I.
Die Lehre von der Einheit des Bewusstseins in dem Sinne
Flourens ’ , welcher die verschiedenen Stellen der Grosshirn-
oberfläche als gleichwerthig erachtete , ist längst unhaltbar ge-
worden . Wenn Nothnagel nach Anführung von Experimenten , welche durch-
aus für die localisirte Function sprechen , dennoch auf die Flourens’sche Ansicht
zurückgreift , so scheint mir dies ein innerer Widerspruch . Aber nicht in dem Sinne der Phrenologen , welche für
1*
die durch den Sprachgebrauch willkürlich abgegrenzten Seelen-
functionen : die Grossmut , die Anhänglichkeit , die Kindesliebe ,
den Geschlechtssinn etc. eben so willkürlich einzelne Territorien
auf der Grosshirnrinde absteckten , sondern nur die elementarsten
psychischen Functionen können auf bestimmte Stellen der Gross-
hirnrinde verwiesen werden , z. B. eine Gesichtswahrnehmung an
den centralen Ausbreitungsbezirk des Opticus , ein Geruchseindruck
an den des Olfactorius , eine Tastempfindung des kleinen Fingers
an das centrale Ende des Ulnaris etc . Die Grosshirnoberfläche ist
ein Mosaik derartiger einfachster Elemente , welche durch ihre
anatomische Verbindung mit der Körperperipherie characterisirt
sind . Alles was über diese einfachsten Functionen hinausgeht ,
die Verknüpfung verschiedener Eindrücke zu einem Begriffe , das
Denken , das Bewusstsein , ist eine Leistung der Fasermassen , welche
die verschiedenen Stellen der Grosshirnrinde unter einander ver-
knüpfen , der von Meynert sogenannten Associationssysteme . Wie
weit diese complicirteren Leistungen schon jetzt für unsere Einsicht
zugänglich sind , werden wir später sehen .
Die Sinneseindrücke , welche in die Grosshirnrinde von
der Aussenwelt projicirt werden , haben eine längere Dauer
als der von aussen auf das Sinnesorgan wirkende Reiz ;
sie vermögen als Erinnerungsbilder , allerdings in
abgeblasster Form , wieder aufzutauchen , unabhängig
von dem Reize , der sie erzeugte . Darin scheint zunächst ein
specifischer Unterschied zwischen dem Ablauf der Nervenerregung
in der Grosshirnrinde und in anderen nervösen Bahnen und Stationen
zu bestehen ; in den letzteren scheint es ja , als ob mit dem Ab-
lauf des einmaligen Erregungsvorganges auch jede weitere Spur
davon verwischt wäre .
Es lässt sich aber leicht zeigen , dass eine dem ganzen Ner-
vensysteme inne wohnende Eigenschaft ein gewisses Gedächtniss ,
ist . Dasselbe lässt sich erfahrungsgemäss dahin formuliren , dass
die Widerstände , welche eine gewisse Bahn für die Nervenerregung
bietet , durch öftere Benützung derselben verringert werden . So
kommen reflectorische Bewegungen am leichtesten zu Stande auf
schon oft benützten Bahnen und in der Form , welche am häufig-
sten ausgeübt wurde . Ferner beruht darauf die Einübung ge-
wisser Bewegungen , wie beim Klavierspielen , das Erlernen distincter
Gehörseindrücke , z. B. beim Anhören einer Symphonie . Wenn
Jemand durch einen Stoss oder Fall auf den Kopf Epilepsie
acquirirt , so führte die einmalige mechanisch erzeugte Anämie
des Pons allgemeine Convulsionen herbei . Von dem Moment ab
ist die Bahn für weit geringere Anlässe eröffnet , und es genügen
nun schon die mit Gemüthsbewegungen etc. verbundenen physio-
logischen Circulationsschwankungen , um einen erneuten epileptischen
Anfall hervorzurufen . Je öfter dann derselbe Vorgang schon stattge-
funden hat , desto | schwieriger wird anerkanntermassen die Heilung .
Endlich beweist das Phänomen der Nachbilder , wie Meynert mit
Recht hervorgehoben hat , dass auch die empfindenden Elemente der
Retina die Fähigkeit haben , die Erregung länger aufzubewahren , als
der Reiz dauerte . Wenn die Farbenempfindung dann wieder erlischt ,
so trägt gewiss der Umstand die Hauptschuld , dass wegen der geringen
Anzahl der empfindenden Elemente dieselben , welche eben fungirten ,
für einen neuen Reiz in Anspruch genommen werden , so dass der
Empfindungsrest der vorangegangenen übertönt wird . Die Hirn-
rinde aber bietet mit ihren nach Meynert’s Schätzung etwa 600
Millionen von Rindenkörpern eine hinreichende Anzahl von Vor-
rathsstätten , in welchen die unzähligen von der Aussenwelt gelie-
ferten Empfindungseindrücke ungestört nach einander aufgespeichert
werden können . In der Eigenschaft der Hirnrindenzellen , bleibende
moleculäre Veränderungen von den nur kurz einwirkenden Reizen
davonzutragen , dürfen wir also nichts Specifisches , Unerhörtes ,
sondern nur das durch die Gunst der anatomischen Verhältnisse
gesteigerte Analogen dieser auch den peripherischen Nerven zu-
kommenden Eigenschaft erblicken .
Wir wollen diese Residuen abgelaufener Erregungen , mit
denen die Hirnrinde bevölkert ist , ein für alle Mal Erinnerungs-
bilder nennen , zum Unterschiede von den Sinneseindrücken selbst . —
Nun müssen wir aus später noch zu erörternden Gründen annehmen ,
dass auch die Bewegungen unseres Leibes , die Veränderungen in
dem Zustande der Muskulatur zu Empfindungen Anlass geben ,
von denen ebenfalls Erinnerungsbilder in der Grosshirnrinde zu-
rückbleiben . Diese Erinnerungsbilder von Empfindungen der Be-
wegungen wollen wir der Kürze halber Bewegungsvorstellungen
oder Bewegungsbilder nennen und sie den übrigen Erinnerungs-
bildern als gleichwerthig anreihen .
Die ganze Grosshirnoberfläche zerfällt nun in
zwei grosse Gebiete von functionell verschiedener
Bedeutung : das Stirnhirn , das ganze vor der Rolando’schen
Furche gelegene Gebiet jeder Hemisphäre , und das gemein-
same Hinterhaupts-Schläfehirn . Ersteres ist motorisch ,
d. h. es enthält die Bewegungsvorstellungen , letzteres sensorisch ,
d. h. es enthalt die Erinnerungsbilder abgelaufener Sinnesein-
drücke . Das dazwischen gelegene eigentliche Scheitelhirn bildet
ein Uebergangsgebiet von noch streitiger Function . Hitzig hat neuestens auch von der hintern Centralwindung aus Be-
wegungen hervorgerufen .
Dieser Satz , eines der Fundamente der neueren Gehirn-
physiologie , stützt sich auf folgende Momente . Nach Meynert findet
der Theil des Hirnschenkels , welcher die bewussten Bewegungen
vermittelt , sein centrales Ende hauptsächlich in der Rinde des
Stirnhirnes . Heerderkrankungen in der Rinde des Stirnhirnes
setzen gekreuzte Convulsionen und Lähmungen . Von den flächen-
haften Erkrankungen des Grosshirnes ist die progressive Paralyse ,
eine exquisit motorische Psychose , nach Meynert’s Hirnwägungen Die im Wintersemester 1872/73 von M. angegebenen Zahlen sind
folgende : Bei Tobsüchtigen , den den normalen nächst stehenden Gehirnen ,
fanden sich unter 46 M. , 70 Fr. im Mittel 41.52 und 41. 90 $%$ des ganzen
Grosshirnmantels für das Stirnhirn . Bei Paralytikern dagegen unter 173 M
und 30 Fr. 40.35 und 39.90 $%$ .
mit vorwiegender Atrophie des Stirnhirnes verbunden . Experi-
mentelle Beweise für die motorische Function des Stirnhirnes sind
von Fritsch und Hitzig , dann von Nothnagel beigebracht worden ;
denn sämmtliche Punkte der Hirnrinde , deren Reizung Bewegun-
gen , deren Entfernung lähmungsartige Erscheinungen circumscrip-
ter Muskelgruppen hervorbrachten , sind im Stirntheile des Gehirnes
gelegen ; die übrige Gehirnoberfläche erwies sich gegen directe
Reize indifferent . Ein übrigens im Hirnmark gelegener motorischer Punkt , welchen
Nothnagel am hintern Ende der Hemisphäre gefunden hat , gehört nach dessen
Beschreibung höchst wahrscheinlich zum Ammonshorn , einem schon von
Meynert als motorisch angesprochenem Gebilde .
Die neueren Versuche Hitzigs am Affengehirne beweisen nur , dass an
gewissen Punkten der Hirnrinde alle Fasern für gewisse combinirte Bewegungen
vereinigt sind , sie sprechen aber durchaus nicht gegen die von Meynert begrün-
dete motorische Bedeutung des ganzen Stirnhirnes .
Die durch Exstirpation der gefundenen Bewegungscentra er-
zielten lähmungsartigen Erscheinungen verdienen unsere besondere
Aufmerksamkeit . Sie wurden von Fritsch und Hitzig als eine
Störung des Muskelgefühles definirt , von Nothnagel direct als
Ataxie bezeichnet ; beiderseits wird gegen den Begriff einer eigent-
lichen Lähmung Verwahrung eingelegt . Erfahrungsmässig wird
aber durch Zerstörung solcher Rindenbezirke beim Menschen Läh-
mung beobachtet , wie in einem von Hitzig veröffentlichten Falle ,
ferner durch das Auftreten eigentlicher Lähmungen bei progressiver
Paralyse bewiesen wird . Man überlege aber ausserdem , — um den
Bedenken namentlich Nothnagel’s zu begegnen — wie leicht dop-
pelseitige Bewegungen von einer Hemisphäre ausgelöst werden ,
wenn sie Theile betreffen , welche bisher immer gemeinschaftlich
innervirt wurden . Für die von beiden Kopfhälften gleichmässig
ausgeführten Sprachbewegungen genügt der Willensreiz von dem
linken Sprachcentrum Hitzig findet bei seinen neueren Versuchen an Affen , dass das dicht
hinter der Broca’schen Stelle gelegene Centrum für die Bewegungen des
Mundes und der Zunge , linksseitig gereizt , die beiderseitigen Muskelgruppen
in Bewegung setzt . aus . Ein Anfänger im Klavierspiel be-
wegt , wenn er mit der rechten Hand spielen soll , die Finger der
linken Hand in gleichem Sinne mit , und die Unabhängigkeit der
beiden Hände von einander wird erst durch vieljährige Uebung
erreicht . Dabei geschieht der Innervationsact nur von der linken
Hemisphäre ; aber die Zellen des Vorderhornes des Rückenmarkes ,
welche immer vorher gemeinschaftlich innervirt wurden und da-
durch in eine feste Association getreten sind , wirken nun durch
ihre verbindenden Fortsätze solidarisch . Man kann mit einigem
Recht den paradox klingenden Satz aufstellen , dass das Vorhan-
densein beider Hemisphären nicht zur gleichzeitigen Action der
beiderseitigen Muskelgruppen , wohl aber zu ihrer isolirten Action
ein unbedingtes Erforderniss ist . Wenn aber beim Menschen ,
welcher eine isolirte Action der Oberextremitäten tausendfach ge-
übt hat , doch die Innervation von einer Hemisphäre aus genügt ,
um beide Extremitäten in Bewegung zu setzen , wie viel mehr
wird das beim Hunde und Kaninchen genügen , welche Thiere
eine bewusste isolirte Innervation einer Extremität nur höchst
selten üben . Durch diese falsche Auffassung der beobachteten
Bewegungsstörungen kann indessen das bedeutende Verdienst
der genannten Autoren nicht verringert werden , welches in dem
experimentellen Nachweise besteht , dass dieselben Stellen
der Hirnoberfläche , deren Reizung Bewegungen aus-
lös’t , also im strengsten Sinne motorische Centren ,
zugleich der Sitz des Muskelgefühles , der Vorstel-
lung von dem Masse und der Art der Muskelinnerva-
tion , kurz der von uns oben angenommenen Be-
wegungsvorstellungen sind . Die bei den Paralytikern zu
beobachtende Plumpheit der Bewegungen , der ungeschickte , jeder
Elasticität und Präcision entbehrende Gang derselben , giebt ein
Beispiel von derartigen Störungen der Bewegungsgefühle beim
Menschen ; sie sind von jeher als Lähmungen aufgefasst worden .
Wir haben jetzt motorische Rindenstellen kennen gelernt ,
welche mit einer centrifugalen Bahn verknüpft und zugleich Sitz
von Bewegungsvorstellungen sind . Es wirft sich daher , da wir
angeborene Ideen von vornherein ausschliessen , die Frage auf :
Wie gelangen diese Bewegungsvorstellungen in die Hirnrinde ?
Bei Beantwortung derselben begegnen sich die Resultate der phy-
siologischen und philosophischen Deduction eines Brücke und
Lotze mit den aus anatomischen Thatsachen gezogenen Schlüssen
Meynert’s . Nach Brücke und Lotze nämlich müssen die Bewe-
gungen in primäre und secundäre geschieden werden . Die pri-
mären sind die reflectorischen , welche beim Kinde den bewussten
lange vorangehen ; aus ihnen sammelt das Kind die Bewegungs-
vorstellungen , welche es dann in den secundären , vom Willen her-
vorgerufenen und bewussten Bewegungen verwerthet . Complicirte
reflectorische Apparate nun finden sich präformirt im Sehhügel
und Vierhügel vor , deren Vorhandensein bekanntlich nach Abtra-
gung der Hemisphären noch genügt , um alle Bewegungsformen
reflectorisch zu Stande zu bringen . Da die Function dieser Gan-
glien somit an das Vorhandensein der Hemisphären gar nicht ge-
bunden ist , so kann die bedeutende Fasermasse , welche theils als
vorderer Stiel , theils als Bestandtheil der inneren Kapsel aus
dem Sehhügel in das Stirnhirn gelangt , nur den Sinn einer cen-
tripetalen Bahn haben , durch welche dem Stirnhirn die Innerva-
tionsgefühle der reflectorisch ablaufenden Bewegungen zugeführt
werden . So wird sie von Meynert aufgefasst , und so giebt sie
den angeführten Ansichten eine anatomische Basis .
Dass das Hinterhauptsschläfehirn ein sensorisches Gebilde ist ,
geht aus den anatomischen Thatsachen unwiderleglich hervor .
Sämmtliche Sinnesnerven , deren centraler Verlauf bis in die Gross-
hirnrinde bekannt ist , endigen in der Rinde des Hinterhaupts-
schläfelappens ; es sind der Olfactorius , der Opticus und der nicht
aus dem Kleinhirn entspringende Antheil des Rückenmarkshinter-
stranges . Die centrale Bahn des Acusticus ist bisher nur bis in
das Kleinhirn zu verfolgen gewesen ; doch ist sein weiterer Ver-
lauf bis in das Grosshirn aus physiologischen Gründen unzweifel-
haft . Die Analogie mit den andern Sinnesnerven nöthigt dann ,
sein centrales Ende ebenfalls in das Hinterhauptsschläfehirn zu
verlegen . Dasselbe gilt für den noch gänzlich unbekannten cen-
tralen Verlauf der Geschmacksnerven . Für die sensorische Fun-
ction des Hinterhauptsschläfelappens spricht noch der in einem ab-
gegrenzten Bezirke desselben ( nämlich hauptsächlich im Gebiete
der Fissura hippocampi ) vorkommende Reichthum an Körnerschich-
ten , welche sonst in ähnlicher Weise hauptsächlich an sensorischen
Fundorten , — dem Riechlappen , der Retina , der gelatinösen
Ursprungsmasse des Quintus , der gelatinösen Substanz des Kopfes
des Hinterhornes im Rückenmarke , — vorhanden sind .
Erinnerungsbilder von Empfindungen einerseits , von Bewe-
gungsformen des eigenen Leibes andererseits , wären also die von
der Aussenwelt gelieferten Elemente , welche zusammen den In-
halt des Bewusstseins constituiren . Aus diesen gegebenen Grössen
lässt sich denn auch ein einfachster Bewusstseinsvorgang , z. B.
die Willensbewegung , vollständig begreifen . Die Willensbewegung
ist auch dem niedrigsten Thiere eigen , sie erfüllt daher , als Bei-
spiel gewählt , die Anforderung der grössten Einfachheit . Zudem
ist sie gerade das Kennzeichen des thierischen Organismus , dessen
hervorragende Wichtigkeit am meisten eine eingehende Bespre-
chung rechtfertigt .
Durch zwei Eigenschaften ist die Willensbewegung von der
Reflexbewegung unterschieden , nämlich 1. dadurch , dass sie
nicht augenblicklich auf den Reiz folgt , sondern Er-
innerungsbildern früherer Empfindungen , die nur gele-
gentlich eines von aussen wirkenden Reizes wieder wach gerufen
werden , ihre Entstehung verdankt . Diesen Unterschied
und zugleich diese Analogie mit der Reflexbewegung hat Griesin-
ger in seiner vorzüglichen Abhandlung „ über psychische Reflex-
actionen ‟ hervorgehoben , indem er darin die spontane Bewegung
( „ psychische Reflexaction ‟ ) wie die Reflexbewegung auf Reize
zurückführt , welche auf centripetalen Bahnen in die Hirnrinde
gelangt sind . Diejenigen spontanen Bewegungen z. B. , welche
auf die sogenannten Triebe zurückgeführt werden ( wie auf den Trieb
sich zu begatten , Nahrung zu nehmen etc. ) , werden sicherlich ,
wie sofort jedem einleuchtet , durch Empfindungsreste hervorge-
rufen ; aber auch bei allen anderen spontanen Bewegungen verhält
es sich ebenso , wenn auch eine grössere Anzahl und complicirtere
Empfindungen bei ihrem Zustandekommen betheiligt sein mögen .
2. Weiter unterscheidet sich die spontane Bewegung von
der Reflexbewegung durch die abgerundete , distincte ,
der Erreichung eines Zweckes angepasste , mit einem
Worte durch die schon präformirte Bewegungsform ;
d. h. durch die vorhandene Vorstellung von der auszuführenden
Bewegung , welche , wie oben ausgeführt wurde , auch als Empfin-
dungsrest ( Erinnerungsbild ) aufzufassen ist .
Wenden wir nun das Schema der Reflexbewegung mit Her-
beiziehung dieser unterscheidenden Merkmale auf die spontane
Bewegung an , so ergiebt sich etwa folgende schematische Dar-
stellung .
Fig. 1 .
Auf der Bahn EO
gelangt die Empfin-
dung E in einen
Punkt des Hinter
hauptsschläfehirnes
O und hinterlässt
dort ein Erinner-
ungsbild . Bei Gele-
genheit eines neuen
äussern Eindruckes
tritt dann der gleich-
sam latente Reiz wieder in Wirkung und pflanzt sich durch Be-
nützung irgend eines Antheiles der grossen Fasermassen , welche
das Hinterhauptsschläfehirn mit dem Stirnhirn verbinden , bis an
einen motorischen Punkt des Stirnhirnes F fort ; dort angelangt
veranlasst die Erregung auf der centrifugalen Bahn FB eine
Bewegung .
