichter ausüben mochte. Froh dieſes unaus¬
ſprechlich ausdrucksvollen Syrachvermögens, aber leidend
unter der Wucht des künſtleriſchen Seelenverlangens,
das in ſeiner Unendlichkeit nur ſich ſelbſt Gegenſtand zu
ſein, nicht außer ihm ſich zu befriedigen, vermochte, —
ſuchte der überſelige unſelige, meerfrohe und meermüde
Segler nach einem ſichren Ankerhafen aus dem wonnigen
Sturme wilden Ungeſtümes. War ſein Sprachvermögen
unendlich, ſo war aber auch das Sehnen unendlich, das
dieſe Sprache durch ſeinen ewigen Athem belebte: wie nun
das Ende, die Befriedigung dieſes Sehnens in derſelben
Sprache verkünden, die eben nur der Ausdruck dieſes
Sehnens war? Iſt der Ausdruck unermeßlichen Herzens¬
ſehnens in dieſer urelementarhaften, abſoluten Tonſprache
angeregt, ſo iſt nur die Unendlichkeit dieſes Ausdruckes,
wie die des Sehnens ſelbſt, Nothwendigkeit, nicht aber
ein endlicher Abſchluß als Befriedigung des Sehnens,
der nur Willkür ſein kann. Mit dem, der rhythmiſchen
Tanzmelodie entlehnten beſtimmten Ausdrucke vermag die
Inſtrumentalmuſik eine an ſich ruhige, ſicher begränzte
Stimmung darzuſtellen und abzuſchließen; eben weil er
ſein Maß einem urſprünglich außerhalb liegenden Gegen¬
ſtande, der Leibesbewegung, entnimmt. Giebt ein Tonſtück
von vorn herein nur dieſem Ausdrucke ſich hin, der mehr
oder weniger immer nur als Ausdruck der Heiterkeit zu faſ¬
ſen ſein wird, — ſo liegt, ſelbſt bei reichſter üppigſter Ent¬
faltung alles tonlichen Sprachvermögens, jede Art von Be¬
friedigung doch eben ſo nothwendig in ihm begründet,
als dieſe Befriedigung rein willkürlich und in Wahrheit
deshalb unbefriedigend ſein muß, wenn jener ſicher be¬
gränzte Ausdruck ſchließlich zu den Stürmen unendlicher
Sehnſucht nur ſo hinzutritt. Der Uebergang aus einer
unendlich erregten, ſehnſüchtigen Stimmung zu einer freu¬
dig befriedigten kann nothwendig nicht anders ſtattfinden,
als durch Aufgehen der Sehnſucht in einem Gegenſtande.
Dieſer Gegenſtand kann, dem Charakter unendlichen Seh¬
nens gemäß, aber nur ein endlich, ſinnlich und ſittlich genau
ſich darſtellender ſein. An einem ſolchen Gegenſtande
findet jedoch die abſolute Muſik ihre ganz beſtimmten
Gränzen; ſie vermag, ohne die willkürlichſten Annahmen,
nun und nimmermehr den ſinnlich und ſittlich beſtimmten
Menſchen aus ſich allein zur genau wahrnehmbaren, unter¬
ſcheidenden Darſtellung zu bringen; ſie iſt, in ihrer unend¬
lichſten Steigerung, doch immer nur Gefühl; ſie tritt im
Geleite der ſittlichen That, nicht aber als That ſelbſt
ein; ſie kann Gefühle und Stimmungen neben einander
ſtellen, nicht aber nach Nothwendigkeit eine Stimmung
aus der andern entwickeln; — ihr fehlt der moraliſche
Wille.
Welche unnachahmliche Kunſt wandte Beethoven in
ſeiner C-moll-Symphonie nicht auf, um aus dem Ocean
unendlichen Sehnens ſein Schiff nach dem Hafen der Er¬
füllung hinzuleiten? Er vermochte es, den Ausdruck ſeiner
Muſik bis faſt zum moraliſchen Entſchluſſe zu ſteigern,
dennoch aber nicht ihn ſelbſt auszuſprechen; und nach jedem
Anſatze zum Willen fühlen wir uns, ohne ſittlichen Anhalt,
von der Möglichkeit beängſtigt, eben ſo gut, als zum Sieg,
auch zum Rückfall in das Leiden geführt zu werden; — ja
dieſer Rückfall muß uns faſt nothwendiger als der moraliſch
unmotivirte Triumph dünken, — der — nicht als noth¬
wendige Errungenſchaft, ſondern als willkürliches Gnaden¬
geſchenk — uns ſittlich, wie wir auf das Sehnen des
Herzens es verlangen, daher nicht zu erheben und zu be¬
friedigen vermag.
Wer fühlte ſich von dieſem Siege aber wohl unbe¬
friedigter als Beethoven ſelbſt? Gelüſtete es ihn nach
einem zweiten dieſer Art? Wohl das gedankenloſe Heer
der Nachahmer, die aus glorioſem Dur-Jubel, nach aus¬
geſtandenen Moll-Beſchwerden ſich unaufhörliche Siegesfeſte
bereiteten, — nicht aber den Meiſter ſelbſt, der in ſeinen
Werken die Weltgeſchichte der Muſik zu ſchreiben be¬
rufen war.
Mit ehrfurchtsvoller Scheu mied er es, von Neuem
ſich in das Meer jenes unſtillbaren ſchrankenloſen Sehnens
zu ſtürzen. Zu den heitren lebensfrohen Menſchen rich¬
tete er ſeinen Schritt, die er auf friſcher Aue, am Rande
des duftenden Waldes unter ſonnigem Himmel gelagert,
ſcherzend, koſend und tanzend gewahrte. Dort unter dem
Schatten der Bäumer, beim Rauſchen des Laubes, beim
traulichen Rieſeln des Baches, ſchloß er einen beſeligenden
Bund mit der Natur; da fühlte er ſich Menſch und ſein
Sehnen tief in dem Buſen zurückgedrängt vor der Allmacht
ſüß beglückender Erſcheinung. So dankbar war er gegen
dieſe Erſcheinung, daß er die einzelnen Theile des Ton¬
werkes, das er in der ſo angeregten Stimmung ſchuf, ge¬
treu und in redlicher Demuth mit den Lebensbildern über¬
ſchrieb, deren Anſchauen in ihm es hervorgerufen hatte;
Erinnerungen aus dem Landleben nannte er
das Ganze.
Aber eben nur „Erinnerungen“ waren es auch,
— Bilder, nicht unmittelbare ſinnliche Wirklichkeit.
Nach dieſer Wirklichkeit aber drängte es ihn mit der All¬
gewalt künſtleriſch nothwendigen Sehnens. Seinen Ton¬
geſtalten ſelbſt jene Dichtigkeit, jene unmittelbar erkenn¬
bare, unleugbare, ſinnlich ſichere Feſtigkeit zu geben, wie
er ſie an den Erſcheinungen der Natur zu ſo beſeligendem
Troſte wahrgenommen hatte, — das war die liebevolle
Seele des freudigen Triebes, der uns die über Alles herr¬
liche A - dur -Symphonie erſchuf. Aller Ungeſtüm,
alles Sehnen und Toben des Herzens wird hier zum wonni¬
gen Uebermuthe der Freude, die mit bacchantiſcher Allmacht
uns durch alle Räume der Natur, durch alle Ströme und
Meere des Lebens hinreißt, jauchzend ſelbſtbewußt überall,
wohin wir im kühnen Takte dieſes menſchlichen Sphären¬
tanzes treten. Dieſe Symphonie iſt die Apotheoſe des
Tanzes ſelbſt: ſie iſt der Tanz nach ſeinem höchſten
Weſen, die ſeligſte That der in Tönen gleichſam idealiſch
verkörperten Leibesbewegung. Melodie und Harmonie
ſchließen ſich auf dem markigen Gebein des Rhythmus
wie zu feſten, menſchlichen Geſtalten, die bald mit rieſigge¬
lenken Gliedern, bald mit elaſtiſch zarter Geſchmeidigkeit,
ſchlank und üppig faſt vor unſren Augen den
Reigen ſchließen, zu dem bald lieblich, bald kühn, bald
ernſt
Zu dem feierlich daherſchreitenden Rhythmus des zweiten
Satzes erhebt ein Nebenthema ſeinen klagend ſehnſüchtigen Ge¬
ſang; an jenem Rhythmus, der unabläſſig ſeinen ſichren Schritt
durch das ganze Tonſtück vernehmen läßt, ſchmiegt ſich dieſe ver¬
langende Melodie, wie der Epheu um die Eiche, der, ohne dieſe
Umſchlingung des mächtigen Stammes, in üppiger Verlorenheit
wirr und kraus am Boden ſich hinwinden würde, nun aber, als
reicher Schmuck der rauhen Eichenrinde, an der kernigen Geſtalt
des Baumes ſelbſt ſichere unverfloſſene Geſtalt gewinnt. Wie ge¬
dankenlos iſt dieſe tief bedeutſame Erfindung Beethovens von unſren
ewig „nebenthematiſirenden“, modernen Inſtrumentalcomponiſten
ausgebeutet worden!, bald ausgelaſſen, bald ſinnig, bald jauchzend, die
unſterbliche Weiſe fort und fort tönt, bis im letzten Wirbel
der Luſt ein jubelnder Kuß die letzte Umarmung beſchließt.
Und doch waren dieſe ſeligen Tänzer nur in Tönen
vorgeſtellte, in Tönen nachgeahmte Menſchen! Wie ein
zweiter Prometheus, der aus Thon Menſchen bildete, hatte
Beethoven aus Ton ſie zu bilden geſucht. Nicht aus Thon
oder Ton, ſondern aus beiden Maſſen zugleich ſollte aber der
Menſch, das Ebenbild des Lebenſpenders Zeus erſchaffen ſein.
Waren des Prometheus Bildungen nur dem Auge darge¬
ſtellt, ſo waren die Beethovens es nur dem Ohr: nur,
wo Auge und Ohr ſich gegenſeitig ſeiner Er¬
ſcheinung verſichern, iſt aber der ganze künſt¬
leriſche Menſch vorhanden.
Aber wo fand Beethoven die Menſchen, denen er
über das Element ſeiner Muſik die Hand hätte anbieten
mögen? Die Menſchen deren Herzen ſo weit, daß er in ſie
den allmächtigen Strom ſeiner harmoniſchen Töne ſich hätte
ergießen laſſen können? Deren Geſtalten ſo markig ſchön,
das ſeine melodiſchen Rhythmen ſie hätten tragen, nicht
zertreten müßen? — Ach, nirgends her kam ihm ein
brüderlicher Prometheus zu Hülfe, der dieſe Menſchen ihm
gezeigt hätte! Er ſelbſt mußte ſich aufmachen, das
Land der Menſchen der Zukunft erſt zu ent¬
decken.
Vom Ufer des Tanzes ſtürzte er ſich abermals in jenes
endloſe Meer, aus dem er ſich einſt an dieſes Ufer gerettet
hatte, in das Meer unerſättlichen Herzensſehnens. Aber
auf einem ſtark gebautem, rieſenhaft feſt gefügtem Schiffe
machte er ſich an die ſtürmiſche Fahrt; mit ſicherer Fauſt
drückte er auf das mächtige Steuerruder: er kannte das
Ziel der Fahrt, und war entſchloſſen, es zu erreichen.
Nicht eingebildete Triumphe wollte er ſich bereiten, nicht
nach kühn überſtandenen Beſchwerden zum müßigen Hafen
der Heimath wieder zurücklaufen: ſondern die Gränzen des
Oceans wollte er ermeſſen, das Land finden, das jenſeits der
Waſſerwüſten liegen mußte.
So drang der Meiſter durch die unerhörteſten Mög¬
lichkeiten der abſoluten Tonſprache, — nicht, indem er an
ihnen flüchtig vorbeiſchlüpfte, ſondern indem er ſie voll¬
ſtändig, bis zu ihrem letzten Laute, aus tiefſter Herzens¬
fülle ausſprach, — bis dahin vor, wo der Seefahrer mit
dem Senkblei die Meerestiefe zu meſſen beginnt; wo er im
weit vorgeſtreckten Strande des neuen Continentes die
immer wachſende Höhe feſten Grundes berührt; wo er
ſich zu entſcheiden hat; ob er in den bodenloſen Ozean um¬
kehren, oder an dem neuen Geſtade Anker werfen will.
Nicht rohe Meerlaune hatte den Meiſter aber zu ſo weiter
Fahrt getrieben; er mußte und wollte in der neuen Welt
landen, denn nach ihr nur hatte er die Fahrt unter¬
nommen. Rüſtig warf er den Anker aus, und dieſer
Anker war das Wort. Dieſes Wort war aber nicht jenes
willkürliche, bedeutungsloſe, wie es im Munde des Mode¬
ſängers eben nur als Knorpel des Stimmtones hin- und
hergekäut wird; ſondern das nothwendige, allmächtige, all¬
vereinende, in das der ganze Strom der vollſten Herzens¬
empfindung ſich zu ergießen vermag; der ſichere Hafen für
den unſtet Schweifenden; das Licht, das der Nacht unend¬
lichen Sehnens leuchtet: das Wort das der erlöſte Welt¬
menſch aus der Fülle des Weltherzens ausruft, das Beet¬
hoven als Krone auf die Spitze ſeiner Tonſchöpfung ſetzte.
Dieſes Wort war: — Freude! Und mit dieſem Worte
ruft er den Menſchen zu: „Seid umſchlungen, Millio¬
nen! Dieſen Kuß der ganzen Welt!“ — Und
dieſes Wort wird die Sprache des Kunſtwerkes der
Zukunft ſein. —
Die letzte Symphonie Beethovens iſt die Er¬
löſung der Muſik aus ihrem eigenſten Elemente heraus
zur allgemeinſamen Kunſt. Sie iſt das menſchliche
Evangelium der Kunſt der Zukunft. Auf ſie iſt kein
Fortſchritt möglich, denn auf ſie unmittelbar kann nur
das vollendete Kunſtwerk der Zukunft: das allgemein¬
ſame Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den
künſtleriſchen Schlüſſel geſchmiedet hat.
So hat die Muſik aus ſich vollbracht, was keine der
anderen geſchiedenen Künſte vermochte. Jede dieſer Künſte
half ſich in ihrer öden Selbſtſtändigkeit nur durch Nehmen
und egoiſtiſches Entlehnen; und keine vermochte es daher,
ſie ſelbſt zu ſein und aus ſich das vereinigende Band für
Alle zu weben. Die Tonkunſt, indem ſie ganz ſie ſelbſt
war und aus ihrem ureigenſten Elemente ſich bewegte, ge¬
langte zu der Kraft des großartigſten, liebevollſten Selbſt¬
opfers, ſich ſelbſt zu beherrſchen, ja zu verleugnen, um den
Schweſtern die erlöſende Hand zu reichen. Sie hat als
das Herz ſich bewährt, das Kopf und Glieder verbindet;
und nicht ohne Bedeutung iſt es, daß gerade die Tonkunſt
in der modernen Gegenwart eine ſo ungemeine Ausdeh¬
nung durch alle Zweige der Oeffentlichkeit gewonnen hat.
Um über den widerſpruchvollſten Geiſt dieſer
Oeffentlichkeit ſich klar zu werden, haben wir zunächſt
aber zu beherzigen, daß keineswegs ein gemeinſames
Zuſammenwirken der Künſtlerſchaft mit der
Oeffentlichkeit, ja nicht einmal ein gemeinſames
Zuſammenwirken der Tonkünſtler ſelbſt jenen gro߬
artigen Prozeß, wie wir ihn ſoeben vorgehen ſahen, voll¬
führt hat, ſondern lediglich ein überreiches künſt¬
leriſches Individuum, das einſam den Geiſt der, in
der Oeffentlichkeit nicht vorhandenen Gemeinſamkeit in ſich
aufnahm, ja aus der Fülle ſeines Weſens, vereint mit der
Fülle muſikaliſcher Möglichkeit, dieſe Gemeinſamkeit, als
eine künſtleriſch von ihm erſehnte, ſogar erſt in ſich produzirte.
Wir ſehen, daß dieſer wundervolle Schöpfungsprozeß, —
wie er die Symphonieen Beethovens als immer geſtaltender
Lebensakt durchdringt, — von dem Meiſter nicht nur in
abgeſchiedenſter Einſamkeit vollbracht wurde, ſondern von
der künſtleriſchen Genoſſenſchaft gar nicht einmal be¬
griffen, vielmehr auf das Schmähligſte mißverſtanden
worden iſt. Die Formen, in denen der Meiſter ſein künſt¬
leriſches, weltgeſchichtliches Ringen kund gab, blieben für
die componirende Mit- und Nachwelt eben nur Formen,
gingen durch die Manier in die Mode über, und trotz
dem kein Inſtrumentalcomponiſt ſelbſt in dieſen Formen
nur noch die mindeſte Erfindungsfähigkeit kundzugeben
vermochte, verlor doch keiner den Muth, fort und fort
Symphonieen und ähnliche Stücke zu ſchreiben, ohne im
Mindeſten auf den Gedanken zu gerathen, daß die letzte
Symphonie bereits geſchrieben ſei.
Wer eigends die Geſchichte der Inſtrumentalmuſik ſeit
Beethoven zu ſchreiben ſich vorgenommen hat, wird ohne Zweifel von
einzelnen Erſcheinungen in dieſer Periode zu berichten haben, die eine
beſondere und feſſelnde Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen ganz gewiß
im Stande ſind. Wer die Geſchichte der Künſte von einem ſo weit¬
ſichtigen Standpunkte aus betrachtet, als es hier nothwendig iſt,
hat einzig an die entſcheidenden Hauptmomente in ihr ſich zu
halten; er muß unbeachtet laſſen, was von dieſen Momenten ab¬
liegt oder von ihnen ſich nur ableitet. Je unverkennbarer aber in
ſolchen einzelnen Erſcheinungen große Fähigkeit ſich kund giebt,
deſto ſchlagender beweiſen, bei der Unfruchtbarkeit ihres ganzen
Kunſttreibens überhaupt, gerade ſie, daß in ihrer beſonderen
Kunſtart, wohl in Bezug auf techniſches Verfahren, nicht aber auf
den lebendigen Geiſt etwas zu entdecken übrig geblieben iſt, wenn
einmal das in ihr ausgeſprochen wurde, was Beethoven in der
Muſik ausſprach. In dem großen allgemeinſamen Kunſtwerke der
Zukunft wird ewig neu zu erfinden ſein, nicht aber in der einzelnen
Kunſtart, ſobald dieſe — wie die Muſik durch Beethoven — be¬
reits zur Allgemeinſamkeit hingeleitet iſt, und dennoch in ihrem
einſamen Fortbilden verharrt.So haben wir
denn auch erleben müſſen daß die große Weltentdeckungs¬
fahrt Beethovens, — dieſe einmalige, durchaus unwieder¬
holbare Thatſache, wie wir ſie in ſeiner Freudenſymphonie
als letztes, kühnſtes Wagniß ſeines Genius vollbracht er¬
kennen, — in blödeſter Unbefangenheit nachträglich wieder
angetreten und ohne Beſchwerden glücklich überſtanden
worden iſt. Ein neues Genre, eine „Symphonie mit
Chören“, — weiter ſah man darin nichts! Warum ſoll
Der und Jener nicht auch eine Symphonie mit Chören
ſchreiben können? Warum ſoll nicht „Gott der Herr“ zum
Schluß aus voller Kehle gelobt werden, nachdem er gehol¬
fen hat, drei vorangehende Inſtrumentalſätze ſo geſchickt
wie möglich zu Stande zu bringen? — — So hat Co¬
lumbus Amerika nur für den ſüßlichen Schacher unſrer
Zeit entdeckt!
Der Grund dieſer widerlichen Erſcheinung liegt aber
tief im Weſen unſrer modernen Muſik ſelbſt. Die von der
Dicht- und Tanzkunſt abgelöſte Tonkunſt iſt keine den
Menſchen unwillkürlich nothwendige Kunſt mehr. Sie hat
ſich ſelbſt nach Geſetzen conſtruiren müſſen, die, ihrem
eigenthümlichen Weſen entnommen, in keiner rein menſch¬
lichen Erſcheinung ihr verwandtes, verdeutlichendes Maß
finden. Jede der anderen Künſte hielt ſich an dem Maße
der äußeren menſchlichen Geſtalt, des äußerlichen menſch¬
lichen Lebens, oder der Natur feſt, mochte es dieß unbe¬
dingt Vorhandene und Gegebene auch noch ſo willkürlich
5
entſtellen. Die Tonkunſt, die nur an dem ſcheuen, aller
Einbildungen, aller Täuſchungen fähigen Gehör ihr äußer¬
lich menſchliches Maß fand, mußte ſich abſtraktere Geſetze
bilden, und dieſe Geſetze zu einem vollſtändigen wiſſen¬
ſchaftlichen Syſteme verbinden. Dieß Syſtem war die Ba¬
ſis der modernen Muſik: auf dieſes Syſtem wurde gebaut,
auf ihm Thurm auf Thurm geſtellt, und je kühner der
Bau, deſto unerläßlicher die feſte Grundlage, — dieſe
Grundlage, die an ſich aber keineswegs die Natur war.
Dem Plaſtiker, dem Maler, dem Dichter wird in ſeinem
künſtleriſchen Geſetz die Natur erklärt; ohne inniges Ver¬
ſtändniß der Natur vermag er nichts Schönes zu ſchaffen.
Dem Muſiker werden die Geſetze der Harmonie, des Con¬
trapunktes erklärt; ſein Erlerntes, ohne daß er kein muſi¬
kaliſches Gebäude aufführen kann, iſt ein abſtraktes, wiſſen¬
ſchaftliches Syſtem; durch erlangte Geſchicklichkeit in ſeiner
Anwendung wird er Zunftgenoſſe, und von dieſem zunftge¬
nöſſiſchen Standpunkte aus ſieht er nun in die Welt der
Dinge hinein, die ihm nothwendig eine andere erſcheinen
muß, als dem unzunftgenöſſiſchen Weltkinde, — dem
Laien. Der uneingeweihte Laie ſteht nun verdutzt vor
dem künſtlichen Werke der Kunſtmuſik und vermag ſehr
richtig nichts anderes von ihm zu erfaſſen, als das allge¬
mein Herzanregende; dieß tritt ihm aus dem Wunderbaue
aber nur in der unbedingt ohrgefälligen Melodie entgegen:
alles Uebrige läßt ihn kalt oder beunruhigt ihn auf kon¬
fuſe Weiſe, weil er es ſehr einfach nicht verſteht und nicht
verſtehen kann. Unſer modernes Concertpublikum, welches
der Kunſtſymphonie gegenüber ſich warm und befriedigt
anſtellt, lügt und heuchelt, und die Probe dieſer Lüge und
Heuchelei können wir jeden Augenblick erhalten, ſobald —
wie es denn auch in den berühmteſten Conzertinſtituten
geſchieht, — nach einer ſolchen Symphonie irgend ein
modern melodiöſes Operntonſtück vorgetragen wird, wo wir
denn den eigentlichen muſikaliſchen Puls des Auditoriums
in ungeheuchelter Freude ſogleich ſchlagen hören.
Ein durch ſie bedingter Zuſammenhang unſerer
Kunſtmuſik mit der Oeffentlichkeit iſt durchaus zu leugnen:
wo er ſich kundgeben will, iſt er affektirt und unwahr,
oder bei einem gewiſſen Volkspublikum, welches ohne
Affectation von dem Draſtiſchen einer Beethovenſchen
Symphonie zuweilen ergriffen zu werden vermag, minde¬
ſtens unklar und der Eindruck dieſer Tonwerke ſicher ein
unvollſtändiger, lückenhafter. Wo dieſer Zuſammenhang
aber nicht vorhanden iſt, kann der zünftige Zuſammenhang
der Kunſtgenoſſenſchaft nur ein äußerlicher ſein; das
Wachſen und Geſtalten der Kunſt aus Innen heraus kann
nicht aus der Gemeinſchaft ſich bedingen, die eben nur eine
künſtlich ſyſtematiſche iſt, — ſondern nur in dem Einzel¬
nen, aus der Individualität des beſonderen Weſens, ver¬
5*
mag ſich ein natürlicher Geſtaltungs- und Entwickelungs¬
trieb, nach inneren unwillkürlichen Geſetzen zu bethä¬
tigen. Nur an der Eigenthümlichkeit und Fülle einer in¬
dividuellen Künſtlernatur kann derjenige künſtleriſche
Schöpfertrieb ſich nähren, der nirgends in der äußeren
Natur ſelbſt ſich Nahrung zu verſchaffen vermag; denn
nur dieſe Individualität vermag in ihrer Beſonderheit, in
ihrem perſönlichen Anſchauen, in ihrem eigenthümlichen
Verlangen Sehnen und Wollen dieſer Kunſtmaſſe den ge¬
ſtaltunggebenden Stoff zuzuführen, den ſie in der äußeren
Natur nicht findet: erſt an der Individualität dieſes
einen, beſonderen Menſchen wird die Muſik zur rein
menſchlichen Kunſt; ſie verzehrt dieſe Individualität, um
aus der Zerfloſſenheit ihres Elementes ſelbſt zur Verdich¬
tung, zur Individualität zu gelangen.
So ſehen wir denn in der Muſik, wie in den andern
Künſten — aber aus ganz andren Gründen, Manieren
oder ſogenannte Schulen meiſt nur aus der Individualität
eines beſonderen Künſtlers hervorgehen. Dieſe Schulen
waren die Zunftgenoſſenſchaften, die ſich um einen großen
Meiſter, in dem ſich das Weſen der Muſik individualiſirt
hatte, nachahmend — ja nachbetend ſammelten. So lange
nun die Muſik ihre kunſtweltgeſchichtliche Aufgabe noch
nicht gelöſt hatte, vermochten die weitausgedehnten Aeſte
dieſer Schulen, unter dieſer oder jener verwandtſchaftlichen
Befruchtung zu neuen Stämmen zu verwachſen; ſobald
aber dieſe Aufgabe von der größten aller muſikaliſchen
Individualitäten vollſtändig gelöſt war, ſobald die Ton¬
kunſt aus ihrer tiefſten Fülle durch die Kraft jener
Individualität auch die weiteſte Form zerſchlagen hatte, in
der ſie eine egoiſtiſch ſelbſtſtändige Kunſt zu ſein ver¬
mochte, — ſobald, mit einem Worte, Beethoven ſeine letzte
Symphonie geſchrieben hatte, — konnte alle muſikaliſche
Zunftgenoſſenſchaft flicken und ſtopfen, wie ſie wollte, um
einem abſoluten muſikaliſchen Menſchen zu Stande zu
bringen: eben nur ein geflickter und geſtopfter ſcheckiger
Phantaſiemenſch, kein nervig ſtämmiger Naturmenſch konnte
aus ihrer Werkſtatt mehr hervorgehen. Auf Haydn und
Mozart konnte und mußte ein Beethoven kommen; der
Genius der Muſik verlangte ihn mit Nothwendigkeit, und
ohne auf ſich warten zu laſſen, war er da; wer will nun auf
Beethoven das ſein, was dieſer auf Haydn und Mozart
im Gebiete der abſoluten Muſik war? Das größte Genie
würde hier nichts mehr vermögen, eben weil der Genius
der abſoluten Muſik ſeiner nicht mehr bedarf.
Ihr gebt Euch vergebene Mühe, zur Beſchwichtigung
Eures läppiſch-egoiſtiſchen Productionsſehnens, die ver¬
nichtende muſikweltgeſchichtliche Bedeutung der letzten Beet¬
hovenſchen Symphonie leugnen zu wollen; Euch rettet ſelbſt
Eure Dummheit nicht, durch die Ihr es ermöglicht, dieſes
Werk nicht einmal zu verſtehen! Macht was Ihr wollt;
ſeht neben Beethoven ganz hinweg, tappt nach Mozart,
umgürtet Euch mit Sebaſtian Bach; ſchreibt Symphonieen
— mit oder ohne Geſang, ſchreibt Meſſen, Oratorien —
dieſe geſchlechtsloſen Opernembryonen! — macht Lieder
ohne Worte, Opern ohne Text —: Ihr bringt nichts zu
Stande, das wahres Leben in ſich habe, — denn ſeht —
Euch fehlt der Glaube! Der große Glaube an die
Nothwendigkeit deſſen, was Ihr thut! Ihr habt nur den
Glauben der Albernheitm den Aberglauben an die Möglich¬
keit der Nothwendigkeit Eurer egoiſtiſchen Willkühr!
Beim Ueberblicke der geſchäftigen Einöde unſrer muſi¬
kaliſchen Kunſtwelt; beim Gewahren der unbedingteſten Zeu¬
gungsunfähigkeit dieſer gleichwohl ewig ſich beliebäugelnden
Kunſtmaſſe; beim Anblicke dieſes geſtaltloſen Breies, deſſen
Bodenſatz verſtockte, pedantiſche Unverſchämtheit iſt, und
aus dem (bei allem tiefſinnenden, urmuſikaliſchen Meiſter¬
dünkel, endlich doch nur gefühlslüderliche, italieniſche
Opernarien oder freche franzöſiſche Kankantanzweiſen an
das volle Tageslicht der modernen Oeffentlichkeit als künſt¬
lich deſtillirte Dünſte zu ſteigen vermögen; — kurz, bei
Erwägung dieſes vollkommenen ſchöpferiſchen Unvermögens,
ſehen wir und ohne Schreck nach dem großen vernichtenden
Schickſalsſchlage um, der dieſem ganzen, unmaßen ausge¬
breiteten Muſikkrame ein Ende mache, um Raum zu
ſchaffen dem Kunſtwerke der Zukunft; in welchem die wahre
Muſik wahrlich keine geringe Rolle zu übernehmen haben
wird, dem aber auf dieſem Boden Luft und Athem
ſchlechterdings verſagt ſind.
Soweit ich mich auch, im Verhältniß zu den andren
Kunſtarten, über das Weſen der Muſik hier verbreitet habe, (was
übrigens lediglich ſowohl in der beſonderen Eigenthümlichkeit, als
in dem, aus dieſer Eigenthümlichkeit genährten, beſonderen und
wirklich ergebnißreichen Entwickelungsgange der Muſik ſeinen Grund
hatte) ſo bin ich mir dennoch der mannigfachen Lückenhaftigkeit
meiner Darſtellung wohl bewußt; es bedürfte aber nicht eines
Buches, ſondern vieler Bücher, um das Unſittliche, Weichliche und
Niederträchtige in den Bändern des Zuſammenhanges unſrer
modernen Muſik mit der Oeffentlichkeit erſchöpfend darzulegen; um
die unſelige, gefühlsüberflüſſige Eigenſchaft der Tonkunſt zu er¬
gründen, die ſie zum Gegenſtand der Spekulation unſerer erziehungs¬
ſüchtigen „Volksverbeſſerer“ macht, welche den Honig der Muſik
zwiſchen den eſſigſauren Schweiß des mißhandelten Fabrikarbeiters,
zur einzig möglichen Linderung ſeiner Leiden, tröpfeln wollen (etwa
ſo, wie unſre Staats- und Börſenklugen bemüht ſind, die ge¬
ſchmeidigen Lappen der Religion zwiſchen die klaffenden Lücken der
polizeilichen Menſchen-Fürſorge zu ſtopfen;) — um endlich die
traurige pſychologiſche Erſcheinung zu erklären, daß ein Menſch
nicht nur feig und ſchlecht, ſondern auch dumm ſein kann, ohne
durch dieſe Eigenſchaften verhindert zu werden, ein ganz reſpektabler
Muſiker zu ſein.
Dichtkunſt.
Geſtattete es uns die Mode oder der Gebrauch, die
ächte und wahre Schreib- und Sprechart: tichten für
dichten, wieder aufzunehmen, ſo gewännen wir in den zu¬
ſammengeſtellten Namen der drei urmenſchlichen Künſte,
Tanz-, Ton- und Tichtkunſt, ein ſchön bezeichnendes
ſinnliches Bild von dem Weſen dieſer dreieinigen Schwe¬
ſtern, nämlich einen vollkommenen Stabreim, wie er un¬
ſerer Sprache urſprünglich zu eigen iſt. Bezeichnend wäre
dieſer Stabreim beſonders aber auch wegen der Stellung,
welche die „Tichtkunſt“ in ihm einnähme: als letztes Glied
des Reimes ſchlöſſe ſie nämlich dieſen erſt wirklich zum
Reime ab, indem zwei ſtabverwandte Worte erſt durch das
Hinzutreten oder Erzeugen des Dritten zum vollkommenen
Reime erhoben werden, ſo daß ohne dieſes dritte Glied die
beiden erſten nur zufällig vorhanden; mit ihm und durch
daſſelbe erſt als nothwendig dargeſtellt ſind, — wie Mann
und Weib erſt durch das von ihnen gezeugte Kind als
wirklich nothwendig bedingt erſcheinen.
Wie in dieſem Reime die Wirkung von hinten nach
vorn, von dem Schluſſe zu dem Anfange zurückgeht, ſo
ſchreitet ſie aber mit nicht minderer Nothwendigkeit eben¬
falls umgekehrt vor: Die Anfangsglieder erhalten durch
das Schlußglied wohl erſt ihre Bedeutung als Reim, das
Schlußglied ohne die Anfangsglieder iſt aber an und für
ſich gar nicht erſt denkbar. So vermag die Dichtkunſt das
wirkliche Kunſtwerk — und dieß iſt nur das ſinnlich un¬
mittelbar dargeſtellte, — gar nicht zu ſchaffen, ohne die
Künſte, denen die ſinnliche Erſcheinung unmittelbar ange¬
hört; der Gedanke, dieſes bloße Bild oder Wollen der
Erſcheinung, iſt an ſich geſtaltlos, und erſt wenn er den
Weg wieder zurückgeht, auf dem er erzeugt wurde, kann er
zur künſtleriſchen Wahrnehmbarkeit gelangen. In der
Dichtkunſt kommt ſich die Abſicht der Kunſt überhaupt
zum Bewußtſein: die anderen Kunſtarten enthalten in ſich
aber die unbewußte Nothwendigkeit dieſer Abſicht. Die
Dichtkunſt iſt der Schöpfungsprozeß, durch den das Kunſt¬
werk in das Leben tritt: aus Nichts vermag aber nur der
Gott der Chriſten etwas zu machen, — der Dichter muß das
Etwas haben, und dieſes Etwas iſt der ganze künſtleriſche
Menſch, der in der Tanz- und Tonkunſt das zum Seelen¬
verlangen gewordene ſinnliche Verlangen kundgiebt, welches
durch ſich erſt die dichteriſche Abſicht erzeugt, in ihr ſeinen
Abſchluß, in ihrer Erreichung ſeine Befriedigung findet.
Ueberall, wo das Volk dichtete, — und nur von
dem Volke oder im Sinne des Volkes, d. i. aus Noth¬
wendigkeit, kann allein wirklich gedichtet werden, — trat
auch die dichteriſche Abſicht nur auf den Schultern der
Tanz- und Tonkunſt, als Kopf des vollkommen vorhan¬
denen Menſchen, in das Leben. Die Lyrik des Orpheus
hätte die wilden Thiere ſicher nicht zu ſchweigender, ruhig
ſich lagernder Andacht vermocht, wenn der Sänger ihnen
etwa bloß gedruckte Gedichte zu leſen gegeben hätte: ihren
Ohren mußte die tönende Herzensſtimme, ihren nur nach
Fraß ſpähenden Augen der anmuthig und kühn ſich be¬
wegende menſchliche Leib der Art erſt imponiren, daß ſie
unwillkürlich in dieſen Menſchen nicht mehr nur ein Ob¬
jekt ihres Magens, nicht nur einen freſſenswerthen, ſondern
auch hörens- und ſehenswerthen Gegenſtand erkannten, ehe
ſie fähig wurden, ſeinen moraliſchen Sentenzen Auf¬
merkſamkeit zu ſchenken.
Auch das wirkliche Volksepos war keineswegs eine
etwa nur recitirte Dichtung: die Geſänge des Homeros, wie
wir ſie jetzt vorliegen haben, ſind aus der kritiſch ſondern¬
den und zuſammenfügenden Redaktion einer Zeit hervor¬
gegangen, in der das wahrhafte Epos bereits nicht mehr
lebte. Als Solon Geſetze gab und Peiſiſtratos eine poli¬
tiſche Hofhaltung einführte, ſuchte man bereits nach den
Trümmern des untergegangenen Volksepos, und richtete
ſich das Geſammelte zum Gebrauch der Lektüre her —
ungefähr wie in der Hohenſtaufenzeit die Bruchſtücke des
verlorengegangenen Nibelungenliedes. Ehe dieſe epiſchen
Geſänge zum Gegenſtande ſolcher literariſchen Sorge ge¬
worden waren, hatten ſie aber in dem Volke durch Stimme
und Gebärde unterſtützt, als leiblich dargeſtellte Kunſtwerke
geblüht, gleichſam als verdichtete, gefeſtigte, lyriſche Ge¬
ſangstänze, mit vorherrſchendem Verweilen bei der Schil¬
derung der Handlung und der Wiederholung heldenhafter
Dialoge. Dieſe epiſch-lyriſchen Darſtellungen bilden das
unverkennbare Mittelglied zwiſchen der eigentlichen älteſten
Lyrik und der Tragödie, den normalen Uebergangspunkt
von jener zu dieſer. Die Tragödie war daher das in das
öffentliche politiſche Leben eintretende Volkskunſtwerk, und
an ihrem Erſcheinen können wir ſehr deutlich das von
einander abweichende Verfahren in der Weiſe des Kunſt¬
ſchaffens des Volkes und des blos literärgeſchichtlichen
Machens der ſogannten gebildeten Kunſtwelt wahrnehmen.
Als nämlich das lebendige Epos zum Gegenſtande kritiſch-
literariſcher Vergnügungen des peiſiſtratiſchen Hofes wurde,
war dieſer im Volksleben in Wahrheit bereits verblüht,
— aber nicht etwa, weil dem Volke der Athem ausge¬
gangen, ſondern weil es das Alte bereits zu überbieten,
aus unverſiegbarer, künſtleriſcher Fülle das unvollkommenere
Kunſtwerk ſchon zu dem vollkommeneren auszudehnen ver¬
mochte. Denn während jene Profeſſoren und Literatur¬
forſcher im fürſtlichen Schloſſe an der Conſtruction
eines literariſchen Homeros arbeiteten, mit Behagen
an ihrer eigenen Unproductivität ſich dem Staunen über
ihre Klugheit hingaben, vermöge deren ſie einzig das Ver¬
lorengegangene und nicht im Leben mehr Vorhandene zu
verſtehen vermochten, — brachte Theſpis bereits ſeinen
Karren nach Athen geſchleppt, ſtellte ihn an den Mauern
der Hofburg auf, rüſtete die Bühne, betrat ſie, aus dem
Chore des Volkes herausſchreitend, und ſchilderte nicht
mehr, wie im Epos, die Thaten der Helden, ſondern
ſtellte ſie ſelbſt als dieſer Held dar.
Bei dem Volke iſt Alles Wirklichkeit und That; es
handelt, und freut ſich dann im Denken ſeines Handelns:
So jagte das heitre Volk von Athen die trübſinnigen
Söhne des kunſtſinnigen Peiſiſtratos bei einer hitzigen
Veranlaſſung zu Hof und Stadt hinaus und bedachte dann,
wie es bei dieſer Gelegenheit ein ſich ſelbſt gehörendes,
freies Volk geworden ſei; ſo ſtellte es die Bretter der
Bühne auf, ſchmückte als Tragöd ſich mit Gewand und
Maske eines Gottes oder Helden, um ſelbſt Gott oder Held
zu ſein, und die Tragödie war erſchaffen, deren Blüthe
es mit wonnigem Bewußtſein von ſeiner Schöpferkraft ge¬
noß, deren metaphyſiſchen Grund aufzuſuchen es aber der
kopfzerbrecheriſchen Spekulation unſerer heutigen Hof¬
theaterdramaturgen rückſichtslos genug allein überließ.
Die Blüthe der Tragödie dauerte genau ſo lange, als
ſie aus dem Geiſte des Volke heraus gedichtet wurde und
dieſer Geiſt eben ein wirklicher Volksgeiſt, nämlich ein
gemeinſamer, war. Als die nationale Volksgenoſſenſchaft
ſich ſelbſt zerſplitterte, als das gemeinſame Band ihrer
Religion und ureigenen Sitte von den ſophiſtiſchen Nadel¬
ſtichen des egoiſtiſch ſich zerſetzenden atheniſchen Geiſtes
zerſtochen und zerſtückt wurde, — da hörte auch das Volks¬
kunſtwerk auf: da bemächtigten ſich die Profeſſoren und
Doctoren der ehrbaren Literatenzunft des in Trümmer zer¬
fallenden Gebäudes, ſchleppten Balken und Steine beiſeit,
um an ihnen zu forſchen, zu combiniren und zu meditiren.
Ariſtophaniſch lachend ließ das Volk den gelehrten Inſecten
den Abgang ſeines Verzehrten, warf die Kunſt auf ein paar
tauſend Jahre zur Seite, und machte aus innerer Noth¬
wendigkeit Weltgeſchichte, während Jene alexandriniſchen
Oberhofbefehl Literaturgeſchichte zuſammenſtoppelten. —
Das Weſen der Dichtkunſt, nach der Auflöſung der
Tragödie und nach ihrem Ausſcheiden aus der Gemeinſam¬
keit mit der darſtellenden Tanz- und Tonkunſt, läßt ſich —
trotz der ungeheuren Anſprüche, die ſie erhob, — leicht
genug zu einer genügenden Ueberſicht darſtellen. Die ein¬
ſame Dichtkunſt — dichtete nicht mehr; ſie ſtellte nicht
mehr dar, ſie beſchrieb nur; ſie vermittelte nur, ſie gab
nicht mehr unmittelbar; ſie ſtellte wahrhaft Gedichtetes zu¬
ſammen, aber ohne das lebendige Band des Zuſammen¬
haltens; ſie regte an, ohne die Anregung zu befriedigen;
ſie reizte zum Leben, ohne ſelbſt zum Leben zu gelangen;
ſie gab den Katalog einer Bildergallerie, aber nicht die
Bilder ſelbſt. Das winterliche Geäſt der Sprache, ohne
des ſommerlichen Schmuckes des lebendigen Laubes der
Töne, verkrüppelte ſich zu den dürren, lautloſen Zeichen der
Schrift: ſtatt dem Ohre theilte ſtumm ſie ſich nun
dem Auge mit; die Dichterweiſe ward zur Schreibart
— zum Schreibeſtyl der Geiſteshauch des Dichters.
Da ſaß ſie nun, die einſame grämliche Schweſter,
hinter der qualmenden Lampe im düſtren Zimmer, —
ein weiblicher Fauſt, der über Staub und Mottenfraß
hinweg aus dem unbefriedigenden Weben und Kreuzen der
Gedanken, aus der ewigen Marter der Vorſtellung und
Einbildung, in das wirkliche Leben hinaus ſich ſehnte, um
mit Fleiſch und Bein, niet- und nagelfeſt, unter wirklichen
Menſchen als wirklicher Menſch zu gehen und zu ſtehen.
Ach! ihr Fleiſch und Bein hatte die arme Schweſter in
übergedankenvoller Gedankenloſigkeit von ſich fahren laſſen:
was ihr nun fehlte, der körperloſen Seele, konnte ſie jetzt
immer nur beſchreiben, wie ſie es von ihrem trüben
Zimmer aus, durch das Fenſter des Denkens, in der lieben
weiten Sinnenwelt leben und ſich bewegen ſah; von dem
Geliebten ihrer Jugend konnte ſie ewig nur ſchildern:
„ſo ſah er aus, ſo gebahrten ſeine Glieder, ſo blitzte ſein
Auge, ſo tönte ſeiner Stimme Klang!“ Aber all dieß
Schildern und Beſchreiben, ſo wohlgefällig ſie es auch
ſelbſt zur Kunſt erheben wollte, ſo erfindungsreich ſie ſich
auch bemühte, es in Sprach- und Schriftformen zu er¬
ſetzendem künſtleriſchem Troſte ſich zu geſtalten, — es war
doch immer nur ein eitel überflüſſiges Bemühen, die
Stillung eines Bedürfniſſes, das nur aus einem, willkür¬
lich zugezogenen, organiſchen Fehler entſprang; es war
nichts Anderes als der nothdürftig reiche Vorrath an im
Grunde widerlichen Sprachzeichen eines Stummen.
Der wirkliche geſunde Menſch, wie er in ſeiner vol¬
len leiblichen Geſtalt vor uns ſteht, beſchreibt nicht was er
will und wen er liebt, ſondern er will und liebt, und
theilt uns durch ſeine künſtleriſchen Organe die Freude
an ſeinem Wollen und Lieben mit: dieß thut er im
dargeſtellten Drama nach höchſter Fülle beſtimmt und
unmittelbar. Dem Drange nach erſetzender Schilde¬
rung, nach künſtlich vergegenſtändlichender Beſchreibung
der, von der Erſcheinung losgelöſten, Dichtkunſt,
und dem unſäglich umſtändlichen Verfahren, mit dem
ſie hier zu Werke gehen muß, haben wir einzig dieſe
millionenfache Maſſe dicker Bücher zu verdanken, durch die
ſie im Grunde nur den Jammer ihrer Unbeholfenheit hat
mittheilen wollen. Dieſer ganze undurchdringliche Wuſt
der aufgeſpeicherten Literatur iſt in Wahrheit nichts
Anderes, als das — trotz Millionen Phraſen — ewig
nicht zu Wort kommende, Jahrhunderte lang — in
Verſen und in Proſa — ſich abmühende Stammeln des,
nach ſeinem Aufgehen in der natürlichen Unmittelbarkeit
verlangenden, ſprachunfähigen Gedankens.
Dieſer Gedanke, die höchſte und bedingteſte Thätig¬
keit des künſtleriſchen Menſchen, hatte von dem warmen,
ſchönen Leibe, deſſen Sehnen ihn gezeugt und genährt, ſich
losgetrennt wie von einem hemmenden, feſſelnden Bande,
das an ſeiner unbegränzten Freiheit ihn hindere: — ſo
glaubte das chriſtliche Sehnen vom ſinnlichen Menſchen
ſich losreißen zu müſſen, um im ſchrankenloſen Himmels¬
äther zu freieſter Willkür ſich auszudehnen. Wie unab¬
lösbar jener Gedanke und dieſes Sehnen aber von dem
Weſen der menſchlichen Natur ſei, das ſollte ihnen in die¬
ſer Trennung gerade erſt kund werden: ſo hoch und luftig
ſie aufſchweben mochten, immer nur konnten ſie es in der
Geſtalt des leiblichen Menſchen. Den Körper, wie er an
die Geſetze der Schwere gebunden iſt, vermochten ſie aller¬
dings nicht mit ſich zu nehmen; wohl aber eine von ihm
abſtrahirte, dunſtig flüſſige Maſſe, die unwillkürlich Form
und Gebahren des menſchlichen Leibes wieder annahm.
So ſchwebte der dichteriſche Gedanke als menſchlich geſtal¬
tete Wolke in der Luft, die ihren Schatten ausbreitete
über das wirkliche, leibliche Erdenleben, zu dem ſie ewig
nur herabblickte und in dem ſie ſich aufzulöſen verlangen
mußte, wie aus ihm ja allein ſie ihre dunſtigen Nebel¬
lebensſäfte ſog. Die wirkliche Wolke löſt ſich auf, indem
ſie die Bedingungen ihres Daſeins der Erde wieder
zurückgiebt: als befruchtender Regen ſenkt ſie ſich auf die
Gefilde herab; dringt tief in das durſtige Erdreich hinein;
tränkt die ſchmachtenden Keime der Pflanze, die dann in
üppiger Fülle ſich dem Sonnenlichte erſchließt, — dem Lichte,
das die ſchattende Wolke zuvor der Flur entzogen hatte.
So ſoll der dichteriſche Gedanke das Leben wieder befruch¬
ten, nicht als eitle, weſenloſe Wolke zwiſchen das Leben
und dem Lichte ſich mehr lagern.
Was auf jener Höhe die Dichtkunſt gewahrte, war
eben nur das Leben: je höher ſie ſich hob, deſto überſicht¬
licher vermochte ſie es zu erſpähen; in je größerem Zuſam¬
menhange ſie es ſo aber zu erfaſſen im Stande war, deſto
lebhafter ſteigerte in ihr ſich das Verlangen, dieſen Zu¬
ſammenhang zu ergründen, gründlich zu erforſchen. So
ward die Dichtkunſt Wiſſenſchaft, Philoſophie.
Dem Drange, die Natur und die Menſchen ihrem Weſen
nach zu erkennen, verdanken wir die unendlich reiche Lite¬
ratur, deren Kern jenes gedankenhafte Dichten iſt, wie es
ſich uns in der Menſchen- und Naturkunde und in der
Philoſophie kund giebt. Je lebhafter in dieſen Wiſſen¬
ſchaften das Verlangen nach Darſtellung des Erkannten
ſich ausſpricht, deſto mehr nähern ſie ſich wieder dem künſt¬
leriſchen Dichten, und der erreichbarſten Vollendung in
der Verſinnlichung des allgemeinen Gegenſtandes ge¬
hören die herrlichen Werke aus dieſem Kreiſe der
Literatur an. Nichts Anderes vermag aber endlich
die tiefſte und allgemeinſte Wiſſenſchaft zu wiſſen, als
das Leben ſelbſt, und der Inhalt des Lebens iſt kein
anderer als der Menſch und die Natur: vollkommenſte
Verſicherung ihrer ſelbſt erhält daher die Wiſſenſchaft nur
wieder im Kunſtwerk, in dem Werke, das den Menſchen
und die Natur — ſo weit dieſe im Menſchen ſich zum
Bewußtſein gelangt — unmittelbar darſtellt. Die Er¬
füllung der Wiſſenſchaft iſt ſomit ihre Erlöſung in die
Dichtkunſt, aber in die Dichtkunſt, die in ſchweſterlicher
Gemeinſchaft mit den übrigen Künſten zum vollendeten
Kunſtwerke ſich anläßt, — und dieſes Kunſtwerk iſt kein
anderes als das Drama. —
Das Drama iſt nur als vollſter Ausdruck eines
gemeinſchaftlichen künſtleriſchen Mittheilungsverlangens
denkbar; dieſes Verlangen will ſich aber wiederum nur an
eine gemeinſchaftliche Theilnahme kundgeben. Wo ſowohl
dieſes gemeinſchaftliche Verlangen als dieſe gemeinſchaft¬
liche Theilnahme fehlt, iſt das Drama kein nothwendiges,
ſondern ein willkürliches Kunſtprodukt. Ohne daß jene
Bedingungen im Leben vorhanden waren, hat nun der
Dichter für ſich allein, im Drange nach unmittelbarer Dar¬
ſtellung des von ihm erkannten Lebens, das Drama zu
ſchaffen verſucht: ſein Schaffen mußte daher allen Mängeln
willkürlichen Verfahrens unterliegen. Genau nur in dem
Grade, als ſein Drang aus einem gemeinſchaftlichen her¬
vorging und an eine gemeinſchaftliche Theilnahme ſich aus¬
ſprechen konnte, finden wir ſeit der Wiederbelebung des
Drama's die nothwendigen Bedingungen deſſelben erfüllt,
das Verlangen, ihnen zu entſprechen, mit Erfolg belohnt.
Ein gemeinſchaftlicher Drang zum dramatiſchen
Kunſtwerke kann nur in Denjenigen vorhanden ſein, welche
gemeinſchaftlich das Kunſtwerk wirklich darſtellen: dieſe
ſind, nach unſren Begriffen, die Schauſpielergenoſſen¬
ſchaft. Solche Genoſſenſchaften ſehen wir am Schluſſe
des Mittelalters unmittelbar aus dem Volke hervorgehen:
Diejenigen, die ſpäter ſich ihrer bemeiſterten und vom
Standpunkte der abſoluten Dichtkunſt aus, ihnen das
Geſetz machten, erwarben ſich das Verdienſt, in Grund
und Boden das verdorben zu haben, was Derjenige,
der unmittelbar aus ſolch einer Genoſſenſchaft hervor¬
ging, mit ihr und für ſie dichtete, zum Stau¬
nen aller Zeiten erſchaffen hatte. Aus der innig¬
ſten, wahrhafteſten Natur des Volkes heraus dichtete
Shakeſpeare für ſeine Schauſpielgenoſſen das Drama,
das uns um ſo ſtaunenswürdiger erſcheint, als wir durch
die Macht der nackten Rede allein und ohne alle Hülfe ver¬
wandter Kunſtarten es erſtehen ſehen: nur eine Hülfe
ward ihm zu Theil, die Phantaſie ſeines Publikum'g
das mit lebhafter Theilnahme ſich der Begeiſterung
der Genoſſen des Dichters zuwandte. Ein uner¬
hörtes Genie, und eine nie wieder erſchienene Gunſt
glücklicher Umſtände, erſetzten gemeinſchaftlich, was ihnen
gemeinſchaftlich abging. Das ihnen gemeinſame Schöpfe¬
riſche war aber — das Bedürfniß, und wo dieſes in
wahrhafter, naturnothwendiger Kraft ſich äußert, da ver¬
mag der Menſch auch das Unmögliche um es zu befriedi¬
gen: aus der Armuth wird Fülle aus dem Mangel Ueber¬
fluß; die ungeſchlachte Geſtalt des ſchlichten Volks¬
komödianten ſpricht in Heldengebärden, der rauhe Klang
der Alltagsſprache wird tönende Seelenmuſik, das rohe
mit Teppichen umhangene Brettergerüſt wird zur Welt¬
bühne mit all ihren reichen Scenen. Nehmen wir dieß
Kunſtwerk aus der Fülle glücklicher Bedingungen hinweg,
ſtellen wir es außerhalb des Bereiches zeugender Kraft,
wie ſie aus dem Bedürfniſſe dieſer einen, gerade ſo
gegebenen Zeitperiode hervorging, — ſo ſehen wir aber
zu unſrer Trauer, daß die Armuth doch nur Armuth,
der Mangel doch nur Mangel war; daß Shakſpeare wohl
der gewaltigſte Dichter aller Zeiten, ſein Kunſtwerk aber
noch nicht das Werk für alle Zeiten war, — daß, nicht ſein
Genius, wohl aber der unvollendete, nur wollende, noch nicht
aber könnende künſtleriſche Geiſt ſeiner Zeit, ihn doch nur zum
Theſpis der Tragödie der Zukunft machte. Wie der
Karren des Theſpis, in dem geringen Zeitumfange der
atheniſchen Kunſtblüthe, ſich zu der Bühne des Aeſchylos
und Sophokles verhält, ſo verhält ſich die Bühne Shake¬
ſpeare's, in dem ungemeſſenen Zeitraume der allgemein¬
ſamen menſchlichen Kunſtblüthe, zu dem Theater der Zu¬
kunft. Die That des alleinigen Shakeſpeare, die ihn zu
einem allgemeinen Menſchen, zum Gott machte, iſt doch
nur die That des einſamen Beethoven, die ihn die Sprache
der künſtleriſchen Menſchen der Zukunft finden ließ: erſt
wo dieſe beiden Prometheus' — Shakſpeare und Beet¬
hoven — ſich die Hand reichen; wo die marmornen
Schöpfungen des Phidias in Fleiſch und Blut ſich bewe¬
gen werden, wo die nachgebildete Natur, aus dem engen
Rahmen an der Zimmerwand des Egoiſten, in dem wei¬
ten, von warmen Leben durchwehten, Rahmen der Bühne
der Zukunft üppig ſich ausdehnen wird, — erſt da wird,
in der Gemeinſchaft aller ſeiner Kunſtgenoſſen, auch der
Dichter ſeine Erlöſung finden. —
Auf dem weiten Wege von der Bühne Shakeſpeares zu
dem Kunſtwerke der Zukunft ſollte der Dichter ſeiner einſamen
Unſeligkeit erſt noch recht inne werden. Aus der Genoſſen¬
ſchaft der Darſteller war der dramatiſche Dichter natur¬
gemäß hervorgegangen; in thörigem Hochmuthe wollte er
ſich nun über die Genoſſen erheben, und ohne ihre Liebe,
ohne ihren Drang, ganz für ſich hinter dem Gelehrten¬
pulte das Drama Denen dictiren, aus deren freiem Dar¬
ſtellungstriebe es doch einzig nur unwillkürlich erwachſen,
und deren gemeinſamem Wollen er nur die bindende,
einigende Abſicht zuweiſen konnte. So verſtummten dem
Dichter, der den künſtleriſchen Lebensdrang beherrſchen,
nicht mehr nur ausſprechen, wollte, die zu dienenden
Sklaven erniedrigten Organe der dramatiſchen Kunſt.
Wie der Virtuos die Taſten des Klavieres auf und nie¬
derdrückt, ſo wollte der Dichter nun das künſtlich anein¬
andergefügte Schauſpielerperſonal wie ein hölzernes
Inſtrument ſpielen, aus dem man gerade nur ſeine
ſpecielle Kunſtfertigkeit hören, aus dem man nur ihn,
den ſpielenden Virtuoſen, wahrnehmen ſollte. Dem ehr¬
gierigen Egoiſten erwiderten die Taſten des Inſtrumentes
auf ihre Weiſe: je bravourwüthiger er darauf loshäm¬
merte, deſto mehr ſtockten und klapperten ſie.
Göthe zählte einſt nur vier Wochen reinen Glückes
aus ſeinem überreichen Leben zuſammen: die unſeligſten
Jahre ſeines Lebens erwähnt er nicht beſonders; wir kennen
ſie aber: — es waren die, in denen er jenes ſtockende und
verſtimmte Inſtrument ſich zu ſeinem Gebrauche herrichten
wollte. Ihn, den Gewaltigen, verlangte es, aus der laut¬
loſen Einöde kunſtliterariſchen Schaffens ſich in das leben¬
dig, klangvolle Kunſtwerk zu erlöſen. Weſſen Auge war
ſicherer und umfaſſender im Erkennen des Lebens, als das
ſeinige? Was er erſehen, geſchildert, und beſchrieben, das
wollte er nun auf jenem Inſtrumente zu Gehör bringen.
O Himmel! wie entſtellt, wie unkennbar klangen ihm ſeine
in dichteriſche Muſik gebrachten, Anſchauungen entgegen!
Was hat er mit dem Stimmhammer pochen müſſen, was
die Saiten ziehen und dehnen, bis wimmernd ſie endlich
ſprangen! — Er mußte erſehen, daß in der Welt Alles
möglich iſt, nur nicht, daß der abſtrakte Geiſt die Menſchen
regiere: wo dieſer Geiſt nicht aus dem ganzen geſunden
Menſchen herauskeimt und ſeine Blüthe entfaltet, da läßt
er ſich nicht von oben herein eingießen. Der egoiſtiſche
Dichter kann durch ſeine Abſicht mechaniſche Puppen ſich
bewegen laſſen, nicht aber aus Maſchinen wirkliche Men¬
ſchen zum Leben bringen. Von der Bühne, wo Göthe
Menſchen machen wollte, verjagte ihn endlich ein
Pudel, — Zum warnenden Beiſpiele für alles unnatür¬
liche Regieren von Oben!
Wo ein Göthe geſcheitert war, mußte es guter
Ton werden, von vorne herein ſich als geſcheitert anzuſehen:
die Dichter dichteten noch Schauſpiele, aber nicht für die
ungehobelte Bühne, ſondern für das glatte Papier. Nur
was ſo in zweiter oder dritter Qualität noch hier oder da,
der Lokalität angemeſſen, herumdichtete, gab ſich mit den
Schauſpielern ab; nicht aber der vornehme ſich ſelbſt dich¬
tende Dichter, der von allen Lebensfarben nur noch die
abſtrakte preußiſche Landesfarbe, Schwarz auf Weiß, an¬
ſtändig fand. So erſchien denn das Unerhörte: für die
ſtumme Lectüre geſchriebene Dramen!
Behalf ſich Shakeſpeare im Drange nach unmittelbarem
Leben mit dem rohen Gerüſte ſeiner Volksbühne, ſo ge¬
nügte der egoiſtiſchen Reſignation des modernen Dramati¬
kers die Buchhändlertafel, auf der er ſich lebendig todt zum
Markte auslegte. Hatte das ſinnlich erſcheinende Drama
ſich an das Herz des Volkes geworfen, ſo legte das „im
Verlag“ erſchienene Bühnenſtück ſich der Geneigtheit des
Kunſtkritikers zu Füßen. Aus einer ſklaviſchen Abhängig¬
keit in die andere ſich fügend, ſchwang ſich ſo die drama¬
tiſche Dichtkunſt — nach ihrem eitlen Wähnen — zur un¬
begränzten Freiheit auf; — dieſe läſtigen Bedingungen,
unter denen allein ein Drama in das Leben treten konnte,
durfte ſie ja nun ohne alle Umſtände über den Haufen
werfen, nur was leben will, hat der Nothwendigkeit zu
gehorchen, — was aber viel mehr als leben, nämlich
todt ſein will, das kann mit ſich machen, was es Luſt
hat: das Willkürlichſte iſt in ihm das Nothwendigſte, und
je unabhängiger von den Bedingungen der ſinnlichen Er¬
ſcheinung, deſto unabhängiger durfte die Dichtkunſt ſich
nur noch dem Sichſelbſtwollen, der abſoluten Selbſtbe¬
wunderung überlaſſen.
So war durch die Aufnahme des Drama's in die
Literatur nur eine neue Form gewonnen, in der die Dicht¬
kunſt nicht wieder ſich ſelbſt dichten konnte, vom Leben nur
den zufälligen Stoff entnehmend, den ſie willkürlich zur
einzig nothwendigen Selbſtverherrlichung benutzen durfte.
Aller Stoff, alle Form war ihr nur dazu da, einen abſtrak¬
ten Gedanken — das idealiſirte ſelbſtſüchtige liebe Ich des
Dichters dem leſenden Auge auf das Dringendſte anzu¬
empfehlen. Wie treulos vergaß ſie dabei, daß ſie alle, auch
die complicirteſten ihrer Formen, doch nur dieſem hoch¬
müthig verachteten himmliſchen Leben erſt zu verdanken
hatte! von der Lyrik durch alle Dichtungsformen hindurch
bis zu dieſem literariſchen Drama, giebt es nicht eine ein¬
zige, die nicht der leiblichen Unmittelbarkeit des Volks¬
lebens, als bei weitem reinere und edlere Form entblüht
wäre, als ſie unter der Entſtellung durch die unleibliche
Dichtkunſt ſich kund zu geben vermocht hätte. Was ſind
alle die Ergebniſſe des ſcheinbar ſelbſtſtändigen Geſtaltens
der abſtrakten Dichtkunſt in Bezug auf Sprache, Vers und
Ausdruck, gegen die immer friſch gezeugte Schönheit,
Mannigfaltigkeit und Vollendung der Volkslyrik, welche
die Forſchung jetzt in höchſtem Reichthume erſt wieder
unter Schutt und Trümmer hervorzuziehen bemüht iſt?
Dieſe Volkslieder ſind ohne Tonweiſe aber gar nicht zu
denken: was aber nicht nur geſprochen, ſondern auch ge¬
ſungen wurde, gehörte dem unmittelbar ſich kundgeben¬
den Leben an; wer ſpricht und ſingt, der drückt zugleich
auch durch Gebärde und Bewegung ſeine Gefühle
aus, — wenigſtens wer dies unwillkürlich thut, wie das
6
Volk, — allerdings nicht der geſchulte Zögling unſrer
Geſangsprofeſſoren. — Wo die ſo geartete Kunſt blüht,
da erfindet ſie von ſelbſt aber auch immer neue Wen¬
dungen des Ausdrucks, neue Formen der Dichtung, und
die Athener lehren uns ja, wie im Fortſchritt dieſer
Selbſtbildung das höchſte Kunſtwerk, die Tragödie geboren
werden konnte. — Dagegen muß nun die vom Leben ab¬
gewandte Dichtkunſt ewig unfruchtbar bleiben; all ihr Ge¬
ſtalten kann immer nur das der Mode, das des willkür¬
lichen Combinirens — nicht Erfindens — ſein; unglück¬
lich in jeder Berührung mit der Materie, — wendet ſie
ſich daher immer wieder nur zum Gedanken zurück,
dieſem raſtloſem Triebrade des Wunſches, des ewig be¬
gehrenden — ewig ungeſtillten Wunſches, der — die ein¬
zig mögliche Befriedigung in der Sinnlichkeit von ſich
abweiſend — ewig nur ſich wünſchen, ewig nur ſich ver¬
zehren muß.