Dieser Bewegung wird das zweite Kennzeichen der spontanen
Bewegung , die zweckmässige Anordnung , dadurch verliehen , dass ,
wie oben gezeigt wurde , die Orte der Bewegungsvorstellung und der
Bewegungsauslösung in der Grosshirnrinde zusammenfallen . ( cf. pag. 7 )
Es genügt also die Bahn EOFB , um die spontane
Bewegung ganz nach Art eines Reflexvorganges zu
erklären .
Anatomische Bahnen , welche derartige psychische Reflex-
actionen vermitteln können , existiren in Menge ; der grössere Theil
des Grosshirnmarkes besteht aus solchen Associationsbündeln von
zum Theil einfachem , zum Theile complicirterem Verlaufe . Ihr
Verlauf ist von Burdach ( 1825 ) nach Faserpräparaten mit pein-
lichster Genauigkeit beschrieben worden .
Andererseits ist auch die Benützung dieser Bahnen , d. h.
die leichte Fortleitung des Erregungsvorganges auf denselben , kein
Zufall , sondern es lässt sich leicht darthun , dass 2 Gehirnstel-
len , welche einmal gemeinschaftlich fungirt haben , ge-
setzmässig associirt bleiben .
Es sei x eine Zelle
des Vierhügels , welche als
reflectorisches Centrum
vom Tractus opticus E aus
durch Uebertragung auf
die motorische Zelle y
die Einwärtswendung des
Auges B auslöst . Dieser
Vorgang verläuft nicht
ohne Theilnahme des Be-
wusstseins , und zwar wird
Fig. 2.
vermittelst der den Vierhügel mit der Grosshirnrinde ver-
bindenden Bahnen einestheils eine Empfindung O , anderntheils
eine Bewegungsvorstellung F in die Rinde deponirt . Nehmen
wir , um als Reiz wirken zu können , eine gewisse Summe leben-
diger Kraft als erforderlich an , so wird ein Theil davon für
die Bahnen xO und yZF in Anspruch genommen werden ,
welche als Nebenschliessung für die Fortpflanzung des Erregungs-
vorganges betrachtet werden müssen ; Darauf beruht vielleicht einzig und allein die , neuerdings wieder von
Golz betonte , reflexhemmende Wirkung der Grosshirnhemisphären . zugleich muss der Erre-
gungsvorgang auch die Bahn OF beschreiten , deren beide
Endpunkte erregt werden . Vergleichen wir den bei der Erregung
in irgend einer Nervenbahn stattfindenden Process mit dem Ab-
lauf einer von E aus beginnenden Wellenbewegung in einem mit
Flüssigkeit gefüllten Röhrensysteme , — denn wir können zwar
vermuthen , aber noch keineswegs als gewiss annehmen , dass dieser
Vorgang ein elektrischer sei — so leuchtet sofort die Theilnahme
der Bahn OF an derselben ein . Da nun die Leitungswiderstände
einer Nervenbahn durch ihre Benützung abgeschwächt werden , so
wird auch weiterhin von dem Erinnerungsbild O aus leicht die
Bewegungsvorstellung F und die spontane Bewegung selbst auf
der centrifugalen Bahn FyB ausgelöst werden .
Jede spontane Bewegung wird ihrer Entstehung nach auf
dieses einfache Schema zurückzuführen sein ; doch wird selbstver-
ständlich die Anzahl der Erinnerungsbilder , welche als Anfangs-
glieder der oben gezeichneten Reflexbogen anzusehen sind , meist
eine mehrfache sein . Dies wird selbst für die einfachsten spon-
tanen Bewegungen , für die triebartigen , gelten .
So wie aber auf der einen Seite die unter einander associirten
Erinnerungsbilder gelegentlich eines äusseren Reizes gemeinsam
in Thätigkeit treten , so werden auch am Ende des Reflexbogens
vielfache , durch Gleichzeitigkeit oder Aufeinanderfolge associirte
Bewegungsvorstellungen gemeinschaftlich ins Bewusstsein gerufen .
Das Bewusstwerden einer Bewegungsvorstellung und
die Bewegung selbst können aber nur als verschiedene
Intensitätsgrade der Zellenerregung aufgefasst wer-
den , indem die Erregung der Zelle , um die Bewegung auslösen
zu können , so stark geworden sein muss , dass sie die Wider-
stände der centrifugalen Bahn überwinden kann . Es wird daher
nur diejenige Bewegungsvorstellung zur Bewegung
selbst werden , welche mit den zahlreichsten Anfangsgliedern
des Reflexbogens schon ausgeschliffene Faserverbindungen aufzu-
weisen hat — vorausgesetzt , dass der zugeleitete Erregungsvor-
gang bei allen Anfangsgliedern die gleiche Intensität hat — oder
welche mit den intensivsten Erinnerungsbildern von früher her
verknüpft ist , oder endlich , welche die ausgeschliffenste Bahn
für den anlangenden Erregungsvorgang bietet . In den beiden
zuletzt angenommenen Fällen muss die Anzahl der Erregungen
durch die Stärke der einzelnen compensirt werden .
Damit ist die Möglichkeit einer Auswahl der Be-
wegungen gegeben ; dieselbe wird um so grösser , je mehr Er-
innerungsbilder dem Individuum zur Verfügung stehen , je mehr
es die Erinnerungsbilder zu associiren geübt ist . Die einzig rich-
tige naturwissenschaftliche Definition des freien Willens stimmt
mit dieser mechanischen Auffassung von der Entstehung der spon-
tanen Bewegung auf ’s beste überein .
II.
Die vorangeschickte Betrachtung sollte die allgemeinen Ge-
setze erläutern , welche sich vorläufig aus den anatomischen und
physiologischen Thatsachen als für die Genesis der spontanen Be-
wegungen massgebend folgern lassen . Ihnen unterliegt jeder ein-
zelne Fall von spontaner Bewegung , daher auch die Sprachbewe-
gungen . Dass die Sprachbewegungen zu den mit Bewusstsein
ausgeführten Willensbewegungen gerechnet werden müssen , bedarf
keiner weitläufigen Erörterung . Es folgt schon einfach aus der
Thatsache , dass sie wie jede andere spontane Bewegung vom
Kinde mühsam erlernt werden müssen . Sie gehen so sehr mit
der Entwickelung des Bewusstseins Hand in Hand , dass sie ge-
radezu als ein Massstab dafür betrachtet werden können . Sie ge-
lingen auch erst , nachdem das Kind in vielen andern bewussten
Bewegungen schon eine gewisse Fertigkeit erlangt hat .
Die primären , d. h. die vor Ausbildung des Bewusstseins
vom Kinde executirten Sprachbewegungen sind reflectorischer —
nachahmender Sollte nicht überhaupt die Nachahmung ursprünglich Reflexvorgang
und die Vollendung , die der Mensch darin erlangt , nur dieselbe durch Erb-
schaft gesteigerte Reflexfähigkeit für alle Sinnesgebiete sein , welche unter
allen anderen Thieren am meisten die uns zunächst stehenden Affen auszeich-
net ? Thatsächlich sind auch beim Erwachsenen sehr viele nachahmende
Bewegungen unwillkürlicher , reflectorischer Natur . In viel höherem Grade
muss dies beim Kinde der Fall sein , wo das Bewusstsein noch nicht seine
hemmende Einwirkung auf die Reflexthätigkeit ausübt . Natur und werden in denjenigen Gebieten der
Brücke und Oblongata innerhalb der Bahn der Hirnschenkelhaube
ausgelöst , welche das Ursprungsgebiet des Acusticus ausmachen .
Es befinden sich dort grosse vielstrahlige Nervenzellen , welche
als Ausstrahlungen der motorischen Nervenkerne des Facialis ,
Vagus und Hypoglossus anzusehen sind und nach Meynert mit
den zum Acusticusursprung gehörigen Fibrae arcuatae durch Zellen-
fortsätze in anatomischer Verbindung stehen . Nach allen Experi-
mentalergebnissen befindet sich auch das Athmungscentrum in
diesem weit ausgedehnten Bereiche des Acusticusursprunges . Beim
neugeborenen Kinde ist es genügend sicher gestellt , dass das Vor-
handensein der Oblongata zum unarticulirten Schrei ausreicht ,
einer Muskelaction , welche bei aller Einfachheit die combinirte
Action der Exspiratoren und der Verengerer der Stimmritze vor-
aussetzt . Zwei derartige Fälle , bei welchen die Perforation am lebenden
Kinde gemacht worden war , sind mir von Herrn Dr. Grossmann , Assistenten
der geburtshilflichen Poliklinik hierselbst , mitgetheilt worden . Bei dem einen
derselben wurde die Section von Herrn Prof. Waldeyer gemacht . Wahrscheinlich erfolgen auch die complicirteren An-
ordnungen der Muskelwirkung , bis zur Bildung einsilbiger Wörter ,
znnächst reflectorisch , aber vielleicht in einem complicirter ge-
bauten Apparate , dem kleinen Gehirn . Jedoch eignet sich das
kleine Gehirn leider wegen der Unbekanntheit seiner Functionen
nur zu gut zur Ausfüllung jeder Lücke ; wir abstrahiren daher
lieber von demselben und gestehen die Schwierigkeit zu , die Ent-
stehung ganzer Wörter durch den reflektorischen Apparat der
Oblongata zu begreifen . Sei es nun , dass ganze Wörter oder nur
Bruchstücke davon reflektorisch in der Oblongata zu Stande
kommen , jedenfalls gelangt von dem Orte des Reflexvorganges
ein Klangbild des Wortes oder der Silbe in einen sensorischen
Theil des Gehirnes , das Innervationsgefühl der ausgeführten Be-
wegung als Sprachbewegungsvorstellung in das motorische Stirn-
hirn . ( cf. pag. 8. ) Associirt bleiben Klangbild und Bewegungsvorstel-
lung durch irgend welche Markfasern . Vergl. Fig. 2. Geschieht
später die spontane Bewegung , das bewusst ausgesprochene Wort ,
so ist von dem Erinnerungsbilde des Klanges aus die associirte
Bewegungsvorstellung innervirt worden .
Der Innervationsact pflanzt sich nun in der Bahn des Hirn-
schenkelfusses , wie alle übrigen willkürlichen Bewegungen , bis zu
den beim Sprechact functionirenden Muskeln fort .
Bevor wir dieser aus der gegebenen Entwickelung resulti-
renden Auffassung des Sprachvorganges eine anatomische Grund-
lage geben können , müssen wir einen Rückblick auf die bisher
gemachten Versuche werfen , ein eigenes Sprachcentrum auf be-
stimmte anatomische Gebiete des Gehirnes zu localisiren .
Ich übergehe die schon vielfach in ausführlichen Referaten
zusammengestellten älteren Arbeiten über diesen Gegenstand und
wende mich bald zu Broca , demjenigen Autor , welcher zuerst von
grösseren Gebieten der Gehirnoberfläche Abstand nahm und ein
sehr umschriebenes , anatomisch bestimmt abgegrenztes Sprach-
centrum aufzustellen wagte . Bekanntlich verlegte er den Sitz des
Sprachvermögens an das hintere Ende der sogenannten 3. , eigent-
lich nach Leuret’s Principien , welcher von der Fossa Sylvii aus
zählt , 1. Stirnwindung , also den Theil der untersten ( zugleich
äussersten ) Windung des Klappdeckels , welcher vor ihrer Ein-
mündungsstelle in die vordere Centralwindung gelegen ist . Trotz
der Opposition , welche sich gegen diese Ansicht von vornherein
geltend machte , wurden doch bald so viele übereinstimmende
Fälle von Sprachstörungen veröffentlicht , und die nicht überein-
stimmenden ermangelten so sehr eines neuen positiven Inhaltes ,
dass sie sich immer weiter Bahn gebrochen hat und noch jetzt
sehr viele Anhänger zählt .
Inzwischen publicirte Meynert eine Aufsehen erregende
Arbeit , in welcher er die Verbindung des Nerv . acusticus mit
der Rinde der Sylvischen Grube durch ein von ihm mit dem
Namen des Acusticusstranges belegtes Faserbündel nachwies .
Meynert ertheilte dem ganzen Ursprungsgebiete dieses Bündels ,
welches mit der Ausdehnung der Vormauer etwa zusammenfiel ,
den Namen eines Klangfeldes und stützte seine Ansicht durch
zahlreiche Sectionsbefunde von Aphasischen , in welchen entweder
die Inselgegend selbst oder angrenzende Theile der Fossa Sylvii
sich pathologisch verändert fanden . Ein grosser Theil der wissen-
schaftlichen Ärzte , welche überhaupt in der Controverse Partei
ergriffen hatten , neigte sich nun Meynert’s Ansicht zu , zumal die-
selbe dem dunkel gefühlten Bedürfnisse entgegenkam , den Acusticus
mit dem Sprachvorgang in Beziehung zu bringen . Merkwürdiger-
weise hat die Auffassung von der ganzen Rinde der F. Sylvii
als Sprachorgan bei vielen auch dann noch ihre Geltung behalten ,
als Meynert selbst schon den Acusticusstrang als solchen des-
avouirt und die Ansicht ausgesprochen hatte , dass der Acusticus
gar keine directe Verbindung mit dem Grosshirn habe , sondern
erst mittelbar durch das Kleinhirn in dasselbe gelange . Der Irrtum Meynert’s ist , wie mich seine Präparate überzeugt haben ,
sehr zu entschuldigen . Sehr Viele , die ihm den Irrtum verargen , würden ihn
kaum so freimütig eingestanden haben . Das findet
seine Erklärung in den pathologisch-anatomischen Befunden .
Die allermeisten Fälle von Aphasie , in welchen die Broca’sche
Stelle nicht verändert gefunden wurde , hatten Veränderungen in
dem von Meynert in Anspruch genommenen Gebiete aufzuweisen .
Neuerdings ist diese Thatsache von Sander und Finkelnburg
wieder besonders hervorgehoben worden . Auch Meynert beharrt
noch bei seiner frühern Ansicht von der Bedeutung dieses Gebietes
und führt dafür , abgesehen von den Sectionsbefunden , die Zusam-
mensetzung der Vormauer aus Associations- , d. h. spindelförmigen
Zellen und die innigen Beziehungen der Vormauer zu den anderen
Associationssystemen des Grosshirnes an .
Dass Zerstörung der Broca’schen Stelle Aphasie bedingt ,
scheint mir durch Fälle , wie den frappanten Simon’schen , welcher
wirklich einem Experimente gleicht , ausser Zweifel gestellt .
Eben so wenig scheint mir aber das übereinstimmende Ergebniss
der Erfahrung anderer , gewissenhafter und sachverständiger
Beobachter zu bezweifeln , dass überhaupt Heerderkrankungen im
Bereiche der Fossa Sylvii und ihrer nächsten Umgebung Aphasie
erzeugen , dass also die Broca’sche Stelle nicht die einzige ist ,
welche als Sprachcentrum fungirt .
Fragen wir nun , welches die nächste Umgebung der Fossa
Sylvii ist , so werden wir auf diejenige Windung der convexen
Gehirnoberfläche gewiesen , welche in einem nach hinten und oben
gerichteten Bogen die Fissura Sylvii zwischen sich fast und
nach vorn von der Centralfurche in einen deutlichen Längszug ,
die ( nach Leuret ) 1. Stirnwindung , mit ihrem hintern Schenkel in
die eben so deutlich als Längszug erkennbare 1. Schläfewindung
ausläuft . Dass das ganze als eine Windung zu betrachten ist ,
geht aus der Vergleichung mit den Thiergehirnen , z. B. der Hunde-
familie , deutlich hervor , wie denn die comparative Anatomie es
als das allgemeine , auch auf den Menschen anwendbare Bildungs-
gesetz für die Gehirnwindungen erweist , dass sie einen Bogen
um die Fossa Sylvii herum beschreiben , dessen Scheitel der
Hinterhauptsspitze zugekehrt ist , und dessen beide Schenkel im
Stirn- und Schläfetheil des Gehirnes der Fossa Sylvii mehr
weniger parallel laufen .
An der beschriebenen , nach Leuret als der I. zu bezeich-
nenden Windung ist die Windungskuppe und die beiden Seiten-
flächen zu unterscheiden . Nur die Windungskuppe liegt frei an
der convexen Oberfläche des Gehirnes zu Tage ; von den beiden
Seitenflächen ist die eine nach der medialen Seite des Gehirnes
dem zweiten Windungszuge zugekehrt , die andere bildet die
directe Fortsetzung der Inselrinde und legt sich an die Insel , über
welche sie hervorragt , von allen Seiten platt an . So wie nun
comparativ anatomisch die ganze I. Urwindung als ein einheit-
liches Gebilde erschien , so zeigt sie auch in ihrem inneren Baue
in allen Theilen ihres Verlaufes eine schon von Meynert genügend
hervorgehobene Eigenthümlichkeit ; die Vormauer nämlich schlägt
sich überall von der Insel aus in ihre der Insel zugekehrte Fläche
um und lässt sich eine geraume Strecke nach der Windungskuppe
hin verfolgen . Der gesammte Bezirk der I. Urwindung participirt
so an der Eigenschaft der Inselrinde , dass sich die innerste Rinden-
schicht , die der Spindelzellen , zu einer eigenen grauen Masse
verdichtet .
Ausserdem aber ist es mir gelungen , durch Faserpräparation
ein eigentümliches Verhalten der weissen , dicht unter der Rinde
gelegenen Faserzüge an der äusseren der Fossa Sylvii zugewand-
ten Fläche der I. Urwindung nachzuweisen . Dieselben bilden
nämlich ein ununterbrochenes Blatt radiärer Fasern , welche
mit der Markleiste der I. Urwindung bis an den Grund der
tiefen Spalte ziehen , welche überall die I. Urwindung von der
Insel trennt , ( die Vorderspalte , Oberspalte und Unterspalte
Burdach’s ) , dann die Spalte überbrücken und in der Inselrinde
endigen . Die Insel ähnelt so einer grossen Kreuzspinne , welche
die radiär von allen Bezirken der I. Urwindung in sie einstrah-
lenden Faserungen in sich einsammelt . Dadurch entsteht , wie
nirgends sonst im ganzen Centralorgane , der Eindruck eines wirk-
lichen Centrums für irgend welche Functionen .
Es sind sonach Fibrae propriae , laminae arcuatae ( Arnold )
auch zwischen Inselrinde und dem Windungssystem der Convexität
nachgewiesen . Da dieselben , so viel mir bekannt , noch nirgends
beschrieben sind , und da sie einen Hauptbeweis für die einheitliche
Bedeutung des ganzen I. Urwindungsbogens im Verein mit der
Inselrinde abgeben , so sei ein näheres Eingehen auf dieselben
gestattet .
An je 2 Windungen der Convexität und der medialen
Fläche lassen sich Fibrae propriae unschwer nachweisen . Schon
fraglich musste es erscheinen , ob der Sulcus centralis Rolando ,
welcher das Urwindungssystem senkrecht durchbricht , von solchen
Fasern überbrückt ist ; das Resultat der Faserung ist daselbst
durchaus zweifelhaft . Noch eine ganz andere Stellung aber nimmt
die tiefe Spalte ein , durch welche die Inselgegend von dem rings
umgebenden 1. Windungsbogen abgeschnürt erscheint . Bekanntlich
ist embryologisch die Insel der Organisationsmittelpunkt der ganzen
convexen Hemisphärenfläche , ihre Rinde der Theil der Wand des
Hemisphärenbläschens , welcher nach innen mit den grossen Gan-
glien verschmilzt und nach aussen derartig im Wachstum zurück-
bleibt , dass eine Einsenkung , die Fossa Sylvii , an der convexen
Fläche des Hemisphärenbläschens entsteht .