Aus dieſem Zuſtande der Unſeligkeit heraus vermag das
gedichtete Literaturdrama ſich nur dadurch wieder zu erlöſen,
daß es zum lebendigen wirklichen Drama wird. Der Weg
dieſer Erlöſung iſt wiederholt und auch in neuerer Zeit
oft eingeſchlagen worden, — von Manchem aus redlicher
Sehnſucht, von vielen leider aber auch nur aus keinem an¬
deren Grunde, als weil die Bühne unvermerkt ein ein¬
träglicherer Markt, als die Buchhändlertafel geworden war.
Die Oeffentlichkeit, möge ſie auch in noch ſo
großer geſellſchaftlicher Entſtellung ſich zeigen, hält ſich
immer nur an das Unmittelbare und ſinnlich Wirkliche; ja
die Wechſelwirkung des Sinnlichen macht im Grunde nur
das aus, was wir Oeffentlichkeit nennen. Hatte die hoch¬
müthig unfähige Dichtkunſt ſich von dieſer unmittelbaren
Wechſelwirkung zurückgezogen, ſo hatten, in Bezug auf das
Drama, die Schauſpieler ſich dieſer allein bemächtigt.
Sehr richtig gehört die theatraliſche Oeffentlichkeit eigent¬
lich auch nur der darſtellenden Genoſſenſchaft allein. Wo
aber Alles ſich egoiſtiſch abſonderte, wie der Dichter von
dieſer Genoſſenſchaft, der er der Sache gemäß urſprünglich
unmittelbar angehört, — da trennte auch die Genoſſen¬
ſchaft das gemeinſchaftliche Band, das ſie einzig zu einer
künſtleriſchen machte. Wollte der Dichter unbedingt nur
ſich auf der Bühne ſehen, — beſtritt er ſomit von vorn
herein der Genoſſenſchaft ihre künſtleriſche Bedeutung, —
ſo löſte aus ihr mit weit natürlicherer Berechtigung, auch
der einzelne Darſteller ſich los, um unbedingt wiederum
nur ſich geltend zu machen — und hierin ward er vom
Publikum, das unwillkürlich ſich immer nur an die abſo¬
lute Erſcheinung hält, mit aufmunterndſter Beiſtimmung
unterſtützt. — Die Schauſpielkunſt wurde hierdurch zur
Kunſt des Schauſpielers, zur perſönlichen Virtuoſität,
d. h. derjenigen egoiſtiſchen Kunſtäußerung, die unbedingt
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wiederum nur ſich, die abſolute Glorie der Perſönlichkeit,
will. Der gemeinſame Zweck, durch welchen einzig das
Drama zum Kunſtwerke wird, lag dem perſönlichen Vir¬
tuoſen bis zur unkenntlichſten Ferne ab, und was die
Schauſpielkunſt als eine gemeinſame, auf den Geiſt der
Gemeinſamkeit einzig begründete, ganz von ſelbſt erzeugen
muß — das dramatiſche Kunſtwerk das will dieſer eine
Virtuoſe, oder die Zunft der Virtuoſen, gar nicht, ſon¬
dern ſich, das ſeiner perſönlichen Kunſtfertigkeit ſpeciell
Entſprechende, das ſeine Eitelkeit einzig Lohnende allein.
Hundert der fähigſten Egoiſten, wenn ſie alle auf einer
Stelle verſammelt ſind, vermögen aber nicht das zu voll¬
bringen, was nur das Werk der Gemeinſamkeit ſein kann,
wenigſtens nicht eher, als bis ſie eben aufhören, Egoiſten
zu ſein; ſo lange ſie dieß aber ſind, iſt ihre, unter äuße¬
rem Zwange einzig zu ermöglichende, gemeinſchaftliche
Wirkſamkeit nur die des gegenſeitigen Neides und Haſſes,
— und oft gleicht daher unſre Schaubühne dem Kampf¬
platze der beiden Löwen, auf dem wir nur noch die
Schwänze erblicken, bis auf welche dieſe ſich gegenſeitig auf¬
gefreſſen haben.
Nichts deſto weniger iſt dennoch da, woſelbſt nur
dieſe Virtuoſität des Darſtellers für das Publikum
den Begriff der Schauſpielkunſt ausmacht, — wie in den
meiſten franzöſiſchen Theatern und ſelbſt in der Opernwelt
Italiens, eine natürlichere Aeußerung des künſtleriſchen Dar¬
ſtellungstriebes vorhanden, als dort, wo der abſtrakte
Dichter dieſes Triebes zu ſeiner Selbſtverherrlichung ſich
bemächtigen will. Aus jener Virtuoſenwelt kann, wie die
Erfahrung ſo oft bewieſen hat, bei einer der künſt¬
leriſchen Befähigung entſprechenden, geſunden Herzens¬
natur ein dramatiſcher Darſteller hervorgehen, der durch
eine einzige Leiſtung uns das höchſte Weſen der dramatiſchen
Kunſt deutlicher zu erſchließen vermag, als hundert Kunſt¬
dramen für ſich. Wo hingegen die dramatiſche Kunſtpoeſie
auch für die lebendige Darſtellung allein experimentiren
will, vermag ſie nur Virtuoſen und Publikum vollends
ganz zu verwirren, oder mit allem Eigendünkel ſich in die
ſchmäligſte Abhängigkeit zu begeben. Sie bringt entweder
nur todtgeborene Kinder zu Welt, und das iſt ihre beſte
Thätigkeit, denn hiermit ſchadet ſie doch nichts, — oder
ſie impft ihre ureigene Krankheit des Wollens und
Nichtkönnens wie eine verzehrende Peſt den noch halb¬
wegs geſunden Gliedern der Schauſpielkunſt ein. Jeden¬
falls muß ſie nach den zwangvollen Geſetzen der abhängig¬
ſten Unſelbſtſtändigkeit verfahren: ſie muß ſich, um nur
irgend welche Form zu gewinnen, überall dahin umſehen,
wo dieſe Form irgendwo aus der wirklich lebendigen
Schauſpielkunſt hervorgegangen war. Dieſe wird denn bei
uns in der neueſten Zeit faſt nur den Schülern Moli è re's
entnommen.
Bei dem lebhaften, jeder Abſtraction im Grunde
immer feindlichen Volke der Franzoſen, lebte die Schau¬
ſpielkunſt — ſoweit ſie nicht vom Einfluſſe des Hofes be¬
herrſcht wurde — meiſt von ſich ſelbſt: was unter all dem
übermächtigen, kunſtfeindlichen Einwirken unſerer allgemei¬
nen ſocialen Zuſtände aus der modernen Schauſpielkunſt
Geſundes ſich entwickeln konnte, haben wir, ſeit dem Er¬
ſterben des ſhakeſpeareſchen Drama's einzig den Franzoſen
zu verdanken. Aber auch bei ihnen hat — unter dem
Drucke des, allem Gemeinſamen tödtlichen, herrſchenden
Weltgeiſtes, deſſen Weſen der Luxus und die Mode iſt, —
das wirkliche, vollendete, dramatiſche Kunſtwerk auch nicht
nur annähernd ſich erzeugen können: das einzige Gemein¬
ſame in der modernen Welt, der Spekulations- und
Schachergeiſt, hat auch bei ihnen alle Keime der wahren
dramatiſchen Kunſt in egoiſtiſcher Zerſpaltung gehalten.
Kunſtformen, die dieſem kümmerlichen Weſen entſprechen,
hat die franzöſiſche Dramatik allerdings aber gewonnen:
bei aller Unſittlichkeit des Inhaltes, ſpricht ſich ungemeines
Geſchick in ihnen aus, dieſen Inhalt ſo ſchmackhaft wie
möglich zu machen und immer haben ſie das Auszeichnende
daß ſie aus dem Weſen gerade der franzöſiſchen Schau¬
ſpielkunſt, alſo aus dem Leben, wirklich hervorgegangen
ſind.
Unſere deutſchen Dramatiker, aus dem willkürlichen
Inhalte ihrer dichteriſchen Abſicht nach Erlöſung in
irgend einer nothwendig erſcheinenden Form ſich ſehnend,
ſtellten ſich, da ſie nichts zu bilden vermochten, dieſe noth¬
wendige Form willkürlich dar, indem ſie nach dem franzöſi¬
ſchen Schema griffen, ohne zu bedenken daß dieſes einem
ganz verſchiedenen, wirklichen Bedürfniſſe entſprungen
war. Wer nicht aus Nothwendigkeit verfährt, hat aber
die Wahl nach Belieben. So waren auch unſere Drama¬
tiker mit der Annahme der franzöſiſchen Form durchaus
noch nicht ganz befriedigt: es fehlte zum Gebräu noch dieß
und jenes, — etwas ſhakeſpeareſche Verwegenheit, etwas
ſpaniſcher Pathos, und als Zuthat Ueberreſte ſchilleriſcher
Idealität oder iffländiſcher Bürgergemüthlichkeit; dieß Alles
nun nach franzöſiſchem Rezepte unerhört pfiffig angemacht,
mit journaliſtiſcher Bedachtſamkeit auf den neueſten Skan¬
dal zugerichtet, dem beliebteſten Schauſpieler — da der
Dichter nun einmal ſelbſt das Komödienſpielen nicht er¬
lernt hat, — die Rolle womöglich wiederum eines Dich¬
ters zugetheilt, — dieß und jenes noch mit hinzu, wie es
gerade die Umſtände fügen, —: ſo haben wir das modernſte
dramatiſche Kunſtwerk, den in Wahrheit ſich ſelbſt,
d. h. ſeine handgreifliche Unfähigkeit dichtenden
Dichter.
Genug von dem beiſpielloſen Jammer unſrer
theatraliſchen Dichtkunſt, mit der wir im Grunde hier
allein doch nur zu thun haben, da wir die eigentliche
Literaturpoeſie durchaus nicht in den Kreis unſrer nähern
Betrachtung zu ziehen haben; denn wir ſuchen im Hinblick
auf das Kunſtwerk der Zukunft die Dichtkunſt da auf, wo
ſie lebendige, unmittelbare Kunſt werden will, und dieß
iſt im Drama, nicht aber da, wo ſie auf dieſes Lebendig¬
werden verzichtet, und — bei aller Fülle der Gedanken
— die Bedingungen ihres eigenthümlichen Schaffens, doch
nur der troſtloſen künſtleriſchen Unfähigkeit unſres öffent¬
lichen Lebens entnimmt. Die Literaturpoeſie iſt der
einzige — traurige und unvermögende! — Troſt des,
nach dichteriſchem Genuß verlangenden, einſamen Menſchen
der Gegenwart: der Troſt, den ſie gewährt, iſt aber in
Wahrheit nur das geſteigerte Verlangen nach dem
Leben, nach dem lebendigen Kunſtwerke; denn der Trieb
dieſes Verlangens iſt ihre eigene Seele, — wo er ſich
nicht ausſpricht, nicht offen und mit Macht ſich kundgiebt,
da iſt die letzte Wahrheit auch aus dieſer Poeſie ver¬
ſchwunden: je redlicher und ungeſtümer er jedoch in ihr
lebt, deſto wahrhaftiger iſt aber auch das Zugeſtändniß
ihrer eigenen Troſtloſigkeit in ihr ausgeſprochen, und als
einzig mögliche Befriedigung ihres Verlangens ihre
Selbſtvernichtung, ihr Aufgehen in das Leben,
in das lebendige Kunſtwerk der Zukunft von ihr
bekannt.
Erwägen wir, wie dieſem warmen, ſchönen Ver¬
langen der Literaturpoeſie einſt entſprochen werden müſſe,
und überlaſſen wir während deſſen unſere moderne drama¬
tiſche Dichtkunſt den glorreichen Triumphen ihrer ſtupiden
Eitelkeit!
6.
Bisherige Verſuche zur Wiedervereinigung der drei menſchlichen
Kunſtarten.
Bei überſichtlicher Wahrnehmung des Gebahrens
jeder der drei rein menſchlichen Kunſtarten nach ihrem Los¬
reißen aus dem urſprünglichen Vereine, mußten wir deut¬
lich erkennen, daß genau da, wo die eine Kunſtart die
andere berührte, wo die Fähigkeit der andern für die der
einen eintrat, ſie auch ihre natürliche Gränze fand: über
dieſe Gränze vermochte ſie ſich von dieſer Kunſtart wieder
bis zu der dritten, und durch dieſe dritte wieder bis zu ſich
ſelbſt, bis zu ihrer beſonderſten Eigenthümlichkeit zurück,
auszudehnen, — jedoch nur nach den natürlichen Geſetzen
der Liebe, der Hingebung an das Gemeinſame durch die
Liebe. Wie der Mann durch die Liebe in die Natur des
Weibes ſich verſenkt, um durch dieſes in ein Drittes, das
Kind aufzugehen, — in dem Dreivereine dennoch aber
nur ſich, in ſich jedoch ſein erweitertes, ergänztes und
vervollſtändigtes Weſen liebend wiederfindet: ſo ver¬
mag jede der einzelnen Kunſtarten, im vollkommenen
gänzlich befreiten Kunſtwerke ſich ſelbſt wiederzufinden,
ja ſich ſelbſt, ihr eigenſtes Weſen, als zu dieſem Kunſt¬
werke erweitert anzuſehen, ſobald ſie auf dem Wege
wirklicher Liebe, durch Verſenkung in die verwandten
Kunſtarten, wieder zu ſich zurückkommt, und den
Lohn ihrer Liebe in dem vollkommenen Kunſtwerke
findet, zu dem ſie ſelbſt ſich erweitert weiß. Nur die Kunſt¬
art, die das gemeinſame Kunſtwerk will, erreicht ſomit
aber auch nur die höchſte Fülle ihres eigenen beſonderen
Weſens; wogegen diejenige, die nur ſich, ihre höchſte
Fülle ſchlechtweg aus ſich allein will, bei allem Luxus, den
ſie auf ihre einſame Erſcheinung verwendet, arm und
unfrei bleibt. Der Wille zum gemeinſamen Kunſtwerke
entſteht aber in jeder Kunſtart unwillkürlich, unbewußt
von ſelbſt, ſobald ſie an ihren Schranken angelangt, der
entſprechenden Kunſtart ſich giebt, nicht aber von ihr zu
nehmen ſtrebt: ganz ſie ſelbſt bleibt ſie, wenn ſie
ganz ſich ſelbſt giebt: zu ihrem Gegentheile muß ſie
aber werden, wenn ſie endlich ganz von der andern ſich nur
erhalten muß: „wes' Brot ich eſſe, des' Lied ich ſinge.“
Wenn ſie aber ganz einer andren ſich giebt ſo bleibt ſie
auch ganz in ihr enthalten, vermag ganz aus ihr in die
dritte überzugehen, um ſo im gemeinſamen Kunſtwerke
in höchſter Fülle ganz ſie ſelbſt wiederum zu ſein. —
Von allen Kunſtarten bedurfte, ihrem innerſten
Weſen nach, keine der Vermählung mit einer andern ſo
ſehr als die Tonkunſt, weil ſie in ihrer ſonderlichſten
Eigenthümlichkeit eben nur wie ein flüſſiges Natur¬
element zwiſchen den, beſtimmter und individueller ſich
gebenden, Weſenheiten beider anderen Kunſtarten aus¬
gegoſſen iſt. Nur durch die Rhythmen des Tanzes, oder
nur als Trägerin des Wortes, vermochte ſie aus ihrem
unendlich verſchwimmenden Weſen zu genau unterſcheid¬
barer, charakteriſtiſcher Körperlichkeit zu gelangen. Keine der
anderen Kunſtarten vermochte ſich aber unbedingt liebevoll
in das Element der Tonkunſt zu verſenken: jede ſchöpfte
nur aus ihm ſo weit, als es ihr zu einem beſtimmten egoiſti¬
ſchen Zwecke dienlich ſchien; jede nahm nur von ihr, gab
ſich ihr aber nicht, — ſo daß die Tonkunſt, die aus Lebens¬
bedürfniß überall hin die Hand ausſtreckte, ſich endlich
ſelbſt nur noch durch Nehmen zu erhalten ſuchen mußte.
So verſchlang ſie zunächſt das Wort, um nach Belieben
mit ihm zu machen, was ſie verlangte: verfügte ſie nun
über dieſes Wort in der chriſtlichen Muſik nach unbeding¬
ter Gefühlswillkür, ſo verlor ſie aber auch an ihm, ſo
zu ſagen, das Knochenmark, deſſen ſie, im Sehnen
nach Menſchwerdung, zu der Flüſſigkeit ihres Blutes
bedurfte, und an dem ſie ſich zu kernigem Fleiſche
hätte verdichten können. Ein nothwendiges neues,
kräftiges Erfaſſen des Wortes, um an ihm ſich zu
geſtalten, gab ſich in der proteſtantiſchen Kirchen¬
muſik kund und drängte bis zum kirchlichen Drama in
der Paſſionsmuſik, in der das Wort nicht mehr
bloßer verſchwimmender Gefühlsausdruck war, ſondern
zum Handlung zeichnenden Gedanken ſich erkräftigte.
In dieſen kirchlichen Dramen nöthigte die, immer noch
vorherrſchende und Alles nur für ſich conſtruirende,
Muſik, gleichſam die Dichtkunſt, ſich ernſtlich und
männlich mit ihr zu befaſſen: die feige Dichtkunſt
ſchien aber wie vor dieſer Zumuthung zu erſchrecken; es
dünkte ihr angemeſſen, dem gewaltig anſchwellenden Unge¬
heuer der Muſik, wie um es zu begütigen, einige zu
erübrigende Biſſen von ſich zum Fraße hinzuwerfen, nur
aber um, wiederum egoiſtiſch gebietend, in ihrer beſonderen
Sphäre, der Literatur, ganz und ungeſtört ſie ſelbſt blei¬
ben zu dürfen. Dieſer eigenſüchtig feigen Stimmung der
Dichtkunſt zur Tonkunſt haben wir die naturwidrige Aus¬
geburt des Oratorium's zu verdanken, wie es ſich aus
der Kirche endlich in den Conzertſaal verpflanzte. Das
Oratorium will Drama ſein, aber genau nur ſo weit,
als es der Muſik erlaubt die unbedingte Hauptſache, die
einzig tonangebende Kunſtart im Drama zu ſein. Wo die
Dichtkunſt für ſich das Alleinige ſein wollte, wie im reci¬
tirten Schauſpiele, da nahm ſie die Muſik in ihren Dienſt
zu Nebenzwecken, zu ihrer Bequemlichkeit, wie z. B. zur
Unterhaltung der Zuſchauer in den Zwiſchenakten, oder
auch zur Steigerung der Wirkung gewiſſer ſtummer Hand¬
lungen, wie eines behutſamen Spitzbubeneinbruches und
dergleichen mehr. Nicht minder geſchah dieß von der
Tanzkunſt, wenn ſie ſtolz zu Roſſe ſaß und von der Muſik
ganz ergebenſt den Steigbügel ſich halten ließ. Gerade
ſo machte es nun die Tonkunſt im Oratorium mit der
Dichtkunſt: ſie ließ ſich von ihr eben nur die Steine zu
Haufen tragen, aus denen ſie nach Belieben ihr Gebäude
aufführen konnte. Zur unverſchämteſten Aeußerung ihres
immer anſchwellenden Hochmuthes beſtimmte ſich die
Muſik aber endlich in der Oper. Hier nahm ſie den
Tribut der Dichtkunſt bis auf den letzten Heller in An¬
ſpruch: die Poeſie ſollte ihr nicht mehr nur Verſe machen,
nicht mehr wie im Oratorium, menſchliche Charaktere und
dramatiſche Zuſammenhänge nur andeuten um ihr Anhalt
zur Ausbreitung zu geben, — ſondern ſie ſollte ihr gan¬
zes Weſen, Alles was ſie irgend vermochte, vollſtändige
Charaktere und complicirte dramatiſche Handlungen, kurz
das ganze gedichtete Drama ſelbſt ihr zu Füßen legen,
um nach Belieben mit dieſem Huldigungsgeſchenke machen
zu dürfen, was ihre Laune ihr eingäbe.
Die Oper, als ſcheinbare Vereinigung aller drei
verwandten Kunſtarten, iſt der Sammelpunkt der eigen¬
ſüchtigſten Beſtrebungen dieſer Schweſtern geworden. Un¬
leugbar ſpricht die Tonkunſt in ihr das ſuprematiſche Recht
der Geſetzgebung an, ja ihrem — aber egoiſtiſch geleiteten
— Drange zum eigentlichen Kunſtwerke, dem Drama,
haben wir die Oper lediglich zu verdanken. In dem Grade,
als Tanz- und Dichtkunſt ihr aber nur dienen ſollen,
regt ſich, aus den Gegenden der egoiſtiſchen Geſtaltungen
dieſer her, jedoch ein beſtändiges Reaktionsgelüſt gegen
die herrſchſüchtige Schweſter auf. Dicht- und Tanzkunſt
hatten ſich auf ihre Weiſe das Drama beſonders ange¬
eignet: Schauſpiel und pantomimiſches Ballet waren
die beiden Territorien, zwiſchen denen ſich die Oper nun
ergoß, von beiden in ſich aufnehmend, was ihr, zur egoiſti¬
ſchen Selbſtverherrlichung der Muſik unerläßlich ſchien.
Schauſpiel und Ballet waren ſich aber ihrer gewaltſamen
Sonderſelbſtſtändigkeit ſehr wohl bewußt: ſie liehen ſich der
Schweſter nur wider Willen her und jedenfalls nur mit
dem tückiſchen Vorſatze, bei irgend geeigneter Gelegenheit
in vollſter Breite ſich allein geltend zu machen. Sowie die
Dichtkunſt den pathetiſchen, der Oper allein zuſagenden
Gefühlsboden verläßt, und ihr Netz der modernen Intrigue
auswirft, ſo iſt Schweſter Muſik gefangen und muß,
wollend oder nicht, ohne an ihnen haften zu können, die
öden Spinnenfäden drehen und wenden, die die raffinirende
Theaterſtückmacherei allein zum Gewebe verbinden kann:
da ſchwirrt und zwitſchert ſie denn wohl noch, wie in der
franzöſiſchen Pfiffigkeitsoper, bis ihr endlich mißmuthig
der Athem ausgeht, und Schweſter Proſa ganz allein ſich
nur noch breit macht. Die Tanzkunſt hingegen darf nur
irgend welche Lücke im Athemholen der geſetzgebenden
Sängerin erſehen, irgend welches Erkalten des Lavaſtromes
muſikaliſchen Gefühlserguſſes, — ſogleich ſchwingt ſie ihre
Beine bis zu ihrer Ausdehnung über die ganze Bühne,
tanzt die Schweſter Muſik von der Scene hinweg in das
einzige Orcheſter noch hinunter, dreht, ſchwenkt und wirbelt
ſich ſo lange, bis das Publikum den Wald vor lauter Bäu¬
men, d. h. die Oper vor lauter Beinen gar nicht mehr ſieht.
So wird die Oper zum gemeinſamen Vertrage des
Egoismus der drei Künſte. Die Tonkunſt, um ihre Su¬
prematie zu retten, verträgt mit der Tanzkunſt auf ſo und
ſo viele Viertelſtunden, die ihr ganz allein gehören
ſollen: in dieſer Zeit ſoll die Kreide auf den Schuhſohlen
die Geſetze der Bühne ſchreiben, nach dem Syſteme der
Beinſchwingungen, nicht aber dem der Tonſchwingungen,
Muſik gemacht werden; auch ſoll den Sängern ausdrücklich
verboten ſein, nach irgend welcher anmuthiger Leibesbe¬
wegung ſich gelüſten zu laſſen, — dieſe ſoll nur dem
Tänzer gehören, wogegen der Sänger, auch ſchon zur
Conſervirung ſeiner Stimme, zur vollſtändigſten Ent¬
haltung von mimiſcher Gebärdenluſt verpflichtet ſein ſoll.
Mit der Dichtkunſt ſetzt ſie aber zu deren höchſter Befrie¬
digung feſt, daß man auf der Bühne gar keinen Ge¬
brauch von ihr machen, ja ihre Verſe und Worte
möglichſt gar nicht einmal ausſprechen wolle, um ſie
dafür, als gedrucktes und nothwendig nachzuleſendes
Textbuch, ganz wieder Literatur, ſchwarz auf weiß, ſein zu
laſſen. So iſt denn der edle Bund geſchloſſen, jede Kunſt¬
art wieder ſie ſelbſt, und zwiſchen Tanzbein und Textbuch
ſchwimmt die Muſik wieder der Länge und Breite nach wie
und wohin ſie Luſt hat. — Das iſt die moderne Frei¬
heit im getreuen Abbilde der Kunſt! —
Nach ſo ſchmäligem Vertrage mußte aber die Ton¬
kunſt, ſo glänzend ſie auch in der Oper zu herrſchen ſchien,
dennoch ihrer demüthigſten Abhängigkeit inne werden.
Ihr Lebenshauch iſt die Herzensliebe; will dieſe auch nur
ſich, nur ihre Befriedigung, ſo iſt ſie zu dieſer Befriedigung
eines Gegenſtandes nicht nur bloß eben ſo bedürftig, als
das Sehnen der Sinnen- und Verſtandesliebe, ſondern ſie
empfindet dieß Bedürfniß glühender und drängender als
jene. Die Stärke ihres Bedürfniſſes giebt ihr den Muth
der Selbſtaufopferung, und hat Beethoven dieſen Muth
in einer kühnſten That ausgeſprochen, ſo haben Tondichter,
wie Gluck und Mozart nicht minder durch herrliche,
liebereiche Thaten dieſe Freude kundgegeben, mit der der
Liebende in ſeinen Gegenſtand ſich verſenkt, um aufzuhören,
er ſelbſt zu ſein, zum Lohn dafür aber unendlich mehr zu
werden. Da, wo das von vorn herein nur für egoiſtiſche
Kundgebung der einzelnen Künſte zugerichtete Bauwerk der
Oper nur irgend die Bedingungen in ſich aufzeigte, die das
volle Aufgehen der Muſik in die Dichtkunſt ermöglichen,
haben dieſe Meiſter die Erlöſung ihrer Kunſt zum gemein¬
ſamen Kunſtwerke vollbracht. Der unabwendbare ſchädliche
Einfluß herrſchender ſchlechter Zuſtände erklärt uns aber
die große Vereinzelung jener ſchönen Thaten, ſowie die
Vereinzelung der Tondichter ſelbſt, die ſie vollbrachten;
was unter gewiſſen glücklichen, doch aber faſt nur zu¬
fälligen Umſtänden dem Einzelnen möglich war, giebt der
Maſſe der Erſcheinungen noch lange kein Geſetz: in dieſer
erkennen wir aber nur das zerſplitterte egoiſtiſche Walten
der Willkür, das ja das Verfahren aller bloßen Nachahmung
iſt, weil ſie nicht aus ſich ſelbſt ſchafft. Gluck und Mo¬
zart, ſowie die ſehr wenigen von ihnen verwandten Ton¬
dichter
Unter dieſen iſt aber namentlich der Meiſter der franzöſiſchen
Schule aus dem Anfange dieſes Jahrhunderts zu gedenken., dienen uns auf dem öden, nächtlichen Meere der
Opernmuſik nur als einſame Leitſterne zum Erkennen der
rein künſtleriſchen Möglichkeit des Aufgehens der reichſten
Muſik in noch reichere dramatiſche Dichtkunſt, nämlich in
die Dichtkunſt, die durch dieſes freie Aufgehen der Muſik
in ſie erſt zu der allvermögenden dramatiſchen Kunſt wird.
Wie unmöglich das vollendete Kunſtwerk unter den uns
beherrſchenden Zuſtänden iſt, beweiſt aber gerade, daß,
nachdem Gluck und Mozart die höchſte Fähigkeit der Muſik
aufgedeckt, dieſe Thaten ohne den mindeſten Einfluß auf
unſer eigentliches modernes Kunſtgebahren geblieben ſind,
— daß die Funken, die ihrem Genius ſich entſchlugen,
gleich gaukelndem Feuerwerke nur unſrer Kunſtwelt vor¬
ſchwebten, durchaus aber nicht das Feuer zu zünden ver¬
mochten, das durch ſie entbrennen mußte, wenn der Brenn¬
ſtoff wirklich vorhanden geweſen wäre.
Die Thaten Gluck's und Mozart's waren aber auch
nur einſeitige Thaten, d. h. ſie deckten nur die Fähigkeit
und den nothwendigen Willen der Muſik auf, ohne von
ihren Schweſterkünſten verſtanden zu werden, ohne daß
dieſe gemeinſchaftlich, und aus gleich wahr empfundenen
Drange nach Aufgehen in einander, zu jenen Thaten bei¬
getragen, oder ihrerſeits ſie erwiedert hätten. Nur aus
gleichem, gemeinſchaftlichem Drange aller drei Kunſtarten
kann aber ihre Erlöſung in das wahre Kunſtwerk, ſomit dies
Kunſtwerk ſelbſt ermöglicht werden. Erſt wenn der Trotz aller
drei Kunſtarten auf ihre Selbſtſtändigkeit ſich bricht, um in
der Liebe zu den andern aufzugehen; erſt wenn jede ſich ſelbſt
nur in der andern zu lieben vermag; erſt wenn ſie ſelbſt als
einzelne Künſte aufhören, werden ſie alle fähig, das vollendete
Kunſtwerk zu ſchaffen; ja ihr Aufhören in dieſem Sinne
iſt ganz von ſelbſt ſchon dieſes Kunſtwerk, ihr Tod un¬
mittelbar ſein Leben.
Somit wird das Drama der Zukunft genau dann von
ſelbſt daſtehen, wenn nicht Schauſpiel, nicht Oper, nicht
Pantomime mehr zu leben vermögen; wenn die Bedingungen,
die ſie entſtehen ließen und bei ihrem unnatürlichen Leben
erhielten, vollſtändig aufgehoben ſind. Dieſe Bedingungen
heben ſich nur durch das Eintreten derjenigen Bedingungen
auf, welche das Kunſtwerk der Zukunft aus ſich erzeugen.
Nicht vereinzelt können dieſe Bedingungen aber entſtehen,
ſondern nur im vollſten Zuſammenhange mit den Beding¬
ungen aller unſrer Lebensverhältniſſe. Nur wenn die
herrſchende Religion des Egoismus, die auch die geſammte
Kunſt in verkrüppelte, eigenſüchtige Kunſtrichtungen und
Kunſtarten zerſplitterte, aus jedem Momente des menſch¬
lichen Lebens unbarmherzig verdrängt und mit Stumpf
und Stiel ausgerottet iſt, kann aber die neue Religion,
und zwar ganz von ſelbſt, in das Leben treten, die auch
die Bedingungen des Kunſtwerkes der Zukunft in ſich ſchließt.
Ehe wir uns mit ſehnendem Auge zu der Vorſtellung
des Anblickes dieſes Kunſtwerkes wenden, wie wir ſie aus
der reinen Verneinung unſeres jetzigen Kunſtweſens uns
zu gewinnen haben, iſt es aber nöthig, zuvor noch einen,
unſrem Zwecke entſprechenden Blick auf das Weſen der
ſogenannten bildenden Künſte zu werfen.
III.
Der Menſch als künſtleriſcher Bildner aus
natürlichen Stoffen.
1.
Baukunſt.
Wie der Menſch in erſter und höchſter Beziehung ſich
ſelbſt Gegenſtand und Stoff künſtleriſcher Behandlung
wird, dehnt er ſein Verlangen nach künſtleriſcher Dar¬
ſtellung auch auf die Gegenſtände der ihn umgebenden, be¬
freundeten und dienenden Natur aus. Genau in dem
Grade, als in der Darſtellung der Natur der Menſch die
Beziehung derſelben zu ſich zu erfaſſen, ſich als den zum
Bewußtſein Erwachten und Bewußtſein Erweckenden in den
Mittelpunkt ſeiner Naturanſchauungen zu ſtellen weiß, ver¬
mag er die Natur ſelbſt ſich künſtleriſch darzuſtellen und
dem Einzigen, für den dieſe Darſtellung berechnet ſein
kann, dem Menſchen, aus — wenn auch nicht gleich be¬
dürfnißvollem — doch ähnlichem Drange, als das Kunſt¬
werk, deſſen Gegenſtand und Stoff er eben ſelbſt iſt, mit¬
zutheilen. Nur aber der Menſch, der bereits aus ſich und
an ſich das unmittelbar menſchliche Kunſtwerk hervorgebracht
hat, ſich ſelbſt alſo künſtleriſch zu erfaſſen und mitzutheilen
vermag, iſt daher auch fähig die Natur ſich künſtleriſch
darzuſtellen; nicht der unentwickelte, naturunterwürfige.