Durch die Örtlichkeit sind hier der Faserung grosse Schwierig-
keiten geboten ; sie ist überhaupt nur an gut in Alkohol erhär-
teten Gehirnen mit Erfolg auszuführen , und gerade an solchen
2
lassen sich die überhängenden Theile der Hemisphäre , welche
die Insel selbst ja ganz verdecken , sehr schwer abbiegen . Gelingt
dies aber nicht , so arbeitet man ganz im Finstern und ist genöthigt ,
die künstlichsten , unbequemsten Stellungen einzunehmen , um sich
nicht selbst noch den einzigen Zugang des Lichtes zu verstellen .
Am leichtesten gelingt daher die Darstellung desjenigen Theiles ,
welcher senkrecht erst nach oben , dann nach unten verlaufend
die Furche zwischen Klappdeckel und Insel ( die Oberspalte
Burdach’s ) überbrückt . Die Dicke der Schicht ist auch hier
ziemlich beträchtlich und beträgt im Durchschnitt über ½‴ . Nächst-
dem gelingt die Präparation am besten in der Vorderspalte ,
zwischen Stirnhirn und Insel . Der tiefe Ausschnitt , welcher sich
zwischen diesem Theile des Stirnlappens und dem Klappdeckel
hin nach vorn und oben zieht , wird vollständig mit derartigen
Fasern ausgekleidet . Am schwierigsten ist die Präparation am
Schläfelappen , einmal wegen der tiefen Lage der dort überbrückten
Unterspalte , dann aber auch wegen der geringen Dicke der
Laminae arcuatae ; in gesteigertem Masse gilt dies für die tiefe
Bucht , in welcher die hinteren Enden der Ober- und Unterspalte
zusammenfliessen .
Bei Ausführung dieser Präparation empfiehlt es sich , zuerst
den Scalpellstiel etwa in der halben Höhe der inneren Fläche
des Klappdeckels anzusetzen und von da aus sowohl nach oben
als nach der Insel hin die Rinde abzustemmen . In der Windungs-
kuppe zerstreuen sich bekanntlich die Fibrae propriae und sind
nicht mehr präparirbar . Auch in der Inselrinde lassen sich die
Fasern nicht weit verfolgen , indem sie sich vielfach verflechten
und in die Tiefe , der Vormauer zu , senken .
Wenn nun schon a priori , nach der gegebenen Entwickelung
des Sprachvorganges als einer spontanen Bewegung , die Annahme
durchaus unwahrscheinlich war , dass die im Stirntheil des beschrie-
benen I. Windungsbogens gelegene Broca’sche Stelle das einzige
Sprachcentrum sei , so führt die Berücksichtigung der beschrie-
benen anatomischen Verhältnisse , der zahlreichen dafür sprechenden
Sectionsbefunde , endlich der Verschiedenheit in dem klinischen
Bilde der Aphasie , in zwingender Weise zu folgender Auffassung
des Sachverhaltes . Das ganze Gebiet der I. , die Fossa Sylvii
umkreisenden Windung im Verein mit der Inselrinde dient als
Sprechcentrum ; und zwar ist die I. Stirnwindung , weil motorisch ,
das Centrum der Bewegungsvorstellungen , die I. Schläfewindung ,
weil sensorisch , das Centrum für die Klangbilder ; die in der
Inselrinde confluirenden Fibrae propriae bilden den vermittelnden
psychischen Reflexbogen . Die I. Schläfewindung würde sonach
als centrales Ende des Acusticus , die I. Stirnwindung ( die
Broca’sche Stelle mit inbegriffen ) als das centrale Ende der
betreffenden Sprachmuskelnerven zu betrachten sein .
Fig. 3.
Es sei F das frontale ,
O das occipitale , T das
temporale Ende eines sche-
matisch gezeichneten Ge-
hirnes. C sei die Central-
spalte , um die Fossa
Sylvii herum S erstrecke
sich der I. Urwindungs-
bogen . Innerhalb dessel-
ben sei a 1 das centrale
Ende des Nervus acusticus ( in a dessen Eintrittsstelle in die
Oblongata ) , b vertrete die zur Lautproduction gehörigen Bewe-
gungsvorstellungen in der Grosshirnrinde , mit dem vorigen durch
in der Inselrinde verlaufende Associationsfasern a 1 b verknüpft .
Von b aus erstrecke sich die centrifugale Bahn der lautbildenden
Bewegungsnerven bis in die Oblongata , um dort grösstentheils
auszutreten ( der Accessorius und der Phrenicus erstrecken sich
noch weiter nach unten ) .
Aphasie kann bedingt werden durch jede Unterbrechung
der Bahn aa 1 bb 1 Das klinische Bild derselben wird aber je nach
dem Abschnitte der Bahn , welcher durch die Unterbrechung be-
troffen ist , verschieden sein müssen .
I. Es sei die Bahn aa 1 unterbrochen , ein pathologischer
Process habe den Acusticus an irgend einem Orte seines centralen
Verlaufes zerstört . Das bedingt , wie die tägliche Erfahrung lehrt ,
einfache Taubheit ohne jede Spur von Aphasie , aber nur beim
erwachsenen Menschen , welcher schon einen umfangreichen Vorrath
früher aufgenommener Klangbilder als festes Eigenthum besitzt
und sie beliebig reproduciren kann . Wird aber von der
Unterbrechung irgend eine Periode der Kindheit
betroffen , in welcher sich noch kein consolidirter
Schatz von Klangbildern in der Grosshirnrinde ange-
sammelt hat , so ist unausbleiblich Stummheit die
2*
Folge . Das ist die gewöhnliche Entstehung der Taubstummheit ;
das Kind hat keine Klangvorstellungen acquirirt , von denen aus
Bewegungsvorstellungen ins Bewusstsein gerufen werden könnten .
Durch das ausnahmslose Auftreten auch der Stummheit bei
angeborener oder zeitig acquirirter Taubheit fällt ein höchst
interessantes Streiflicht auf die Bedeutung der Gehörseindrücke
für die Entwickelung der Sprache . Es ist nämlich ein allgemein
verbreiteter , besonders von Philosophen und Sprachforschern
( Steinthal ) vertretener Irrtum , dass für die Entwickelung der
Sprache das wichtigste Moment die Bildung des Begriffes , also
die Summe der verschiedenen Sinneseindrücke eines Gegenstandes
sei . Der Begriff schaffe sich die Sprache aus einem inneren
Bedürfnisse heraus , ihre Entwickelung folge beim jetzigen Menschen
denselben Gesetzen , nach denen sie sich beim Urmenschen ent-
wickelte — die Sprache sei also nicht Nachahmung , sondern
ein von selbst eintretendes Ereignis , wofür die Bedingungen , die
Bildung der Begriffe , von allen Sinnesgebieten gleichmässig ge-
liefert würden ; eine innigere Beziehung eines Sinnesgebietes ,
nämlich des Gehörs , habe dabei nicht statt . Verhielte es sich so ,
so hätte der Blindgeborene viel mehr Ursache stumm zu werden
als der taub Geborene , denn es unterliegt wohl keinem Zweifel ,
dass das Auge von allen Sinnesgebieten dasjenige ist , welches bei
weitem die meisten Merkmale der Gegenstände uns zuführt , also
bei weitem am wichtigsten für die Bildung der Begriffe ist .
Obwohl die Sinnesgebiete des Auges , des Tastorganes , des
Geruches etc. , kurz alle die für den Begriff wesentlichen ebenso
mit den beim Sprechen innervirten Bewegungsvorstellungen durch
einen Theil des Associationssystemes verbunden gedacht werden
müssen , Wie später gezeigt wird . so hat doch nur die Bahn a a 1 b eine so immense Wich-
tigkeit für die Entwickelung der Sprache , weil auf ihr das Kind
sprechen lernt . Die Hauptaufgabe des Kindes , welches sprechen
lernt , ist die Nachahmung des gehörten Wortes ; dasselbe mit
einem bestimmten Begriffe verknüpfen lernt es erst , wenn es
schon längst im Besitze des Wortes ist . Das Wort ist eben Nach-
ahmung des Klangbildes , nicht des Gesichtsbildes oder Tast-
bildes ; und ein taub Geborener lernt zunächst eben so wenig
sprechen , wie ein Blinder je zeichnen gelernt hat .
Ein wahrscheinlich öfter vorkommender Fall verdient hier
noch besondere Erwähnung . Welche Folgen hat einseitige Taub-
heit für das in der Entwickelung begriffene Kind ? Stummheit
könnte nur dann daraus erfolgen , wenn wir von der durchaus un-
wahrscheinlichen Annahme ausgehen , dass nur das linke Sprach-
organ Auf die Frage von dem einseitigen Sitze des Sprachcentrums soll
hier nicht näher eingegangen werden . Vergl. darüber Simon . Wilks , Broadbent
( letztere beide nach Canstadts Jahresber. 1872 ) . entwickelungsfähig sei , das rechte dagegen durch viel-
fache Vererbung , wenigstens functionell , verkümmert . Wenn wir
auch zugeben , dass bei rechtsseitiger Taubheit das Kind , welches
nun auf die rechte Hemisphäre angewiesen ist , vielleicht schwerer
sprechen lernen wird , als bei linksseitiger , so ist doch sicher anzu-
nehmen , dass das Vorhandensein der acustischen Bahn nach dem
rechtsseitigen Schläfelappen dazu genügt , um dem Kinde das
Sprechen zu ermöglichen . Dagegen wird bei der Beurtheilung
von Sectionsbefunden dieses Sachverhältnis von der grössten
Wichtigkeit sein , da es ausreichen würde , um manche Fälle von
rechtsseitigem Sitz des Aphasie bedingenden Processes zu erklären .
Uebrigens macht sich nirgends mehr als in dieser Frage die grosse
Lücke fühlbar , welche durch die noch nicht sicher gestellte
Verlaufweise des Acusticus nach dem Grosshirn gebildet wird .
Dass der linke Acusticus gerade in der rechten Hemisphäre
endigt , ist vorläufig noch eine willkürliche Annahme .
Die Taubstummheit ist ein uns so geläufiger Symptomen-
complex , dass man die Coïncidenz beider Symptome immer selbst-
verständlich gefunden und sie mit der Aphasie nicht in Verbin-
dung gebracht hat . Dagegen ist das seltene Vorkommniss , dass
mit gutem Gehör begabte Kinder nicht sprechen lernen , unter
dem richtigen Namen der angeborenen Aphasie schon beschrieben
worden .
II. Es sei der Ort des Klangbildes selbst , a 1 , durch die Zer-
störung betroffen worden . Dieser Ort ist nicht identisch mit der
ganzen centralen Ausbreitung des Acusticus , denn es wird bei
Aphasie völliger Verlust der Klangbilder bei vollständig erhal-
tenem Gehör ( auf beiden Seiten ! ) beobachtet . Wahrscheinlich
verhält es sich mit den centralen Enden der Sinnesnerven ähnlich ,
wie es später von den motorischen Nerven erörtert werden wird ,
so nämlich , dass sie sich zerstreuen , um je nach der verschiedenen
Leistung der einzelnen Fasern an verschiedenen Stellen der
Grosshirnrinde zu endigen . So mag der Theil der centralen
Acusticusausbreitung zerstört sein , welcher die Wortklänge enthält ,
während jedes Geräusch oder jeder musikalische Ton noch percep-
tibel bleibt .
Ist nun der Ort a 1 , die Rinde der I. Schläfewindung , zerstört ,
so sind die Klangbilder der Benennungen aller möglichen Gegen-
stände aus der Erinnerung ausgelöscht , während der Begriff noch
in voller Klarheit vorhanden sein kann . Denn das Klangbild des
Namens ist für den Begriff eines Gegenstandes in den allermeisten
Fällen sehr nebensächlich , während die Gefühls- und Tastsinns-
bilder dafür Ausschlag gebend sind . Störungen , welche die den
Begriff constituirenden Gesichts- und Tastsinnsbilder betreffen ,
( Finkelnburg’s Asymbolie ) , sind daher auch gar nicht zu den
Sprachstörungen , sondern zu denen der Begriffe , also der Intelligenz ,
zu rechnen , wenn auch zugegeben werden soll , dass sie innerhalb
derselben deutlich abgegrenzte zusammengehörige Gruppen bilden .
Es ist klar , dass die Erhaltung der Leitung a 1 b ohne Werth
ist , sobald einmal die Klangbilder verloren gegangen sind . Von
den Klangbildern aus werden also die Worte nicht mehr innervirt .
Ausserdem ist aber auch die Bahn durchbrochen , welche den ge-
hörten Klang mit den übrigen Sinnesbildern eines Gegenstandes
verknüpfte ( Associationsfasern , die von der I. Schläfewindung zu
den anderen sensorischen Districten des Hinterhauptsschläfelappens
ziehen ) . Der Kranke ist also weder fähig das gespro-
chene Wort nachzusagen , — denn das ist ja die eigentliche
Leistung der Bahn a a 1 b b 1 — noch das gesprochene Wort
zu verstehen . Er hört von dem Gesprochenen nur ein ver-
worrenes Geräusch , das für ihn keinen Sinn hat — oder im besten
Falle eine ihm ganz fremde Sprache , deren einzelne Laute er
percipirt und allmählich wieder verstehen lernt .
Es bleibt deswegen immer noch ein Weg offen , von dem
aus die Sprachbewegungsvorstellungen innervirt werden können .
Der Kranke mit den ihm bis jetzt zugetheilten Eigenschaften hat
keine Intelligenzstörungen , er stellt durch sein Benehmen , durch sein
verständiges Auffassen der gemachten Zeichen und Geberden
ausser Zweifel , dass die Sinnesbilder der concreten ihn umgebenden
Gegenstände , also auch ihr Begriff , ihm vertraut sind . Nun hat
ja die Association der Klangbilder mit den Bewegungsvorstellungen
wesentlich ihren Werth darin , dass sie die Erlernung der Sprache
ermöglicht . Sehr bald , nachdem wir das Wort sprechen gelernt
haben , schwindet die Absicht , nur den Klang zu reproduciren , sie
weicht der Absicht , einen bestimmten Sinn wiederzugeben , d. h.
die realen Sinnesbilder eines Gegenstandes vermögen jetzt die
Bewegungsvorstellung des Wortes direct zu innerviren . Das Ver-
mögen zu sprechen ist also erhalten , aber mit einer gewissen
Einschränkung . Denn beim gewöhnlichen Sprechen scheint , wie
ja aus der Genesis der Sprache leicht begreiflich ist , unbewusst
das Klangbild immer mit innervirt zu werden , gleichsam mit zu
hallueiniren und dadurch eine fortwährende Correctur auf den
Ablauf der Bewegungsvorstellungen auszuüben . Der Taube , bei
welchem nur der Verlauf des Acusticus durchbrochen ist , verfügt
noch vollständig über diese Correctur .
Fig. 4.
Schematisch lässt sich der Sach-
verhalt , wie folgt , darstellen . Es
sei in der nebenstehenden Figur ,
welche mit der oben gegebenen
zu vergleichen ist , c ein mit a 1
associirtes Tastbild , d das zuge-
hörige optische Erinnerungsbild .
Der Begriff ist nichts anderes als
die Bahn cd . Das Kind hat zu-
nächst auf der Bahn a 1 b spre-
chen gelernt , welche wegen ihrer tausendfältigen Benützung immer
einen bedeutenden Einfluss auf die Auswahl der richtigen Bewe-
gungsvorstellung beibehält . Diese Bahn wird aber später nicht
mehr vorwiegend benützt , sondern es wird der kürzere Weg cb
und db gewählt , und das blosse Bestehen der Bahn a 1 b , ohne
intendirte Innervation derselben , genügt schon , um die Auswahl
der richtigen Bewegungsvorstellung zu sichern . Es wirkt dann die
Summe d+c+a 1 , jedes etwa von gleicher Intensität , zur rich-
tigen Auswahl des Wortes zusammen . Fällt aber a 1 aus , so wirkt
nur die Summe d+c innervirend , der mächtige Einfluss der
Bahn a 1 b fällt weg .
Abgesehen von dem Mangel an Verständniss hat
der Kranke also noch aphasische Erscheinungen
beim Sprechen , bedingt durch das Fehlen dieser unbe-
wussten von dem Lautbild geübten Correctur . Sie be-
stehen in dem leichten Verwechseln der Wörter . Der Kranke
besitzt virtuell noch das Vermögen , alles richtig zu bezeichnen ,
aber er ist dessen , je nach Stimmung und Affect , in sehr ver-
schiedenem Grade Herr. Dieselben Wörter braucht er das eine
Mal richtig , das andere Mal falsch , ohne jede Regelmässigkeit . Ein
bestimmter Wortschatz , wenn darunter die nur richtig gebrauchten
Wörter verstanden werden , existirt nicht . Dabei bleibt der falsche
oder richtige Gebrauch der Wörter dem Kranken unbewusst .
Hochgradiger Affect , bei welchem das Explodiren in Bewegungen
ohne Einmischung anderer associirter Erinnerungsbilder über-
haupt begünstigt ist , wird auch hier die Correctur am wenigsten
vermissen lassen .
Je nach Intensität und Ausdehnung des Krankheitsprocesses ,
welcher die I. Schläfewindung betroffen hat , werden auch die
Symptome mehr oder weniger hochgradig sein können . In den
schwereren Formen , bei welchen nicht nur die Klangbilder der
concreten Gegenstände und Handlungen , sondern auch die der
zur Satzbildung erforderlichen Bindewörter etc. verloren gegangen
sind , wird die Diagnose nur auf zwei Momenten beruhen , nämlich
dem Reichtum von zu sprechenden Wörtern und dem
Mangel an Verständniss des Gehörten . Dass solche bewei-
sende Fälle bisher noch nicht beobachtet , oder wenigstens nicht
publicirt worden sind , beruht ausser auf der Seltenheit der Fälle
an sich darauf , dass selbst durchweg erfahrene und intelligente
Aerzte diesen Zustand für Verwirrtheit ansehen — wie ich selbst
zu erfahren Gelegenheit hatte . Für den psychiatrisch Gebildeten ,
der die Formen der Verwirrtheit kennt , hat die Diagnose nicht die
geringste Schwierigkeit .
Geringere Grade der Erkrankung , bei denen die für den
Satz wichtigen Formelemente noch erhalten sind , der Sinn einer
Frage daher bis auf einzelne darin enthaltene Wörter im Allge-
meinen richtig aufgefasst wird , lassen sich durch Suggestivfragen
feststellen . Wenn der Kranke z. B. bei Vorzeigung eines Glases
mit der Frage : Ist das ein Glas ? nicht sofort Bescheid weiss ,
sondern vielleicht zaudert , hin und her überlegt und endlich
gedrängt ein zweifelhaftes „ ja ‟ oder „ nein ‟ sagt , so gehört er
sicher zu dieser Kategorie .
Folgende Punkte verdienen noch besonders hervorgehoben
zu werden :
1. Partielle Läsionen des sensorischen Sprachcentrums werden
allerdings einen bestimmten Wortschatz bedingen , der sowohl beim
Sprechen richtig verwandt , als auch beim Hören richtig aufgefasst
wird . Dieser Wortschatz lässt sich durch Suggestivfragen fest-
stellen . Doch wird es einer sehr mühsamen , lange fortgesetzten
Beobachtung bedürfen , um diese partielle Form der sensorischen
Aphasie zu constatiren .
2. Ein grosser virtueller Wortschatz ist Hauptbedingung für
diese Form . Zustände , bei welchen nur wenige einfache Wörter
erhalten sind , gehören immer in die sub IV. zu besprechende
motorische Form der Aphasie .
3. Es ist keine Spur von Hemiplegie vorhanden .
4. Es besteht Agraphie . Das Schreiben ist eine bewusste
Bewegung , welche mit innigster Anlehnung an den Klang gelernt
und immer unter Leitung desselben executirt wird . Die Selbst-
beobachtung wenigstens lehrt , und damit stimmt die klinische
Erfahrung überein , dass zwischen der Schreibbewegung und dem
Begriffe durchaus keine ähnliche directe Verknüpfung besteht ,
wie sie zwischen Sprechbewegung und Begriff angenommen werden
muss . In den Fällen partieller sensorischer Aphasie wird sich auch
eine partielle Agraphie erwarten lassen .
5. Ganz ans derverhält es sich mit der Fähigkeit , geschrie-
bene oder gedruckte Schriftzeichen zu verstehen . Diese ist je nach
dem Bildungsgrade abhängig oder unabhängig von dem Bestehen der
Klangbilder . Der ungebildete , im Lesen wenig geübte Mann versteht
dus Geschriebene sogar erst , wenn er sich sprechen hört . Der
Gelehrte , von früher Kindheit darin geübt , überfliegt eine Seite
und versteht deren Sinn , ohne sich der Fassung in Worte bewusst
zu werden . Ersterer wird das Symptom der Alexie ausser dem der
Aphasie bieten , letzterer im frappantesten Gegensatze zu seiner
Unfähigkeit das Gesprochene zu verstehen , alles Geschriebene
richtig erfassen . Er wird dagegen beim Vorlesen wieder so
aphasisch sein , wie beim spontanen Sprechen .
Beide Zustände , die Agraphie sowohl als die Alexie , können
auch durch Erkrankung eines ganz anderen Gebietes , nämlich des
optischen Rindengebietes , bedingt sein ; denn das optische Erinne-
rungsbild der Schriftzeichen ist zum Schreiben wie zum Lesen
unentbehrlich . Es lässt sich nun zwar die Möglichkeit nicht in
Abrede stellen , dass die Schriftzeichen innerhalb dieses Gebietes
einen besonderen , gerade durch die innige Verknüpfung mit dem
ganzen Sprachgebiete ausgezeichneten Rindenbezirk einnehmen ,
und dass so durch eine sehr circumscripte Rindenerkrankung nur
Agraphie und Alexie entstehen kann ; indessen wird sich viel eher
erwarten lassen , dass das ganze optische Sinnesgebiet erkrankt
ist . Der Symptomencomplex würde sich dann dadurch vervoll-
ständigen , dass auch andere gesehene Gegenstände nicht wieder
erkannt würden . Mit der Aphasie hätte aber diese Störung eigent-
lich nichts zu schaffen .
III. Es sei die Bahn a 1 b , d. h. es seien die Associations-
fasern betroffen , welche das Klangbild mit der zugehörigen
Bewegungsvorstellung verknüpfen , aber Klangbild a 1 und Bewe-
gungsvorstellung b selbst erhalten .
Der Kranke versteht Alles , ganz im Gegensatze zu
der eben geschilderten Form der Aphasie . Er kann auch Alles
sprechen , aber die Auswahl der richtigen Worte ist in
ähnlicher Weise gestört wie in der eben geschilderten
Form . Das Klangbild ist hier zwar erhalten , es wird auch von
den übrigen Sinnesbildern , welche den Begriff bilden , mit innervirt ,
es kann aber , weil die Bahn a 1 b unterbrochen ist , seinen gewich-
tigen Einfluss für die richtige Auswahl der Bewegungsvorstellungen
nicht in die Wagschale werfen , oder es kommt wenigstens nur
mit sehr viel geringerer Intensität zur Geltung . Während in der
vorigen Form nur die Summe c+d zur Innervation von b vor-
handen war , ist hier zwar c+d+a 1 , letzteres aber , weil es
mit auf die Bahn cb angewiesen ist , von viel geringerem Werthe
als normal , vorhanden . Es werden also Wörter verwechselt , nicht
so arg wie bei der vorigen Form , aber doch sehr auffallend .
Jedoch kann hier eine andere Correctur eintreten , welche , beim
normalen Sprachvorgange wenig benützt , die unbewusste auf
bewusstem Wege allmählich vollständig ersetzen kann . Der Acusticus
ist intact und leitet den Klang des gesprochenen Wortes zu dem
unversehrten Orte der Klangbilder hin . Das gesprochene Wort
wird also gehört und je nachdem richtig oder falsch befunden .
Der Kranke weiss bei einiger Aufmerksamkeit , dass er falsch ge-
sprochen hat und geräth darüber in Unmut . Wird ihm eine Aus-
wahl von Wörtern vorgesagt , unter welchen er das richtige
wählen soll , so trifft er es regelmässig ; eben so beantwortet er
Suggestivfragen unfehlbar richtig . Ein solcher Kranker wird sich
das , was er sagen will , einüben können , indem er es vorher leise
vor sich hin spricht ; und ist er ein willenskräftiger , intenser
Aufmerksamkeit fähiger Mensch , so wird er durch eine bewusste ,
freilich mühsamere und Zeit raubendere Correctur seinen Mangel
schliesslich ersetzen können .
In reinen und dabei vollständigen Formen wird der Kranke
beim Sprechen eine grosse Aehnlichkeit mit dem sensorisch
Aphasischen darbieten . Er versteht aber Alles richtig , antwortet
auf Suggestivfragen richtig und bietet so den Anschein einer bei
weitem grösseren Intelligenz . Hemiplegie der entgegengesetzten
Körperhälfte wird fast immer Begleiterscheinung sein .
In leichteren Fällen muss man sich mit der Annahme einer
durch irgend welche Circulationsstörungen gesetzten erschwerten
Leitung begnügen . Es sind dies Fälle ohne jede Hemiplegie , in
welchen nicht so sehr das Verwechseln der Wörter , als die sub-
jectiv gefühlte Schwierigkeit , sie zu finden , auffällt . Die Sprache
ist dann stockend , mit langen Pausen , in welchen der Kranke
sichtlich nach Ausdruck ringt ; nach langem Bemühen resignirt
dann oft der Kranke und beginnt einen neuen Satz . Der Anfang
kommt wieder glatt heraus , dann kommt dasselbe Stocken , die-
selbe peinliche Situation . Ein ähnlicher Zustand kommt noch in
der Breite der Gesundheit vor , wenn Jemand mitten in der Unter-
haltung , in einem Vortrage , ein Wort nicht finden kann , sich müht
es durch ein anderes zu ersetzen und schlieslich mit einem nur
halb zutreffenden vorlieb nehmen muss . Ich habe ihn namentlich
bei bedeutenden Menschen beobachtet , die während des Sprechens
productiv waren , überraschende Combinationen aufstellten , kurz die
zugleich sprachen und intensiv geistig arbeiteten . Wenn nun Stein-
thal in seinem „ Abriss der Sprachwissenschaft ‟ schon das Denken
allein schwer gefunden hat , so ist es jedenfalls noch viel schwerer ,
zu denken und zu sprechen zugleich . Die functionelle Hyperämie ,
welche die erleichterte Leitung zwischen den fortwährend neu
auftauchenden Sinnesbildern bedingt , verschuldet nothgedrungen
eine Anämie im sprachlichen Gebiete . Vergl. die geistreiche Auffassung Meynert’s von den Circulationsver-
hältnissen des Gehirnes in seinem „ Bau der Grosshirnrinde ‟ .
Die Störungen , welche durch die Aphasie der Inselgegend
im Lesen und Schreiben bedingt werden , sind nur durch näheres
Eingehen auf die Art und Weise verständlich , wie beides vom
Kinde erlernt wird .
Das Kind lernt dadurch lesen , dass es das optische Sinnesbild
des Buchstabens , α , ( einen Theil des ganzen optischen Sinnesgebie-
Fig. 5 .
tes) , mit dem Klangbilde desselben
in Beziehung bringen , associiren
lernt , laut lesen dadurch , dass
die Summe α + a 1 auf dem
Wege a 1 b die Bewegungsvor-
stellung b innervirt ; die Vereini-
gung von Klangbild und optischem
Bilde macht aber den ganzen Be-
griff des Buchstabens aus , andere
Qualitäten besitzt derselbe nicht .
Ist also die Bahn a ,b durchbrochen , so gilt für den Buchstaben
nicht , was für jeden anderen sinnlichen Gegenstand gilt , dass der
Begriff desselben direct die Sprachbewegungsvorstellung innerviren
könnte . Der einzelne Buchstabe , welcher einem solchen Kranken
vorgelegt wird , wird daher nicht gelesen . In so weit besteht bei
der vorliegenden Form der Aphasie immer auch Alexie . Ob nun
die Alexie sich auch weiter auf ganze Wörter erstreckt , das hängt
von dem Bildungsgrade des Patienten ab . Hat er nie mehr im
Lesen geleistet , als dass er sich die einzelnen Buchstaben zusam-
menlas und daraus das Wort construirte , so wird er durch seine
Aphasie auch die Fähigkeit zu lesen ganz eingebüsst haben . Hat
er es aber zu jener Virtuosität darin gebracht , welche bei den
gebildeten Klassen die Norm ist , so wird durch das geschriebene
Wort ein bestimmter Begriff in ihm lebendig , er versteht das Ge-
schriebene und findet dafür , wenn er gerade gut disponirt ist
( s. oben ) , wohl auch das richtige Wort . Nur den einzelnen Buch-
staben , der ihm vorgeschrieben wird , kann er niemals laut lesen ,
weil eben zum lauten Lesen eines Buchstabens das Vorhandensein
der Bahn a ,b unerlässlich ist . Der Kranke beweist aber dadurch ,
dass er den Namen jedes anderen Buchstabens , als des fixirten ,
zurückweist , und dadurch , dass er den richtigen Namen , wenn er
ihm an die Hand gegeben wird , sofort acceptirt , sein volles Ver-
ständniss für den Sinn des Buchstabens . Der Gebildete erleidet
also durch die Aphasie der Inselgegend in dem Verständniss der
Schriftsprache keinerlei Störung . Leider wird dieser Satz dadurch
modificirt , dass gerade bei der vorliegenden Art der Aphasie He-
miopie nach rechts hin als häufige Complication aufzutreten scheint . S. unten die Fälle Beckmann und Kunschkel . Von allen hier in
Betracht kommenden Bezirken liegt die Insel dem linken Tractus opticus am
nächsten .
Das Schreiben wird dadurch erlernt , dass das optische Sin-
nesbild des Buchstabens auf der Bahn α β nachgeahmt wird ,
(β sei das Centrum der Schreibbewegungen ) . Erst durch viele Uebung
erreichen wir dann auch zwischen Klangbild und Bewegungsvor-
stellung eine feste Association a 1 β , vermöge deren wir nun auch
ohne Vorlage zu schreiben im Stande sind . Die ursprüngliche Bahn
aber , α β , auf der wir schreiben lernten , behält eben deswegen densel-
ben Einfluss auf den Ablauf der Schreibbewegungen , welchen die Bahn
a 1 b auf den Ablauf der Sprachbewegungen ausübt . Da nun β , ein mo-
torisches Centrum , jedenfalls in das Stirnhirn zu verlegen ist , so muss
die Bahn a 1 β der Bahn a 1 b eng benachbart gedacht werden , sie
wird also meist mitbetroffen sein . Ein directer Weg von den den Be-
griff zusammensetzenden Sinnesbildern zu dem motorischen Schreib-
centrum ist nun keinesfalls vorhanden , auf welchem die Schreib-
bewegungen mit Umgehung der Klangbilder innervirt werden
könnten . Daher hat Aphasie der Inselgegend meist auch Agraphie
zur Folge . Die Nachahmung der vorgeschriebenen Buchstaben und
Worte muss dagegen noch möglich sein , weil die Bahn α β erhalten ist .
IV. Ein ganz anderes Bild bietet die Aphasie des Stirnlap-
pens , bedingt durch Zerstörung der Sprachbewegungsbilder b.
Alles wird verstanden , aber der Kranke ist plötzlich
stumm geworden oder verfügt nur noch über wenige
einfache Wörter . Letztere werden meist zur Bezeichnung
aller möglichen Dinge gebraucht , aber dies geschieht nicht aus
Unkenntniss ihrer Bedeutung , sondern aus dem Bedürfniss , auf
Befragen überhaupt durch einen Laut zu reagiren . Es ist der-
selbe Vorgang , vermöge dessen der Hund Alles durch Bellen be-
antwortet , er sucht in den einzigen ihm zu Gebote stehenden
Laut jeden Sinn hineinzulegen . Der mächtige von a 1 und c d
aus in b anlangende Erregungsprocess kann sich nur in dieser
einen Bewegung entladen . Dass keine Verwechselung der
Wörter dabei stattfindet , lässt sich in den reinen , hier-
her gehörigen Fällen leicht durch Suggestivfragen
feststellen : diese werden immer durch Gesten richtig beant-
wortet . Jeder gegebene Auftrag wird ausgeführt . Die Mehrzahl
aller bisher beschriebenen Fälle von Aphasie , namentlich die
Broca’sche gehört hierher .
Bei einiger Ausdehnung des pathologischen Processes wird
zunächst der wahrscheinlich benachbarte Centralheerd für die zum
Schreiben nöthigen Bewegungsvorstellungen mitbetroffen und da-
durch Agraphie entstehen . Es ist allerdings die Frage , ob es be-
rechtigt ist , einen solchen anzunehmen . Die Schreibbewegungen
werden zu einer Zeit erlernt , in welcher das Kind schon vollkom-
mene Herrschaft über den Gebrauch seiner Gliedmassen , über
den Ablauf jeder einzelnen Bewegung und das Mass derselben
erlangt hat . Es hat daher nur nöthig , neue Combinationen schon
vorhandener Bewegungsvorstellungen und ein Masshalten in der
Kraft , mit der es seine Muskelactionen auszuführen gewöhnt war ,
zu erlernen . Deswegen ist auch nicht die linke Hemisphäre allein
im Besitze von Schreibbewegungsvorstellungen , sondern jeder Ge-
sunde vermag auch mit der linken Hand zu schreiben , und im
Vergleich mit der rechten nur um so viel ungeschickter , als es über-
haupt die linke Hand in allen Bewegungen ist .
Erstreckt sich aber der Process über einen grösseren Theil
des Stirnlappens , so ist die Mehrzahl der Bewegungsvorstellungen
der entgegengesetzten Körperhälfte erloschen und zugleich moto-
rische Lähmung derselben gesetzt . Dann ist Agraphie ohnedies
mechanisch bedingt . Gelingt es einem solchen Kranken noch , mit
der linken Hand die Feder in der rechten festzuklemmen und die
rechte zweckmässig zu führen , so schreibt eben die linke Hand
und nicht die rechte , und ein Beweis dafür , dass das linke Cen-
trum der Schreibbewegungen noch bestehe , kann daraus nicht
abgeleitet werden .
Wer sich gewöhnt hat , beim Schreiben vor sich hin zu
sprechen , es sich gleichsam selbst in die Feder zu dictiren , der
wird in Folge der engen Association zwischen Sprachbewegungen
und Schreibbewegungen agraphisch werden , ohne dass eigentlich
ein innerer zwingender Grund durch die Localität des Processes
gegeben wäre .
Hat der Process diejenigen Faserzüge durchbrochen , welche
von der I. Schläfewindung kommend , den Heerd der Klangbilder
mit den Schreibbewegungsvorstellungen verknüpfen , so wird der
Kranke zwar , vermöge der Bahn α β nachschreiben , aber nicht
spontan schreiben können , er wird partiell agraphisch sein .
Die Aphasie des Stirnlappens kann nie , ausser in dem pag. 25
angeführten Falle , die Fähigkeit aufheben , Geschriebenes und
Gedrucktes zu verstehen .
V. Unterbrechung der Bahn bb 1 , ( S. Fig. 3 ) , der von der I. Stirn-
windung zunächst nach den grossen Ganglien convergirenden Fase-
rung , muss ganz den gleichen Effect haben , wie die Zerstörung der be-
treffenden Rindengebiete selbst ; es muss dadurch dieselbe
motorische Aphasie entstehen , die eben geschildert worden
ist . An sich wird kaum zu erwarten sein , dass jemals ein Process
gerade nur diesen Theil der in den Linsenkern und Streifenhügel
einstrahlenden Faserung zerstören und die übrigen ganz intact
lassen wird , dass er also reine Aphasie ohne jede anderweitige
Lähmung hervorbringen sollte . Noch mehr aber gilt dies für den
Verlauf dieser Faserung durch den Linsenkern-Streifenhügel . Zer-
störungen von geringer Ausdehnung innerhalb des Linsenkernes
treffen schon auf eine ganz andere Anordnung der Fasern . Es
verhält sich nämlich höchst wahrscheinlich so , dass aus den ver-
schiedenen Rindenprovinzen des Stirnhirnes die den verschiedenen
Bewegungsvorstellungen angehörigen Fasern in den Linsenkern ein-
treten und sich in demselben so anordnen , dass das Gebiet eines
peripherischen Nerven schon in annähernd umgrenzter Ausdeh-
nung durch bestimmte Massen grauer Gangliensubstanz vertreten
ist . Um ein Beispiel zu wählen : Es ist mit Sicherheit anzuneh-
men , dass das Gebiet des Facialis im Linsenkerne durch zwei um-
grenzte , weit auseinander liegende Ganglienmassen repräsentirt
wird ; die eine davon vereinigt alle Fasern für das Mundgebiet
desselben , mögen dieselben nun aus der I. Stirnwindung stammen
und zu Sprechbewegungen dienen , oder aus irgend einem andern
Windungsbezirke des Stirnhirnes , der vielleicht die mimischen Be-
wegungsvorstellungen enthält . Die andere circumscripte Anhäufung
grauer Substanz vereinigt wieder alle Fasern für das Orbital-
gebiet des Facialis , gleichgiltig , welchen Bewegungsvorstellungen sie
entsprechen . Ebenso wird die Zungenmuskulatur ihren eigenen
Kern haben , in welchem also wieder Fasern aus differenten Rin-
dengebieten zusammenlaufen , je nachdem Sprachbewegungen oder
Kau- , oder Schlingbewegungen , endlich andere bewusst ausführ-
bare Bewegungen ausgeführt werden sollen . Daraus folgt , dass
durch circumscripte Zerstörungen innerhalb des Linsenkernes nie
zugleich alle Sprachbewegungen betroffen sein können , sondern
es werden partielle Aphasien erzeugt , welche den Anschein des
lähmungsartigen Ausfalles gewisser , beim Sprechact innervirter
Muskeln , z. B. des Mundfacialis , gewähren . Dabei können die
übrigen zu dem Worte gehörigen Bewegungen der Zunge und
des Kehlkopfes in normaler Weise von statten gehen , so dass das
Wort noch verständlich bleibt .