Die Völker Aſiens und ſelbſt Aegyptens, denen die
Natur nur noch als willkürliche elementariſche oder thieri¬
ſche Macht ſich darſtellte, zu der ſich der Menſch unbedingt
leidend oder bis zur Selbſtverſtümmelung ſchwelgend ver¬
hielt, ſtellten die Natur auch als anbetungswürdigen und
für die Anbetung darzuſtellenden Gegenſtand voran,
ohne ſie, gerade eben deshalb, zum freien, künſtleriſchen
Bewußtſein ſich erheben zu können. Hier wurde denn
auch der Menſch nie ſich ſelbſt Gegenſtand künſtleriſcher
Darſtellung, ſondern, da der Menſch alles Perſönliche —
wie die perſönliche Naturmacht — unwillkürlich endlich doch
nur nach menſchlichem Maaße zu begreifen vermochte, ſo
trug er ſeine Geſtalt auch nur, und zwar in widerlichſter
Entſtellung, auf die darzuſtellenden Gegenſtände der Natur
über.
Erſt den Hellenen war es vorbehalten das rein
menſchliche Kunſtwerk an ſich zu entwickeln und von ſich
aus es zur Darſtellung der Natur auszudehnen. Zu dem
menſchlichen Kunſtwerke konnten ſie aber gerade nicht eher
reif ſein, als bis ſie die Natur in dem Sinne, wie ſie ſich
dem Aſiaten darſtellte, überwunden, und den Menſchen in
ſo weit an die Spitze der Natur geſtellt hatten, als ſie
jene perſönlichen Naturmächte als vollkommen menſchlich
ſchön geſtaltete und gebahrende Götter ſich vorſtellten.
Erſt als Zeus vom Olympos die Welt mit ſeinem leben¬
ſpendenden Athem durchdrang, als Aphrodite dem Meer¬
ſchaume entſtiegen war und Apollon den Inhalt und die
Form ſeines Weſens als Geſetz ſchönen menſchlichen Lebens
kund gab, waren die rohen Naturgötzen Aſiens verſchwun¬
den, und trug der künſtleriſch ſchön ſich bewußte Menſch
das Geſetz ſeiner Schönheit auch auf ſeine Auffaſſung und
Darſtellung der Natur über.
Vor der Göttereiche zu Dodona neigte ſich der,
des Naturorakels bedürftige, Urhellene; unter dem
ſchattigen Laubdache und umgeben von den grünenden
Baumſäulen des Götterhaines erhob der Orpheiker
ſeine Stimme: unter dem ſchön gefügten Giebeldache und
zwiſchen den ſinnig gereihten Marmorſäulen des Götter¬
tempels ordnete aber der kunſtfreudige Lyriker
ſeine Tänze nach dem tönenden Hymnos, — und in dem
Theater, das von dem Götteraltare — als ſeinem Mit¬
telpunkte — aus, ſich zu der verſtändnißgebenden Bühne,
wie zu den weiten Räumen für die, nach Verſtändniß ver¬
langenden, Zuſchauer erhob, führte der Tragöde das
lebendigſte Werk vollendetſter Kunſt aus.
So ordnete der künſtleriſche und nach künſtleri¬
ſcher Selbſtdarſtellung verlangende Menſch nach
ſeinem künſtleriſchen Bedürfniſſe die Natur ſich unter,
damit ſie ihm nach ſeiner höchſten Abſicht diene. So
bedang der Lyriker und Tragöde den Architekten, der
das ſeiner Kunſt würdige, wiederum künſtleriſch ihr ent¬
ſprechende, Gebäude aufführen ſollte.
Das nächſte, natürliche Bedürfniß drängte den
Menſchen zur Herrichtung von Wohn- und Schutzgebäu¬
den: in dem Lande und bei dem Volke, von dem ſich all
unſre Kunſt herſchreibt, ſollte aber nicht dieſes rein phy¬
ſiſche Bedürfniß, ſondern das Bedürfniß des künſtleriſch
ſich ſelbſt darſtellenden Menſchen das Bauhandwerk zur
wirklichen Kunſt entwickeln. Nicht die königlichen
Wohngebäude des Theſeus und Agamemnon, nicht die
rohen Felſengemäuer der pelasgiſchen Burgen ſind als
Baukunſtwerke uns zur Vorſtellung oder gar Anſchauung
gelangt, — ſondern die Tempel der Götter, die
Tragödientheater des Volkes. Alles was nach dem
Verfall der Tragödie, d. h. der vollendeten griechiſchen
Kunſt, von dieſen Gegenſtänden der Baukunſt ablag, iſt
ſeinem Weſen nach aſiatiſchen Urſprunges.
Wie der ewig naturunterwürfige Aſiate ſich die Herr¬
lichkeit des Menſchen endlich nur in dieſem einen, unbe¬
dingt herrſchenden, dem Deſpoten, darzuſtellen vermochte,
ſo häufte er auch alle Pracht der Umgebung nur um
dieſen „Gott auf Erden“ an: bei dieſer Anhäufung blieb
Alles nur auf Befriedigung desjenigen egoiſtiſch ſinnli¬
chen Verlangens berechnet, welches bis zum unmenſchlichen
Taumel immer nur ſich will, bis zum Raſen nur ſich
liebt, und in ſolchem ſtets ungeſtillten Sinnenſehnen
Gegenſtände über Gegenſtände, Maſſen über Maſſen häuft,
um der, zum Ungeheuren ausgedehnten Sinnlichkeit
endliche Befriedigung zu gewinnen. Der Luxus iſt ſomit
das Weſen der aſiatiſchen Baukunſt: ſeine monſtröſen,
geiſtöden und ſinnverwirrenden Geburten ſind die ſtadt¬
ähnlichen Paläſte der Deſpoten Aſiens.
Wonnige Ruhe und edles Entzücken faßt uns da¬
gegen beim heitren Anblicke der helleniſchen Göttertempel,
in denen wir die Natur, nur durch den Anhauch menſch¬
licher Kunſt vergeiſtigt, wieder erkennen. Der zum volks¬
gemeinſchaftlichen Schauplatze höchſter menſchlicher Kunſt
erweiterte Göttertempel war aber das Theater. In ihm
war die Kunſt, und zwar die gemeinſchaftliche und an
die Gemeinſchaftlichkeit ſich mittheilende Kunſt, ſich ſelbſt
Geſetz, maßgebend, nach Nothwendigkeit verfahrend, und
der Nothwendigkeit auf das Vollkommenſte entſprechend,
ja, aus dieſer Nothwendigkeit die kühnſten und wunder¬
vollſten Schöpfungen hervorbringend. Hiergegen ent¬
ſprachen die Wohnungsgebäude der Einzelnen gerade eben
nur wieder dem Bedürfniſſe, aus dem ſie entſtanden:
waren ſie urſprünglich aus Holzſtämmen gezimmert und
— ähnlich dem Zelte des Achilleus — nach den einfachſten
Geſetzen der Zweckmäßigkeit gefügt, ſo ſchmückten ſie ſich
wohl zur Blüthezeit helleniſcher Bildung mit glatten
Steinwänden und erweiterten ſich, mit ſinnvoller Bezug¬
nahme, zu Räumen der Gaſtfreiheit; nie aber dehnten
ſie ſich über das natürliche Bedürfniß des Privatmannes aus,
nie ſuchte der Einzelne in ihnen und durch ſie ein Verlan¬
gen ſich zu befriedigen, das er in edelſter Weiſe nur
in der gemeinſamen Oeffentlichkeit geſtillt fand, aus der
es im Grunde auch einzig entſpringen kann.
Gerade umgekehrt war die Wirkſamkeit der Bau¬
kunſt, als das gemeinſame öffentliche Leben erloſch, und
das egoiſtiſche Behagen des Einzelnen ihr das Geſetz
machte. Als der Privatmann nicht mehr den gemeinſamen
Göttern Zeus und Apollon, ſondern nur noch dem ein¬
ſam ſeligmachenden Plutos, dem Gotte des Reichthumes
opferte, — als Jeder für ſich einzeln das ſein wollte was
er zuvor nur in der Gemeinſamkeit war, — da nahm er ſich
7
auch den Architekten in Sold und gebot ihm, den Götzen¬
tempel des Egoismus ihm zu bauen. Dem reichen Egoiſten
genügte aber der ſchlanke Tempel der ſinnenden Athene
für ſein Privatvergnügen nicht: ſeine Privatgöttin war
die Wolluſt, die immer verſchlingende, unerſättliche.
Ihr mußten aſiatiſche Maſſen zur Verzehrung dargereicht
werden, und ihren Launen konnten nur krauſe Schnörkel
und Zierrathen zu entſprechen ſuchen. So ſehen wir denn
— wie aus Rache für Alexanders Eroberung — den
Deſpotismus Aſiens ſeine ſchönheitvernichtenden Arme in
das Herz der europäiſchen Welt hineinſtrecken, und unter
der römiſchen Imperatorenherrſchaft glücklich ſeine Macht
bis dahin ausüben, daß die Schönheit nur noch aus der
Erinnerung erlernt werden konnte, weil ſie aus dem leben¬
digen Bewußtſein der Menſchen bereits vollkommen ent¬
ſchwunden war.
Wir gewahren nun, in den blühendſten Jahrhunder¬
ten der römiſchen Weltherrſchaft, die widerliche Erſcheinung
des in das Ungeheure geſteigerten Prunkes der Paläſte
der Kaiſer und Reichen auf der einen Seite, und der blo¬
ßen — wenn auch koloſſal ſich kundgebenden — Nützlich¬
keit in den öffentlichen Bauwerken.
Die Oeffentlichkeit, wie ſie eben nur zu einer
gemeinſamen Aeußerung des allgemeinen Egoismus herab¬
geſunken war, hatte kein Bedürfniß nach dem Schönen
mehr, ſie kannte nur noch den praktiſchen Nutzen.
Dem abſolut Nützlichen war das Schöne gewichen;
denn die Freude am Menſchen hatte ſich in die einzige
Luſt am Magen zuſammengezogen; auf die Befriedi¬
gung des Magens führt ſich aber, genau genommen,
all dieß öffentliche Nützlichkeitsweſen
Allerdings iſt die Beſorgung des Nützlichen das Erſte und
Nothwendigſte: eine Zeit, welche aber nie über dieſe Sorge hin¬
aus zu dringen vermag, nie ſie hinter ſich werfen kann um zum
Schönen zu gelangen, ſondern dieſe Sorge als einzig maßgebende
Reglerin in alle Zweige des öffentlichen Lebens und ſelbſt der Kunſt
hineinträgt, iſt eine wahrhaft barbariſche; nur der unnatür¬
lichſten Civiliſation aber iſt es möglich ſolche abſolute Barba¬
rei zu produziren: ſie häuft immer und ewig die Hinderniſſe für
das Nützliche, um immer und ewig den Anſchein zu haben, nur
auf das Nützliche bedacht zu ſein.zurück,
und namentlich in unſrer, mit ihren Nützlichkeitserfin¬
dungen ſo prahlenden, neueren Zeit, die, — bezeichnend
genug! — je mehr ſie in dieſem Sinne erfindet, um ſo
weniger fähig iſt, die Magen der Hungernden wirklich zu
füllen. Da, wo man nicht mehr wußte, daß das wahr¬
haft Schöne in ſo fern auch das Allernützlichſte iſt, als es
im Leben ſich eben nur kund geben kann wenn dem Lebens¬
bedürfniſſe ſeine naturnothwendige Befriedigung ge¬
ſichert und nicht durch unnütze Nützlichkeitsvorſchriften
7*
erſchwert oder gar verwehrt wird, — da, wo die Sorge
der Oeffentlichkeit alſo nur in der Fürſorge für Eſſen und
Trinken beſtand, und die möglichſte Stillung dieſer Sorge
zugleich als die Lebensbedingung der Herrſchaft der Reichen
und Cäſaren, und zwar in ſo rieſigem Verhältniſſe ſich
kundgab, wie unter der römiſchen Weltherrſchaft, — da
entſtanden die erſtaunlichen Straßen- und Waſſerleitun¬
gen, mit denen wir heut zu Tage durch unſre Eiſenbahn¬
ſtraßen zu wetteifern ſuchen; — da wurde die Natur zur
melkenden Kuh und die Baukunſt zum Milcheimer:
die Pracht und Ueppigkeit der Reichen lebte von der klug
abgeſchöpften Ramenhaut der gewonnenen Milch, die man
blau und wäſſerig durch jene Waſſerleitungen dem lieben
Pöbel zuführte.
Aber dieſes Nützlichkeitsbemühen, dieſer Prunk,
gewann bei den Römern großartige Form: die heitre
Griechenwelt lag ihnen auch noch nicht ſo fern, daß ſie
durch ihre nüchterne Praktik, wie aus ihrem aſiatiſchen
Prachttaumel, nicht liebäugelnde Blicke ihr noch hätte
zuwerfen können, ſo daß über alle römiſche Bauwelt in
unſren Augen mit Recht immer noch ein majeſtätiſcher
Zauber ausgebreitet liegt, der uns faſt noch als Schön¬
heit erſcheint. Was uns nun aber aus dieſer Welt über
die Kirchthurmſpitzen des Mittelalters zugekommen iſt,
das entbehrt alles ſchönen wie majeſtätiſchen Zaubers;
denn wo wir, wie unſren koloſſalen Kirchendomen, noch
eine finſtre, unerfreuende Majeſtät zu gewahren ver¬
mögen, erblicken wir leider von Schönheit blutwenig
mehr. Die eigentlichen Tempel unſrer modernen Religion,
die Börſengebäude, werden zwar ſehr ſinnreich wieder auf
griechiſche Säulen conſtruirt; griechiſche Giebelfelder
laden zu Eiſenbahnfahrten ein, und aus dem atheniſchen
Parthenon ſchreitet uns die abgelöſte Militärwache entgegen,
— aber, ſo erhebend auch dieſe Ausnahmen ſind, ſo ſind
ſie doch eben nur Ausnahmen, und die Regel unſrer
Nützlichkeitsbaukunſt iſt unſäglich kleinlich und häßlich.
Das Anmuthigſte und Großartigſte, was aber auch die
moderne Baukunſt hervorzubringen vermöchte, müßte ſie je¬
doch immer ihrer ſchmäligſten Abhängigkeit inne werden
laſſen: denn unſre öffentlichen, wie Privatbedürfniſſe ſind
der Art, daß die Baukunſt, um ihnen zu entſprechen, nie
zu produziren, immer nur nachzuahmen, zuſammenzuſtellen
vermag. Nur das wirkliche Bedürfniß macht erfinderiſch:
das wirkliche Bedürfniß unſerer Gegenwart äußert ſich aber
nur im Sinne des ſtupideſten Utilismus; ihm können nur
mechaniſche Vorrichtungen, nicht aber künſtleriſche Geſtal¬
tungen entſprechen. Was über dieß wirkliche Bedürfniß hin¬
ausliegt, iſt aber das Bedürfniß des Luxus, des Unnöthigen
und durch Ueberflüſſiges, Unnöthiges vermag ihm auch nur
die Baukunſt zu dienen, d.h. ſie wiederholt die Bauwerke
früherer, aus Schönheitsbedürfniß producirender Zeiten,
ſtellt die Einzelheiten dieſer Werke nach luxuriöſem Belie¬
ben zuſammen, verbindet — aus unruhigem Verlangen
nach Abwechſelung — alle nationalen Bauſtyle der Welt
zu unzuſammenhängenden, ſcheckigen Geſtaltungen, kurz —
ſie verfährt nach der Willkür der Mode, deren frivole Ge¬
ſetze ſie zu den ihrigen machen muß, eben weil ſie nirgends
aus innerer, ſchöner Nothwendigkeit zu geſtalten hat.
Die Baukunſt hat in ſo fern alle demüthigenden
Schickſale der getrennten, rein menſchlichen Kunſtarten an
ſich mit zu erleben, als ſie nur durch das Bedürfniß des,
ſich ſelbſt als ſchön kundgebenden oder nach dieſer Kund¬
gebung verlangenden Menſchen zu wahrhaft ſchöpferiſchem
Geſtalten veranlaßt werden kann. Genau mit dem Ver¬
blühen der griechiſchen Tragödie begann auch ihr Fall,
trat nämlich die Schwächung ihrer eigenthümlichen Pro¬
ductionskraft ein; und die üppigſten Monumente, die ſie zur
Verherrlichung des koloſſalen Egoismus der ſpäteren
Zeiten, ja ſelbſt desjenigen des chriſtlicher Glaubens, auf¬
richten mußte, erſcheinen gegen die erhabene Einfalt und
die tiefſinnige Bedeutſamkeit griechiſcher Gebäude zur Zeit
der Blüthe der Tragödie wie geile Auswüchſe üppiger
nächtlicher Träume gegen die heiteren Geburten des ſtrah¬
lenden, alldurchdringenden Tageslichtes.
Nur mit der Erlöſung der egoiſtiſch getrennten rein¬
menſchlichen Kunſtarten in das gemeinſame Kunſtwerk
der Zukunft, mit der Erlöſung des Nützlichkeits¬
menſchen überhaupt in den künſtleriſchen Menſchen
der Zukunft wird auch die Baukunſt aus den Banden
der Knechtſchaft, aus dem Fluche der Zeugungsunfähigkeit,
zur freieſten, unerſchöpflich fruchtbarſten Kunſtthätigkeit er¬
löſt werden.
2.
Bildhauerkunſt.
Aſiaten und Aegypter waren in der Darſtellung der ſie
beherrſchenden Naturerſcheinungen von der Nachbildung der
Geſtalt der Thiere zu der menſchlichen Geſtalt ſelbſt über¬
gegangen, unter welcher ſie, in unmäßigen Verhältniſſen und
mit widerlicher naturſymboliſcher Entſtellung jene Mächte ſich
vorzuſtellen ſuchten. Nicht den Menſchen wollten ſie nach¬
bilden, ſondern unwillkürlich und weil als Höchſtes der Menſch
endlich immer nur ſich ſelbſt, ſomit auch ſeine eigene Ge¬
ſtalt ſich denken kann, trugen ſie das — deshalb eben auch
verzerrte — Menſchenbild nur auf den anzubetenden Gegen¬
ſtand der Natur über.
In dieſem Sinne und von ähnlicher Abſicht hervorge¬
rufen, ſehen wir auch bei den älteſten helleniſchen Stämmen
Götter, d. h. göttlich gedachte Naturmächte, unter menſch¬
licher Geſtalt als Gegenſtände der Anbetung in Holz oder
Stein dargeſtellt. Dem religiöſen Bedürfniſſe nach Ver¬
gegenſtändlichung der unſichtbaren gefürchteten oder verehr¬
ten göttlichen Macht, entſprach die älteſte Bildhauerkunſt
durch Formung natürlicher Stoffe zur Nachahmung der
menſchlichen Geſtalt, wie die Baukunſt einem unmittel¬
bar menſchlichen Bedürfniſſe entſprach durch Verwendung
und Fügung natürlicher Stoffe zu einer, dem beſonderen
Zwecke zuſagenden, gewiſſermaßen verdichtenden Nach¬
ahmung der Natur, wie wir z. B. im Göttertempel
den verdichtet dargeſtellten Götterhain zu erkennen haben.
War dieſer Abſicht gebende Menſch in der Baukunſt ein
nur auf nächſte, unmittelbarſte Nützlichkeit bedachter, ſo
konnte die Kunſt nur Handwerk bleiben oder zum Hand¬
werk wieder werden; war er dagegen ein künſtleriſcher,
ſtellte er ſich als ſolchen, der ſich bereits ſelbſt Stoff und
Gegenſtand künſtleriſcher Behandlung geworden war, an
den Ausgangspunkt der Abſicht, ſo erhob er auch das
Bauhandwerk eben zur Kunſt. So lange der Menſch ſich
ſelbſt in thieriſcher Abhängigkeit von der Natur empfand,
vermochte er die anzubetenden Mächte dieſer Natur, wenn
er auch bereits unter menſchlicher Geſtalt ſie ſich vorſtellte,
doch eben nur nach dem Maße bildlich darzuſtellen, mit
welchem er ſich maß, nämlich in dem Gewande und mit
den Attributen der Natur, von der er ſich thieriſch abhängig
fühlte; in dem Grade, als er ſich, ſeinen eignen unent¬
ſtellten Leib, ſein eigenes, rein menſchliches Vermögen, ſich
zum Stoff und Gegenſtande künſtleriſcher Behandlung er¬
hob, vermochte er aber auch ſeine Götter in freieſter, un¬
entſtellteſter menſchlicher Geſtalt, im Abbilde ſich darzuſtellen,
bis dahin, wo er endlich unumwunden, dieſe ſchöne
menſchliche Geſtalt ſelbſt als eben nur menſchliche Geſtalt
zu ſeiner äußerſten Befriedigung ſich vorführte.
Wir berühren hier den ungemein wichtigen Scheide¬
punkt, an welchem das lebendige menſchliche Kunſtwerk ſich
zerſplitterte, um in der Plaſtik mit monumentaler Be¬
wegungsloſigkeit, wie verſteinert, künſtlich fortzuleben. Die
Erörterung dieſes Punktes mußte für die Darſtellung
der Bildhauerkunſt aufgehoben bleiben. —
Die erſte und älteſte Gemeinſchaftlichkeit der Menſchen
war das Werk der Natur. Die rein geſchlechtliche Genoſſen¬
ſchaft d. h. der Inbegriff aller Derer, die von einem ge¬
meinſchaftlichen Stammvater und der von ihm ausge¬
gangenen Leibesſproſſen ſich ableiteten, iſt das urſprüng¬
liche Vereinigungsband aller in der Geſchichte uns vor¬
kommenden Stämme und Völker. In den Ueberlieferungen
der Sage bewahrt dieſer geſchlechtliche Stamm wie in immer
lebhafter Erinnerung, das unwillkürliche Wiſſen von ſeiner
gemeinſchaftlichen Herkunft: die Eindrücke der beſonders
gearteten Natur, die ihn umgiebt, erheben dieſe ſagenhaften
Geſchlechtserinnerungen aber zu religiöſen Vorſtellungen.
So mannigfaltig und reich nun dieſe Erinnerungen und
Vorſtellungen durch geſchlechtliche Vermiſchung, ſo wie,
namentlich auf den Wanderungen der Stämme, durch
Wechſel der Natureindrücke bei den lebhafteſten Geſchichts¬
völkern ſich angehäuft, gedrängt und neugeſtaltet haben
mögen, — ſoweit dieſe Völker in Sage und Religion aus
den engeren Kreiſen der Nationalität das Gedenken ihres
beſonderen Urſprunges ſomit auch bis zur Annahme allge¬
meiner Herkunft und Abſtammung der Menſchen über¬
haupt von ihren Göttern, als von den Göttern überhaupt
ausdehnen mochten, — ſo hat doch zu jeder Zeit, wo
Mythus und Religion im lebendigen Glauben eines Volks¬
ſtammes lebten, das ſpeciell einigende Band gerade dieſes
Stammes immer nur in eben dieſem Mythus und eben dieſer
Religion gelegen. Die gemeinſame Feier der Erinnerung
ihrer gemeinſchaftlichen Herkunft begingen die helleniſchen
Stämme in ihren religiöſen Feſten, d. h. in der Verherr¬
lichung und Verehrung des Gottes oder des Helden, in
welchem ſie ſich als ein gemeinſames Ganzes inbegriffen
fühlten. Am Lebendigſten, wie aus Bedürfniß das immer
weiter in die Vergangenheit Entrückte ſich mit höchſter
Deutlichkeit feſtzuhalten, verſinnlichten ſie ihre Nationaler¬
innerungen endlich aber in der Kunſt, und hier am unmittel¬
barſten im vollendeten Kunſtwerke, der Tragödie. Das
lyriſche wie das dramatiſche Kunſtwerk war ein religiöſer
Akt: bereits aber gab ſich in dieſem Akte, der urſprünglichen
einfachen religiöſen Feier gegenüber gehalten, ein gleichſam
künſtliches Beſtreben kund, nämlich das Beſtreben, willkürlich
und abſichtlich diejenige gemeinſchaftliche Erinnerung ſich vor¬
zuführen, die im gemeinen Leben an unmittelbar lebendigem
Eindrucke ſchon verloren hatte. Die Tragödie war ſomit
die zum Kunſtwerke gewordene religiöſe Feier, neben
welcher die herkömmlich fortgeſetzte wirkliche religiöſe
Tempelfeier nothwendig an Innigkeit und Wahrheit in
dem Grade einbüßte, daß ſie eben zur gedankenloſen her¬
kömmlichen Ceremonie wurde, während ihr Kern im Kunſt¬
werke fortlebte.
In der höchſt wichtigen Aeußerlichkeit des religiöſen
Aktes ſtellt ſich die Geſchlechtsgenoſſenſchaft unter gewiſſen
altbedeutungsvollen Gebräuchen, Formen und Bekleidungen
als eine gemeinſchaftliche dar: das Gewand der Religion
iſt, ſo zu ſagen, die Tracht des Volksſtammes, an welcher
er ſich gemeinſchaftlich und auf den erſten Blick erkennt.
Dieſes, durch uraltes Herkommen geheiligte Gewand, dieſe
gewiſſermaßen religiös-geſellſchaftliche Convention hatte ſich
von der religiöſen Feier auf die künſtleriſche, die Tragödie,
übergetragen: in ihm und nach ihr gab der darſtellende
Tragöde ſich als wohlbekannte, verehrte Geſtalt der Volks¬
genoſſenſchaft kund. Keinesweges nur die Größe des
Theaters und die Entfernung der Zuſchauer bedangen etwa
die Erhöhung der menſchlichen Geſtalt durch den Ko¬
thurn, oder geſtatteten etwa eben nur die ſtabile tragiſche
Maske, — ſondern dieſe, Kothurn und Maske, waren
nothwendige, religiös bedeutungsvolle Attribute, die im
Geleite anderer ſymboliſcher Abzeichen dem Darſteller erſt
ſeinen wichtigen, prieſterlichen Charakter gaben. Wo nun
eine Religion, wenn ſie aus dem gemeinen Leben zu weichen
beginnt und vor der politiſchen Richtung deſſelben ſich
vollends zurückzieht, nur ihrem äußeren Gewande nach
eigentlich noch kenntlich vorhanden iſt, — dieß Gewand
aber, wie bei den Athenern, nur noch als Bekleidung der
Kunſt die Geſtaltungen wirklichen Lebens anzunehmen ver¬
mag, da muß dieſes wirkliche Leben als unverhüllter Kern
der Religion auch unumwunden offen ſich bekennen. Der
Kern der helleniſchen Religion, auf den all ihr Weſen im
Grunde einzig ſich bezog, und wie er im wirklichen Leben
bereits unwillkürlich als einzig ſich geltend machte, war
aber: Der Menſch. An der Kunſt war es, dieß Be¬
kenntniß klar und deutlich auszuſprechen: ſie that es, indem
ſie das letzte verhüllende Gewand der Religion von ſich
warf und in voller Nacktheit ihren Kern, den wirklichen
leiblichen Menſchen zeigte.
Mit dieſer Enthüllung war aber auch das gemein¬
ſchaftliche Kunſtwerk vernichtet: das Band der Gemein¬
ſchaft in ihm war eben jenes Gewand der Religion gewe¬
ſen. Wie der Inhalt des gemeinſamen Mythus und der
Religion als Gegenſtand der darſtellenden dramatiſchen
Kunſt nach dichteriſcher Deutung und Abſicht, endlich nach
eigenſüchtig dichteriſcher Willkür, bereits umgewandelt,
verwendet und gar entſtellt wurde, war der religiöſe
Glaube aber auch ſchon vollſtändig aus dem Leben der,
nur noch politiſch mit einander verketteten Volksgenoſſen¬
ſchaft verſchwunden. Dieſer Glaube, die Verehrung der
Götter, die ſichere Annahme von der Wahrheit der alten
Geſchlechtsüberlieferungen, hatten jedoch das Band der
Gemeinſamkeit ausgemacht: war es nun zerriſſen und als
Aberglaube verſpottet, ſo war damit allerdings der unleug¬
bare Inhalt dieſer Religion als unbedingter, wirklicher,
nackter Menſch zum Vorſchein gekommen; dieſer Menſch
war aber nicht mehr der gemeinſame, von jenem Bande
zur Geſchlechtsgenoſſenſchaft vereinte, ſondern der egoi¬
ſtiſche, abſolute, einzelne Menſch, — nackt und
ſchön, aber losgelöſt aus dem ſchönen Bunde der Gemein¬
ſamkeit.
Von hier ab, von der Zerſtörung der griechiſchen
Religion, von der Zertrümmerung des griechiſchen Natur¬
ſtaates und ſeiner Auflöſung in den politiſchen Staat,
— von der Zerſplitterung des gemeinſamen tragiſchen
Kunſtwerkes, — beginnt für die weltgeſchichtliche Menſchheit
beſtimmt und entſchieden der neue, unermeßlich große
Entwickelungsgang von der untergegangenen geſchlecht¬
lich-natürlichen Nationalgemeinſamkeit zur rein¬
menſchlichen Allgemeinſamkeit. Das Band, das
der, im nationalen Hellenen ſich bewußt werdende, voll¬
kommene Menſch, mit dieſem Bewußtwerden, als beengende
Feſſel zerriß, ſoll ſich als allgemeinſames nun um alle Men¬
ſchen ſchlingen. Die Periode von dieſem Zeitpunkte bis
auf unſre Tage iſt daher die Geſchichte des abſoluten
Egoismus, und das Ende dieſer Periode wird ſeine
Erlöſung in den Communismus
Es iſt polizei-gefährlich dieſes Wort zu gebrauchen:
dennoch giebt es keines, welches beſſer und beſtimmter den reinen
Gegenſatz zu Egoismus bezeichnet. Wer ſich heut zu Tage
ſchämt, als Egoiſt zu gelten — und das will ja Niemand offen
und unumwunden, — der muß es ſich ſchon gefallen laſſen,
Communiſt genannt zu werden.ſein. Die Kunſt,
die dieſen einſamen, egoiſtiſchen, nackten Menſchen als den
Ausgangspunkt der bezeichneten weltgeſchichtlichen Periode
als ſchönes, mahnendes Monument uns hingeſtellt hat,
iſt die Bildhauerkunſt, die ihre Blüthe genau da
erreichte, als das menſchlich gemeinſame Kunſtwerk der
Tragödie von ihrer Blüthe herabſank. —
Die Schönheit des menſchlichen Leibes war
die Grundlage aller helleniſchen Kunſt, ja ſogar des
natürlichen Staates geweſen; wir wiſſen, daß bei dem
adeligſten der helleniſchen Stämme, bei den ſpartaniſchen
Doriern, die Geſundheit und unentſtellte Schönheit des
neugeborenen Kindes die Bedingungen ausmachten, unter
denen ihm allein das Leben geſtattet war, während Hä߬
lichen und Mißgeborenen das Recht zu leben abgeſprochen
wurde. Dieſer ſchöne nackte Menſch iſt der Kern alles
Spartanerthumes: aus der wirklichen Freude an der
Schönheit des vollkommenſten menſchlichen, des männ¬
lichen Leibes, ſtammte die, alles ſpartaniſche Staats¬
weſen durchdringende und geſtaltende, Männerliebe her.
Dieſe Liebe giebt ſich uns in ihrer urſprünglichen Rein¬
heit, als edelſte und uneigenſüchtigſte Aeußerung des
menſchlichen Schönheitsſinnes kund. Iſt die Liebe des
Mannes zum Weibe, in ihrer natürlichſten Aeußerung,
im Grunde eine egoiſtiſch genußſüchtige, in welcher, wie er
in einem beſtimmten ſinnlichen Genuſſe ſeine Befriedigung
findet, der Mann nach ſeinem vollem Weſen nicht aufzu¬
gehen vermag, — ſo ſtellt ſich die Männerliebe als eine
bei weitem höhere Neigung dar, eben weil ſie nicht nach
einem beſtimmten ſinnlichen Genuſſe ſich ſehnt, ſondern
der Mann durch ſie mit ſeinem ganzen Weſen in das
Weſen des geliebten Gegenſtands ſich zu verſenken, in ihm
aufzugehen vermag; und genau nur in dem Grade als
das Weib bei vollendeter Weiblichkeit, in ſeiner Liebe zu
dem Manne und durch ſein Verſenken in ſein Weſen, auch
das männliche Element dieſer Weiblichkeit entwickelt und
mit dem rein weiblichen in ſich zum vollkommenen Abſchluße
gebracht hat, ſomit in dem Grade als ſie dem Manne nicht
nur Geliebte ſondern auch Freund iſt, vermag der
Mann ſchon in der Weibesliebe volle Befriedigung zu
finden.
Die Erlöſung des Weibes in die Mitbetheiligung an der
männlichen Natur iſt das Werk chriſtlich germaniſcher Entwicklung:
dem Griechen blieb der phyſiſche Prozeß edler entſprechender Ver¬
männlichung des Weibes unbekannt; ihm erſchien alles ſo, wie es
ſich unmittelbar und unvermittelt gab, — das Weib war ihm Weib,
der Mann Mann, und ſomit trat bei ihm eben da, wo die Liebe zum
Weibe naturgemäß befriedigt war, das Verlangen nach dem
Manne ein.Das höhere Element jener Männerliebe beſtand
aber eben darin, daß es das ſinnlich egoiſtiſche Genu߬
moment ausſchloß. Nichtsdeſtoweniger ſchloß in ihr ſich
jedoch nicht etwa nur ein reingeiſtiger Freundſchaftsbund,
ſondern die geiſtige Freundſchaft war erſt die Blüthe, der
vollendete Genuß der ſinnlichen Freundſchaft: dieſe ent¬
ſprang unmittelbar aus der Freude an der Schönheit, und
zwar der ganz leiblichen, ſinnlichen Schönheit des gelieb¬
ten Mannes. Dieſe Freude war aber kein egoiſtiſches
Sehnen, ſondern ein vollſtändiges Ausſichherausgehen
zum unbedingteſten Mitgefühl der Freude des Gelieb¬
ten an ſich ſelbſt, wie ſie ſich unwillkürlich durch das
lebensfrohe ſchönheiterregende Gebahren dieſes Glücklichen
ausſprach. Dieſe Liebe, die in dem edelſten, ſinnlich-
geiſtigen Genießen ihren Grund hatte, — nicht unſre
briefpoſtlich literariſch vermittelte, geiſtesgeſchäftliche,
nüchterne Freundſchaft, — war bei den Spartanern die
einzige Erzieherin der Jugend, die nie alternde Lehre¬
rin des Jünglinges und Mannes, die Anordnerin
der gemeinſamen Feſte und kühnen Unternehmungen, ja
die begeiſternde Helferin in der Schlacht, indem ſie es
war, welche die Liebesgenoſſenſchaften zu Kriegs¬
abtheilungen und Heerordnungen verband und die
Taktik der Todeskühnheit zur Rettung des bedroh¬
ten, oder zur Rache für den gefallenen Geliebten nach
unverbrüchlichſten, naturnothwendigſten Seelengeſetzen
vorſchrieb. — Der Spartaner, der ſomit unmittelbar im
Leben ſein reinmenſchliches, gemeinſchaftliches Kunſtwerk
ausführte, ſtellte ſich dieſes unwillkürlich auch nur in der
Lyrik dar, dieſem unmittelbarſten Ausdrucke der Freude
an ſich und am Leben, das in ſeiner nothwendigen Aeuße¬
rung kaum zum Bewußtſein der Kunſt gelangt. Die ſpar¬
taniſche Lyrik neigte ſich, in der Blüthe des natürlichen
doriſchen Staates, auch ſo überwiegend zur urſprünglichen
Baſis aller Kunſt, dem lebendigen Tanze, hin, daß —
charakteriſtiſch genug! — uns auch faſt gar kein literariſches
Denkmal derſelben verblieben iſt, eben weil ſie nur reine ſinn¬
lich ſchöne Lebensäußerung war, und alles Abziehen der Dicht¬
kunſt von der Ton- und Tanzkunſt verwehrte. Selbſt der
Uebergang aus der Lyrik zum Drama, wie wir ihn in den
epiſchen Geſängen zu erkennen haben, blieb den Spartanern
fremd; die homeriſchen Geſänge ſind, bezeichnend genug, in
ioniſcher, nicht in doriſcher Mundart geſammelt. Während
die ioniſchen Völker und namentlich ſchließlich die Athener,
unter lebhafteſter gegenſeitiger Berührung ſich zu politi¬
ſchen Staaten entwickelten, und die aus dem Leben ver¬
ſchwindende Religion künſtleriſch in der Tragödie nur noch
ſich darſtellten, waren die Spartaner, als abgeſchloſſene
Binnenländler bei ihrem urhelleniſchen Weſen verblieben
und ſtellten ihren unvermiſchten Naturſtaat als ein leben¬
diges künſtleriſches Monument den wechſelvollen Geſtal¬
tungen des neueren politiſchen Lebens gegenüber. Alles,
was in dem jähen Wirbel der raſtlos zerſtörenden Neu¬
zeit Rettung und Anhalt ſuchte, richtete damals ſeine
Augen auf Sparta; der Staatsmann ſuchte die Formen
dieſes Urſtaates zu erforſchen, um ſie künſtlich auf den
politiſchen Staat der Gegenwart überzutragen; der
Künſtler aber, der das gemeinſame Kunſtwerk der Tra¬
gödie vor ſeinen Augen ſich zerſetzen und zerſchälen ſah,
blickte dahin, wo er den Kern dieſes Kunſtwerkes, den
ſchönen urhelleniſchen Menſchen, gewahren und für die
Kunſt erhalten könnte. Wie Sparta als lebendes
Monument in die Neuzeit hineinragte, ſo hielt die Bild¬
hauerkunſt den aus dieſem lebenden Monumente erkannten
urhelleniſchen Menſchen als ſteinernes, lebloſes
Monument vergangener Schönheit für die lebendige
Barbarei kommender Zeiten feſt.
Aber als man aus Athen ſeine Blicke nach Sparta
richtete nagte bereits der Wurm des gemeinſamen Egois¬
mus verderbnißvoll an dieſem ſchönen Staate. Der pelo¬
poneſiſche Krieg hatte ihn unwillkürlich in den Strudel
der Neuzeit hineingeriſſen, und Sparta hatte Athen nur
durch die Waffen beſiegen können, die die Athener zuvor
ihnen ſo furchtbar und unangreiflich gemacht hatten.
Statt der ehernen Münzen — dieſen Denkmälern der Ver¬
achtung des Geldes gegen die Hochſtellung des Menſchen,
— häufte ſich geprägtes aſiatiſches Gold in den Kiſten
des Spartaners; von dem herkömmlichen nüchternen Ge¬
meindemahl zog er ſich zum üppigen Gelage zwiſchen
ſeinen vier Wänden zurück, und die ſchöne Männer¬
liebe artete — wie ſchon ſonſt bei den anderen Hellenen —
in widerliches Sinnengelüſt aus, ſo das Motiv dieſer
Liebe — wodurch ſie eben eine höhere als die Frauenliebe
war — in ihr unnatürliches Gegentheil verwandelnd.
Dieſen Menſchen, ſchön an ſich, aber unſchön in
ſeinem egoiſtiſchen Einzelnſein, hat uns in Marmor und
Erz die Bildhauerkunſt überliefert, — bewegungslos und
kalt, wie eine verſteinerte Erinnerung, wie die Mumie
des Griechenthums. — Dieſe Kunſt, im Solde der
Reichen zur Verzierung der Palläſte, gewann um ſo leichter
eine ungemeine Ausbreitung, als das künſtleriſche Schaffen
in ihr ſehr bald zur bloßen mechaniſchen Arbeit herabſinken
konnte. Der Gegenſtand der Bildhauerei iſt allerdings der
Menſch, der unendlich mannigfaltige, charakteriſtiſch ver¬
ſchiedene und in den verſchiedenſten Affekten ſich kund¬
gebende: aber den Stoff zu ſeiner Darſtellung nimmt dieſe
Kunſt von der ſinnlichen Außengeſtalt, aus der immer
nur die Hülle, nicht der Kern des menſchlichen Weſens zu
entnehmen iſt. Wohl giebt ſich der innere Menſch auf
das Entſprechendſte auch durch ſeine äußere Erſcheinung
kund, aber vollkommen nur in und durch die Bewegung.
Der Bildhauer kann von dieſer Bewegung aus ihrem mannig¬
faltigſten Wechſel nur dieſen einen Moment erfaſſen und
wiedergeben, die eigentliche Bewegung ſomit nur durch Ab¬
ſtraction von dem ſinnlich vorſtehenden Kunſtwerke nach einem
gewiſſen, mathematiſch vergleichenden Kalkül errathen
laſſen. War das richtigſte und entſprechend ſicherſte Ver¬
fahren, um aus dieſer Armuth und Unbehülflichkeit heraus
zur Darſtellung wirklichen Lebens zu gelangen, einmal ge¬
funden, — war dem natürlichen Stoffe einmal das voll¬
endete Maß der menſchlichen äußeren Erſcheinung — ein¬
gebildet und ihm die Fähigkeit, dieſes überzeugend uns zu¬
rückzuſpiegeln, einmal abgewonnen, — ſo war dieſes ent¬
deckte Verfahren ein ſicher zu erlernendes, und von
Nachbildung zu Nachbildung konnte die Bildhauerkunſt
undenklich lange fortleben, Anmuthiges, Schönes und
Wahres hervorbringen, ohne dennoch aus wirklicher,
künſtleriſcher Schöpferkraft Nahrung zu empfangen. So
finden wir denn auch, daß zu der Zeit der römiſchen Welt¬
herrſchaft, als aller künſtleriſche Trieb längſt erſtorben
war, die Bildhauerkunſt in zahlreicher Fülle Werke
zu Tage brachte, denen künſtleriſcher Geiſt inne zu wohnen
ſchien, trotzdem ſie doch nur der glücklich nachahmenden
Mechanik in Wahrheit ihr Daſein verdankten: ſie konnte
ein ſchönes Handwerk werden, als ſie aufgehört hatte,
Kunſt zu ſein, was ſie genau nur ſo lange war, als in ihr
noch zu entdecken, zu erfinden war; die Wiederholung einer
Entdeckung iſt aber eben nur Nachahmung.
Durch das eiſengepanzerte, oder mönchiſch verhüllte
Mittelalter her, leuchtete der lebensbedürftigen Menſchheit
endlich zuerſt das ſchimmernde Marmorfleiſch griechiſcher
Leibesſchönheit wieder entgegen: an dieſem ſchönen Ge¬
ſtein, nicht an dem wirklichen Leben der alten Welt ſollte
die neuere den Menſchen wiedererkennen lernen. Unſere
moderne Bildhauerkunſt entkeimte nicht dem Drange nach
Darſtellung des wirklich vorhandenen Menſchen, den
ſie durch ſeine modiſche Verhüllung kaum zu gewahren ver¬
mochte, ſondern dem Verlangen nach Nachahmung des
nachgeahmten, ſinnlich unvorhandenen Menſchen. Sie
iſt der redliche Trieb, aus einem durchaus unſchönen Leben
heraus, die Schönheit aus der Vergangenheit ſich zurückzu¬
conſtruiren. War der aus der Wirklichkeit verſchwindende
ſchöne Menſch der Grund der künſtleriſchen Ausbildung der
Bildhauerei geweſen, die, wie im Feſthalten eines unterge¬
gangenen Gemeinſamen, ſich ihn zu monumentalem Be¬
hagen aufbewahren wollte, — ſo konnte dem modernen
Drange, jene Monumente ſich für ſich zu wiederholen, gar
nur die gänzliche Abweſenheit dieſes Menſchen im Leben zu
Grunde liegen. Dadurch, daß dieſer Drang ſomit ſich nie
aus dem Leben und im Leben befriedigte, ſondern nur von
Monument zu Monument, von Stein zu Stein, von Bild
zu Bild ſich fort und fort bewegte, mußte unſre, die ei¬
gentliche Bildhauerkunſt nur nachahmende, moderne Bild¬
hauerkunſt in Wahrheit den Charakter eines zünftiſchen
Gewerkes annehmen, in welchem der Reichthum von Regeln
und Normen, nach denen ſie verfuhr, im Grunde nur ihre
Armuth als Kunſt, ihre Unfähigkeit zu erfinden, offen¬
barte. Indem ſie ſich und ihre Werke ſtatt des im Leben
nicht vorhandenen ſchönen Menſchen hinſtellt, — indem ſie
als Kunſt gewiſſermaßen von dieſem Mangel lebt, — ge¬
räth ſie aber endlich in eine egoiſtiſch einſame Stellung, indem
ſie, ſo zu ſagen, nur den Wetterkünder der im Leben noch
herrſchenden Unſchönheit abgiebt und zwar mit einem gewiſſen
Behagen an dem Gefühle ihrer — relativen — Noth¬
wendigkeit bei ſo beſtellten Witterungsverhältniſſen. Gerade
ſo lange nur vermag nämlich die moderne Bildhauerkunſt
irgend welchem Bedürfniſſe zu entſprechen, als der ſchöne
Menſch im wirklichen Leben nicht vorhanden iſt: ſein Er¬
ſcheinen im Leben, ſein unmittelbar durch ſich maßgebendes
Geſtalten, müßte der Untergang unſrer heutigen Plaſtik
ſein; denn das Bedürfniß, dem ſie einzig zu entſprechen
vermag, ja — das ſie durch ſich künſtlich erſt anregt, —
iſt das, welches aus der Unſchönheit des Lebens ſich heraus¬
ſehnt, nicht aber das, welches aus einem wirklich ſchönen
Leben nach der Darſtellung dieſes Lebens einzig im leben¬
digen Kunſtwerke verlangt. Das wahre, ſchöpferiſche,
künſtleriſche Verlangen geht jedoch aus Fülle, nicht aus
Mangel hervor: die Fülle der modernen Bildhauerkunſt iſt
aber die Fülle der auf uns gekommenen Monumente grie¬
chiſcher Plaſtik; aus dieſer Fülle ſchafft ſie nun aber
nicht, ſondern durch den Mangel an Schönheit im Leben
wird ſie ihr nur zugetrieben, — ſie verſenkt ſich in dieſe
Fülle um vor dem Mangel zu flüchten.
So ohne Möglichkeit zu erfinden, verträgt ſie endlich,
um nur irgend wie zu erfinden, mit der vorhandenen Ge¬
ſtaltung des Lebens: wie in Verzweiflung wirft ſie ſich das
Gewand der Mode vor, und um von dieſem Leben wieder¬
erkannt und belohnt zu werden, bildet ſie das Unſchöne
nach, um wahr, d. h. nach unſren Begriffen wahr, zu
ſein, giebt ſie es vollends gar auf, ſchön zu ſein. So ge¬
räth die Bildhauerkunſt unter dem Beſtehen derſelben Be¬
dingungen, die ſie am künſtlichen Leben erhalten, in den
unſeligen, unfruchtbaren oder Unſchönes zeugenden Zuſtand,
aus dem ſie ſich nothwendig nach Erlöſung ſehnen muß:
die Lebensbedingungen, in die ſie ſich erlöſt wünſcht, ſind
jedoch genau genommen die Bedingungen desjenigen Lebens,
dem gegenüber die Bildhauerkunſt als ſelbſtſtändige Kunſt
geradeswegs aufhören muß. Um ſchöpferiſch werden zu
können, ſehnt ſie ſich nach der Herrſchaft der Schönheit im
wirklichen Leben, aus dem ſie einzig lebendigen Stoff zur
Erfindung zu gewinnen verhofft: dieſe Sehnſucht müßte
aber, ſobald ſie erfüllt iſt, die ihm innwohnende egoiſtiſche
Täuſchung in ſo weit offenbaren, als die Bedingungen zum
nothwendigen Schaffen der Bildhauerkunſt im wirklich
leiblich ſchönen Leben jedenfalls aufgehoben ſein
würden.
Im gegenwärtigen Leben entſpricht die Bildhauer¬
kunſt, als ſelbſtſtändige Kunſt, eben nur einem relativen
Bedürfniſſe: dieſem verdankt ſie aber in Wirklichkeit ihr
heutiges Daſein, ja ihre Blüthe; der andere, dem modernen
entgegengeſetzte Zuſtand iſt aber der, in welchem ein noth¬
wendiges Bedürfniß nach den Werken der Bildhauerkunſt
nicht füglich gedacht werden kann. Huldigt der Menſch im
vollen Leben dem Prinzipe der Schönheit, bildet er ſeinen
eigenen lebendigen Leib ſchön, und freut er ſich dieſer an
ihm ſelbſt kundgegebenen Schönheit, ſo iſt Gegenſtand und
künſtleriſcher Stoff der Darſtellung dieſer Schönheit und
der Freude an ihr, unzweifelhaft der vollkommene, warme,
lebendige Menſch ſelbſt: ſein Kunſtwerk iſt das Drama,
und die Erlöſung der Plaſtik iſt genau die der Entzau¬
berung des Steines in das Fleiſch und Blut des
Menſchen, aus dem Bewegungsloſen in die
Bewegung, aus dem Monumentalen in das
Gegenwärtige. Erſt wenn der Drang des künſtleriſchen
Bildhauers in die Seele des Tänzers, des mimiſchen
Darſtellers, des ſingenden und ſprechenden, übergegangen
iſt, kann dieſer Drang als wirklich geſtillt gedacht werden.
Erſt wenn die Bildhauerkunſt nicht mehr exiſtirt, oder nach
einer anderen, als der menſchlich leiblichen Richtung hin
— als Skulptur in die Architektur aufgegangen, wenn
die ſtarre Einſamkeit dieſes einen, in Stein gehauenen
Menſchen in die unendlich ſtrömende Vielheit der lebendi¬
gen wirklichen Menſchen ſich aufgelöſt haben wird; wenn
wir die Erinnerung an geliebte Todte in ewig neu lebendem,
ſeelenvollem Fleiſch und Blut, nicht wiederum in todtem
Erz oder Marmor uns vorführen; wenn wir aus dem
Stein uns die Bauwerke zur Einhegung des lebendigen
8
Kunſtwerkes errichten, nicht aber den lebendigen Menſchen
in ihm uns mehr vorzuſtellen nöthig haben, dann erſt wird
die wahre Plaſtik auch vorhanden ſein.
3.
Malerkunſt.
Wie da, wo uns der Genuß an dem ſymphoniſchen
Spiele eines Orcheſters verſagt iſt, wir am Claviere durch
einen Auszug dieſen Genuß uns zurückzurufen verſuchen;
wie wir den Eindruck, den ein farbiges Oelgemälde in
einer Bildergallerie auf uns machte, da, wo uns der An¬
blick dieſes Gemäldes nicht mehr verſtattet iſt, uns durch
einen Kupferſtich zu vergegenwärtigen trachten, — ſo hatte
die Malerkunſt, wenn nicht in ihrer Entſtehung, doch
in ihrer künſtleriſchen Ausbildung, dem ſehnſüchtigen Be¬
dürfniſſe zu entſprechen, das verloren gegangene, menſch¬
lich lebendige Kunſtwerk der Erinnerung wieder vorzu¬
führen.
Ihren rohen Anfängen, wo ſie gleich der Bildhauerei
aus dem noch unkünſtleriſchen religiöſen Vorſtellungs¬
drange hervorging, haben wir hier vorüberzugehen, indem
ſie künſtleriſche Bedeutung erſt von da an gewinnt, wo das
lebendige Kunſtwerk der Tragödie verblich und dafür die
hellen farbigen Geſtaltungen der Malerkunſt die wunder¬
vollen, bedeutungsreichen Scenen für das Auge feſtzuhalten
ſuchte, die zu unmittelbaren lebenswarmen Eindrucke ſich
nicht mehr darboten.
So feierte das griechiſche Kunſtwerk in der Malerei ſeine
Nachblüthe. Dieſe Blüthe war nicht mehr jene dem reichſten
Leben unwillkürlich und naturnothwendig entſprießende, ihre
Nothwendigkeit war vielmehr eine Kulturnothwendigkeit;
ſie ging aus einem bewußten, willkürlichen Drange hervor,
nämlich dem Wiſſen von der Schönheit der Kunſt, und
dem Willen, dieſe Schönheit gleichſam zum Verweilen
in einem Leben zu zwingen, dem ſie unbewußt unwillkür¬
lich nicht mehr als nothwendiger Ausdruck ſeiner innerſten
Seele angehörte. Die Kunſt, die ohne Geheiß und ganz von
ſelbſt aus der Gemeinſamkeit des Volkslebens aufgeblüht war,
hatte durch ihr wirkliches Vorhandenſein und an der Betrach¬
tung ihrer Erſcheinung zugleich auch den Begriff von ihr
erſt zum Daſein gebracht; denn nicht die Idee der Kunſt
hatte ſie in das Leben gerufen, ſondern ſie, die wirklich vor¬
handene Kunſt, hat die Idee von ſich entwickelt. Die mit
Naturnothwendigkeit treibende künſtleriſche Kraft des Volkes
war nun erſtorben; was ſie geſchaffen lebte nur noch in der
Erinnerung oder in der künſtlichen Wiederholung. Während
das Volk in Allem, was es that, und namentlich auch in der
Selbſtvernichtung ſeiner nationalen Eigenthümlichkeit und
8*
Abgeſchloſſenheit, durch alle Zeiten hindurch immer wieder
nur nach innerer Nothwendigkeit, und ſo im Zuſammen¬
hange mit dem großartigſten Entwickelungsgange des
menſchlichen Geſchlechtes verfuhr, — vermochte das
einſame künſtleriſche Gemüth, dem bei ſeinem Sehnen
nach dem Schönen der Lebensdrang des Volkes in ſeinen
unſchönen Aeußerungen unverſtändlich bleiben mußte,
ſich nur durch den Hinblick auf das Kunſtwerk einer ver¬
gangenen Zeit zu tröſten, und, bei der erkannten Unmöglich¬
keit dieß Kunſtwerk willkürlich von Neuem zu beleben,
ſeinen Troſt ſich ſo wohlthätig wie möglich, durch lebens¬
getreue Auffriſchung des aus der Erinnerung Erkenn¬
baren, von Andauer zu machen, — wie wir die Züge
eines geliebten Todten durch ein Portrait uns zur
Erinnerung bewahren. Hierdurch wurde die Kunſt ſelbſt
zu einem Kunſtgegenſtande; der von ihr gewonnene Be¬
griff ward ihr Geſetz, und die Kulturkunſt, die erlern¬
bare, an ſich immer nachzuweiſende, begann ihren Lebens¬
lauf, der, wie wir heut zu Tage ſehen, in den unkünſt¬
leriſcheſten Zeiten und Lebensverhältniſſen, ohne Stocken
ſich fortſetzen kann, — jedoch nur zum egoiſtiſchen Genuß
des vom Leben getrennten, vereinzelten, kunſtſehnſüchtigen
Kulturgemüthes.—
Von dem thörigten Verfahren, durch bloße nach¬
ahmende Wiederholung das tragiſche Kunſtwerk ſich zurück
zu conſtruiren, — wie ihm die alexandriniſchen Hofdichter
z. B. ſich hingaben, — unterſchied ſich jedoch die Maler¬
kunſt auf das Vortheilhafteſte, indem ſie das Verlorene
verloren gab, und dem Drange, es wieder vorzuführen,
durch Ausbildung einer beſonderen, eigenthümlichen, künſt¬
leriſchen Fähigkeit des Menſchen entſprach. War die
Aeußerung dieſer Fähigkeit eine vielfach vermittelte, ſo
gewann die Malerei vor der Bildhauerei doch bald einen
wichtigen Vorzug. Das Werk des Bildhauers ſtellte in
ſeinem Material den ganzen Menſchen nach ſeiner vollkom¬
menen Form dar, und ſtand inſofern dem lebendigen
Kunſtwerke des ſich ſelbſt darſtellenden Menſchen näher,
als das Werk der Malerei, das von dieſem gewiſſermaßen
nur den farbigen Schatten zu geben vermochte: wie in
beiden Nachbildungen das Leben dennoch unerreichbar
war, und Bewegung in ihren Darſtellungen nur dem
beſchauenden Denker angedeutet, ihre denkbare Möglichkeit
der Phantaſie des Beſchauers, nach gewiſſen natürlichen
Geſetzen der Abſtraction, zur Ausführung nur überlaſſen
werden konnte, — ſo vermochte die Malerei, eben weil
ſie noch idealer von der Wirklichkeit abſah, noch mehr
nur auf künſtleriſche Täuſchung ausging, als die Bild¬
hauerei, auch vollſtändiger zu dichten als dieſe. Die Male¬
rei brauchte ſich endlich nicht, wie die Bildhauerei, mit
der Darſtellung dieſes Menſchen, oder dieſer gewiſſen,
ihrer Darſtellung nur möglichen, Gruppen oder Aufſtel¬
lungen zu begnügen; die künſtleriſche Täuſchung ward
in ihr vielmehr ſo zur vorwiegenden Nothwendigkeit, daß
ſie nicht nur nach Tiefe und Breite beziehungsreich ſich
ausdehnende menſchliche Gruppen, ſondern auch den Um¬
kreis ihrer außermenſchlichen Umgebung; die Naturſcene
ſelbſt in das Bereich ihrer Darſtellung zu ziehen hatte.
Hierauf begründet ſich ein vollkommen neues Moment in
der Entwickelung des künſtleriſchen Anſchauungs- und
Darſtellungsvermögens des Menſchen: nämlich dieß des
innigen Begrüßens und Wiedergebens der Natur durch
durch die Landſchaftsmalerei.
Dieſes Moment iſt von der entſcheidendſten Wichtig¬
keit für die ganze bildende Kunſt: es bringt dieſe, — die
in der Architektur von der Anſchauung und künſtleri¬
ſchen Benutzung der Natur zu Gunſten des Menſchen
ausging, — in der Plaſtik, wie zur Vergötterung des
Menſchen, ſich allein nur noch auf dieſen als Gegen¬
ſtand bezog, — zum vollendeten Abſchluß dadurch, daß
es ſie vom Menſchen aus mit immer vollkommenerem
Verſtändniß endlich ganz wieder der Natur zuwandte,
und zwar indem es die bildende Kunſt fähig machte, die
Natur ihrem Weſen nach innig zu erfaſſen, die Archi¬
tektur gleichſam zur vollkommenen, lebensvollen Darſtellung
der Natur zu erweitern. Der menſchliche Egoismus, der
in der nackten Architektur die Natur immer nur noch auf
ſich allein bezog, brach ſich gewiſſermaßen in der Land¬
ſchaftsmalerei, welche die Natur in ihrem eigenthümlichen
Weſen rechtfertigte, den künſtleriſchen Menſchen zum
liebevollen Aufgehen in ſie bewog, um ihn unendlich er¬
weitert in ihr ſich wiederfinden zu laſſen.
Als griechiſche Maler die Scenen, die zuvor in der
Lyrik, dem lyriſchen Epos und der Tragödie durch wirk¬
liche Darſtellung Auge und Ohr vorgeführt worden
waren, durch Zeichnung und Farbe erinnerungsvoll ſich
feſtzuhalten und wiederum darzuſtellen ſuchten, galten
ihnen ohne Zweifel die Menſchen allein als der Darſtel¬
lung würdige und für ſie maßgebende Gegenſtände, und
der ſogenannten hiſtoriſchen Richtung verdanken wir die
Entwickelung der Malerei zu ihrer erſten Kunſthöhe.
Hielt ſie ſomit das gemeinſame Kunſtwerk in der Erin¬
nerung feſt, ſo blieben, als die Bedingungen ſchwanden,
die auch das ſehnſüchtige Feſthalten dieſer Erinnerungen
hervorriefen, zwei Wege offen, nach denen die Malerei als
ſelbſtſtändige Kunſt ſich weiter zu entwickeln hatte: das
Portrait und — die Landſchaft. In der Darſtellung der
Scenen des Homeros und der Tragiker war die Landſchaft
als nothwendiger Hintergrund bereits erfaßt und wieder¬
gegeben worden: gewiß aber erfaßten ſie die Griechen
zur Blüthezeit ihrer Malerei noch mit keinem anderen
Auge, als der Grieche ſeinem eigenthümlichen Geiſte nach
überhanptüberhaupt ſie je zu erfaſſen geneigt war. Die Natur war dem
Griechen eben nur der ferne Hintergrund des Menſchen: weit
im Vordergrunde ſtand der Menſch ſelbſt, und die Göt¬
ter, denen er die bewegende Naturmacht zuſprach, waren
eben menſchliche Götter. Allem, was er in der Natur
erſah, ſuchte er menſchliche Geſtalt und menſchliches Weſen
anzubilden, und als vermenſchlicht hatte die Natur für
ihn gerade den unendlichen Reiz, in deſſen Genuß ſeinem
Schönheitsſinne es unmöglich war, ſie, wie vom Stand¬
punkte jüdiſch modernen Utilismus aus, ſich nur als einen
roh ſinnlich genießbaren Gegenſtand zu eigen zu machen.
Dennoch nährte er dieſe ſchöne Selbſtbeziehung zur Natur
nur durch einen unwillkürlichen Irrthum: bei ſeiner Ver¬
menſchlichung der Natur legte er ihr auch menſchliche
Motive unter, die, als in der Natur wirkend, nothwendig
dem wahren Weſen der Natur gegenüber gehalten, nur
willkürlich gedacht werden konnten. Wie der Menſch, ſei¬
nem beſonderen Weſen nach, im Leben und in ſeinem Ver¬
hältniß zur Natur aus Nothwendigkeit handelt, entſtellt
er ſich unwillkürlich in ſeiner Vorſtellung das Weſen der
Natur, wenn er ſie nach menſchlicher Nothwendigkeit,
nicht nach der ihrigen, gebahrend ſich denkt. Sprach
dieſer Irrthum bei den Griechen ſich ſchön aus, wie er bei
andern, namentlich aſiatiſchen, Völkern ſich meiſt häßlich
äußerte, ſo war er nichts deſto weniger doch ein dem
helleniſchen Leben ſelbſt grundverderblicher Irrthum.
Als der Hellene aus der geſchlechtlich nationalen Urge¬
meinſchaft ſich losgelöſt, als er das unwillkürlich ihr ent¬
nommene Maß ſchönen Lebens verloren hatte, vermochte
dieſes nothwendige Maß ſich nirgends ihm aus einer rich¬
tigen Anſchauung der Natur zu erſetzen. Er hatte unbe¬
wußt in der Natur gerade nur ſo lange eine bindende,
umfaſſende Nothwendigkeit erblickt, als dieſe Nothwendig¬
keit als eine im gemeinſamen Leben bedingte ihm ſelbſt
zum Bewußtſein kam: löſte dieſes ſich in ſeine egoiſtiſchen
Atome auf, beherrſchte ihn nur die Willkür ſeines mit der
Gemeinſamkeit nicht mehr zuſammenhängenden Eigenwil¬
lens oder endlich eine, aus dieſer allgemeinen Willkür
Kraft gewinnende, wiederum willkürliche äußere Macht, —
ſo fehlte bei ſeiner mangelnden Erkenntniß der Natur,
welche er nun eben ſo willkürlich wähnte als ſich ſelbſt
und die ihn beherrſchende weltliche Macht, das ſichere
Maß, nach dem er ſein Weſen wiederum hätte erkennen
können, und das ſie, zu deren größtem Heile, den Men¬
ſchen darbietet, die in ihr die Nothwendigkeit ihres Weſens
und ihre nur im weiteſten, allumfaſſendſten Zuſammen¬
hange alles Einzelnen wirkende, ewig zeugende Kraft er¬
kennen. Keinem anderen, als dieſem Irrthume ſind die
ungeheuerlichſten Ausſchweifungen des griechiſchen Geiſtes
entſprungen, die wir während des byzantiniſchen Kaiſer¬
thumes in einem Grade gewahren, der uns den helleniſchen
Charakter gar nicht mehr erkennen läßt, und der im
Grunde doch nur die normale Krankheit ſeines Weſens
war. Die Philoſophie mochte mit noch ſo redlichem Be¬
mühen den Zuſammenhang der Natur zu erfaſſen ſuchen:
hier gerade zeigte es ſich, wie unfähig die Macht der ab¬
ſtrakten Intelligenz iſt. Allen Ariſtoteleſſen zum Hohn
ſchuf ſich das Volk, das aus dem millionenfachen allgemei¬
nen Egoismus heraus abſolut ſelig werden wollte, eine
Religion, in der die Natur zum reinen Spielball menſch¬
lich raffinirender Glückſeligkeitsſucht gemacht wurde. Mit
der Anſicht des Griechen, welche der Natur menſchlich
willkürliche Geſtaltungsmotive unterſtellte, brauchte ſich
nur die jüdiſch-orientaliſche Nützlichkeitsvorſtellung von
ihr zu begatten, um die Disputationen und Dekrete der
Concilien über das Weſen der Trinität und die deshalb
unaufhörlich geführten Streitigkeiten, ja Volkskriege, als
Früchte dieſer Begattung der ſtaunenden Geſchichte als
unwiderlegliche Thatſachen zuzuführen.