Es ist sonach kein Zweifel , dass zwischen Aphasie und Alalie ,
soweit es den Linsenkern betrifft , nur ein gradweiser , kein quali-
tativer Unterschied besteht , und dass durch die vollständige
Zerstörung des linken Linsenkernes , abgesehen von
der sonstigen Lähmung , auch Aphasie entstehen muss .
Dies ist also eine Aphasie des Linsenkernes , was ich gegenüber
der gewohnten Anschauung , die höchst naiv von den anatomischen
Verhältnissen des Gehirnes abstrahirt , hier besonders betonen muss .
Nach dem Gesagten leuchtet auch ein , dass Durchtrennung
des linken Hirnschenkels Aphasie erzeugen muss , und zwar ge-
nügt dazu die Durchtrennung der unteren Hirnschenkelabtheilung ,
des Hirnschenkelfusses , weil die Sprachbewegungen nach der oben
gegebenen Entwickelung erlernte bewusste Bewegungen sind .
Es ist selbstverständlich , dass öfter als diese reinen klinischen
Bilder , welche auf mehr weniger willkürlichen anatomischen Ab-
grenzungen beruhen , diejenigen Fälle vorkommen , bei denen je
zwei oder drei der gezeichneten Symptomencomplexe mit einander
verschmolzen sind , weil die pathologischen Processe gewöhnlich
ziemlich ausgedehnt sind . Indessen kommen die aufgestellten
typischen Bilder , welche an sich genügen , um unsere klinische
Eintheilung zu rechtfertigen , unzweifelhaft vor ( s. unten den
casuistischen Theil ) , und ich glaube , es genügt , die Aufmerksamkeit
darauf gelenkt zu haben , um bald recht viele einschlägige Kranken-
geschichten mit Sectionsbefunden veröffentlicht zu sehen . Die
combinirten Formen sind dem Vorangegangenen mit Leichtigkeit
zu entnehmen . Auf den Sitz der Erkrankung in Schläfelappen
und Inselgegend zugleich wird man schliessen dürfen , wenn die
psychischen Symptome der Aphasie des Schläfelappens mit rechts-
seitiger Hemiplegie complicirt sind . Combinirte Erkrankung der
Stirn- und Inselgegend wird sich schwer von der der Stirngegend
allein unterscheiden lassen . Erkrankung des ganzen I. Urwindungs-
bogens endlich setzt absolute Sprachlosigkeit zugleich mit er-
loschenem Verständniss für die Sprache , mit Agraphie und Alexie .
Zur richtigen Diagnose der Aphasie ist nur eine ganz be-
stimmte Epoche des Krankheitsverlaufes zu benützen . Es müssen
nämlich einerseits die Allgemeinerscheinungen , welche den Eintritt
der Aphasie wie der meisten Heerderkrankungen des Gehirnes be-
gleiten , verschwunden sein . Andererseits aber darf der Zustand
noch nicht so lange gedauert haben , dass bereits die Möglichkeit
des Ersatzes durch die andere Hemisphäre vorliegt . Glücklicher-
weise schliessen diese beiden Quellen des Irrthums sich gegen-
seitig einigermassen aus , indem die Aphasie der Stirngegend ,
welche die schwersten Allgemeinerscheinungen setzt , erst in später
Zeit durch die andere Hemisphäre ausgeglichen wird , dagegen
die sensorische Aphasie , welche sehr bald ausgeglichen wird , bei
ihrem Entstehen nur geringe Allgemeinerscheinungen verursacht .
Die richtige Beurtheilung der Zeit , welche für die Diagnose am
werthvollsten ist , wird daher nur dem geübten Diagnostiker , und
nur dann gelingen , wenn er den Fall von seiner Entstehung an
beobachtet hat . Von welcher Wichtigkeit dieser Punkt für die
Beurtheilung des Sectionsbefundes ist , brauche ich nicht besonders
hervorzuheben .
Die vorstehend entwickelte Theorie der Aphasie bedarf einer
Ergänzung , ohne welche sie sich den Vorwurf zuziehen würde ,
das vorhandene schätzenswerthe Material nicht genügend berück-
sichtigt zu haben .
Ich muss hier noch einmal auf den Satz zurückkommen ,
welcher sich mir bei Bearbeitung dieses Gegenstandes immer klarer
als die Grundlage für eine fruchtbare Auffassung der aphasischen
Symptome herausstellte : das Erlernen der Sprache besteht in
Nachahmung des Gehörten , die Sprache ist nicht identisch mit
einer gewissen Höhe der geistigen Entwickelung ; Denken und
Sprechen sind zwei von einander ganz unabhängige Processe , die sich
sogar gegenseitig hemmen können . Dafür spricht zuerst die täg-
liche Beobachtung . Alle Kinder , welche sprechen lernen , machen
ein Stadium durch , in welchem sie in prägnanter Weise die Rom-
berg’sche Echolalie zeigen ; sie wiederholen die an sie gerichteten
Fragen , statt sie zu beantworten . Sie spielen mit den Wörtern ,
üben sich in Wortverdrehungen , um ein sicheres Urtheil über die
producirten Laute zu gewinnen ; der Sinn des Wortes ist ihnen
in dieser Zeit Nebensache . Caspar Hauser , dem der menschliche
Unterricht fehlte , lernte trotz seines vollkommen entwickelten Ge-
hirnes , seiner im Kampf mit den Thieren erlangten Schlauheit
und Sinnesschärfe nicht sprechen , lernte es aber im Umgange mit
anderen Menschen in kurzer Zeit . Einen treffenden Beweis liefern
ferner die Taubstummen . Eben nur vom Acusticus aus lernt
3
normaler Weise der Mensch sprechen ; fehlt ihm diese Bahn , so
bleibt er stumm , so sehr er sich auch sonst geistig entwickeln
mag . Bei den pathologischen Veränderungen der Sprache ist durch-
aus auf diese normale Entwickelungsweise derselben Rücksicht zu
nehmen .
Wie verhält es sich aber mit denjenigen Taubstummen , bei
welchen es durch einen höchst complicirten besonderen Unterricht
dennoch gelingt , eine articulirte und tönende Sprache zu erzielen ?
Sie beweisen nur , dass directe Verbindungen der optischen und
Tastsinnesgebiete mit dem Orte der Sprachbewegungsvorstellungen
existiren , und dass sie eventuell hinreichen können , um den
normalen Sprachvorgang zu ermöglichen . Die Thatsache , dass bei
gänzlichem Verluste der Klangbilder dennoch Vieles , und zwar
mitunter ganze Sätze , richtig gesprochen werden kann , liesse sich
auch auf keine andere Weise erklären . Dennoch verhält es sich
bei den Taubstummen , die durch geeigneten Unterricht leidlich
sprechen lernen , noch ganz anders . Bei ihnen fungiren , statt der
acustischen , die optischen und Tastsinnesbilder als Anfangsglieder
des psychischen Reflexbogens . Ist einmal ein solcher Taubstummer
im sicheren Besitze seiner Sprechfähigkeit , so kann es auch ihm
Fig. 6.
begegnen , dass er aphasisch
wird , und er wird , je nach
dem Sitze des Processes , an
motorischer , sensorischer und
Leitungsaphasie leiden können .
Aber nur bei der motorischen
Aphasie des Taubstummen lässt
sich der Sitz des Processes in
dieselbe Region des Stirnhirnes
verlegen , welche nachgewiesener Massen beim normalen Menschen
betroffen ist . Bei der sensorischen Aphasie müssen c und d , die Tast-
und optischen Bilder , erloschen sein , deren anatomische Lage noch nicht
genügend bekannt , aber sicher mit der I. Schläfewindung nicht iden-
tisch ist . Bei der Leitungsaphasie endlich müssen die Faserzüge unter-
brochen sein , welche die Stirnlappen mit dem Hinterhauptsschläfe-
lappen im Mark der Hemisphäre verbinden , besonders das Bogen-
bündel Burdach’s . Es wäre müssig , die Symptome dieser 3 Formen
bei Taubstummen weiter auszumalen . Nur ist hervorzuheben ,
dass Taubstumme mit sensorischer Aphasie auch nothwendig immer
an Asymbolie ( Finkelnburg ) leiden werden , und dass dadurch das
Bild noch bei weitem complicirter und schwieriger zu erkennen
sein wird . Die Sectionsbefunde von Taubstummen würden sowohl
in diesen Fällen , als auch sonst , für die Lehre von der Aphasie
von der grössten Wichtigkeit sein .
Treten wir dem Begriffe der Asymbolie , nicht in unserem
präcisen Sinne , sondern wie ihn Finkelnburg aufgestellt hat , etwas
näher . Der eine Kranke Finkelnburg’s erkennt die ihm be-
kannten Personen und Orte nicht wieder ; die andere zeigt
Mangel an Verständniss für die gehörten Worte , sie macht beim
Tischgebet nicht mehr das Kreuz , verwechselt Bewegungen , die
sie ausführen soll . Der 3. Kranke verwechselte die Tasten und
konnte nicht mehr nach Noten spielen . Der 4. zeichnet sich vor
andern Aphasischen durch Einbusse des Verständnisses für Münzen
aus ; dem 5. endlich sind die Symbole des Cultus , des Staats-
dienstes , und die Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Conven-
tionsregeln fremd geworden . Asymbolie würde nach diesen Bei-
spielen etwa als das Verkennen der Bedeutung eines Gegenstan-
des , einer Handlung zu definiren sein . Besonders die Fälle 4 und
5 würden nichts Auffälliges haben , denn die Hälfte aller Geistes-
kranken in den Irrenanstalten zeigt dieselben Symptome . Diese
Symptome selbst aber fallen zusammen mit einem Defecte der
Intelligenz . Etwas schlimmeres könnte der Lehre von der Aphasie
gar nicht begegnen , als dass man die dabei vorkommenden
Störungen der Intelligenz — wie sie gelegentlich auch bei jeder
anderen Heerderkrankung des Gehirnes zu beobachten sind , —
als wesentlich zum Krankheitsbild gehörig auffasste . Man würde
dabei in denselben Fehler verfallen , wie wenn man die den apo-
plectischen Anfall begleitende Bewusstlosigkeit durch die Zerstörung
des Linsenkernes erklären wollte .
Halten wir uns nur an die ersten Beispiele Finkelnburg’s ,
so lässt sich ihnen allerdings eine günstigere Definition entnehmen .
Asymbolie würde dann gleichbedeutend sein mit dem Erlöschen
des optischen Erinnerungsbildes eines Gegenstandes , Um das Richtige in Finkelnburg’s Beobachtung adoptiren zu können ,
nehmen wir uns das Recht , den Namen der Asymbolie auch auf die wesent-
lichen Tast- und Gehörsbilder etc. anzuwenden . oder mit
dem Erlöschen irgend eines der für den Begriff wesentlichen Er-
innerungsbilder eines Gegenstandes . Ueber die Intelligenzstörung
kämen wir immer nicht hinweg , aber wir hätten wenigstens eine
bisher noch nicht beobachtete Form von circumscriptem Intelligenz-
defect damit gewonnen , welche , ebenso wie die Aphasie , die
Diagnose auf eine Heerderkrankung des Gehirnes gestatten würde .
Um mich deutlicher auszudrücken muss ich auf ein schon früher
berührtes Thema genauer eingehen .
Der gesprochene und geschriebene Name eines Gegenstandes
giebt uns kein neues Kennzeichen für denselben ; er unterscheidet
sich dadurch sehr strict von den eigentlichen sinnlichen Erinner-
ungsbildern des Gegenstandes . Nur letztere setzen den Begriff
zusammen .
Der Begriff einer Glocke z. B. besteht aus den unter einan-
der verbundenen ( associirten ) Erinnerungsbildern von Gesichts- , Tast-
und Gehörswahrnehmungen . Diese Erinnerungsbilder sind wesentliche
Kennzeichen der Glocke . Das gesprochene Wort Glocke aber hat mit
dem acustischen Eindrucke , den eine Glocke auf uns hervorbringt ,
nichts gemein , und eben so wenig existirt die geringste Aehnlichkeit
der dafür gebrauchten Schriftzeichen mit dem Bilde einer Glocke . Nur
die unentwickeltste Schriftsprache , eine Hieroglyphenschrift z. B. ,
könnte davon eine Ausnahme machen . Es erhellt daraus die Nothwen-
digkeit , Beides aus einander zu halten . Störungen der Begriffet
des Materiales , das wir beim Denken verarbeiten , sind immer
Störungen der Intelligenz ; Störungen der Sprache dagegen setzen
nur eine Behinderung im Gebrauche der conventionellen , für die
Begriffe eingeführten Verkehrsmittel .
Ueber die anatomische Lage derjenigen Rindenbezirke , welche
als Sitz der optischen und Tastsinnesbilder fungiren , haben wir
nur wenige Anhaltspunkte . Nur soviel ist wahrscheinlich , dass
die Anordnung der Fasern , welche im Hirnstamm vorliegt , auch
im weiteren Markverlaufe erhalten bleibt . Darnach würden die
Sehstrahlungen die innersten , medialsten Gebiete des Hinterhaupts-
schläfelappens für sich beanspruchen , die sensiblen Hinterstränge
des Rückenmarkes zunächst davon nach aussen ihre Rindenendi-
gung finden . Der äussersten I. Schläfewindung eng benachbart
würden die nicht zur Sprache gehörigen acustischen Erinnerungs-
bilder zu suchen sein . Welchen Einfluss müssen isolirte Erkran-
kungen dieser Gebiete auf die Sprache üben ?
Denken wir uns zunächst diese Begriffsregionen in ihrer
Gesammtheit und an beiden Hemisphären erkrankt , so muss der
tiefste thierische Blödsinn die Folge sein . Die Sprache an sich
braucht darunter nicht zu leiden , wenn auch der Inhalt des Ge-
sprochenen tief blödsinnig ist ; der Telegraphenapparat ist in Ord-
nung , nur das aufgegebene Telegramm ist unsinnig . Bei Mikro-
cephalen findet sich oft die formale Sprachfähigkeit erhalten ; sie
erlernen das Sprechen , aber nicht Begriffe fassen , es kommt zur
Echolalie .
Ist nur das optische Sinnesgebiet erkrankt , und zwar die
identischen Punkte beider Hemisphären , Alle Erfahrungen sprechen dafür , dass unsere meist doppelseitig fun-
girenden Sinnesnerven Erinnerungsbilder an identische Punkte beider Hemi-
sphären liefern . Auch der Ort der Klangbilder muss ebenso rechts bestehen ,
wie links , denn wir hören unser Leben lang mit beiden Ohren . Aber nur das
linke Klangcentrum ist mit dem motorischen Sprachcentrum wirksam verknüpft ,
daher wahrscheinlich nur das linke Klangcentrum mit den Begriffsregionen
eingeübte Bahnen aufzuweisen hat . Das rechte Klangcentrum kann aber das
linke sehr bald voll ersetzen , wie aus der Krankengeschichte Adam hervor-
geht . ( S. unten. ) so würde das uns zu-
nächst interessirende Symptom eine Art der Alexie sein , welche
von der schon besprochenen wesentlich abweicht . Die Schrift-
zeichen wären dann gänzlich erloschen und könnten auch durch
Erzeugung des Klanges nicht wieder ins Bewusstsein zurückgerufen
werden ; es wäre im Gegensatze zur relativen Alexie , welche nur
Folgezustand der Aphasie ist , eine absolute Alexie . Ebenso würde
Agraphie daraus erfolgen . Die Schriftzeichen besitzen aber vor
den übrigen optischen Erinnerungsbildern keinerlei Vorzug . Daher
werden auch die gewohnten Gesichtseindrücke der Umgebung ,
bekannte Gegenstände , Personen , Orte nicht mehr wiedererkannt ,
Dass dieses Nichtwiedererkennen bisher immer nur partiell beob-
achtet worden ist , ist jedenfalls dadurch zu erklären , dass durch
Zerstörungen in beiden Hinterhauptsschläfelappen nur diejenigen
Erinnerungsbilder ausgelöscht werden , welche beiderseits betroffen
sind , dagegen noch alle diejenigen erhalten bleiben , welche nur
in einer Hemisphäre zerstört sind . Ein Fall derart ist in der
trefflichen Dissertation von Gogol Ein Beitrag zur Lehre von der Aphasie , Breslau 1873 . mitgetheilt . Der Kranke biss
in die Seife , urinirte ins Waschbecken ; Zirkel , Thermometer ,
Krug , Streusandbüchse , einen gegenüberstehenden Thurm sah er
sich wie gänzlich fremde Dinge an . In einem früheren , zur Be-
obachtung geeigneteren Stadium der Erkrankung war bei dem-
selben Kranken nicht nur Unfähigkeit sich sprachlich auszudrücken ,
sondern auch die , Gesprochenes zu verstehen , constatirt worden .
Die Section ergab ( Ebstein ) „ bis 4 cm . nach hinten von der F.
Sylvii eine ockergelb verfärbte Partie , an welcher die Hirnmasse
beträchtlich erweicht schien und die Gyri sich schwer abgrenzen
liessen . Gleiche Beschaffenheit der unteren Schicht der 3. linken
Stirnwindung etc . In Folge des beschriebenen Erweichungs-
processes sind die die Insula Reilii überdeckenden Windungen
( Operculum ) geschrumpft und die Insel freigelegt . An der Aussen-
fläche des rechten Hinterhauptlappens und zwar gerade an der
Spitze findet sich noch eine , etwa 8 groschengrosse , ebenfalls
ockergelb aussehende , narbig eingezogene Stelle , wo die Ober-
flächenschicht des Cortex erweicht ist . ‟
III.
Die Casuistik der Aphasie ist , so reich sie ist , doch zur
Unterstützung irgend einer den anatomischen Verhältnissen ent-
nommenen Theorie sehr wenig verwerthbar . Das liegt einmal an
der subjectiven Auffassung , welche die meisten Beobachter ihren
Fällen entgegenbrachten . So finden wir bei den verschiedenen
Krankengeschichten , die von einem Beobachter publicirt sind , den
Hauptwerth immer auf ein bisher vielleicht noch nicht beschrie-
benes Symptom gelegt , den andern psychischen Befund vernach-
lässigt . Oder , um den eben genannten Fehler zu vermeiden , ge-
rieth man in eine möglichst weitschweifige , weil objective Be-
schreibung — bei der dennoch gerade das Wichtigste ausgelassen
ist , weil eine exacte Untersuchung besonders psychischer Symp-
tomencomplexe einer bereits fertigen Theorie nicht entbehren
kann , welche ihr die Richtung vorschreibt . Der zweite Uebel-
stand aber ist die Mangelhaftigkeit der Sectionsbefunde . Es ist
nicht zu bezweifeln , dass die bedeutenderen Autoren über Aphasie
( wie Broca , Ogle , Hughlings , Jackson ) in den Windungen und der
Faserung des Gehirnes so weit bewandert waren , dass sie selbst
eine präcise Bezeichnung der Localität zu geben vermochten .
Aber die Mehrzahl der Beobachter , welche ihnen das Material
lieferten , waren unzweifelhaft ausser Stande , authentische Gehirn-
sectionen zu machen . So war fast jeder genöthigt , ein zweifel-
haftes Material zu benützen , d. h. so viel hinzuzudeuten , dass
schliesslich doch ein allgemeiner Satz herauskam .