Die römiſche Kirche machte nach Ablauf des Mittel¬
alters aus der Annahme der Unbeweglichkeit der Erde
zwar noch einen Glaubensartikel, vermochte es dennoch
aber nicht zu wehren, daß Amerika entdeckt, die Geſtalt der
Erde erforſcht und endlich die Natur ſoweit der Erkenntniß
erſchloſſen wurde, daß der Zuſammenhang aller in ihr ſich
kundgebenden Erſcheinungen ihrem Weſen nach unzweifelhaft
erwieſen iſt. Der Drang, der zu dieſen Entdeckungen
führte, ſuchte gleichzeitig ſich in derjenigen Kunſtart eben¬
falls auszuſprechen, in der er am geeignetſten zu künſt¬
leriſcher Befriedigung gelangen konnte. Beim Wiederer¬
wachen der Künſte knüpfte auch die Malerei, im Drange
nach Veredelung ihre künſtleriſche Wiedergeburt an die An¬
tike an; unter dem Schutze der üppigen Kirche gedieh ſie
zur Darſtellung kirchlicher Hiſtorien, und ging von dieſen
zu Scenen wirklicher Geſchichte und aus dem wirklichen
Leben über, jederzeit ſich des Vortheils erfreuend, dieſem
wirklichen Leben Form und Farbe entnehmen zu können.
Je mehr die ſinnliche Gegenwart dem entſtellenden Ein¬
fluſſe der Mode zu erliegen hatte, und während die neuere
Hiſtorienmalerei, um ſchön zu ſein, von der Unſchönheit
des Lebens ſich zum Conſtruiren aus dem Gedanken und
zum willkürlichen Combiniren von, wiederum der Kunſt¬
geſchichte, — nicht dem Leben ſelbſt — entnommenen,
Manieren und Stylen gedrängt ſah, — machte ſich, von
der Darſtellung des modiſchen Menſchen abliegend, die¬
jenige Richtung der Malerei aber Bahn, der wir das liebe¬
volle Verſtändniß der Natur in der Landſchaft ver¬
danken.
Der Menſch, um den ſich bisher die Landſchaft wie
um ihren egoiſtiſchen Mittelpunkt immer nur gruppirt
hatte, ſchrumpfte in der Fülle der Umgebung ganz in dem
Grade immer mehr zuſammen, als im wirklichen Leben
er ſich immer mehr unter das unwürdige Joch der ent¬
ſtellenden Mode beugte, ſo daß er endlich in der Landſchaft
die Rolle zuertheilt bekam, die zuvor der Landſchaft im
Verhältniß zu ihm zugewieſen war. Wir können unter
den gegebenen Umſtänden dieſen Fortſchritt der Land¬
ſchaft nur als einen Sieg der Natur über die ſchlechte,
menſchenentwürdigende Kultur feiern; denn in ihm
behauptete ſich auf die einzig mögliche Weiſe die unent¬
ſtellte Natur gegen ihre Feindin, indem ſie, gleichſam
Schutz ſuchend, wie aus Noth dem innigen Verſtändniſſe
des künſtleriſchen Menſchen ſich erſchloß.
Die moderne Naturwiſſenſchaft und die Land¬
ſchaftsmalerei ſind die Erfolge der Gegenwart, die uns
in wiſſenſchaftlicher wie künſtleriſcher Hinſicht einzig Troſt
und Rettung aus Wahnſinn und Unfähigkeit bieten.
Mag, bei der troſtloſen Zerſplitterung aller unſerer künſt¬
leriſchen Richtungen, das einzelne Genie, das ihnen
zur momentanen, faſt gewaltſamen Vereinigung dient, um
ſo Erſtaunenswürdigeres leiſten kann, als weder das Be¬
dürfniß noch die Bedingungen zu ſeinem Kunſtwerke vor¬
handen ſind: das gemeinſame Genie der Malerkunſt ergießt
ſich doch einzig faſt nur in der Richtung der Landſchafts¬
malerei; denn hier findet es unerſchöpflichen Gegenſtand
und durch ihn unerſchöpfliches Vermögen, während er nach
anderen Richtungen hin als Darſteller der Natur nur mit
willkürlichem Sichten, Sondern und Wählen verfahren kann,
um unſrem durchaus unkünſtleriſchen Leben irgend kunſt¬
würdige Gegenſtände abzugewinnen. Je mehr die ſoge¬
nannte Hiſtorienmalerei durch Dichten und Deuten den
ſchönen wahren Menſchen und das ſchöne wahre Leben
aus den, der Gegenwart entlegenſten Erinnerungen uns
vorzuführen ſich bemüht, je mehr ſie, bei dem ungeheuren
Aufwande von Vermittelungen hierbei, die zwangvoll auf
ihr laſtende Aufgabe bekennt, mehr und etwas anderes
ſein zu müſſen als dem Weſen einer Kunſtart zu
ſein gebührt, — deſto mehr hat auch ſie ſich nach
einer Erlöſung zu ſehnen, die, wie die einzig noth¬
wendige der Bildhauerei, eigentlich nur in ihrem Auf¬
gehen darin ausgeſprochen ſein könnte, woher ſie
urſprünglich die Kraft zum künſtleriſchen Leben ge¬
wonnen hatte, und dieß war eben das lebendige menſch¬
liche Kunſtwerk ſelbſt, deſſen Erſtehen aus dem Leben die
Bedingungen vollkommen aufheben müßte, die ihr Daſein
und Gedeihen als ſelbſtſtändige Kunſtart nothwendig machen
konnten. Ein geſundes, nothwendiges Leben vermag die
menſchendarſtellende Malerkunſt unmöglich da zu füh¬
ren, wo, ohne Pinſel und Leinwand, im lebendigſten künſt¬
leriſchen Rahmen, der ſchöne Menſch ſich ſelbſt vollendet
darſtellt. Was ſie bei redlichem Bemühen zu erreichen
ſtrebt, erreicht ſie am vollkommenſten, wenn ſie ihre Farbe
und ihr Verſtändniß in der Anordnung auf die lebendige
Plaſtik des wirklichen dramatiſchen Darſtellers überträgt;
wenn von Leinwand und Kalk herab ſie auf die tragiſche
Bühne ſteigt, um den Künſtler an ſich ſelbſt das aus¬
führen zu laſſen, was ſie vergebens ſich bemüht durch
Häufung der reichſten Mittel ohne wirkliches Leben zu
vollbringen.
Die Landſchaftsmalerei aber wird, als letzter
und vollendeter Abſchluß aller bildenden Kunſt, die eigent¬
liche, lebengebende Seele der Architektur werden; ſie wird
uns ſo lehren die Bühne für das dramatiſche Kunſtwerk
der Zukunft zu errichten, in welchem ſie, ſelbſt lebendig,
den warmen Hintergrund der Natur für den leben¬
digen, nicht mehr nachgebildeten, Menſchen darſtellen
wird.
Dürfen wir ſo durch die höchſte Kraft der bildenden
Kunſt uns die Scene des gemeinſamen Kunſtwerkes der
Zukunft, in ihr alſo die innig erkannte und ver¬
ſtandene Natur als gewonnen betrachten, ſo vermögen
wir nun auf dieſes Kunſtwerk ſelbſt nähere Schlüſſe zu
ziehen.
IV.
Grundzüge des Kunſtwerkes der Zukunft.
Betrachten wir die Stellung der modernen Kunſt —
ſoweit ſie in Wahrheit Kunſt iſt — zum öffentlichen
Leben, ſo erkennen wir zunächſt ihre vollſtändige Unfähig¬
keit, auf dieſes öffentliche Leben im Sinne ihres
edelſten Strebens einzuwirken. Der Grund hiervon iſt,
daß ſie als bloßes Kulturprodukt, aus dem Leben nicht
wirklich ſelbſt hervorgegangen iſt und nun, als Treibhaus¬
pflanze, unmöglich in dem natürlichen Boden und in dem
natürlichen Klima der Gegenwart Wurzel zu ſchlagen
vermag. Die Kunſt iſt das Sondereigenthum einer
Künſtlerklaſſe geworden; Genuß bietet ſie nur denen, die
ſie verſtehen, und zu ihrem Verſtändniß erfordert ſie ein
beſonderes, dem wirklichen Leben abgelegenes Studium,
das Studium der Kunſtgelehrſamkeit. Dieß Stu¬
dium und das aus ihm zu erlangende Verſtändniß glaubt
zwar heut zu Tage ſich Jeder zu eigen gemacht zu haben,
der ſich das Geld zu eigen gemacht hat, mit dem er die
ausgebotenen Kunſtgenüſſe bezahlt: ob die große Zahl vor¬
handener Kunſtliebhaber den Künſtler in ſeinem beſten
Streben aber zu verſtehen vermögen, wird dieſer Künſtler,
bei Befragen jedoch nur mit einem tiefen Seufzer zu beant¬
worten haben. Erwägt er nun aber die unendlich größere
Maſſe Derjenigen, die durch die Ungunſt unſrer ſocialen
Verhältniſſe nach jeder Seite ſowohl vom Verſtändniſſe
als ſelbſt vom Genuße der modernen Kunſt ausgeſchloſſen
bleiben müſſen, ſo hat der heutige Künſtler inne zu wer¬
den, daß ſein ganzes Kunſttreiben im Grunde nur ein
egoiſtiſches, ſelbſtgefälliges Treiben ganz für ſich, daß
ſeine Kunſt dem öffentlichen Leben gegenüber nichts ande¬
res als Luxus, Ueberfluß, eigenſüchtiger Zeitvertreib iſt.
Der täglich wahrgenommene und bitter beklagte Abſtand
zwiſchen ſogenannter Bildung und Unbildung iſt ſo unge¬
heuer, ein Mittelding zwiſchen beiden ſo undenkbar eine Ver¬
ſöhnung ſo unmöglich, daß, bei einiger Aufrichtigkeit, die auf
jene unnatürliche Bildung begründete moderne Kunſt zu
ihrer tiefſten Beſchämung ſich eingeſtehen müßte, wie ſie
einem Lebenselemente ihr Daſein verdanke, welches ſein Da¬
ſein wiederum nur auf die tiefſte Unbildung der eigentlichen
Maſſe der Menſchheit ſtützen kann. Das Einzige, was in
dieſer ihr zugewieſenen Stellung die moderne Kunſt ver¬
mögen ſollte und in redlichen Herzen zu vermögen ſtrebt,
nämlich Bildung zu verbreiten, vermag ſie nicht, und
zwar einfach daher, weil die Kunſt, um irgend wie im
Leben wirken zu können, ſelbſt die Blüthe einer natür¬
lichen, d. h. von unten heraufgewachſenen, Bildung ſein
muß, nie aber im Stande ſein kann, von oben herab
Bildung auszugießen. Unſre Kunſt, wie unſre ganze Kul¬
tur verhält ſich zum Leben der europäiſchen Gegenwart
nicht anders, wie die von Außen in Rußland eingeführte
Civiliſation zum Nationalcharakter des Ruſſen: nicht nur
daß unter der äußerlichſten Tünche dieſer Civiliſation der
eigentliche Ruſſe Barbar, und zwar gerade furchtbar-
geknechteter Barbar bleibt, ſondern der an ihr Theil¬
nehmende aus dem Volke, wird durch ſie zugleich der
nichtswürdigſte, verworfenſte Hallunke, indem er in ihr
nur die Schule der Heuchelei und Abſeimung erkennt und
durchmacht. Im beſten Falle gleicht aber unſere Kultur¬
kunſt doch nur demjenigen, der in einer fremden Sprache
einem Volke ſich mittheilen will, das dieſe nicht kennt:
Alles, und namentlich auch das Geiſtreichſte, was er her¬
vorbringt, kann nur zu den lächerlichſten Verwirrungen
und Mißverſtändniſſen führen. —
Stellen wir uns zunächſt dar, wie die moderne
Kunſt zu verfahren haben müßte, um theoretiſch zu ihrer
Erlöſung aus der einſamen Stellung ihres unbegriffenen
Weſens heraus und zum allgemeinſten Verſtändniß des
öffentlichen Lebens vorzuſchreiten: wie dieſe Erlöſung aber
durch die praktiſche Vermittelung des öffentlichen Lebens
allein möglich werden kann, wird ſich dann leicht von ſelbſt
herausſtellen.
Die bildende Kunſt, ſahen wir, kaum zu ſchöpfe¬
riſchem Gedeihen einzig dadurch gelangen, daß ſie nur
noch im Bunde mit dem künſtleriſchen, nicht dem auf
bloße Nützlichkeit bedachten Menſchen zu ihren Wer¬
ken ſich anläßt.
Der künſtleriſche Menſch kann ſich nur in der Ver¬
einigung aller Kunſtarten zum gemeinſamen Kunſtwerke
vollkommen genügen: in jeder Vereinzelung ſeiner
künſtleriſchen Fähigkeiten iſt er unfrei, nicht vollſtändig
das, was er ſein kann; wogegen er im gemeinſamen
Kunſtwerke frei, und vollſtändig das iſt, was er ſein
kann.
Das wahre Streben der Kunſt iſt daher das all¬
umfaſſende: jeder vom wahren Kunſttriebe Beſeelte
will durch die höchſte Entwickelung ſeiner beſonderen
Fähigkeit nicht die Verherrlichung dieſer beſonderen
Fähigkeit, ſondern die Verherrlichung des Menſchen
in der Kunſt überhaupt erreichen.
Das höchſte gemeinſame Kunſtwerk iſt das Drama:
nach ſeiner möglichen Fülle kann es nur vorhanden
ſein, wenn in ihm jede Kunſtart in ihrer höchſten
Fülle vorhanden iſt.
Das wahre Drama iſt nur denkbar als aus dem
gemeinſamen Drange aller Künſte zur unmittel¬
barſten Mittheilung an eine gemeinſame Oeffent¬
lichkeit hervorgehend: jede einzelne Kunſtart vermag der
gemeinſamen Oeffentlichkeit zum vollen Verſtändniſſe
nur durch gemeinſame Mittheilung mit den übrigen Kunſt¬
arten im Drama ſich zu erſchließen, denn die Abſicht jeder
einzelnen Kunſtart wird nur im gegenſeitig ſich verſtändi¬
genden und verſtändnißgebenden Zuſammenwirken aller
Kunſtarten vollſtändig erreicht. —
Die Architektur kann keine höhere Abſicht haben,
als einer Genoſſenſchaft künſtleriſch ſich durch ſich ſelbſt dar¬
ſtellender Menſchen die räumliche Umgebung zu ſchaffen, die
dem menſchlichen Kunſtwerke zu ſeiner Kundgebung nothwen¬
dig iſt. Nur dasjenige Bauwerk iſt nach Nothwendigkeit er¬
richtet, das einem Zwecke des Menſchen am Dienlichſten
entſpricht: der höchſte Zweck des Menſchen iſt der künſt¬
leriſche, der höchſte künſtleriſche das Drama. Im gewöhn¬
lichem Nutzgebäude hat der Baukünſtler nur dem niedrig¬
ſten Zwecke der Menſchheit zu entſprechen: Schönheit iſt
in ihm Luxus. Im Luxusgebäude hat er einem unnöthigen
und unnatürlichen Bedürfniſſe zu entſprechen: ſein Schaf¬
fen iſt daher willkührlich, unproduktiv, unſchön. Bei der
Conſtruction desjenigen Gebäudes hingegen, das in allen
ſeinen Theilen einzig einem gemeinſamen künſtleriſchen
Zwecke entſprechen ſoll, — alſo des Theaters, hat der
Baumeiſter einzig als Künſtler und nach den Rückſichts¬
nahmen auf das Kunſtwerk zu verfahren. In einem
vollkommenen Theatergebäude giebt bis auf die kleinſten
Einzelheiten nur das Bedürfniß der Kunſt Maß und
Geſetz. Dieß Bedürfniß iſt ein doppeltes, das des
Gebens und des Empfangens, welches ſich beziehungs¬
voll gegenſeitig durchdringt und bedingt. Die Scene
hat zunächſt die Aufgabe alle räumlichen Bedingungen
für eine auf ihr darzuſtellende gemeinſame dramatiſche
Handlung zu erfüllen: ſie hat zweitens dieſe Bedingungen
aber im Sinne der Abſicht zu löſen, dieſe dramatiſche
Handlung dem Auge und dem Ohre der Zuſchauer zur
verſtändlichen Wahrnehmung zu bringen. In der Anord¬
nung des Raumes der Zuſchauer giebt das Bedürf¬
niß nach Verſtändniß des Kunſtwerkes optiſch und akuſtiſch
das nothwendige Geſetz, dem, neben der Zweckmäßigkeit,
zugleich nur durch die Schönheit der Anordnungen ent¬
ſprochen werden kann; denn das Verlangen des gemein¬
ſamen Zuſchauers iſt eben das Verlangen nach dem
Kunſtwerk, zu deſſen Erfaſſen er durch Alles, was ſein
Auge berührt, beſtimmt werden muß. Die Aufgabe des Theatergebäudes der Zukunft darf durch
unſre modernen Theatergebäude keineswegs als gelöſt angeſehen
werden: in ihnen ſind herkömmliche Annahmen und Geſetze ma߬
gebend, die mit den Erforderniſſen der reinen Kunſt nichts gemein
haben. Wo Erwerbsſpekulation auf der einen, und mit ihr luxu¬
riöſe Prunkſucht auf der anderen Seite beſtimmend einwirken,
So verſetzt durch
Schauen und Hören ſich gänzlich auf die Bühne; der Dar¬
ſteller iſt Künſtler nur durch volles Aufgehen in das Pub¬
likum. Alles, was auf der Bühne athmet und ſich bewegt,
athmet und bewegt ſich durch ausdrucksvolles Verlangen
nach Mittheilung, nach Angeſchaut-Angehörtwerden in
jenem Raume, der, bei immer nur verhältnißmäßigem
Umfange, vom ſceniſchen Standpunkte aus dem Darſteller
doch die geſammte Menſchheit zu enthalten dünkt; aus dem
Zuſchauerraume aber verſchwindet das Publikum, dieſer
Repräſentant des öffentlichen Lebens, ſich ſelbſt; es lebt
und athmet nur noch in dem Kunſtwerke, das ihm das
Leben ſelbſt, und auf der Scene, die ihm der Weltraum
dünkt.
Solche Wunder entblühen dem Bauwerke des Archi¬
tekten, ſolchen Zaubern vermag er realen Grund und
Boden zu geben, wenn er die Abſicht des höchſten menſch¬
muß das abſolute Intereſſe der Kunſt auf das Empfindlichſte
beeinträchtigt werden, und ſo wird kein Baumeiſter der Welt es
z. B. vermögen die, durch die Trennung unſres Publikums in die
unterſchiedenſten Stände und Staatsbürgerkategorien gebotene
Uebereinanderſchichtung und Zerſplitterung der Zuſchauerräume
zu einem Geſetze der Schönheit zu erheben. Denkt man ſich in die
Räume des gemeinſamen Theaters der Zukunft, ſo erkennt man
ohne Mühe, daß in ihm ein ungeahnt reiches Feld der Erfindung
offen ſteht.
lichen Kunſtwerkes zu der ſeinigen macht, wenn er die Be¬
dingungen ihres LebendigwerdeusLebendigwerdens aus ſeinem eigenthüm¬
lichen künſtleriſchen Vermögen heraus in das Daſein ruft.
Wie kalt, regungslos und todt ſtellt ſich hiergegen ſein
Bauwerk dar, wenn er, ohne einer höheren Abſicht als der
des Luxus ſich anzuſchließen, ohne die künſtleriſche Noth¬
wendigkeit, welche ihn im Theater nach jeder Seite hin das
Sinnigſte anordnen und erfinden läßt, nur nach der ſpekuli¬
renden Laune ſeiner ſelbſtverherrlichungsſüchtigen Willkür zu
verfahren, Maſſen und Zierrathen zu ſchichten und zu reihen
hat, um heute die Ehre eines übermüthigen Reichen, mor¬
gen die eines abſtrakten Gottes zu verſinnlichen! —
Aber auch die ſchönſte Form, das üppigſte Gemäuer
von Stein, genügt dem dramatiſchen Kunſtwerke nicht allein
zur vollkommen entſprechenden räumlichen Bedingung ſei¬
nes Erſcheinens. Die Scene, die dem Zuſchauer das Bild
des menſchlichen Lebens vorführen ſoll, muß zum vollen
Verſtändniſſe des Lebens auch das lebendige Abbild der
Natur darzuſtellen vermögen, in welchem der künſtleriſche
Menſch erſt ganz als ſolcher ſich geben kann. Die Wände
dieſer Scene, die kalt und theilnahmlos auf den Künſtler
herab und zu dem Publikum hin ſtarren, müſſen ſich mit
den friſchen Farben der Natur, mit dem warmen Lichte
des Aethers ſchmücken, um würdig zu ſein an dem menſch¬
lichen Kunſtwerke Theil zu nehmen. Die plaſtiſche Archi¬
tektur fühlt hier ihre Schranke, ihre Unfreiheit, und
wirft ſich liebebedürftig der Malerkunſt in die Arme, die
ſie zum ſchönſten Aufgehen in die Natur erlöſen ſoll.
Hier tritt die Landſchaftsmalerei ein, von einem
gemeinſamen Bedürfniſſe hervorgerufen, dem nur ſie zu
entſprechen vermag. Was der Maler mit glücklichem
Auge der Natur entſehen, was er als künſtlericher Menſch
der vollen Gemeinſamkeit zum künſtleriſchen Genuße dar¬
ſtellen will, fügt er hier als ſein reiches Theil dem ver¬
einten Werke aller Künſte ein. Durch ihn wird die Scene
zur vollen künſtleriſchen Wahrheit: ſeine Zeichnung, ſeine
Farbe, ſeine warm belebende Anwendung des Lichtes zwin¬
gen die Natur der höchſten künſtleriſchen Abſicht zu dienen.
Was der Landſchaftsmaler bisher im Drange nach Mit¬
theilung des Erſehenen und Begriffenen in den engen
Rahmen des Bildſtückes einzwängte, — was er an der
einſamen Zimmerwand des Egoiſten aufhängte, oder zu
beziehungsloſer, unzuſammenhängender und entſtellender
Uebereinanderſchichtung in einem Bilderſpeicher dahingab,
— damit wird er nun den weiten Rahmen der tragi¬
ſchen Bühne erfüllen, den ganzen Raum der Scene zum
Zeugniß ſeiner naturſchöpferiſchen Kraft geſtaltend. Was
er durch den Pinſel und durch feinſte Farbenmiſchung nur
andeuten, der Täuſchung nur annähern konnte, wird er
hier durch künſtleriſche Verwendung aller ihm zu Gebot
ſtehenden Mittel der Optik, der künſtleriſchen Licht¬
benutzung, zur vollendet täuſchenden Anſchauung bringen.
Ihm wird nicht die ſcheinbare Rohheit ſeiner künſtleri¬
ſchen Werkzeuge, das anſcheinend Groteske ſeines Verfah¬
rens bei der ſogenannten Decorationsmalerei beleidigen,
denn er wird bedenken, daß auch der feinſte Pinſel zum
vollendeten Kunſtwerke ſich doch immer nur als demüthi¬
gendes Organ verhält, und der Künſtler erſt ſtolz zu
werden hat wenn er frei iſt, d. h. wenn ſein Kunſtwerk
fertig und lebendig, und er mit allen helfenden Werk¬
zeugen in ihm aufgegangen iſt. Das vollendete Kunſt¬
werk, das ihm von der Bühne entgegentritt, wird aber
aus dieſem Rahmen und von der vollen gemeinſamen
Oeffentlichkeit ihn unendlich mehr befriedigen, als ſein
früheres, mit feineren Werkzeugen geſchaffenes; er wird
die Benutzung des ſceniſchen Raumes zu Gunſten dieſes
Kunſtwerkes um ſeiner früheren Verfügung über ein
glattes Stück Leinwand willen wahrlich nicht bereuen:
denn, wie im ſchlimmſten Falle ſein Werk ganz daſſelbe
bleibt, gleichviel aus welchem Rahmen es geſehen werde,
wenn es nur den Gegenſtand zur verſtändnißvollen An¬
ſchauung bringt, — ſo wird jedenfalls ſein Kunſtwerk in
dieſem Rahmen einen lebensvolleren Eindruck, ein
größeres, allgemeineres Verſtändniß hervorrufen, als das
frühere landſchaftliche Bildstück.
Das Organ zu allem Naturverſtändniß iſt der
Mensch: der Landſchaftsmaler hatte dieſes Verſtändniß
nicht nur an den Menſchen mitzutheilen, ſondern durch
Darſtellung des Menſchen in ſeinem Naturgemälde auch
erſt deutlich zu machen. Dadurch, daß er ſein Kunſtwerk
nun in den Rahmen der tragiſchen Bühne ſtellt, wird er
den Menſchen, an den er ſich mittheilen will, zum gemein¬
ſamen Menſchen der vollen Oeffentlichkeit erweitern und
die Befriedigung haben, ſein Verſtändniß aud dieſen aus¬
gedehnt, ihn zum Mitfühlenden ſeiner Freude gemacht zu
haben; zugleich aber wird er dieß öffentliche Verſtändniß
dadurch erſt vollkommen herbeiführen, daß er ſein Werk
einer gemeinſamen höchſten und allverſtändlichſten Kunſt¬
abſicht zuordnet, dieſe Abſicht aber von dem wirklichen
leibhaftigen Menſchen mit aller Wärme ſeines Weſens
dem gemeinſamen Verſtändniſſe unfehlbar erſchloſſen wird.
Das allverſtändlichſte iſt die dramatiſche Handlung, eben
weil ſie erſt künſtlerisch vollendet iſt, wenn im Drama
gleichſam alle Hülfsmittel der Kunſt hinter ſich geworfen
ſind, und das wirkliche Leben auf das Treueſte und Be¬
greiflichſte zur unmittelbaren Anſchauung gelangt. Jede
Kunſtart theilt ſich verſtändlich nur in dem Grade mit,
als der Kern in ihr, der nur durch ſeinen Bezug auf den
9
Menſchen oder in ſeiner Ableitung vom Menſchen das
Kunſtwerk beleben und rechtfertigen kann, dem Drama
zureift. Allverſtändlich, vollkommen begriffen und gerecht¬
fertigt wird jedes Kunſtſchaffen in dem Grade, als es im
Drama aufgeht, vom Drama durchleuchtet wird.
Dem modernen Landſchaftsmaler kann es nicht gleich¬
gültig ſein zu gewahren, von wie Wenigen in Wahrheit ſein
Werk heut zu Tage verſtanden, mit welch ſtumpfſinnigem, blödem
Behagen von der Philiſterwelt, die ihn bezahlt, ſein Natur¬
gemälde eben nur beklotzt wird; wie die ſogenannte ſchöne
Gegend der bloßen müſſigen, gedankenloſen Schauluſt derſel¬
ben Menſchen, ohne Bedürfniß, Befriedigung zu gewähren im
Stande iſt, deren Hörſinn durch unſre moderne inhalstloſe Muſik¬
macherei nicht minder bis zu jener albernen Freude ergötzt wird,
die dem Künſtler ein ebenſo ekelhafter Lohn für ſeine Leiſtung
iſt, als ſie der Abſicht des Induſtriellen allerdings vollkommen
entſpricht. Unter der „ſchönen Gegend“ und der „hübſchen klin¬
genden Muſik“ unſerer Zeit herrſcht eine traurige Verwandtſchaft,
deren Verbindungsglied der ſinnige Gedanke ganz gewiß nicht iſt,
ſondern jene ſchwapperige, niederkrächtige Gemüthlichkeit, die
ſich vom Anblick der menſchlichen Leiden in der Umgebung eigen¬
ſüchtig zurückwendet, um ſich ein Privathimmelchen im blauen
Dunſte der Naturallgemeinheit zu miethen: Alles hören und ſehen
dieſe Gemüthlichen gern, nur nicht den wirklichen, unent¬
ſtellten Menſchen, der mahnend am Ausgange ihrer Träume
ſteht. Gerade dieſen müſſen wir nun aber in den Vor¬
dergrund ſtellen!—
Auf die Bühne des Architekten und Malers tritt nun
der künſtleriſche Menſch, wie der natürliche Menſch
auf den Schauplatz der Natur. Was Bildhauer und
Hiſtorienmaler in Stein und auf Leinwand zu bil¬
den ſich mühten, das bilden ſie nun an ſich, an ihrer
Geſtalt, den Gliedern ihres Leibes, den Zügen ihres Ant¬
litzes, zu bewußtem, künſtleriſchem Leben. Derſelbe Sinn,
der den Bildhauer leitete im Begreifen und Wiedergeben
der menſchlichen Geſtalt, leitet den Darſteller nun im
Behandlen und Gebahren ſeines wirklichen Körpers. Daſ¬
ſelbe Auge, das den Hiſtorienmaler in Zeichnung und
Farbe, bei Anordnung der Gewänder und Aufſtellung der
Gruppen, das Schöne, Anmuthige und Charakteriſtiſche
finden ließ, ordnet nun die Fülle wirklicher menſch¬
licher Erſcheinung. Bildhauer und Maler löſten vom
griechiſchen Tragiker einſt den Kothurn und die Maske,
auf dem und unter welcher der wahre Menſch immer nur
nach einer gewiſſen religiöſen Convention noch ſich bewegte.
Mit Recht haben beide bildende Künſte dieſe letzte Entſtel¬
lung des reinen künſtleriſchen Menſchen vernichtet, und ſo
den tragiſchen Darſteller der Zukunft in Stein und auf
Leinwand im Voraus gebildet. Wie ſie ihn nach ſeiner
unentſtellten Wahrheit erſahen, ſollen ſie ihn nun in Wirk¬
lichkeit ſich geben laſſen, ſeine von ihnen gewiſſermaßen
beſchriebene Geſtalt leibhaftig zur bewegungsvollen Dar¬
ſtellung bringen.
So wird die Täuſchung der bildenden Kunſt zur
Wahrheit im Drama: dem Tänzer, dem Mimiker, reicht
9*
der bildende Künſtler die Hand, um in ihm ſelbſt aufzu¬
gehen, ſelbſt Tänzer und Mimiker zu ſein. — Soweit es
irgend in ſeiner Fähigkeit liegt, wird dieſer den inneren
Menſchen, ſein Fühlen und Wollen, an das Auge mitzu¬
theilen haben. In vollſter Breite und Tiefe gehört ihm
der ſceniſche Raum zur plaſtiſchen Kundgebung ſeiner Ge¬
ſtalt und ſeiner Bewegung; als Einzelner oder im Verein
mit den Genoſſen der Darſtellung. Wo ſein Vermögen
aber endet, wo die Fülle ſeines Wollens und Fühlens zur
Entäußerung des inneren Menſchen durch die Sprache
ihn hindrängt, da wird das Wort ſeine deutlich bewußte
Abſicht künden: er wird zum Dichter, und um Dichter zu
ſein, Tonkünſtler. Als Tänzer, Tonkünſtler und Dich¬
ter iſt er aber Eines und Daſſelbe, nichts Anderes als dar¬
ſtellender, künſtleriſcher Menſch, der ſich nach der
höchſten Fülle ſeiner Fähigkeiten an die höchſte
Empfängnißkraft mittheilt.
In ihm, dem unmittelbaren Darſteller, vereinigen
ſich die drei Schweſterkünſte zu einer gemeinſamen Wirk¬
ſamkeit, bei welcher die höchſte Fähigkeit jeder einzelnen zu
ihrer höchſten Entfaltung kommt. Indem ſie gemeinſam
wirken, gewinnt jede von ihnen das Vermögen, gerade das
ſein und leiſten zu können, was ſie ihrem eigenthümlich¬
ſten Weſen nach zu ſein und zu leiſten verlangen. Dadurch,
daß jede da, wo ihr Vermögen endet, in die andere, von
da ab vermögende, aufgehen kann, bewahrt ſie ſich rein,
frei und ſelbſtſtändig als das, was ſie iſt. Der mimiſche
Tänzer wird ſeines Unvermögens ledig, ſobald er ſingen
und ſprechen kann; die Schöpfungen der Tonkunſt ge¬
winnen allverſtändigende Deutung durch den Mimiker wie
durch das gedichtete Wort, und zwar ganz in dem Maße,
als ſie ſelbſt in der Bewegung des Mimikers und dem
Worte des Dichters aufzugehen vermag. Der Dichter
aber wird wahrhaft erſt Menſch durch ſein Uebergehen in
das Fleiſch und Blut des Darſtellers; weiſt er jeder
künſtleriſchen Erſcheinung erſt die ſie alle bindende, und zu
einem gemeinſamen Ziele hinleitende Abſicht an, ſo wird
dieſe Abſicht aus einem Wollen zum Können erſt dadurch,
daß eben dieſes dichteriſche Wollen im Können
der Darſtellung untergeht.
Nicht eine reich entwickelte Fähigkeit der einzelnen
Künſte wird in dem Geſammtkunſtwerke der Zukunft unbe¬
nützt verbleiben, gerade in ihm erſt wird ſie zur vollen
Geltung gelangen. So wird namentlich auch die in der
Inſtrumentalmuſik ſo eigenthümlich mannigfaltig ent¬
wickelte Tonkunſt nach ihrem reichſten Vermögen in dieſem
Kunſtwerke ſich entfalten können, ja ſie wird die mimiſche
Tanzkunſt wiederum zu ganz neuen Erfindungen anregen,
wie nicht minder den Athem der Dichtkunſt zu ungeahnter
Fülle ausdehnen. In ihrer Einſamkeit hat die Muſik ſich
aber ein Organ gebildet, welches des unermeßlichſten Aus¬
druckes fähig iſt, und dieß iſt das Orcheſter. Die Ton¬
ſprache Beethovens, durch das Orcheſter in das Drama ein¬
geführt, iſt ein ganz neues Moment für das dramatiſche
Kunſtwerk. Vermögen die Architektur und namentlich
die ſceniſche Landſchaftsmalerei den darſtellenden drama¬
tiſchen Künſtler in die Umgebung der phyſiſchen Natur zu
ſtellen, und ihm aus dem unerſchöpflichen Borne natür¬
licher Erſcheinung einen immer reichen und beziehungs¬
vollen Hintergrund zu geben, — ſo iſt im Orcheſter, die¬
ſem lebensvollen Körper unermeßlich mannigfaltiger Har¬
monie, dem darſtellenden individuellen Menſchen ein un¬
verſiegbarer Quell gleichſam künſtleriſch menſchlichen Na¬
turelementes zur Unterlage gegeben. Das Orcheſter iſt,
ſo zu ſagen, der Boden unendlichen allgemeinſamen Ge¬
fühles, aus dem das individuelle Gefühl des einzelnen
Darſtellers zur höchſten Fülle herauszuwachſen vermag: es
löſt den ſtarren, unbeweglichen Boden der wirklichen Scene
gewiſſermaßen in eine flüſſigweich nachgiebige, eindruck-
empfängliche, ätheriſche Fläche auf, deren ungemeſſener
Grund das Meer des Gefühles ſelbſt iſt. So gleicht das
Orcheſter der Erde, die dem Anteos, ſobald er ſie mit
ſeinen Füßen berührte, neue unſterbliche Lebenskraft gab.
Seinem Weſen nach vollkommen der ſceniſchen Naturum¬
gebung des Darſtellers entgegengeſetzt, und deshalb als
Lokalität ſehr richtig auch außerhalb des ſceniſchen Rah¬
mens in den vertieften Vordergrund geſtellt, — macht es
zugleich aber den vollkommen ergänzenden Abſchluß dieſer
ſceniſchen Umgebung des Darſtellers aus, indem es das
unerſchöpfliche phyſiſche Naturelement zu dem nicht min¬
der unerſchöpflichen künſtleriſch menſchlichen Gefühls¬
elemente erweitert, das vereinigt den Darſteller wie mit
dem atmosphäriſchen Ringe des Natur- und Kunſtelemen¬
tes umſchließt, in welchem er ſich, gleich dem Himmelskör¬
per, in höchſter Fülle ſicher bewegt, und aus welchem er
zugleich nach allen Seiten hin ſeine Gefühle und An¬
ſchauungen, bis in das Unendlichſte erweitert, gleichſam in
die ungemeſſenſten Fernen, wie der Himmelskörper ſeine
Lichtſtrahlen, zu entſenden vermag.
So im wechſelvollen Reigen ſich ergänzend werden
die vereinigten Schweſterkünſte bald gemeinſam, bald zu
zweien, bald einzeln je nach Bedürfniß der einzig Maß
und Abſicht gebenden dramatiſchen Handlung, ſich zeigen
und geltend machen. Bald wird die plaſtiſche Mimik dem
leidenſchaftsloſen Erwägen des Gedankens lauſchen; bald
der Wille des entſchloſſenen Gedankens ſich in den unmit¬
telbaren Ausdruck der Gebärde ergießen; bald die Ton¬
kunſt die Strömung des Gefühles, die Schauer der Er¬
griffenheit allein auszuſprechen haben; bald aber werden
in gemeinſamer Umſchlingung alle drei dem Willen des
Drama's zur unmittelbaren, könnenden That erheben.
Denn Eines giebt es für ſie alle, die hier vereinigten
Kunſtarten, was ſie wollen müſſen, um im Können frei zu
werden, und das iſt eben das Drama: auf die Erreichung
der Abſicht des Drama's muß es ihnen daher allen ankom¬
men. Sind ſie ſich dieſer Abſicht bewußt, richten ſie allen
ihren Willen nur auf ihre Ausführung, ſo erhalten ſie
auch die Kraft, nach jeder Seite hin die egoiſtiſchen Schö߬
linge ihres beſonderen Weſens von ihrem eigenen Stamme
abzuſchneiden, damit der Baum nicht geſtaltlos nach jeder
Richtung hin, ſondern zu dem ſtolzen Wipfel der Aeſte,
Zweige und Blätter, zu ſeiner Krone aufwachſe.
Die Natur des Menſchen, wie jeder Kunſtart, iſt an
ſich überreich und mannigfaltig: nur Eines aber iſt die
Seele jedes Einzelnen, ſein nothwendigſter Trieb, ſein
bedürfnißkräftigſter Drang. Iſt dieſes Eine von ihm er¬
kannt als ſein Grundweſen, ſo vermag er, zu Gunſten der
unerläßlichen Erreichung dieſes Einen, jedem ſchwächeren,
untergeordneten Gelüſte, jedem unkräftigen Sehnen zu
wehren, deſſen Befriedigung ihn am Erlangen des Einen
hindern könnte. Nur der Unfähige, Schwache, kennt kein
nothwendigſtes, ſtärkſtes Seelenverlangen in ſich: bei ihm
überwiegt jeden Augenblick das zufällige, von außen gele¬
gentlich angeregte Gelüſten, das er, eben weil es nur ein
Gelüſten iſt, nie zu ſtillen vermag, und daher, von Einem
zum Andern willkürlich hin und her geſchleudert, ſelbſt nie
zum wirklichen Genießen gelangt. Hat dieſer Bedürfni߬
loſe aber die Macht, die Befriedigung zufälliger Gelüſte
hartnäckig zu verfolgen, ſo entſtehen eben die ſcheußlichen,
naturwidrigen Erſcheinungen im Leben und in der Kunſt,
die uns als Auswüchſe wahnſinnigen egoiſtiſchen Treibens,
als mordluſtige Wolluſt des Deſpoten, oder als geile
moderne Opernmuſik, mit ſo unſäglichem Ekel erfüllen.
Erkennt der Einzelne aber ein ſtarkes Verlangen in ſich,
einen Drang, der alles übrige Sehnen in ihm zurücktreibt,
alſo den nothwendigen inneren Trieb, der ſeine Seele, ſein
Weſen ausmacht, und ſetzt er alle ſeine Kraft daran, dieſen
zu befriedigen, ſo erhebt er auch ſeine Kraft, wie ſeine
eigenthümlichſte Fähigkeit, zu der Stärke und Höhe, die
ihm irgend erreichbar ſind.
Der einzelne Menſch kann aber bei voller Geſundheit
des Leibes, Herzens und Verſtandes kein höheres Bedürf¬
niß empfinden, als das, welches allen ihm Gleichgeachteten
gemeinſam iſt, denn es kann zugleich, als ein wahres
Bedürfniß, nur ein ſolches ſein, welches er in der Gemein¬
ſamkeit allein zu befriedigen vermag. Das nothwendigſte
und ſtärkſte Bedürfniß des vollkommenen künſtleriſchen
Menſchen iſt aber, ſich ſelbſt, in der höchſten Fülle ſeines
Weſens, der vollſten Gemeinſamkeit mitzutheilen, und dieß
erreicht er mit nothwendigem allgemeinen Verſtändniß nur
im Drama. Im Drama erweitert er ſein beſonderes
Weſen durch Darſtellung einer individuellen Perſönlichkeit,
die er nicht ſelbſt iſt, zum allgemein menſchlichen Weſen.
Er muß vollſtändig aus ſich herausgehen, um eine ihm
fremde Perſönlichkeit nach ihrem eigenen Weſen ſo voll¬
ſtändig zu erfaſſen, als es nöthig iſt um ſie darſtellen zu
können; er gelangt hierzu nur, wenn er dieſes eine In¬
dividuum in ſeiner Berührung, Durchdringung und Er¬
gänzung mit anderen und durch andere Individualitäten,
alſo auch das Weſen dieſer anderen Individualitäten ſelbſt,
ſo genau erforſcht, ſo lebhaft wahrnimmt, daß es ihm
möglich iſt, dieſe Berührung, Durchdringung und Ergän¬
zung an ſeinem eigenen Weſen ſympathetiſch inne zu wer¬
den; und der vollkommene künſtleriſche Darſteller iſt daher
der zum Weſen der Gattung erweiterte einzelne Menſch
nach der höchſten Fülle ſeines eigenen beſonderen Weſens.
Der Raum, in dem ſich dieſer wundervolle Prozeß bewerk¬
ſtelligt, iſt aber die theatraliſche Bühne; das künſt¬
leriſche Geſammtwerk, welches er zu Tage fördert, das
Drama. Um in dieſem einen höchſten Kunſtwerke ſein
beſonderes Weſen zur höchſten Blüthe ſeines Inhaltes zu
treiben, hat aber der einzelne Künſtler, wie die einzelne
Kunſtart, jede willkürliche egoiſtiſche Neigung zu unzeitiger,
dem Ganzen undienlicher, Ausbreitung in ſich zurückzu¬
drängen, um deſto kräftiger zur Erreichung der höchſten
gemeinſamen Abſicht mitwirken zu können, die ohne das
Einzelne, wie ohne zeitweiſe Beſchränkung des Einzelnen,
wiederum gar nicht zu verwirklichen iſt.
Dieſe Abſicht, die des Drama's, iſt aber zugleich die
einzige wahrhaft künſtleriſche Abſicht, die über¬
haupt auch nur verwirklicht werden kann; was von
ihr abliegt, muß ſich nothwendig in das Meer des Unbe¬
ſtimmten, Unverſtändlichen, Unfreien, verlieren. Dieſe
Abſicht erreicht aber nicht eine Kunſtart für ſich
allein Der moderne Schauſpieldichter wird ſich am Schwer¬
ſten geneigt fühlen zuzugeſtehen, daß auch ſeiner Kunſtart, der
Dichtkunſt, das Drama nicht allein angehören ſollte; nament¬
lich wird er ſich nicht überwinden können, es mit dem Tondichter
theilen zu ſollen, nämlich, wie er meint, das Schauſpiel in die
Oper aufgehen zu laſſen. Sehr richtig wird, ſo lange die Oper
beſteht, das Schauſpiel beſtehen müſſen, und eben ſo gut auch die
Pantomime; ſo lange ein Streit hierüber denkbar iſt, bleibt aber
auch das Drama der Zukunft ſelbſt undenkbar. Liegt der Zweifel
von Seiten des Dichters jedoch tiefer, und heftet er ſich daran, daß
es ihm nicht begreiflich dünkt, wie der Geſang ganz und für alle
Fälle die Stelle des recitirten Dialoges einnehmen ſolle, ſo iſt ihm
zu entgegnen, daß er ſich nach zwei Seiten hin über den Charakter
des Kunſtwerkes der Zukunft noch nicht klar geworden iſt. Erſtens
ermißt er nicht, daß in dieſem Kunſtwerke die Muſik durchaus eine
andere Stellung zu erhalten hat als in der modernen Oper: daß
ſie nur da, wo ſie die vermögendſte iſt, in voller Breite ſich zu
entfalten, dagegen aber überall, wo z. B. die dramatiſche Sprache
, ſondern nur alle gemeinſam, und daher iſt
das allgemeinſte Kunſtwerk zugleich das einzig wirk¬
liche, freie, d. h. das allgemein verſtändliche Kunſt¬
werk.
V.
Der Künſtler der Zukunft.
Haben wir in allgemeinen Zügen das Weſen des
Kunſtwerkes angedeutet, in welchem alle Künſte zu ihrer
das Nothwendigſte iſt, ſich dieſer vollkommen unterzuordnen
hat; daß aber gerade die Muſik die Fähigkeit beſitzt, ohne gänzlich
zu ſchweigen, dem gedankenvollen Elemente der Sprache ſich ſo
unmerklich anzuſchmiegen, daß ſie dieſe faſt allein gewähren läßt,
während ſie dennoch ſie unterſtützt. Erkennt dieß der Dichter an,
ſo hat er zweitens nun einzuſehen, daß Gedanken und Situationen,
denen auch die leiſeſte und zurückhaltendſte Unterſtützung der Muſik
noch zudringlich und läſtig erſcheinen müßte, nur dem Geiſte
unſres modernen Schauſpieles entnommen ſein könnten, der in
dem Kunſtwerke der Zukunft ganz und gar keinen Raum zum Ath¬
men mehr finden wird. Der Menſch, der im Drama der Zukunft
ſich darſtellen wird, hat mit dem proſaiſch intriguanten, ſtaats¬
modegeſetzlichen Wirrwarr, den unſre modernen Dichter in einem
Schauſpiele auf das Umſtändlichſte zu wirren und zu entwirren
haben, durchaus nichts mehr zu thun: ſein naturgeſetzliches Han¬
deln und Reden iſt: Ja, ja! und Nein, nein! wogegen alles
Weitere von Uebel, d. h. modern, überflüſſig iſt.
Erlöſung durch allgemeinſtes Verſtändniß aufzugehen ha¬
ben, ſo fragt es ſich nun, welche die Lebensbedingungen
ſein müſſen, die dieſes Kunſtwerk und dieſe Erlöſung als
nothwendig hervorrufen können. Wird es die verſtänd¬
nißbedürftige und nach Verſtändniß ringende moderne
Kunſt für ſich, aus eigenem Ermeſſen und Vorausbedacht,
nach willkürlicher Wahl der Mittel und mit überlegter Feſt¬
ſetzung des Modus der als nothwendig erkannten Vereini¬
gung, vermögen? Wird ſie eine conſtitutionelle Charte
octroyiren können, um zur Verſtändigung mit der ſoge¬
nannten Unbildung des Volkes zu gelangen? und wenn ſie
es über ſich bringt, wird dieſe Verſtändigung durch dieſe
Conſtitution wirklich ermöglicht werden? Kann die Kultur¬
kunſt von ihrem abſtracten Standpunkte aus in das Leben
dringen, oder — muß nicht vielmehr das Leben in die
Kunſt dringen? das Leben aus ſich heraus die ihm allein
entſprechende Kunſt erzeugen, in ihr aufgehen, —
ſtatt daß die Kunſt (wohlverſtanden: die Kulturkunſt,
die außerhalb des Lebens entſtandene) aus ſich das Leben
erzeuge und in ihm aufgehe?
Verſichern wir uns zuerſt darüber, wen wir uns un¬
ter dem Schöpfer des Kunſtwerkes der Zukunft zu denken
haben, um von ihm aus auf die Lebensbedingungen zu
ſchließen, die ihn und ſein Kunſtwerk entſtehen laſſen
können.
Wer alſo wird der Künſtler der Zukunft ſein?
Ohne Zweifel der Dichter
Den Tondichter ſei es uns geſtattet als im Sprachdich¬
ter mit inbegriffen anzuſehen, — ob perſönlich oder genoſſenſchaft¬
lich, das gilt hier gleich..
Wer aber wird der Dichter ſein?
Unſtreitig der Darſteller.
Wer wird jedoch wiederum der Darſteller ſein?
Nothwendig die Genoſſenſchaft aller Künſtler.—
Um Darſteller und Dichter naturgemäß entſtehen zu
ſehen, ſtellen wir uns zuvörderſt die künſtleriſche Genoſſen¬
ſchaft der Zukunft vor, und zwar nicht nach willkürlichen
Annahmen, ſondern nach der nothwendigen Folgerichtig¬
keit, mit der wir von dem Kunſtwerke ſelbſt auf diejenigen
künſtleriſchen Organe weiter zu ſchließen haben, die es ſei¬
nem Weſen nach einzig in das Leben rufen können. —
Das Kunſtwerk der Zukunft iſt ein gemeinſames, und
nur aus einem gemeinſamen Verlangen kann es hervor¬
gehen. Dieſes Verlangen, das wir bisher nur, als der
Weſenheit der einzelnen Kunſtarten nothwendig eigen,
theoretiſch dargeſtellt haben, iſt praktiſch nur in der
Genoſſenſchaft aller Künſtler denkbar, und die Ver¬
einigung aller Künſtler nach Zeit und Ort, und zu
einem beſtimmten Zwecke, bildet dieſe Genoſſenſchaft.
Dieſer beſtimmte Zweck iſt das Drama, zu dem ſie ſich
Alle vereinigen, um in der Betheiligung an ihm ihre be¬
ſondere Kunſtart zu der höchſten Fülle ihres Weſens zu
entfalten, in dieſer Entfaltung ſich gemeinſchaftlich alle zu
durchdringen, und als Frucht dieſer Durchdringung eben
das lebendige, ſinnlich gegenwärtige Drama zu zeugen. Das,
was Allen ihre Theilnahme ermöglicht, ja was ſie noth¬
wendig macht und was ohne dieſe Theilnahme gar nicht
zur Erſcheinung gelangen könnte, iſt aber der eigentliche
Kern des Drama's, die dramatiſche Handlung.
Die dramatiſche Handlung iſt, als innerlichſte Be¬
dingung des Drama's, zugleich dasjenige Moment im gan¬
zen Kunſtwerk, welches das allgemeinſte Verſtändniß
deſſelben verſichert. Unmittelbar dem (vergangenen oder
gegenwärtigen) Leben entnommen, bildet ſie gerade in dem
Maße das verſtändnißgebende Band mit dem Leben, als
ſie der Wahrheit des Lebens am getreueſten entſpricht, das
Verlangen deſſelben nach ſeinem Verſtändniſſe am geeignet¬
ſten befriedigt. Die dramatiſche Handlung iſt ſomit der
Zweig vom Baume des Lebens, der unbewußt und
unwillkürlich dieſem entwachſen, nach den Geſetzen des Le¬
bens geblüht hat und verblüht iſt, nun aber, von ihm abge¬
löſt, in den Boden der Kunſt gepflanzt wird, um
zu neuem, ſchönerem, unvergänglichem Leben aus ihm zu
dem üppigem Baume zu erwachſen, der dem Baume des
wirklichen Lebens ſeiner inneren, nothwendigen Kraft und
Wahrheit nach vollkommen gleicht, dem Leben ſelbſt gegen¬
ſtändlich geworden, dieſem ſein eigenes Weſen aber zur
Anſchauung bringt, das Unbewußtſein in ihm zum Bewußt¬
ſein von ſich erhebt.
In der dramatiſchen Handlung ſtellt ſich daher die
Nothwendigkeit des Kunſtwerkes dar; ohne ſie, oder ohne
irgend welchen Bezug auf ſie, iſt alles Kunſtgeſtalten will¬
kürlich, unnöthig, zufällig, unverſtändlich. Der nächſte
und wahrhaftigſte Kunſttrieb offenbart ſich nur in dem
Drange aus dem Leben heraus in das Kunſtwerk, denn es
iſt der Drang, das Unbewußte, Unwillkürliche im Leben
ſich als nothwendig zum Verſtändniß und zur Anerkennung
zu bringen. Der Drang nach Verſtändigung ſetzt aber Ge¬
meinheit voraus: der Egoiſt hat ſich mit Niemand zu
verſtändigen. Nur aus einem gemeinſamen Leben kann daher
der Drang nach verſtändnißgebender Vergegenſtändlichung
dieſes Lebens im Kunſtwerke hervorgehen; nur die Gemein¬
ſamkeit der Künſtler kann ihn ausſprechen, nur gemein¬
ſchaftlich können dieſe ihn befriedigen. Er befriedigt ſich
aber nur in der getreuen Darſtellung einer dem Leben ent¬
nommenen Handlung: Zur künſtleriſchen Darſtellung geeig¬
net kann nur eine ſolche Handlung ſein, die im Leben be¬
reits zum Abſchluſſe gekommen iſt, über die als reine That¬
ſache kein Zweifel mehr vorhanden iſt, von der willkürliche
Annahmen über ihren nur möglichen Abſchluß nicht mehr
ſich bilden können. Erſt an dem im Leben Vollendeten
vermögen wir die Nothwendigkeit ſeiner Erſcheinung zu
faſſen, den Zuſammenhang ſeiner einzelnen Momente zu
begreifen: eine Handlung iſt aber erſt vollendet, wenn der
Menſch, von dem dieſe Handlung vollbracht wurde, der
im Mittelpunkt einer Begebenheit ſtand, die er als füh¬
lende, denkende und wollende Perſon, nach ſeinem nothwen¬
digen Weſen leitete, willkürlichen Annahmen über ſein
mögliches Thun ebenfalls nicht mehr unterworfen iſt; die¬
ſen unterworfen iſt aber ein Menſch, ſo lange er lebt,
erſt mit ſeinem Tode iſt er von dieſer Unterworfenheit be¬
freit, denn wir wiſſen nun Alles was er that und was er
war. Diejenige Handlung muß der dramatiſchen Kunſt
als geeignetſter und würdigſter Gegenſtand der Darſtellung
erſcheinen, die mit dem Leben der ſie beſtimmenden Haupt¬
perſon zugleich abſchließt, deren Abſchluß in Wahrheit kein
anderer iſt, als der Abſchluß des Lebens dieſes Menſchen
ſelbſt. Nur die Handlung iſt eine vollkommen wahrhafte
und ihre Nothwendigkeit uns klar darthuende, an deren
Vollbringung ein Menſch die ganze Kraft ſeines Weſens
ſetzte, die ihm ſo nothwendig und unerläßlich war, daß er
mit der ganzen Kraft ſeines Weſens in ihr aufgehen mußte.
Davon überzeugt er uns auf das Unwiderleglichſte aber
nur dadurch, daß er in der Geltendmachung der Kraft ſei¬
nes Weſens wirklich perſönlich unterging, ſein per¬
ſönliches Daſein um der entäußerten Nothwendigkeit ſeines
Weſens willen wirklich aufhob, — daß er die Wahrheit
ſeines Weſens nicht nur in ſeinem Handeln allein — was
uns, ſo lange er handelt, noch willkürlich erſcheinen darf—
ſondern mit dem vollbrachten Opfer ſeiner Perſönlichkeit
zu Gunſten dieſes nothwendigen Handelns, uns bezeugt.
Die letzte, vollſtändigſte Entäußerung ſeines perſönlichen
Egoismus, die Darlegung ſeines vollkommenen Aufgehens
in die Allgemeinheit, gibt uns ein Menſch nur mit ſeinem
Tode kund, und zwar nicht mit ſeinem zufälligen,
ſondern ſeinem nothwendigen, dem durch ſein Handeln
aus der Fülle ſeines Weſens bedingten Tode.
Die Feier eines ſolchen Todes, iſt die wür¬
digſte, die von Menſchen begangen werden kann.
Sie erſchließt uns nach dem, durch jenen Tod erkannten, Weſen
dieſes einen Menſchen die Fülle des Inhaltes des menſch¬
lichen Weſens überhaupt. Am Vollkommenſten verſichern
wir uns des Erkannten aber in der bewußtvollen Dar¬
ſtellung jenes Todes ſelbſt, und, um ihn uns zu erklä¬
ren, durch die Darſtellung derjenigen Handlung, deren
nothwendiger Abſchluß jener Tod war. Nicht in den
widerlichen Leichenfeiern, wie wir ſie in unſrer chriſtlich-
modernen Lebensweiſe durch beziehungsloſe Geſänge und
banale Kirchhofsreden begehen, ſondern durch die künſt¬
leriſche Wiederbelebung des Todten, durch lebensfreudige
Wiederholung und Darſtellung ſeiner Handlung und ſei¬
nes Todes im dramatiſchen Kunſtwerke werden wir die
Feier begehen, die uns Lebendige in der Liebe zu dem Ge¬
ſchiedenen hoch beglückt und ſein Weſen zu dem unſrigen
macht.
Iſt das Verlangen nach dieſer dramatiſchen Feier in
der ganzen Künſtlerſchaft vorhanden, und kann nur der Ge¬
genſtand ein würdiger und der Drang zu ſeiner Darſtellung
rechtfertigender ſein, der uns gemeinſchaftlich dieſen
Drang erweckt; ſo hat doch die Liebe, die allein als thätige
und ermöglichende Kraft hierbei gedacht werden kann, ihren
unergründlich tiefen Sitz in dem Herzen jedes Einzelnen,
in welchem ſie, nach der beſonderen Eigenthümlichkeit der
Individualität dieſes Einzelnen, wiederum zu beſonderer
treibender Kraft gelangt. Dieſe beſonders treibende Kraft
der Liebe wird ſich am Drängendſten immer in dem Ein¬
zelnen kundgeben, der ſeinem Weſen nach, überhaupt oder
gerade in dieſer beſtimmten Periode ſeines Lebens, ſich die¬
ſem einen beſtimmten Helden am verwandteſten fühlt, durch
Sympathie das Weſen dieſes Helden ſich am beſonderſten
zu eigen macht, und ſeine künſtleriſchen Fähigkeiten am ge¬
eignetſten dazu ermißt, gerade dieſen Helden durch ſeine
Darſtellung für ſich, ſeine Genoſſenſchaft und die Gemein¬
ſamkeit überhaupt, zu überzeugender Erinnerung wieder zu
beleben. Die Macht der Individualität wird ſich nie
geltender machen als in der freien künſtleriſchen Genoſſen¬
ſchaft, weil die Anregung zu gemeinſamen Entſchlüſſen ge¬
rade nur von Demjenigen ausgehen kann, in dem die In¬
dividualität ſo kräftig ſich ausſpricht, daß ſie zu gemeinſa¬
men freien Entſchlüſſen zu beſtimmen vermag. Dieſe
Macht der Individualität wird gerade nur in den ganz be¬
ſonderen, beſtimmten Fällen auf die Genoſſenſchaft wirken
können, wo ſie wirklich, nicht erkünſtelt, ſich geltend zu
machen weiß. Eröffnet ein künſtleriſcher Genoſſe ſeine
Abſicht, dieſen einen Helden darzuſtellen, und begehrt
er hierzu die, ſeine Abſicht einzig ermöglichende, gemein¬
ſame Mitwirkung der Genoſſenſchaft, ſo wird er ſeinem
Verlangen nicht eher entſprochen ſehen, als bis es ihm ge¬
lungen iſt, die Liebe und Begeiſterung für ſein Vorhaben zu
erwecken, die ihn ſelbſt beleben, und die er nur mitzuthei¬
len vermag, wenn ſeiner Individualität die dem beſonderen
Gegenſtande entſprechende Kraft zu eigen iſt.
Hat der Künſtler durch die Energie ſeiner Begeiſte¬
rung ſeine Abſicht zu einer gemeinſamen erhoben, ſo iſt
von da an das künſtleriſche Unternehmen ebenfalls ein
gemeinſames; wie aber die darzuſtellende dramatiſche
Handlung ihren Mittelpunkt in dem Helden dieſer Hand¬
lung hat, ſo behält das gemeinſame Kunſtwerk auch ſeinen
Mittelpunkt in dem Darſteller dieſes Helden: ſeine Mit¬
darſteller und ſonſt Mitwirkenden verhalten ſich im Kunſt¬
werke zu ihm ſo, wie die mithandelnden Perſonen — die¬
jenigen alſo, an denen der Held als an den Gegenſtänden
und Gegenſätzen ſeines Weſens ſeine Handlung kund gab,
— ſo wie die allgemeine menſchliche und natürliche Um¬
gebung, ſich im Leben zu dem Helden verhielten, nur mit
dem Unterſchiede, daß vom darſtellenden Helden mit Be¬
wußtſein geſtaltet und geordnet wird, was dem wirklichen
Helden ſich unwillkürlich darſtellte. Der Darſteller
wird in ſeinem Drange nach künſtleriſcher Reproduction
der Handlung ſomit Dichter. Er ordnet nach künſtleri¬
ſchem Maße ſeine eigene Handlung, ſo wie alle lebendigen
gegenſtändlichen Beziehungen zu ſeiner Handlung. Genau
aber nur in dem Grade erreicht er ſeine eigene Abſicht, als
er ſie zu einer gemeinſamen erhoben hat, als jeder Einzelne
in dieſer gemeinſamen Abſicht aufzugehen verlangt, — ge¬
nau alſo in dem Maße, in welchem er vor Allen ſeine be¬
ſondere perſönliche Abſicht ſelbſt auch in der gemeinſamen
aufzugeben vermag, und ſo gewiſſermaßen im Kunſtwerke
die Handlung des gefeierten Helden nicht nur darſtellt,
ſondern moraliſch ſie durch ſich ſelbſt wiederholt, indem
er nämlich durch dieſes Aufgeben ſeiner Perſönlichkeit be¬
weiſt, daß er auch in ſeiner künſtleriſchen Handlung
eine nothwendige, die ganze Individualität ſeines Weſens
verzehrende Handlung vollbringt. Wie wir hierbei das tragiſche Element des Kunſtwerkes
der Zukunft in ſeiner Entwickelung aus dem Leben und durch die
künſtleriſche Genoſſenſchaft berührt haben, ſo dürfen wir auf das
komiſche Element deſſelben durch Umkehrung derjenigen Bedin¬
gungen ſchließen, welche das tragiſche als nothwendig zur Er¬
ſcheinung brachten. Der Held der Komödie wird der umgekehrte
Held der Tragödie ſein: Wie dieſer als Communiſt, d. h. als Ein¬
zelner, der durch die Kraft ſeines Weſens aus innerer, freier Noth¬
wendigkeit in der Allgemeinheit aufgeht, ſich unwillkürlich nur auf
ſeine Umgebung und Gegenſätze bezog, ſo wird jener als Egoiſt,
als Feind der Allgemeinheit, ſich dieſer zu entziehen oder ſie will¬
kürlich auf ſich allein zu beziehen ſtreben, in dieſem Streben aber
von der Allgemeinheit in den mannigfaltigſten und abwechſelndſten
Geſtalten bekämpft, gedrängt und endlich beſiegt werden. Der
Egoiſt wird gezwungen in die Allgemeinheit aufgehen, dieſe
daher die eigentliche handelnde, vielfache Perſon ſein, die dem im¬
mer handelnwollenden, nie aber könnenden Egoiſten ſo lange als
willkürlich wechſelnder Zufall erſcheint, bis ſie im gedrängteſten
Kreiſe ihn umſchließt, und er, ohne Luft zum weiteren eigenſüchti¬
gen Athmen, ſeine letzte Rettung endlich nur in der unbedingteſten
Anerkennung ihrer Nothwendigkeit erſieht. Die künſtleriſche Ge¬
noſſenſchaft, als Repräſentant der Allgemeinheit, wird ſomit in der
Komödie einen noch unmittelbareren Antheil an der Dichtung ſelbſt
haben als in der Tragödie.