Aus diesen Gründen sah ich mich genöthigt , von einer ein-
gehenderen Benützung der casuistischen Literatur zu abstrahiren .
Glücklicherweise bot sich mir in den wenigen von mir selbst
beobachteten Fällen hinreichendes Material , um eine andere Art
des Beweises anzutreten . Die ganze Mannigfaltigkeit nämlich der
klinischen Bilder der Aphasie bewegt sich zwischen zwei Extremen ,
der rein motorischen Aphasie und der rein sensorischen . Das
Vorhandensein dieser beiden Formen müsste als ein unwiderleg-
licher Beweis dafür betrachtet werden , dass zwei anatomisch differente
Centren für die Sprache existiren .
Während nun die reine motorische Aphasie in der Literatur
häufig anzutreffen ist , so dass an ihrem Vorkommen und an der
Erkrankung der I. Stirnwindung dabei nicht mehr wohl gezweifelt
werden kann , ist von der reinen sensorischen Form , so viel mir
bekannt , noch kein einziger prägnanter Fall in der Literatur ver-
zeichnet . Mir gelangten zwei derartige Fälle zur Beobachtung , von
denen der eine noch jetzt in der Irrenstation des Allerheiligen-
Hospitales sich befindet .
1. Susanne Adam , geb. Sommer , Arbeiterswitwe , 59 Jahre
alt , erkrankte plötzlich ohne bekannte Ursache am 1. März 1874
mit Schwindelgefühl und Kopfschmerzen , aber ohne Verlust des
Bewusstseins derart , dass sie verwirrt sprach , nur manchmal sich
richtig ausdrückte , auf Fragen aber völlig verkehrt antwortete .
Ihren Klagen über Kopfschmerzen und Schwächegefühl wusste sie
richtig Ausdruck zu geben , doch mischte sie in Alles , was sie
sagte , das unverständliche Wort „ begräben ‟ ein . Sie legte sich ,
nachdem sie noch wie gewöhnlich ihr Mittagsessen zu sich ge-
nommen hatte , ins Bett und wurde am nächsten Tage auf eine
innere Station des Allerheiligen-Hospitales aufgenommen . Dort
wurde ihr Zustand einfach für Verwirrtheit gehalten , und sie des-
wegen , da keine körperliche Erkrankung nachzuweisen war , auf
die Irrenstation verlegt . Dort wurde am 7. März 1874 folgender
Status aufgenommen . Schwächlich gebaute , mässig gealterte Frau ,
rechts m it Cataracta senilis , links mit einem künstlichen Coloboma
iridis behaftet , von intelligentem , entgegenkommendem Gesichts-
ausdruck . Im Gange zeigen sich keinerlei Störungen , der Hände-
druck ist beiderseits schwach , dabei links etwas schwächer als
rechts . Die Sensibilität , durch Nadelstiche geprüft , zeigt sich all-
gemein etwas abgestumpft , indem nur an Fingern und Zehen und im
Gesicht schon leichtere Nadelstiche Schmerzenszeichen hervorrufen .
Die Gefässe sind alle sehr geschlängelt und als harte Stränge zu
fühlen , auch die Temporales superficiales . An Herz und Lungen
nichts Abnormes . Das Gehör , durch Vorhalten der Uhr bestimmt ,
zeigt sich auf beiden Seiten gleich und gut erhalten . Durch den
Augenspiegel wird links glaucomatöse Excavation der Pap. optiea
nachgewiesen .
Sie versteht absolut nichts , was zu ihr gesprochen wird :
doch muss man sich dabei in Acht nehmen , nichts durch Gesten
zu verrathen . Angerufen , antwortet sie sowohl auf ihren , als auch
auf jeden fremden Namen „ ja ‟ und dreht sich um . Sie macht
dem oberflächlichen Betrachter den Eindruck der Verwirrtheit ,
denn nicht nur ihre Antworten sind dem Sinne der Frage nicht
entsprechend , sondern auch die gesprochenen Sätze sind oft in
sich falsch , indem unsinnige oder entstellte Wörter darin enthalten
sind . Jedoch ist der Sinn eines Satzes , den man überhaupt ver-
steht , immer vernünftig ; es ist keine Spur von Ideenflucht dabei ;
sie benimmt sich auch gesetzt und anständig , während eine Ver-
wirrtheit dieses Grades mit tiefer psychischer Verkommenheit ein-
hergehen müsste . Sehr oft , besonders im Affecte , gelingen ihr
ganze Sätze völlig richtig . Vorgehaltene Gegenstände benennt sie
oft ganz richtig , z. B. einen Hut , einen Bleistift , die Uhr , einen
Thaler , ein 2½ Groschenstück , ein Taschentuch etc. , andere Male
fehlen ihr dieselben Benennungen . Tadellos richtige Sätze , auch
mit dem richtigen Sinne verknüpft , sind : Heut’ hat mir ’s sehr gut
geschmeckt . Ich hoffe , dass ich wieder gesund werde . Der Herr
Doctor hat mir 2 Groschen geschenkt , und viele andere . Sie
stellt ihren Sohn , der sie gerade besucht , dem Arzte vor und
sagt : Das ist mein Richard , mein schmucker Sohn , nicht wahr ,
ein sehr schmucker Sohn . Des Morgens und des Abends sagt sie
ihre Gebete tadellos her , ebenso wenn man sie eine Zeit lang
inquirirt hat , im Ganzen etwa 14 Verse . Den Tag über im Ver-
kehre mit den Kranken , wo sie sich gehen lässt , benennt sie die
meisten Gegenstände richtig , so dass überhaupt anzunehmen ist ,
dass ihr eventuell ein unbeschränkter Wortschatz zu Gebote stehe .
Das Tyrolerlied ( Wenn ich zu meinem Kinde geh’ ) , das zufällig
von einer anderen Kranken gesungen wurde , singt sie richtig
nach , aber ohne Text .
Die Kranke kann also eventuell Alles richtig sprechen , aber
sie versteht absolut nichts .
Um dies zu constatiren , ist die grösste Vorsicht , und eine
strenge Ueberwachung der eigenen Blicke und Geberden noth-
wendig . So zeigt sie , wenn man bei der Visite an ihr Bett tritt
und sie auffordert , die Zunge zu zeigen , auch richtig die Zunge ,
aber nur , indem sie den Sinn der Frage erräth und das Benehmen
der andern Kranken nachahmt . Denn richtet man als erstes die
Aufforderung an sie , sie solle die Augen schliessen , so zeigt sie
die Zunge . Giebt man ihr weitere Aufträge , ohne begleitende
Gesten , z. B. sie solle das Glas vom Stuhle nehmen , so geräth
sie in die grösste Verlegenheit , streckt versuchsweise die Zunge
heraus , schliesst die Augen , zeigt die Zähne etc. , kurz was sie
bei den andern Kranken öfters zu sehen Gelegenheit hatte . Dabei
spricht sie : Was soll ich denn noch zeigen , oder : was soll ich
denn noch schmieren , etc . Was nützt denn das , wenn ich es nicht
höre ! Sie fängt endlich an zu weinen und bricht in den ohne
Anstoss gesprochenen Ausruf aus : Ob ich noch einmal wieder
gesund werde ? Allmählich lässt sie sich beruhigen dadurch , dass
man es ihr eindringlich — natürlich durch Gesten — bejaht .
Sie kennt den Gebrauch aller Gegenstände , setzt sich die
Brille richtig auf etc . An den Tisch gesetzt , um zu schreiben ,
nimmt sie den verkehrt gereichten Bleistift in die Hand , sieht sich
ihn an , dreht ihn dann um , und fasst ihn richtig , schreibt aber
nur Grund- und Haarstriche . Auch die Feder wird ihr verkehrt
in die Hand gegeben ; sie dreht sie um , taucht richtig in das
Tintenfass und giebt dann der Stahlfeder die ganz richtige Haltung ,
aber ohne besseres Resultat . Nachdem einige Zeilen frisch ge-
schrieben worden sind , wird ihr die nasse Schrift hingebreitet und
ihr das Sandfass in die Hand gegeben . Sie sieht den Arzt fragend
an : Soll ich schüt ? Auf die Bejahung schüttet sie Sand darauf
und stellt das Sandfass weg , falltet dann den Bogen vorschrifts-
mässig und schüttet das Ueberflüssige wieder in die Sandbüchse
zurück .
Nach einem gelungenen Versuche , dem Arzte etwas ihr
wichtig Scheinendes mitzutheilen , sieht sie ihn an und sagt : Hören
Sie das ? und freut sich , da sie eine bejahende Geste sieht .
Es besteht vollkommene Alexie , auch Zahlen werden nicht
richtig verstanden , obwohl sie dieselben beim Sprechen oft richtig
gebraucht .
Bei gutem Allgemeinbefinden besserte sich der Zustand rasch .
Am 15. März 1874 , wo ich sie einigen Collegen vorstellte , ver-
stand sie schon manches , was ihr öfters eindringlich gesagt wurde ,
sie hörte richtig auf ihren Namen und ignorirte Anrufe mit frem-
dem Namen . Jedoch war das Gesammtbild immer noch ein
typisches : sie gebrauchte spontan sehr viele Worte richtig , da-
gegen verstand sie nur unvergleichlich wenige , und diese nur
mit grosser Schwierigkeit .
Am 18. März 1874 fand folgende wörtlich nachgeschriebene
Unterhaltung statt , welche schon bedeutende Fortschritte aufweist .
Guten Morgen , wie geht es ?
Ich danke , es geht mir ja ganz gut .
Wie alt sind Sie ?
Ich danke , es geht ja .
Wie alt Sie sind ?
Meinen Sie , wie ich hei , wie ich höre ?
Wie alt Sie sind , wollt’ ich wissen ?
Ja , das weiss ich eben nicht , wie ich so heissen schwiere —
( verbessert ) wie ich so heissen höre .
Wollen Sie mir vielleicht die Hand geben ?
Ich weiss ja nicht , wie ich etc . ( Keine Spur von Verständniss . )
Wo ist Richard ?
Ich weiss nicht , was ich sagen soll , ich heisse Frau Adam .
Wo ist Richard ?
( Besinnt sich lange : ) Mein Sodam , mein Richard .
Wollen Sie etwas geschenkt haben ?
Je nun , wer sollte mir jemand sagen ? ( Mit freundlicher
Miene : ) Ich weiss ja doch nicht , wen ich da soll Jemanden sagen .
Ist das ein Bleistift ?
Ich weiss jetzt nicht , wie es heisst , ich kenne es ganz gut ,
ich habe ja schon geschwollt mitte ( damit ) . Das weiss ich schon
ganz gut , wie das eigentlich heissen kommt , es fällt mir nur
nicht ein .
Die Uhr wird ihr gezeigt .
Eine Uhr , ( leise : ) eine Taschen- ( lauter : ) , eine Taschenuhr ,
eine schöne .
Die Brille wird ihr gegeben , sie setzt sie auf , betrachtet
damit die Uhr und sagt : Damit kann ich doch nicht hören . Eine
sehr schöne Uhr , das lasse ich mir schon gefallen . ( Sichtliche
Freude . )
Die Uhr wird ans Ohr gehalten , entfernt und wieder ge-
nähert : Ja , das höre ich schon , das auch , jetzt höre ich ’s nicht ,
jetzt kommt ’s ein Stück dünne .
Ein Knopf wird ihr gezeigt : Das weiss ich schon , eine
Knure , eine Knoppe .
Ihr Haarzopf wird angefasst ( lächelnd ) : Das sind ja meine —
Sind das Ihre Haare ?
Ja meine Uhr , meine Hore , meine Haaruhre .
Ein Dreier wird ihr gegeben : Das ist ja ein Drekter , ein
Dreier . Ein Zweigroschenstück : Das ist ja 2 Dokter , 2 Droschen ,
endlich : 2 Groschen .
Es wird ihr geschenkt : Da lasse ich mir viel viel Mal alles
Mögliche , was Sie mir haben gesehen . Ich danke halt will viel
liebes Mal , dass Sie mir das Alles gesagt . Na , da dank ich viel
Mal , dass Sie sind so gut gewesen , dass Sie sind so gütig gewesen .
Was macht Richard ?
Wenn er wird Sonntags kommen und sehen .
Wie gross ist Richard ? ( mit Geste ) .
O sehr gross , der ist höher wie Sie , der ist schon 19 Tahr
Sohr .
Nach einer Weile weint sie : Ach , lieber Gott , wenn ich erst
wieder besser wäre .
Am 25. März 1874 hatte die Besserung weitere Fortschritte
gemacht , namentlich fiel auf , dass sie immer wieder vorgesprochene
Worte erst falsch , dann endlich richtig nachsprechen konnte und
dass sie sich auch spontan oft richtig verbesserte . Ihr Allgemein-
befinden ist sehr zufrieden stellend .
20. April 1874 . Sie hat weitere Fortschritte gemacht , ver-
steht jetzt fast Alles , was ihr einige Male wiederholt wird . Spricht
noch etwas stockend , aber meist richtig , liest ohne Anstoss vor .
Wenn sie einen selbstgewählten Inhalt schreiben soll , so gelingen
ihr nur wenige Wörter , ebenso ist sie nicht im Stande , Dictirtes
aufzuschreiben . Dagegen kann sie ziemlich gut das nachschreiben ,
was man ihr vorgeschrieben hat . Die einzelnen Buchstaben trifft
sie alle richtig . Die Agraphie ist also jetzt ihre auffallendste
Sprachstörung .
Der eben geschilderte Fall erinnerte mich lebhaft an einen
früher beobachteten , gewisse Aehnlichkeiten bietenden , über den
aber meine Notizen nicht die wünschenswerthe Ausführlich-
keit und Genauigkeit haben , deshalb , weil mir damals noch eine
richtige Analyse des Symptomencomplexes der Aphasie abging .
2. Susanne Rother , 75 Jahre , Portiersfrau , wurde am 7. Octo-
ber 1873 ins Allerheiligen-Hospital aufgenommen . Sie bot alle
Zeichen hochgradiger Senescenz , sehr vorgeschrittene Atherose
aller zugänglichen Gefässe , leidenden Gesichtsausdruck . Fortwäh-
rendes Frostgefühl , kein Fieber . Sie konnte nur mit Unterstützung
gehen , sichtlich wegen allgemeiner Schwäche und Schwindelgefühl ,
schien aber das linke Bein vorwiegend zu schleppen . Im Bett
lag sie meist jammernd , tief in die Decken eingewickelt ; Stuhl
und Urin liess sie ins Bett gehen .
Ihr psychischer Zustand wurde damals als Verwirrtheit , com-
plicirt mit Aphasie , angesehen . Sie antwortete völlig verkehrt
auf alle an sie gerichteten Fragen ; führte auch die gegebenen
Aufträge gar nicht oder verkehrt aus , was damals als Apraxie
imponirte . ( Die Wärterin glaubte , wegen ihres Mangels an Ver-
ständniss , dass sie taub wäre . ) Sie schenkte übrigens ihrer Um-
gebung wenig Aufmerksamkeit , und zeigte , angemessen ihrem
schweren Krankheitsgefühl , wenig Bedürfniss sich mitzutheilen . Ihr
( spontan gebrauchter ) Sprachschatz schien demnach gering im
Vergleich zu dem oben geschilderten Falle , jedoch immerhin so
bedeutend , dass an eine motorische Aphasie ( s. oben ) nicht ge-
dacht werden konnte . Erkannt wurde die Aphasie an dem Ver-
wechseln und Entstellen der Wörter , welche sie gebrauchte . So
sagte sie sehr oft richtig : „ Ich danke recht herzlich ‟ , andere Male :
„ich danke recht geblich ‟ etc . „ Ich bin recht krank . Ach es ist
mir so kalt . Sie sind sehr ein guter Herr , ‟ sind oft gebrauchte
Redensarten . Den Arzt , den sie eben einen guten Herrn genannt
hatte , nannte sie bald darauf mein Töchtel , oder mein Sohnel ,
beides in demselben Sinne .
Eine am 5. November 1873 vorgenommene Augenspiegel-
untersuchung ergab graue Arophie der rechten Papilla optica .
Die Sensibilität schien intact . Der Händedruck war beider-
seits gleich , schwach . Genauere Untersuchungen über Sensibilität
und Motilität liessen sich nicht anstellen .
Herzdämpfung nach links verbreitert , keine abnormen Geräusche .
Weder in den psychischen , noch den körperlichen Symptomen
trat irgend eine Besserung ein .
Der Tod trat nach einem langwierigen Darmkatarrh ein , zu
welchem sich in den letzten zwei Tagen Erbrechen und tiefe
Prostration gesellt hatte , am 1. December 1874 .
Die von den Angehörigen erhobene Anamnese ergab , dass
sie seit 10 Jahren an Schwäche des linken Beines litt , welche sich
allmählich eingestellt hatte ; die verwirrte Sprache soll plötzlich
am 2. November 1873 gekommen sein . Sonst waren die Angaben
über körperliches und geistiges Befinden mangelhaft .
Die Section ergab Oedem der Pia , geringen Hydrocephalus
internus , die Windungen beider Hemisphären und beider Insel-
gegenden durchweg gerunzelt und atrophisch . Ausserdem alle
Gehirnarterien hochgradig atheromatös entartet . Der untere sich
in der Unterspalte Burdach’s hinziehende Ast der Art. fossae Sylv.
sin. ist durch einen der Wand fest anhaftenden Thrombus ver-
stopft , die ganze erste ( der F. S. nächste ) Schläfewindung von
ihrer Ursprungsanastomose mit der 2. Schläfewindung ab , ferner
der ganze Ursprung der letzteren aus der I. Windung ( Bischof ’s
unteres Scheitelläppchen ) und der äussere Theil ihres Längsver-
laufes in einen weissgelben Brei verwandelt , an welchem die Pia
fäst adherirt und getrübt ist . Durch die erweichte Stelle ist die
Einstrahlung des Schläfelappens in den Insellappen zum grössten
Theil durchbrochen . Der Insellappen selbst und die Stammgan-
glien zeigen keine Veränderung . Der Erweichungsheerd ist durch
keine entzündliche Erhärtung abgegrenzt , sondern geht direct in
die normale Consistenz über .
Im Dorsaltheile des Rückenmarkes zeigt sich ein Theil des
linken Vorderseitenstranges grau degenerirt , im Lumbaltheile die
Hinterstränge .
Zu den beiden hier wiedergegebenen Fallen einige epikritische
Bemerkungen . Beide bieten die prägnanten Symptome der sen-
sorischen Aphasie : sie gebieten über einen verhältnissmässig grossen
Wortschatz und haben absolut das Verständniss für das Gesprochene
verloren . Sie weichen aber in ihrem Verlaufe sehr von einander
ab : der erste wird voraussichtlich vollständig wiederhergestellt ,
bei dem zweiten sind schwere allgemeine Hirnerscheinungen vor-
handen , die endlich zum Tode führen . Andere Anhaltspunkte ,
wie die Agraphie und Alexie , fehlen für den zweiten Fall .