Die freie künſtleriſche Geoſſenſchaft iſt daher
der Grund und die Bedingung des Kunſtwerkes ſelbſt. Aus
ihr geht der Darſteller hervor, der in der Begeiſterung
an dieſem einen, ſeiner Individualität beſonders entſpre¬
chenden Helden, ſich bis zum Dichter, zum künſtleriſchen
Geſetzgeber der Genoſſenſchaft erhebt, um von dieſer Höhe
vollkommen wieder in die Genoſſenſchaft aufzugehen. Das
Wirken dieſes Geſetzgebens iſt daher immer nur ein periodi¬
ſches, das nur auf den einen beſonderen, von ihm aus
ſeiner Individualität angeregten, und zum gemeinſamen
künſtleriſchen Gegenſtand erhobenen Fall ſich zu erſtrecken
hat; es iſt daher keineswegs ein auf alle Fälle ſich aus¬
dehnendes. Die Diktatur des dichteriſchen Darſtellens iſt na¬
turgemäß zugleich mit der Erreichung ſeiner Abſicht zu
Ende, eben dieſer Abſicht, die er zu einer gemeinſamen erhoben
hatte und in die er aufging, ſobald ſie als eine gemeinſame
ſich der Gemeinſamkeit mittheilte. Jeder einzelne Genoſſe
vermag ſich zur Ausübung dieſer Diktatur zu erheben,
wenn er eine beſondere, ſeiner Individualität in dem Maße
entſprechende Abſicht kund zu geben hat, daß er ſie zu einer
gemeinſchaftlichen zu erheben vermag; denn in derjenigen
künſtleriſchen Genoſſenſchaft, die zu keinem anderen
Zwecke, als zu dem der Befriedigung gemein¬
ſchaftlichen Kunſtdranges ſich vereinigt, kann un¬
möglich je etwas Anderes zu maßgebender, geſetzlicher Be¬
ſtimmung gelangen, als das, was die gemeinſchaftliche Be¬
friedigung herbeiführt, alſo die Kunſt ſelbſt und die
Geſetze, welche, in der Vereinigung des Indivi¬
duellen mit dem Allgemeinen, ihre vollkommen¬
ſten Erſcheinungen ermöglichen. —
In der gemeinſchaftlichen Vereinigung der Menſchen
der Zukunft werden dieſelben Geſetze innerer Nothwen¬
digkeit einzig als beſtimmend ſich geltend machen. Eine
natürliche — nicht gewaltſame — Vereinigung einer
größeren oder geringeren Anzahl von Menſchen kann nur
durch ein, dieſen Menſchen gemeinſames Bedürfniß hervor¬
gerufen werden. Die Befriedigung dieſes Bedürfniſſes iſt
der alleinige Zweck der gemeinſchaftlichen Unternehmung:
nach dieſem Zwecke richten ſich die Handlungen jedes Ein¬
zelnen, ſo lange das gemeinſame Bedürfniß zugleich das
ſtärkſte ihm ſelbſt eigene iſt; und dieſer Zweck giebt dann
ganz von ſelbſt die Geſetze für das gemeinſchaftliche Handeln
ab. Dieſe Geſetze ſind nämlich ſelbſt nicht Anderes, als
die zur Erreichung des Zweckes dienlichſten Mittel. Das
Erkennen der zweckdienlichſten Mittel iſt Demjenigen ver¬
ſagt, der zu dieſen Zwecke durch kein wahres nothwendiges
Bedürfniß gedrängt wird: Da wo dieß aber vorhanden
iſt, entſpringt das richtigſte Erkennen dieſer Mittel aus der
Kraft des Bedürfniſſes ganz von ſelbſt, und namentlich
eben durch die Gemeinſamkeit dieſes Bedürfniſſes. Natür¬
liche Vereinigungen haben daher auch gerade nur ſo lange
einen natürlichen Beſtand, als das ihnen zu Grunde liegende
Bedürfniß ein gemeinſames und ſeine Befriedigung eine
noch zu erſtrebende iſt: iſt der Zweck erreicht, ſo iſt dieſe
Vereinigung, mit dem Bedürfniſſe das ſie hervorrief, ge¬
löſt, und erſt aus neuentſtehenden Bedürfniſſen entſtehen
auch wieder neue Vereinigungen Derjenigen, denen wie¬
derum dieſe neuen Bedürfniſſe gemeinſam ſind. Unſere mo¬
dernen Staaten ſind in ſofern die unnatürlichſten Vereini¬
gungen der Menſchen, weil ſie, an und für ſich nur durch
äußere Willkür, z. B. dynaſtiſche Familienintereſſen, ent¬
ſtanden, eine gewiſſe Anzahl von Menſchen ein für alle¬
mal zu einem Zwecke zuſammenſpannen, der einem ihnen
gemeinſamen Bedürfniß entweder nie entſprochen hat oder
unter der Veränderung der Zeiten ihnen Allen doch keines¬
wegs mehr gemeinſam iſt. — Alle Menſchen haben nur
ein gemeinſchaftliches Bedürfniß, welches jedoch nur ſeinem
allgemeinſten Inhalte nach ihnen gleichmäßig inne wohnt:
das iſt das Bedürfniß zu leben und glücklich zu ſein.
Hierin liegt das natürliche Band aller Menſchen; ein Be¬
dürfniß, dem die reiche Natur der Erde vollkommen zu
entſprechen vermag. Die beſonderen Bedürfniſſe wie ſie
nach Zeit, Ort und Individualität ſich kundgeben und ſtei¬
gern, können in dem vernünftigen Zuſtande der zukünftigen
Menſchheit allein die Grundlage der beſonderen Vereini¬
gungen abgeben, welche in ihrer Totalität die Gemein¬
ſchaft aller Menſchen ausmachen. Dieſe Vereinigungen
werden gerade ſo wechſeln, neu ſich geſtalten, ſich löſen und
wiederum knüpfen, als die Bedürfniſſe wechſeln und wie¬
derkehren; ſie werden von Dauer ſein, wo ſie materiellerer
10
Art ſind, auf den gemeinſchaftlichen Grund und Boden
ſich beziehen, und überhaupt den Verkehr der Menſchen in
ſo weit betreffen, als dieſer aus gewiſſen, ſich gleichbleiben¬
den, örtlichen Beſtimmungen als nothwendig erwächſt; ſie
werden ſich aber immer neu geſtalten, in immer mannig¬
faltigerem und regerem Wechſel ſich kundgeben, je mehr ſie aus
allgemeineren höheren, geiſtigen Bedürfniſſen hervorgehen.
Der ſtarren, nur durch äußeren Zwang erhaltenen, ſtaatli¬
chen Vereinigung unſerer Zeit gegenüber, werden die freien
Vereinigungen der Zukunft in ihrem flüſſigen Wechſel bald
in ungemeiner Ausdehnung, bald in feinſter naher Gliede¬
rung das zukünftige menſchliche Leben ſelbſt darſtellen, dem
der raſtloſe Wechſel mannigfaltigſter Individualitäten uner¬
ſchöpflich reichen Reiz gewährt, während das gegenwärtige
Leben
Und namentlich auch unſere modernen Theaterinſtitute.in ſeiner modiſch-polizeilichen Einförmigkeit das
leider nur zu getreue Abbild des modernen Staates, mit
ſeinen Ständen, Anſtellungen, Standrechten, ſte¬
henden Heere — und was ſonſt noch Alles in ihm ſtehen
möge — darſtellt.
Keine Vereinigungen werden aber einen reicheren,
ewig erfriſchenderen Wechſel haben, als die künſtleriſchen,
weil jede Individualität in ihnen, ſobald ſie ſich dem Geiſte
der Gemeinſamkeit entſprechend zu geben weiß, durch ſich
und ihre gegenwärtig dargethane Abſicht, zur Ermögli¬
chung dieſer einen Abſicht, eine neue Vereinigung hervor¬
ruft, indem ſie ihr beſonderes Bedürfniß zu dem Bedürf¬
niß einer, ſo eben aus dieſem Bedürfniß entſtehenden, Ver¬
einigung erweitert. Jedes in das Leben tretende drama¬
tiſche Kunſtwerk wird ſomit das Werk einer neuen, vorher
noch nie dageweſenen und ſo nie ſich wiederholenden, Ver¬
einigung von Künſtlern ſein: ihre Vereinigung wird von
dem Augenblicke an beſtehen, wo der dichteriſche Darſteller
des Helden ſeine Abſicht zur gemeinſamen der ihm nöthigen
Genoſſenſchaft erhob, und in dem Augenblicke wird ſie auf¬
gelöſt ſein, wo dieſe Abſicht erreicht iſt.
Auf dieſe Weiſe kann nichts ſtarr und ſtehend in die¬
ſer künſtleriſchen Vereinigung werden: ſie findet nur zu
dieſem einen, heute erreichten, Zwecke der Feier dieſes einen
beſtimmten Helden ſtatt, um morgen unter ganz neuen Be¬
dingungen, durch die begeiſternde Abſicht eines ganz ver¬
ſchiedenen anderen Individuums, zu einer neuen Vereini¬
gung zu werden, die eben ſo unterſchieden von der vorigen
iſt, als ſie nach den ganz beſonderen Geſetzen ihr
Werk zu Tage fördert, die, als zweckdienlichſte Mittel zur
Verwirklichung der neu aufgenommenen Abſicht, ſich eben¬
falls als neu und ganz ſo noch nie dageweſen ergeben.
So und nicht anders muß die Künſtlerſchaft der Zu¬
kunft beſchaffen ſein, ſobald ſie eben kein anderer Zweck,
10*
als das Kunſtwerk, vereinigt. Wer wird demnach aber
der Künſtler der Zukunft ſein? Der Dichter? Der
Darſteller? Der Muſiker? Der Plaſtiker? — Sagen wir
es kurz: Das Volk; dasſelbige Volk, dem wir
ſelbſt heut zu Tage das in unſerer Erinnerung
lebende, von uns mit Entſtellung nur nachge¬
bildete, einzige wahre Kunſtwerk, dem wir die
Kunſt überhaupt einzig verdanken.
Wenn wir Vergangenes, Vollbrachtes zuſammenſtellen,
um uns von einem beſonderen Gegenſtande nach ſeiner all¬
gemeinen Erſcheinung in der Geſchichte der Menſchheit ein
Bild darzuſtellen, ſo können wir mit Sicherheit die einzeln¬
ſten Züge desſelben bezeichnen, — ja aus genaueſter Be¬
trachtung ſolch einzelnen Zuges erwächſt uns oft das ſicherſte
Verſtändniß des Ganzen, daß wir bei ſeiner verſchwim¬
menden Allgemeinheit oft nur nach dieſem einzelnen, be¬
ſonderen Zuge erfaſſen müſſen, um von ihm aus zu einer
Vorſtellung des Allgemeinen zu gelangen, und es iſt, wie
in dem gegenwärtig uns vorgeführten Gegenſtande der
Kunſt, die Fülle genau ſich darbietender Einzelnheiten ſo
groß, daß wir, um den Gegenſtand nach ſeiner Allgemein¬
heit darzuſtellen, nur einen höchſt geringen Theil derſelben,
eben den, der für unſere Anſchauungsweiſe uns gerade am
bezeichnendſten erſcheint, in Betracht ziehen dürfen, um uns
in ihnen nicht zu verlieren, und ſo den größeren allgemei¬
nen Zweck im Auge zu behalten. Gerade umgekehrt iſt es
der Fall, wenn wir einen zukünftigen Zuſtand nur dar¬
ſtellen wollen; wir haben zu ſolchem Verfahren, nur einen
Maßſtab, und der liegt gerade eben nicht in dem Raume
der Zukunft, auf dem der Zuſtand ſich geſtalten ſoll, ſon¬
dern in der Vergangenheit und Gegenwart, alſo da, wo
alle die Bedingungen noch lebendig vorhanden ſind, die
den erſehnten zukünftigen Zuſtand heute eben noch unmöglich
machen, und gerade ſein volles Gegentheil nothwendig er¬
ſcheinen laſſen. Die Kraft des Bedürfniſſes drängt uns
zu einer nur ganz allgemeinen Vorſtellung hin, wie wir
ſie nicht nur mit dem Wunſche des Herzens, ſondern viel¬
mehr nach einem nothwendigen Verſtandesſchluſſe auf den
Gegenſatz zu dem heutigen, als ſchlecht erkannten Zuſtande
zu faſſen haben. Alle einzelnen Züge
Wer ſich aus ſeiner Befangenheit in dem trivialen, unna¬
türlichen Weſen unſerer modernen Kunſtzuſtände durchaus nicht zu
erheben vermag, wird um dieſer Einzelnheiten willen die abgeſchmack¬
teſten Fragen aufwerfen, Zweifel kundgeben, nicht begreifen können
und wollen; auf die Tauſend Möglichkeiten von Zweifel und Fra¬
gen dieſer Art im Voraus etwa hier antworten zu ſollen, wird Nie¬
mand von Demjenigen verlangen, der ſich überhaupt nur dem den¬
kenden Künſtler, nicht aber dem ſtumpfſinnigen modernen
Kunſtinduſtriellen — möge dieſer nun in Literatur, Kritik oder
Production machen: — mittheilt.müſſen aus dieſer
Vorſtellung hinwegbleiben, weil ſie nur nach willkürlichen
Annahmen als Bilder unſerer Phantaſie ſich darſtellen
könnten und ihrem Weſen nach doch nur gerade dem heuti¬
gen Zuſtande entnommen ſein, immer nur wie ſie den Ge¬
gebenheiten der Gegenwart entſprungen, ſich uns darbieten
dürften. Nur das Vollbrachte und Fertige können wir
wiſſen; die lebenvolle Geſtaltung der Zukunft kann un¬
beſtritten eben nur das Werk des Lebens ſelbſt ſein! Iſt
ſie vollbracht, ſo werden wir mit einem Blicke klar be¬
begreifen, was heute wir nur nach Laune und Willkür un¬
ter dem unüberwindlichen Eindrucke der gegenwärtigen Ver¬
hältniſſe uns vorgaukeln könnten.
Nichts iſt verderblicher für das Glück der Menſchen
geweſen, als dieſer wahnſinnige Eifer, das Leben der Zu¬
kunft durch gegenwärtig gegebene Geſetze zu ordnen: Dieſe
widerliche Sorge für die Zukunft, die in Wahrheit nur
dem trübſinnigen abſoluten Egoismus zu eigen iſt, ſucht
im Grunde immer nur zu erhalten, das, was wir heute
gerade haben, für alle Lebenszeit uns zu verſichern: ſie
hält das Eigenthum, das für alle Ewigkeit niet- und na¬
gelfeſt zu bannende Eigenthum, als den einzig würdigen
Gegenſtand menſchlich thätiger Vorausſicht feſt, und ſucht
daher nach Möglichkeit das ſelbſtſtändige Lebensgebahren
der Zukunft zu beſchränken, den ſelbſtgeſtaltenden Lebenstrieb
ihr, als böſen, aufregenden Stachel, thunlichſt ganz aus¬
zureißen, um dieſes Eigenthum als unverſiegbaren, nach dem
Naturgeſetz der Fünfprozent ewig ſich neu erzeugenden und
ergänzenden Stoff behaglichſten Käuens und Schlingens,
vor jeder unbehutſamen Berührung zu ſchützen. Wie bei
dieſer großen modernen Hauptſtaatsſorge der Menſch für
alle zukünftigen Zeiten als ein grundſchwaches oder immer
zu bemißtrauendes Weſen gedacht wird, das einzig durch
ein Eigenthum erhalten oder durch Geſetze auf der rechten
Bahn zu leiten ſei, ſo iſt uns auch in Bezug auf die Kunſt
und die Künſtler nur das Kunſtinſtitut die einzige Ge¬
währleiſtung des Gedeihens Beider: ohne Academien, In¬
ſtitutionen und Geſetzbücher ſcheint uns jeden Augenblick
die Kunſt — ſo zu ſagen — aus dem Leim gehen zu müſ¬
ſen; denn eine freie, ſelbſtbeſtimmende Thätigkeit von
Künſtlern iſt uns gar nicht denkbar. Dies hat ſeinen Grund
aber nur darin, daß wir wirklich eben keine wahren Künſt¬
ler, wie überhaupt keine wahren Menſchen ſind; und ſo
wirft das Gefühl unſerer eigenen — aber durch Feigheit und
Schwäche gänzlich ſelbſt verſchuldeten — Unfähigkeit und Er¬
bärmlichkeit uns in die ewige Sorge, Geſetze für die Zu¬
kunft zu machen, durch deren gewaltſame Aufrechthaltung
wir im Grunde nur bezwecken, daß wir nie wahre Künſt¬
ler, nie wahre Menſchen werden.
So iſt es. Wir ſehen die Zukunft immer nur mit
dem Auge der Gegenwart, mit dem Auge, das alle Men¬
ſchen der Zukunft immer nur nach dem Maße meſſen kann,
das es, als Maß der gegenwärtigen Menſchen, zum allge¬
mein menſchlichen Maß überhaupt macht. Wenn wir
ſchließlich mit Nothwendigkeit das Volk als den Künſt¬
ler der Zukunft erkannt haben, ſo ſehen wir, dieſer Ent¬
deckung gegenüber, den intelligenten Künſtleregoismus der
Gegenwart in verachtungsvolles Staunen ausbrechen. Er
vergißt vollſtändig, daß in den Zeiten des geſchlechtlich-na¬
tionalen Communismus, die der Erhebung des abſoluten
Egoismus jedes Einzelnen zur Religion vorangingen, und
die unſere Hiſtoriker als die der ungeſchichtlichen Mythe
und Fabel bezeichnen, das Volk in Wahrheit bereits der
einzige Dichter und Künſtler war, daß er allen Stoff und
alle Form, wenn ſie irgend geſundes Leben haben ſollen,
einzig dieſem dichtenden und kunſterfindendem Volke ent¬
nehmen kann, und erblickt das Volk dagegen einzig nur in
der Geſtalt, in welcher er es aus der Gegenwart vor ſein
kulturbebrilltes Auge ſtellt. Er glaubt von ſeinem erhabenen
Standpunkte aus einzig ſeinen Gegenſatz, die rohe gemeine
Maſſe, unter dem Volke begreifen zu müſſen; ihm ſteigen
im Hinblick auf das Volk nur Bier- und Schnapsdünſte
in die Naſe, er greift nach dem parfümirten Taſchentuche,
und fragt mit civiliſirter Entrüſtung: was? Der Pöbel
ſoll uns künftig im Kunſtmachen ablöſen? Der Pöbel,
der uns nicht einmal verſteht, wenn wir Kunſt ſchaffen? Aus der
qualmigen Kneipe, aus der dampfenden Felddüngergrube
ſollen uns die Gebilde der Schönheit und Kunſt aufſteigen?
Sehr richtig! Nicht aus der ſchmutzigen Grundlage
Eurer heutigen Kultur, nicht aus dem widerlichen Boden¬
ſatze Eurer modernen feinen Bildung, nicht aus den Be¬
dingungen die Eurer modernen Civiliſation die einzig denk¬
bare Baſis des Daſeins geben, ſoll das Kunſtwerk der Zu¬
kunft entſtehen. Bedenkt aber, daß dieſer Pöbel keines¬
wegs ein normales Produkt der wirklichen menſchlichen
Natur iſt, ſondern vielmehr das künſtliche Erzeugniß
Eurer unnatürlichen Kultur — daß alle die Laſter und
Scheußlichkeiten, die Euch an dieſem Pöbel anwidern, nur
die verzweiflungsvollen Gebärden des Kampfes ſind, den
die wirkliche menſchliche Natur gegen ihre grauſame Un¬
terdrückerin, die moderne Civiliſation, führt, und das Ab¬
ſchreckende in dieſen Gebärden keineswegs die wahre Miene
der Natur, ſondern vielmehr der Widerſchein der glei߬
neriſchen Fratze Eurer Staats- und Criminalkultur iſt.
Bedenkt ferner, daß da, wo ein Theil der ſtaatlichen Ge¬
ſellſchaft nur überflüſſige Kunſt und Literatur treibt, ein
anderer Theil nothwendig nur den Schmutz Eures un¬
nützen Daſeins zu tilgen hat; daß da, wo Schöngeiſterei
und Mode ein ganzes unnöthiges Leben erfüllen, Roh¬
heit und Plumpheit die Grundzüge eines anderen, Euch
nothwendigen, Lebens ausmachen müſſen; daß da, wo der
bedürfnißloſe Luxus ſeinen allesverzehrenden Heißhunger
gewaltſam zu ſtillen ſucht, das natürliche Bedürfniß auf
der andern Seite nur durch Plack und Noth, unter den
entſtellendſten Sorgen, ſich mit dem Luxus zugleich befrie¬
digen kann. So lange Ihr intelligenten Egoiſten und egoiſti¬
ſchen Feingebildeten in künſtlichem Dufte erblüht, muß es
nothwendig einen Stoff geben, aus deſſen Lebensſafte Ihr
Eure ſüßlichen Parfüms deſtillirt: und dieſer Stoff, dem
Ihr ſeinen natürlichen Wohlgeruch entzogen habt, iſt nur
dieſer übelathmige Pöbel, vor deſſen Nähe es Euch ekelt,
und von dem Ihr Euch im Grunde einzig doch nur durch
jenen Parfüm unterſcheidet, den Ihr ſeiner natürlichen An¬
muth entpreßt habt. So lange ein großer Theil des Ge¬
ſammtvolkes in Staats-, Gerichts- und Univerſitätsämtern
in unnützeſter Geſchäftigkeit koſtbare Lebenskräfte vergeu¬
det, muß allerdings ein eben ſo großer, wenn nicht noch
größerer Theil desſelben in überſpannteſter Nutzthätigkeit
mit ſeinen eigenen auch jene vergeudeten Lebenskräfte er¬
ſetzen helfen, und — was das Allerſchlimmſte iſt! — wenn
ſomit in dieſem unmäßig angeſpannten Theile des Volkes, das
Nützliche, das nur Nutzenbringende, zur bewegenden Seele
aller Thätigkeit geworden iſt, ſo muß die widerliche Er¬
ſcheinung ſich herausſtellen, daß der abſolute Egoismus über¬
allhin ſeine Lebensgeſetze geltend macht, und aus Bürger- und
Bauerpöbel Euch wiederum mit häßlichſter Grimaſſe angrinzt.
Weder Euch noch dieſen Pöbel verſtehen wir aber
unter dem Volke: nur wenn weder dieſer noch Ihr mehr
vorhanden ſeid, können wir uns erſt das Vorhandenſein
des Volkes vorſtellen. Schon jetzt lebt das Volk überall
da, wo Ihr und der Pöbel nicht ſeid, d. h. es lebt mitten
unter Euch beiden, nur daß Ihr nichts von ihm wißt:
wißt Ihr von ihm, ſo ſeid Ihr auch ſchon Volk, denn von
der Fülle des Volkes kann man nicht wiſſen, ohne an ihr
Theil zu haben. Der Höchſtgebildete wie der Ungebildetſte,
der Wiſſendſte wie der Unwiſſendſte, der Hochgeſtellteſte
wie der Niedriggeſtellteſte, der im üppigen Schooße des
Luxus Aufgewachſene wie der aus dem unſauberen Neſte
der Armuth Emporgekrochene, der in gelehrter Herzloſigkeit
Auferzogene wie der in laſterhafter Rohheit Entwickelte, —
ſobald er einen Drang in ſich fühlt und nährt, der ihm
aus dem feigen Behagen an dem verbrecheriſchen Zuſam¬
menhange unſerer geſellſchaftlichen und ſtaatlichen Zuſtände
oder aus der ſtumpfſinnigen Untergebung unter ſie heraus¬
treibt, — der ihn Ekel an den ſchalen Freuden unſerer
unmenſchlichen Kultur oder Haß gegen ein Nützlichkeits¬
weſen — das nur dem Bedürfnißloſen, nicht aber dem Be¬
dürftigen Nutzen bringt — empfinden läßt, — der ihm
Verachtung gegen den ſelbſtgenügſamen Unterwürfigen
(dieſen allerunwürdigſten Egoiſten!) oder Zorn gegen den
übermüthigen Frevler an der menſchlichen Natur eingiebt,
— nur Derjenige alſo, der nicht aus dieſem Zuſammen¬
hange des Hochmuthes und der Feigheit, der Unverſchämt¬
heit und der Demuth, daher nicht aus dem ſtaatsgeſetz¬
lichen Rechte — das dieſen Zuſammenhang gewährlei¬
ſtet — ſondern aus der Fülle und Tiefe der wahren, nack¬
ten menſchlichen Natur und dem unverjährbaren Rechte
ihres abſoluten Bedürfniſſes die Kraft zum Widerſtand,
zur Empörung, zum Angriffe gegen den Bedränger dieſer
Natur ſchöpft, der deshalb widerſtehen, ſich empören und
angreifen muß, und dieſe Nothwendigkeit offen und un¬
zweifelhaft dadurch bekennt, daß er jedes andere Leiden um
ihretwillen zu ertragen und, wenn es gilt, ſein Leben ſelbſt
zu opfern vermag, — nur der gehört jetzt zum Volke,
denn er und alle ihm Gleichen fühlen eine gemeinſame
Noth. Dieſe Noth wird dem Volke die Herrſchaft des
Lebens geben, ſie wird es zur einzigen Macht des Lebens
erheben. Dieſe Noth trieb einſt die Iſraeliten, da
ſie bereits zu ſtumpfen, ſchmutzigen Laſtthieren geworden
waren, durch das rothe Meer; und durch das rothe
Meer muß auch uns die Noth treiben, ſollen wir, von
unſrer Schmach gereinigt, nach dem gelobten Lande gelan¬
gen. Wir werden in ihm nicht ertrinken, es iſt nur den
Pharaonen dieſer Welt verderblich, die ſchon einſt mit
Mann und Maus, mit Roß und Reiter, drin verſchlungen
wurden, — die übermüthigen, ſtolzen Pharaonen, die da
vergeſſen hatten, daß einſt ein armer Hirtenſohn durch ſei¬
nen klugen Rath ſie und ihr Land vor dem Hungertode
bewahrte! Das Volk, das auserwählte Volk, zog aber
unverſehrt durch das rothe Meer nach dem Lande der Ver¬
heißung, das es erreichte nachdem der Sand der Wüſte die
letzten Flecken knechtiſchen Schmutzes von ſeinem Leibe ge¬
waſchen hatte. —
Da die armen Iſraeliten mich einmal in das Gebiet
der ſchönſten aller Dichtung, der ewig neuen, ewig wahren
Volksdichtung geleitet haben, ſo will ich zum Abſchiede
noch den Inhalt einer herrlichen Sage zur Deutung geben,
die ſich einſt das rohe, unciviliſirte Volk der alten Ger¬
manen, aus keinem anderen Grunde als dem innerer Noth¬
wendigkeit, gedichtet hat.
Wiland der Schmied ſchuf aus Luſt und Freude
an ſeinem Thun die kunſtreichſten Geſchmeide, herrliche
Waffen ſcharf und ſchön. Da er am Meeresſtrande badete,
gewahrte er eine Schwanenjungfrau, die mit ihren
Schweſtern durch die Lüfte geflogen kam, ihr Schwanenge¬
wand ablegte, und ebenfalls in die Wellen des Meeres ſich
tauchte. Von heißer Liebe entbrannte Wiland; er ſtürzte
ſich in die Fluth, bekämpfte und gewann das wundervolle
Weib. Liebe brach auch ihren Stolz; in ſeliger Sorge
für einander, lebten ſie wonnig vereint. Einen Ring gab
ſie ihm: den möge er ſie nie wiedergewinnen laſſen; denn
wie ſie ihn liebe, ſehne ſie ſich doch auch nach der alten
Freiheit, nach dem Fluge durch die Lüfte zu dem glücklichen
Eilande ihrer Heimat, und zu dieſem Fluge gäbe der Ring
ihr die Macht. Wiland ſchmiedete eine große Zahl von
Ringen, dem des Schwanenweibes gleich, und hing ſie an
einem Baſte in ſeinem Hauſe auf: unter ihnen ſollte ſie
den ihrigen nicht erkennen.
Von einer Fahrt kam er einſt heim. Weh! da war
ſein Haus zertrümmert, ſein Weib aus ihm in weite Ferne
entflogen!
Einen König Neiding gab es, der hatte viel von
Wiland's Kunſt gehört; ihn gelüſtete es den Schmied zu
fangen, daß er fortan ihm einzig Werke ſchaffen möge.
Auch einen gültigen Vorwand fand er zu ſolcher Gewalt¬
that: das Goldgeſtein, daraus Wiland ſein Geſchmeid bil¬
dete, gehörte dem Grund und Boden Neidings an, und ſo
war Wiland's Kunſt ein Raub am königlichen Eigenthume.
— Er war nun in ſein Haus gedrungen, überfiel ihn jetzt,
band ihn und ſchleppte ihn mit ſich fort.
Daheim an Neidings Hofe ſollte Wiland nun dem
Könige allerhand Nützliches, Feſtes und Dauerhaftes ſchmie¬
den: Geſchirr, Zeug und Waffen, mit denen der König ſein
Reich mehrte. Da Neiding zu ſolcher Arbeit dem Schmiede
die Bande löſen und ihm die freie Bewegung ſeines Leibes
laſſen mußte, ſo hatte er doch zu ſorgen, wie er ihm die
Flucht hindern möchte: und erfindungsvoll verfiel er darauf,
ihm die Fußſehnen zu durchſchneiden, da er weislich erwog,
daß der Schmied nicht die Füße ſondern nur die Hände
zu ſeiner Arbeit gebrauchte.
So ſaß er nun da in ſeinem Jammer, der kunſtreiche
Wiland, der frohe Wunderſchmied, gelähmt hinter der Eſſe,
an der er arbeiten mußte ſeines Herrn Reichthum zu meh¬
ren; hinkend, verkrüppelt und häßlich, wenn er ſich erhob!
Wer mochte das Maß ſeines Elendes ermeſſen, wenn er
zurückdachte an ſeine Freiheit, an ſeine Kunſt, — an ſein
ſchönes Weib! Wer die Größe ſeines Grimmes gegen die¬
ſen König, der ihm ſo ungeheure Schmach angethan!
Durch die Eſſe blickte er ſehnend auf zu dem blauen
Himmel, durch den die Schwanenmaid einſt geflogen kam;
dieſe Luft war ihr ſeliges Reich, durch das ſie wonnig frei
dahinſchwebte, während er den Qualm und Dunſt des
Schmiedeheerdes zum Nutzen Neidings einathmen mußte!
Der ſchmälige, an ſich ſelbſt gekettete Mann, nie ſollte er
ſein Weib wiederfinden können!
Ach! da er doch unſelig ſein ſoll auf immer, da ihm
doch kein Troſt, keine Freude mehr erblühen ſoll, — wenn
er doch Eines wenigſtens gewänne: Rache, Rache an die¬
ſem Neiding, der ihm aus niederträchtigem Eigennutz in
ſo endloſen Jammer gebracht hatte! Wenn es ihm mög¬
lich wäre, dieſen Elenden mit ſeiner ganzen Brut zu ver¬
nichten. —
Furchtbaren Racheplänen ſann er nach, Tag um Tag
mehrte ſich ſein Elend, Tag um Tag wuchs das unabweis¬
bare Verlangen nach Rache. — Wie wollte aber er, der
hinkende Krüppel, ſich zu dem Kampfe aufmachen, der ſei¬
nen Peiniger verderben ſollte? Ein gewagter kühner Schritt,
und er ſtürzte zum Geſpötte des Feindes ſchmachvoll zu
Boden!
„O, du geliebtes fernes Weib! Hätte ich deine Flü¬
gel! Hätte ich deine Flügel, um, mich rächend, dem Elende
mich entſchwingen zu können!“ —
Da ſchwang die Noth ſelbſt ihre mächtigen Flügel
in des gemarterten Wilands Bruſt, und wehte Begeiſterung
in ſein ſinnendes Hirn. Aus Noth, aus furchtbar allge¬
waltiger Noth, lernte der geknechtete Künſtler erfinden,
was noch keines Menſchen Geiſt begriffen hatte. Wiland
fand es, wie er ſich Flügel ſchmiedete! Flügel, um
kühn ſich zu erheben zur Rache an ſeinem Peiniger, —
Flügel, um weit hin ſich zu ſchwingen zu dem ſeligen
Eilande ſeines Weibes! —
Er that es, er vollbrachte es, was die höchſte
Noth ihm eingegeben. Getragen von dem Werke
ſeiner Kunſt flog er auf zu der Höhe, von da herab er
Neidings Herz mit tödtlichem Geſchoſſe traf, — ſchwang
er in wonnig kühnem Fluge durch die Lüfte ſich dahin, wo
er die Geliebte ſeiner Jugend wiederfand. — —
O einziges, herrliches Volk! das haſt Du ge¬
dichtet, und Du ſelbſt biſt dieſer Wiland! Schmiede
Deine Flügel und ſchwinge Dich auf!