Nun kann meiner Ansicht nach , der gewiss die erfahrenen
Gehirnpathologen beistimmen werden , nicht streng genug der Be-
griff der Heerderkrankung von der Allgemeinerkrankung des Ge-
hirnes geschieden werden . Unter den sehr zahlreichen Gehirn-
sectionen von einfacher seniler- oder Säuferatrophie des Gehirn-
welche ich im Verlaufe dreier Jahre im Allerheiligen-Hospital zu
machen Gelegenheit hatte , fand ich immer alle Windungen , und
besonders auch die der Inselgegend und des I. Urwindungsbogens
betheiligt , ohne dass im Verlaufe der Krankheit bestimmte Heerd-
erscheinungen aufgetreten waren . Dasselbe beobachtete ich bei
ausgedehnter Meningitis , sowohl traumatischer als tuberkulöser , wo
durch den Druck des reichlichen Exsudates alle Hemisphärenwin-
dungen ohne Ausnahme in ausgesprochenem Masse die von Ro-
kitansky hervorgehobene Schrumpfung und Fältelung zeigten , ohne
dass prägnante Heerdsymptome während des Lebens bestanden
hatten . Die einfache Atrophie , welche als Theiler-
scheinung der allgemeinen Atrophie einen einzelnen
Windungsbezirk befallen hat , bewirkt nie einen
Ausfall der Functionen desselben , verursacht keine
Heerderscheinungen . Diesen Erfahrungssatz , der in der Natur
des pathologischen Processes seine Erklärung finden muss , können
wir als einen der festen Punkte der Gehirnpathologie ansehen ,
dessen Nichtbeachtung bei Sectionen und bei der klinischen Be-
obachtung schon viel Verwirrung angerichtet hat .
Wir können daher mit Sicherheit behaupten : die Erweichung
der linken I. Schläfewindung bei der Rother war die einzige Er-
krankung des Gehirnes , welche das durch den ganzen Verlaut
andauernde Heerdsymptom der Aphasie hervorbringen konnte ,
und die allgemeine Atrophie der Windungen war entweder Senes-
cenz , oder , was beiweitem wahrscheinlicher ist , Folgezustand der
circumscripten Heerderkrankung . Griesinger hat mit Recht den
deletären Einfluss hervorgehoben , welchen Heerderkrankungen des
Gehirnes auf dessen gesammte Ernährung ausübten ; hier wie in
den meisten Fällen haben wir dafür ein anatomisches Substrat ,
die Atrophie der Windungen .
Das auffälligste Heerdsymptom also , die Aphasie , findet bei
der Rother ihre Erklärung in der Erweichung der linken
I. Schläfewindung . Bei der Adam sind wir berechtigt , ebenfalls
eine Heerderkrankung der linken I. Schläfewindung anzunehmen .
Ein zweiter Punkt , welcher hervorgehoben zu werden ver-
dient , ist die Parese des linken Beines ; sie schien auf eine rechts-
seitige Erkrankung des Gehirnes hinzuweisen . Die Section wies
jedoch als anatomisches Substrat dafür eine graue Degeneration
im Dorsaltheile des linken Seitenstranges nach . Für die Unab-
hängigkeit beider Erscheinungen von einander fiel hauptsächlich
die Anamnese ins Gewicht , nach welcher die Parese des linken
Beines schon 10 Jahre vorher bestand .
Endlich verdient die gekreuzte Atrophie des Sehnerven Be-
achtung , welche , wenn sie bei Heerderkrankungen des Schläfe-
lappens Regel wäre , für eine vollständige Kreuzung im Chiasma
sprechen würde . Bei der Section eines an Alterscataract leidenden und an seniler
Atrophie des Gehirnes verstorbenen 73jährigen Mannes fand ich kürzlich den
ganzen Gyrus hippocampi und linguiformis geschwunden . Zugleich war das
Gewölbe derselben Seite grau verfärbt , der Sehhügel derselben Seite ebenfalls
grau und sehr klein , der entgegengesetzte N. opticus grau degenerirt . Die beiden Seh- und Vierhügel boten keine
Differenzen der Färbung und der Grösse .
3. Folgendes ist ein prägnanter Fall von Leitungsaphasie ,
dessen Zuweisung ich der Güte des Herrn Prof. Foerster verdanke .
Beckmann , Apotheker , 64 Jahre alt , bemerkte am 15. März
1874 des Morgens , nachdem er den Abend vorher einige Gläser
Bier getrunken und die Nacht über gut geschlafen hatte , dass er
nicht mehr ordentlich lesen und noch viel weniger schreiben
konnte , obgleich er Alles mit deutlichen Umrissen sah . Er reiste
deswegen am 18. März nach Breslau , um einen Augenarzt zu
consultiren . Im Laufe desselben Tages traten die ersten Sprach-
störungen ein . Nicht die leisesten Spuren gestörten Allgemein-
befindens machten sich dabei bemerklich .
Am 20. März 1874 fand ich folgenden Status : Kräftig ge-
bauter Herr , im blühendsten Ernährungszustande , mit congestionir-
tem Kopfe . Körperlich durchaus rüstig , auch objectiv noch keine
Zeichen vorgeschrittener Senescenz . Radialis nur massig rigide ,
Puls kräftig , von normaler Frequenz , nach 6—10 Schlägen aus-
setzend . Weder im Gesichte noch in den Extremitäten eine Spur
von Lähmung .
Die Herzdämpfung ist nach links etwas verbreitert , die Herz-
töne nur schwach . Kein Lungenemphysem .
Er versteht alles ganz genau , antwortet auch auf Sugge-
stivfragen immer richtig . Der Gebrauch aller Gegenstände ist
ihm genau bekannt . Er zeigt auch keine Spur von motorischer
Aphasie , denn sein Wortschatz ist unbeschränkt . Doch fehlen ihm
für viele Gegenstände , die er bezeichnen will , die Worte ; er müht
sich , sie zu finden , wird erregt dabei , und nennt man ihm den
Namen , so wiederholt er ihn ohne jeden Anstoss . Es ist also
derselbe Zustand , der innerhalb der physiologischen Breite bei
vielen Menschen vorkommt , und der oben als Leitungsaphasie ge-
schildert wurde . Vieles gelingt ihm geläufig , besonders leicht hin-
geworfene Redensarten ; dann kommt er an ein Wort des An-
stosses , bleibt daran hängen , müht sich , ärgert sich , und fast jedes
Wort , das er dann stockend vorbringt , ist unsinnig ; er verbessert
sich immer wieder , und je mehr er sich müht , desto schlimmer
wird der Zustand . Erräth man den intendirten Sinn und sagt es
ihm , so athmet er auf : Ja , das wollt ich sagen . Andererseits
passirt es ihm , wenn er sich gehen lässt , dass ihm ganze Sätze ,
die in sich grammatisch richtig sind , herausfahren mit einem ganz
anderen Sinne als dem gewollten ; dann wird er ebenso ärgerlich
und desavouirt den eben gesprochenen Satz . Sehr oft fragt er in
Bezug auf das eben Gesprochene : War das richtig ?
Interessant sind die Beziehungen der Aphasie zur Alexie
und Agraphie . Beide Zustände sind vorhanden , aber in sehr ver-
schiedenem Grade . Es wird ihm ein gross gedruckter Buchstabe
vorgelegt , er soll ihn benennen . Trotz aller Mühe erkennt er ihn
nicht ; er sieht sich Hilfe suchend um , sein Auge fällt auf den mit
Goldschrift gedruckten Titel eines Buches , er zeigt auf den Titel
und sagt : das erkenne ich , das heisst Göthe . Dicht daneben
steht , ebenso eingebunden , der Schiller ; er soll den Titel lesen ,
erkennt ihn aber trotz aller Mühe nicht , nur findet er durch Ver-
gleichung beider Titel , dass es nicht dasselbe ist , wie Goethe . So
liest er auf der Strasse im Vorbeigehen die Schilder , ohne dass
er sie besonders sucht ; wird er aber auf ein bestimmtes Wort ,
einen bestimmten Buchstaben gewiesen , so gelingt es ihm nie , ihn
zu finden . Unter einer Anzahl ihm vorgeschriebener Zahlen und
Buchstaben findet er den verlangten zwar langsam , aber immer
richtig ; er merkt es auch regelmässig , wenn die verlangte Zahl
oder der Buchstabe nicht darunter ist . Er erkennt auch jeden
einzelnen Buchstaben dadurch , dass man ihm Buchstaben vorsagt :
er lehnt die übrigen ab und hält sich an den richtigen . Bei den
Zahlen hilft er sieh dadurch , dass er die Zahl mit dem Auge
fixirt und dabei an den Fingern abzählt , bis er zu der Zahl ge-
kommen ist , die dem Gesichtsbild entspricht . Dass keine Seh-
störung die Schuld an dem Nichterkennen der Buchstaben ist ,
geht erstens daraus hervor , dass er alle anderen Gegenstände ,
Photographie etc. richtig erkennt , so wie aus seiner Angabe , dass
er die Umrisse der Buchstaben deutlich sehe . Die Buchstaben
kommen ihm noch bekannt vor , sie machen ihm durchaus nicht
den Eindruck des Chinesischen oder der Keilschrift , wie es bei
völligem Erlöschen der Gesichtsbilder der Fall sein müsste . Er
kann aber auch den directen Beweis davon liefern , indem es ihm
bei einiger Aufmerksamkeit gelingt , die Buchstaben , die er nicht
benennen kann , und ganze Wörter nachzuzeichnen .
Es besteht aber Agraphie ; er kann Alles nachzeichnen , aber
er kann nicht selbsständig schreiben . Fast kein Buchstabe gelingt
ihm , es kommen bei aller Mühe nur Grund- und Haarstriche
heraus . Einfache Zahlen gelingen ihm besser , aber selbst die
zweistelligen Zahlen sind ihm schon eine zu schwere Aufgabe .
Eine am 25. März 1874 von Herrn Prof. Förster vorgenom-
mene genaue Bestimmung des Gesichtsfeldes beider Augen ergab
eine exquisite Hemiopie nach rechts hin . Mit dem Augenspiegel
war nichts auffallendes zu constatiren .
Bei weiterer Beobachtung stellte sich heraus , dass die Aphasie
ihrem Grade nach sehr wechselte , indem sie bald kaum merklich
war , bald sehr stark hervortrat ; dass ferner fast nur Substantiva ,
und unter diesen besonders Orts- und Personennamen gelegent-
lich fehlten . Gegenüber seinen nächsten Angehörigen war er viel
weniger aphasisch , als gegen fremde Personen . Am auffälligsten
ist die Aphasie immer , wenn er ärztlicher Seits examinirt wird ;
mit jedem neuen Defect , der ihm dadurch ins Bewusstsein kommt ,
wächst seine Aphasie .
Der Kranke befindet sich noch jetzt in Behandlung ; sein
körperliches Befinden ist vortrefflich , die Aphasie scheint etwas
gebessert und hat jedenfalls sich nicht verschlimmert . Dagegen
liess sich durch eine zweite , am 9. April 1874 von Herrn Prof .
Förster vorgenommene Bestimmung des Gesichtsfeldes vermittelst
des Perimeters feststellen , dass das Gesichtsfeld eine weitere Ein-
schränkung erfahren hatte , und zwar war nach rechts hin auf
beiden Augen diejenige Partie des Gesichtsfeldes , welche zwischen
Macula lutea und P. lag , und in welcher vorher undeutlich gesehen
wurde , jetzt vollkommen erloschen ; ausserdem aber war die linke
Grenze des Gesichtsfeldes bedeutend nach rechts hin verschoben .
Dadurch erwies sieh der Process als ein progressiver .
Eine im Mai d. J. wieder vorgenommene Untersuchung
ergab bedeutende Besserung . Der Kranke bot jetzt das inter-
essante Symptom , dass er ganze Wörter , wie seinen Namen , den
seiner Angehörigen , richtig las , aber die einzelnen Buchstaben
desselben nicht lesen konnte .
4
4. ) Kunschkel , 50 Jahre alt , Goldarbeiter , litt seit 2 Jahren
an Incontinentia urinae et alvi und liess sich deshalb am 27.
Januar 1874 auf eine innere Station des Allerheiligen-Hospitales
aufnehmen . Dort fiel er durch unmotivirte excessive Grobheit
gegen Wärterin und Arzt auf und wurde deshalb am 29. Januar
auf die Irrenabtheilung verlegt . Dort zeigte er ein unwirsches ,
unfreundliches Benehmen , grosse Reizbarkeit und Zornmütigkeit
auf kleine Anlässe hin und vollständige Incontinenz des Urins
und Stuhlganges , die manchmal den Schein des Absichtlichen
trug . Von seiner Stellung im Hospitale hatte er höchst unklare
Vorstellungen . Erscheinungen von Paraplegie oder Tabes fehlten .
Das ganze Knochenskelett war hochgradig rhachitisch verkrümmt .
Am 26. März 1874 gegen Abend erhielt er bei einem Streite ,
der sich im Männer-Gesellschaftssaal entwickelte und bei welchem
nicht rechtzeitig intervenirt wurde , einen Schlag ans rechte Ohr ,
sprach darauf verwirrt , zeigte einen taumligen , unsicheren Gang
und liess die rechte Körperhälfte hängen . Am nächsten Morgen
war ein rechtsseitiges Othaematom und zugleich ausgesprochene
Aphasie mit Parese des rechten Beines zu constatiren .
Beim Gehen taumelte er und schleppte das rechte Bein
nach . Der Händedruck war beiderseits schwach , links etwas
schwächer als rechts . Im Gesichte keine sichtbaren Lähmungen .
Die Sensibilität allgemein etwas abgestumpft . P. 90. Respiration
beschleunigt , etwa 22. Häufiger Husten ohne Auswurf . Rassel-
geräusche beiderseits in den unteren Lungenpartien . Das Gehör
war intact .
Die Aphasie äusserte sich in folgender Weise . Er sprach
eine ganze Weile lang ohne jeden Anstoss , endlich am Schlusse
eines Satzes kam ein falsches Wort ohne jeden Accent heraus .
Fragte man ihn nun genau nach dem eben gesprochenen Worte ,
so machte er den Versuch , es zu verbessern , und producirte falsche
Wörter und Sylben regellos durcheinander gemischt , ein nur
schwer nachzuschreibendes Kauderwelsch . Auf einzelne dazwischen
geworfene Fragen giebt er wohl auch ganze tadellos richtige
Sätze zur Antwort . Seine Antworten sind , so weit er der Sprache
mächtig ist , immer richtig und genau dem Sinne angemessen ;
auch durch Suggestivfragen lässt sich constatiren , dass er Alles
versteht und leicht auffasst .
Es besteht Alexie . Wird ihm aber die Aufgabe gegeben ,
unter einer Reihe vorgeschriebener Buchstaben einen bestimmten
herauszufinden , so gelingt es ihm richtig . Ebenso erkennt er
jeden einzelnen Buchstaben und jede Zahl , wenn ihm dabei der
Reihe nach alle Buchstaben und Zahlen vorgesagt werden .
Agraphie besteht ebenfalls . Seinen Vor- und Zunamen kann
er richtig schreiben , nur mit zitternder Hand . Das Wort Gold-
arbeiter nur bis zum d , dann setzt er ab und schreibt ein neues
wie „ well ‟ aussehendes in das eben Geschriebene hinein . Zu weiteren
Leistungen ist er nicht mehr fähig , und nur regellose Striche sind
das Resultat weiterer Anstrengung .
Die Untersuchung des Gesichtsfeldes ergiebt wegen mangeln-
der Aufmerksamkeit des Patienten ein zweifelhaftes Resultat , jedoch
spricht Vieles für eine rechtsseitige Hemiopie .
Am 30. März gelang es mir folgende Unterhaltung nachzu-
schreiben :
Welche Jahreszahl haben wir jetzt ?
44.
Lebt Ihr Vater noch ?
Nein , der ist 46 gestorben .
Also wie lange her ?
An die 29 Zaten Daten Diten .
Haben Sie Geld ?
Ja , ich habe den Luten eingelöst und meine Sachen .
Wie viel haben Sie denn ?
Nahe an 100 Thlr . Hätte ich 100 gehabt , dann hätte ich
schon — ( stockt . )
Was hätten Sie dann ?
Grätliche Hubel .
Was ist das hier für ein Local ?
Das ist ein kaiserliches Kastel .
Was denn sonst ?
Nun es giebt kaisernes kis katen leben . Da haben Sie zum
Beispiel ein königliches von der Elisabethkasetts , d. h. von allge-
meiner Kasetts .
Möchten Sie gern nach Hause ?
Ich bin jetzt schon 4 Wochen gar nicht von hier wegge-
kommen .
Was ist das ? ( Ein Taschentuch wird gezeigt . )
Das ist ein feines Filil .
Filet ?
Nein , Filet ist es nicht , das ist nicht so stark .
4*
Was ist es denn ?
Taschentuch nennen wir’s .
Wie kann man es denn noch nennen ?
Nun , wie man ’s in noblen Zweigen begreif ich in Adeln
sich bewegt .
( Ein Bleistift wird gezeigt . )
Ich dacht , es wäre ein kleiner Kolinomitz , aber es ist nicht .
Was ist es denn ?
Ich habe es immer unter dem Neuman Neu- Bleistift .
( Eine Brille wird gezeigt . )
Das nennt man die Brücke , Brikke nennt man es .
Wozu brauch ich es denn , zum Spass ?
Ach nein , um eben das meilige golden , um eben sein An-
sehen zu entwickeln .
Der Gang ist bedeutend sicherer geworden . Der Augenspiegel
ergiebt völlig normale Papillen .
Am 4. April war beim Gange keine Spur von Lähmung
mehr zu erblicken . Die Aphasie nur noch dadurch bemerklich ,
dass hin und wieder der Anfang eines Wortes unsicher heraus-
kam oder am Ende eines Wortes eine unaccentuirte Sylbe einen
falschen Vocal trug etc . Auch die Alexie ist verschwunden ; bei
schwierigeren Wörtern wie „ Zugrundelegung ‟ wird nur noch die
letzte Sylbe unklar . Dagegen kann er ihm unbekannte oder
Fremdwörter nur entstellt wiedergeben , indem er nur einige Sylben
davon beibehält , die übrigen nach Willkür ergänzt . Complicirte
Zahlen , wie 25 , 394 liesst er richtig herunter . Am auffälligsten
ist die Störung noch beim Schreiben . Ehe er zu schreiben an-
fängt , muss er sich lange besinnen ; der Anfang des dictirten
Satzes gelingt ihm dann , das Ende nicht mehr . Er soll das Wort
Goldarbeiter schreiben , nachdem er soeben von einem Pince-nez
gesprochen hat und fängt an Paen … Nach einiger Zeit ist er
vollständig ermüdet und kann sich nicht mehr zu dem Entschlusse
aufraffen , ein Wort anzufangen .
Die beiden letzt beschriebenen Fälle gehören sichtlich zu
einander . Beide haben volles Verständniss für das Gesprochene ,
beiden steht noch ihr ganzer Wortvorrath zu Gebote , aber sie
können über ihn je nach Stimmung und Situation in verschiedenem
Grade verfügen . Der eine , Beckmann , ist aber psychisch noch
vollständig intact , der andere , Kunschkel , ist schwachsinnig ,
schwatzhaft , jeder Selbstbeherrschung und Kritik beraubt . Dem-
gemäss bleibt Beckmann mitten im Satze stecken und ringt nach
Ausdruck , Kunschkel ersetzt das Fehlende durch unsinnige Wörter
oder neue Combinationen von Sylben und hat die Genugthuung ,
den Satz geschlossen zu haben ; auch er macht Versuche sich zu
corrigiren , aber nur schwächliche . Bei beiden besteht dieselbe
Art der Alexie , und ihre Agraphie ist weit bedeutender als ihre
Aphasie und Alexie . Kunschkel ist mir ausserdem sehr verdäch-
tig , auch eine rechtsseitige Hemiopie gehabt zu haben ; letzteres
würde die Analogie der beiden Fälle , welche in anatomischen
Thatsachen ihren Grund haben muss , noch unzweifelhafter machen .
Oben wurde ausgesprochen , dass Leitungsaphasie nicht Ur-
sache der Alexie sein könne , ( mit Ausnahme der Buchstaben ) ,
wenigstens nicht bei gebildeten Leuten . Beckmann scheint davon
eine Ausnahme zu machen . Der Zustand Beckmann’s aber , und
wahrscheinlich auch Kunschkel’s , ist durch rechtsseitige Hemiopie
complicirt ; ohne diese würde Beckmann ohne jede Beschwerde
Alles lesen können . Beweis dafür ist der Umstand , dass er that-
sächlich sehr Vieles zu lesen im Stande ist , aber nur im Vorbei-
gehen , wenn er es nicht fixirt . Das fixirte Wort ist ja für ihn
nur halb vorhanden , es kann daher keinen bestimmten Begriff in
ihm wachrufen . Die Fähigkeit aber , das Wort aus seinen ein-
zelnen Buchstaben zusammenzusetzen , geht ihm ab . Ein sehr
frappantes Beispiel seiner virtuellen Fähigkeit zu lesen war mir ,
ausser dem schon oben erzählten von Goethe , die Art , wie er ein
Recept überflog . Er hatte kaum einen Blick darauf geworfen ,
als er sagte : Hier dieses Wort heisst Aloë ; dicht darunter die
Coloquinten konnte er trotz aller Mühe nicht enträthseln . Er
hatte in dem Augenblicke vielleicht unwillkürlich rückwärts ge-
lesen , oder mit peripherischen Theilen der Netzhaut , welche ihm
noch einen Spielraum nach rechts hin gestatteten .
Die schnell zunehmende Beschränkung des Gesichtsfeldes ,
während die Aphasie sich zu bessern schien , sprach zuerst dafür ,
dass ein progressiver Process nicht die Inselgegend selbst , sondern
ein in der Nähe befindliches Gebilde , ( wahrscheinlich den linken
Tractus opticus Der Schluss auf den linken Tractus opticus ist dann nicht gestattet
wenn eine vollkommene Kreuzung im Chiasma stattfindet . Es muss dann der
hintere Winkel des Chiasma in Aussicht genommen werden . befallen hat , welches die Function der linken
Netzhauthälften vertritt . Das Uebergreifen auf den äussern Theil
der rechten Netzhauthälften liess sich nur durch ein Ueberschreiten
der Mittellinie nach rechts Bei Annahme vollkommener Kreuzung nach links . hin erklären . Dabei fehlte jede
Lähmung und Störung des Allgemeinbefindens . Alles weist auf eine
Heerderkrankung am Tuber cinereum , welche sich nach links in den
Anfang der F. Sylvii ( die Lamina perforata anterior ) ausdehnt
und welche jetzt zum Stillstand gekommen ist . Die Aphasie ist
nur auf Circulationsstörungen zu beziehen , welche sich in der
Umgebung der eigentlichen Heerderkrankung geltend machen .
Der Fall Kunschkel ist entschieden als durch Trauma be-
dingt anzusehen . Dass das Trauma rechts einwirkte , die Gehirn-
erscheinungen aber linksseitige waren , stimmt mit der oft ge-
machten Beobachtung überein , dass ein Fall auf eine Seite des
Kopfes einen Bluterguss und Erweichung an der entgegengesetzten
Hemisphäre hervorbringt .
Fälle von rein motorischer Aphasie sind in der Litteratur
sehr zahlreich .
Jedenfalls ist die Existenz der rein motorischen Form hinlänglich
festgestellt und bedarf am wenigsten der Belegung durch weitere
Fälle . Die beiden nun folgenden Krankengeschichten sind wenig-
stens vorwiegend motorischer Natur .
5. ) Rosina Peter , 78 Jahre , Kutscherswitwe , erlitt 2 Jahre
vor ihrer Aufnahme ins Allerheiligen-Hospital einen Schlaganfall ,
durch welchen die linksseitigen Extremitäten gelähmt wurden ;
indessen trat rasch Besserung ein , sie konnte schon nach 14 Tagen
das Bett verlassen und umhergehen , nur schleppte sie das linke
Bein . Der linke Arm wurde bald wieder ganz gebrauchsfähig .
Jedoch blieb das Gefühl links abgeschwächt und die linken Extre-
mitäten waren gewöhnlich kälter . Ausserdem hinterliess der
Schlaganfall allgemeine Chorea . Die Heftigkeit ihrer Bewegungen
war daran Schuld , dass sie im October 1873 vom Stuhle fiel und
sich eine Fractur des linken Oberschenkelhalses zuzog . Bei ihrer
Aufnahme auf die Irrenstation , welche am 27. Februar 1874 er-
folgte , liess sich folgendes constatiren : Sehr gealterte Frau , in
ewiger unruhiger Bewegung , welche sich hauptsächlich in den
rechten Extremitäten und im Gesichte geltend macht . Sie lärmt
fortwährend in lallender unverständlicher Sprache , der Mund wird
geöffnet und geschlossen , ebenso die Augen , die Zunge im Munde
umhergerollt , heraus- und nach den Seiten gestreckt , die Hände
agitiren in der Luft , ihr massloses Gerede mit eben so masslosen
Gesten begleitend , kurz , das Bild einer Besessenen . Meist in
sitzender Stellung , dyspnoisch . Es lässt sich eine frische Fractura
sterni dicht unterhalb des Angulus Ludowici durch abnorme Be-
weglichkeit und Crepitation nachweisen ; Bluterguss ins Mediasti-
num , unregelmässige pericarditische Reibungsgeräusche , Arythmie
des Herzens , Radialis von wechselnder Füllung . Gefässe hoch-
gradig atheromatös . Die Haut der linken Mamma bis ums Ster-
num herum ist blutig suffundirt .
Entschieden maniacalische Stimmung . Sie theilt Schläge aus ,
schleudert ihr gereichte Gefässe von sich . Sie wird aus dem
Bette heraus genommen und zu gehen genöthigt , dabei sträubt
sie sich heftig und stösst die Wärterinnen mit bedeutender
Kraft von sich . Der Gang , nur unterstützt möglich , gestattet
keinerlei Schluss , weil das Auftreten auf das linke Bein möglichst
vermieden wird .
Die nächsten Tage trat allmähliche Beruhigung und Nach-
lass der dyspnoëtischen Erscheinungen ein . Schlaf durch kleine
Dosen Morphium , subcutan Abends hohe ( bis 39.5 ) , früh normale
Temperatur . Subjectives Wohlbefinden . Sie wird noch sehr leicht
heftig , ist aber im Allgemeinen gutmüthiger dankbarer Stimmung ,
ihre Schleuderbewegungen sind weniger auf bestimmte Ziele ge-
richtet . Beim Versuch zu gehen , der ihr sehr schwer fällt , nehmen
die choreatischen Bewegungen wieder zu . Die choreatischen Be-
wegungen , die im wachen Zustande fast unaufhörlich geschehen ,
lassen im Schlafe gänzlich nach und können durch Willensan-
strengung zeitweise überwunden werden .
Seit dem 19. März 1874 kein Fieber . Allgemeinbefinden
vortrefflich . Die dem Mediastinum entsprechende Dämpfung hat
an In- und Extensität abgenommen .
28. März 1874 . Gestern Abend erbrochen , dann die Nacht
ruhig verbracht . Heut hat sich das Erbrechen wiederholt ; jedoch
hat sie weder über anderweitige Beschwerden geklagt , noch trat
Bewusstlosigkeit ein . Sie ist vollständig sprachlos , bei gutem Be-
wusstsein , zeigt auf ihren Mund , um die Unmöglichkeit zu sprechen
zu bezeichnen . Die Zunge kann herausgestreckt werden . Sie
versteht , was zu ihr gesprochen wird .
29. März . Geringe Besserung , eine gewisse , allerdings un-
deutliche Articulation bei ihren Versuchen zu sprechen , bemerklich .
30. März . Die Nacht war gut . Heut früh ohne jeden Laut ,
kann nicht mehr schlingen . Der Unterkiefer hängt herunter , die
Zunge heraus , der Speichel fliesst aus dem Munde . Rechtsseitige
Hemiplegie , auch im Gesichte nachzuweisen .
Die Extensoren des rechten Beines sind angespannt , es kann
nur mit Widerstand gebeugt werden . Der rechte Arm vorwiegend
gelähmt .
Schmerzempfindlichkeit allgemein abgeschwächt ( durch Nadel-
stiche geprüft ) am meisten an der rechten Hand . Der Augen-
spiegel ergiebt grauröthlich verfärbte Papillen ohne Stauungser-
scheinungen . Sie versteht einfache Aufträge und bedient sich zur
Ausführung der linken Hand .
Bei der Einführung der Schlundröhre zur künstlichen Füt-
terung schreit sie und wehrt sich , drückt aber nachher dem Arzte
die Hand . Der Tod erfolgte am 10. April 1874 . Die Section
ergab pachymeningitische Adhäsionen an das Schädeldach , Osteo-
phyten der inneren Schädelwand , beiderseits atrophische Windun-
gen . Links findet sich ein Erweichungsheerd , welcher von der
Anastomose zwischen I. und II. Schläfezuge am meisten an die
Oberfläche reicht , daselbst ist die Pia adhärent . Von da aus reicht
der Erweichungsheerd nur wenig in der Tiefe des Marklagers
nach hinten . Dagegen erstreckt er sich nach vorn im Marklager
bis über die Broca’sche Stelle hinaus . Diese selbst ist nicht berührt
wohl aber der äussere Theil des Marklagers , in welches sie sich
einsenkt . Auch das Mark der Centralwindungen ist in derselben
Weise unterbrochen .
In geringer Entfernung von diesem Heerde nach hinten ,
den Uebergangswindungen nach dem Hinterhauptslappen ( Gratiolet )
entsprechend , ist das Marklager der Hemisphäre ebenfalls erweicht .
Rechts ist die freie Fläche der Convexität in grösserer Aus-
dehnung betheiligt . Ein grosser Erweichungsheerd nimmt fast die
ganze Breite der Hemisphäre hinter der Centralfurche ein . Die
Umgebung des Heerdes ist sclerosirt , die graue Substanz der
Windungen zeigt daselbst einen intensiv rothen Streifen .
Beide Gyri fornicati intact , ebenso die Gewölbeschenkel .
Im Kopfe des rechten Nucleus caudatus an der Ventrikelfläche
desselben findet sich eine etwa linsengrosse alte Cyste mit se-
rösem Inhalt .
6. ) Isidor Itzigsohn , Handlungsreisender , 26 Jahre alt , wurde
am 25. März 1874 auf die medicinische Klinik anfgenommen ;
ich referire den Fall mit gütiger Erlaubniss des Herrn Geheim-
rath Lebert. J. war an demselben Morgen erkrankt , und zwar
hatte sich erst Sprachlosigkeit , dann nach einigen Stunden Läh-
mung der rechten Körperhälfte eingestellt . Es liess sich zunächst
nur das Vorhandensein motorischer Aphasie constatiren , da Pat.
im Allgemeinen stupide , theilnahmslos , zu einer genaueren Fest-
stellung der Symptome nicht geeignet war . Der rechte Arm total
gelähmt , das rechte Bein beim Gange geschleppt , das Gehen
jedoch noch möglich . Die rechte Gesichtshälfte blieb bei Bewe-
gungen zurück . Sensibilität , durch Nadelstiche geprüft , erhalten ,
die Reflexerregbarkeit der gelähmten Theile herabgesetzt . An den
Gefässen und am Herzen nichts Abnormes . In den nächsten
Tagen nahm die Lähmung des rechten Beines zu , der psychische
Zustand blieb unverändert . Da die Anamnese voraufgegangene
syphilitische Infection ergab , wurde eine Schmierkur angeordnet .
Der Zustand besserte sich nun rasch , so dass Pat. am 26.
April 1874 schon gehen und die rechte Hand leidlich gebrauchen
konnte . Eine an diesem Tage vorgenommene Untersuchung ergab
nun Folgendes. Pat. kann , bei voller Beweglichkeit der Zunge
und der Lippen , kein einziges Wort sprechen , nur Sylben mit
dem Buchstaben a und einem stummen Anhang , meist m , articu-
liren . Beim Versuch , ein bestimmtes Wort nachzusprechen , stimmt
sehr oft die Anzahl und der Tonfall der Sylben mit dem Worte
überein .
Er versteht alle Aufträge und Fragen , die nicht einen grösseren
Aufwand von Intelligenz erfordern , ist jedoch übermüthiger ,
launenhafter Stimmung und erschwert dadurch die Untersuchung .
Doch scheint ihm der Sinn der Präpositionen zu fehlen . Er er-
hält den Auftrag , ein Buch das eine Mal auf , das andere Mal
unter das Papier zu legen , und versteht nicht , dass dies verschie-
dene Aufträge sind . Wo der Sinn unzweifelhaft ist , ergänzt er
sich die Präpositionen richtig , so , wenn er auf einen Stuhl steigen
soll . Ebenso versteht er die verschiedene Benennung der Farben
nicht , obwohl er auf einer Farbenscala richtig die Farbe jedes
Gegenstandes herausfindet . Es scheint also eine Anzahl von Klang-
bildern erloschen zu sein .
Er versteht die Schriftzeichen richtig , führt einfache Aufträge ,
die ihm schriftlich gegeben werden , aus . Auch die Zahlen und
die einzelnen Buchstaben sind ihm bekannt .
Die Fähigkeit zu schreiben , ist nur soweit erhalten , dass er
Alles richtig nachschreiben kann . Selbstständig oder auf Dietat
kann er nicht einmal seinen Namen , auch die meisten einzelnen
Buchstaben nicht , schreiben . Dagegen schreibt er das Alphabet
allerdings mit vielfachen Verwechselungen . Die Zahlen schreibt
er richtig hinter einander fort . Er schreibt auch gedruckte Schrift
richtig ab , und zeigt sich überhaupt von der Form der Buch-
staben unabhängig , so schreibt er in einem Worte r , statt des
vorgeschriebenen r .
Es lässt sich deutlich nachweisen , dass er keine Hemiopie
hat . Gehör und Gesicht intact , die Augenspiegeluntersuchung er-
giebt normalen Befund .
Der Fall Peter ist in vielfacher Hinsicht interessant . Zu-
nächst machte sich die Chorea vorwiegend in den rechten Extre-
mitäten geltend . Dieses Factum findet seine einfache Erklärung
in der linksseitigen Hemiplegie , welche der erste apoplectische
Anfall hinterlassen hatte , es beweisst die Richtigkeit der Mey-
nert’schen Auffassung , nach welcher die Chorea eine an die Bahn
des Hirnschenkelfusses geknüpfte Hyperkinese ist . Die Hemiplegie
war sichtlich durch den alten Erweichungsheerd bedingt , welcher
sich in der rechten Hemisphäre vorfand , aber nicht durch diesen
direct , sondern durch das seine Entstehung begleitende collaterale
Oedem . Wenn plötzlich ( dafür spricht der apoplectische Anfall )
ein so umfangreicher Theil des Gehirnes von der Circulation aus-
geschlossen wird , so ist die Entstehung eines collateralen Oedems
in der nächsten Umgebung , einer collateralen Hyperämie in der
anderen Hemisphäre keine zu gewagte Annahme . Während nun
das erstere die Hemiplegie erklärt , giebt letztere die Möglichkeit ,
das Auftreten der Chorea zu verstehen . Die Chorea wäre dem-
nach bedingt , durch eine Hyperämie der Hirnschenkelfussbahn in
irgend einem Theile ihres Verlaufes , ähnlich wie Hyperästhesie
experimentell durch Aufschliessen der Pia spinalis erzeugt werden
kann . ( Meynert. )
Zu diesem jahrelang getragenen Erweichungsheerde gesellt
sich nun ein zweiter in der linken Hemisphäre , welcher Aphasie
und rechtsseitige Hemiplegie bewirkt und binnen kurzem tödtet .
Das Herabhängen des Unterkiefers , die absolute Unbeweglichkeit
der Zunge und das Unvermögen zu schlingen , dürfen nicht als
blosse Vorläufer des herannahenden Todes aufgefasst werden ;
denn sie traten ein , als noch volles Bewusstsein und Verständniss
der Situation vorhanden waren . Sie sind ebenso wie die
Aphasie als durch die Zerstörung des Marklagers be-
dingt zu betrachten , da die grossen Ganglien bis auf die
kleine Cyste im Streifenhügel nichts Abnormes boten . Endlich
ist noch die Atrophie aller Windungen hervorzuheben , welche
auch in diesem Falle die Heerderkrankung des Gehirnes begleitet .
Der Fall Itzigsohn , auf einer syphilitischen Heerderkran-
kung des Gehirnes beruhend , ist sichtlich keine rein motorische
Aphasie ; denn letztere könnte die Agraphie nicht zur Folge haben .
Nun ist aber die Agraphie nicht absolut , sondern nur soweit das
spontane Schreiben oder das Schreiben nach Dictat in Frage
kommt . Da das Vermögen nachzuschreiben erhalten ist , so muss
die Bahn α β ( s. oben pag. 28 ) intact sein , die Schreibstörung be-
ruht also auf Unterbrechung der Bahn a 1 β , welche die Klang-
bilder mit dem psychomotorischen Centrum der Schreibbewegun-
gen verknüpft . Aus Allem wird wahrscheinlich , dass die Tiefe
und gefässreiche Bucht , in welcher Vorderspalte und Oberspalte
zusammenlaufen , den Ausgangspunkt des pathologischen Processes
bildet . Derselbe dürfte , da nur in sehr seltenen Fällen durch
Tumoren Aphasie entsteht , weniger eine gummöse Neubildung , als
eine syphilitische Encephalitis sein . Uebrigens lässt die partielle
Betheiligung des sensorischen Sprachcentrums auf eine ziemlich
erhebliche Ausdehnung des Heerdes schliessen .
Der nun folgende Fall schliesst sich natürlich an die eben
berichteten an .
7. ) Karl Seidel , Tagarbeiter , 60 Jahre alt , erkrankte am 7.
Mai 1874 . Der Anfall ereilte ihn auf einer Leiter stehend ; er
konnte sich festhalten , bis er heruntergeholt wurde . Er war
taumlig und sprachlos , konnte aber noch nach Hause gehen , ohne
geführt zu werden . Zu Hause wurde rechtsseitige Lähmung be-
merkt ; er lag nun 24 Stunden soporös da und wurde am nächsten
Tage in die medicinische Klinik aufgenommen , wo mir seine Be-
obachtung durch Herrn Geheimrath Lebert gütigst freigestellt
wurde .
Am 15. Mai war folgender Status : Kräftig gebauter Mann ,
mit wenig Altersveränderungen , bei voller Besinnung im Bette
liegend . Schlechtes Aussehen , gelbliche Gesichtsfarbe . Arterien
geschlängelt , aber durchweg elastisch . Herzdämpfung nach links
verbreitert , an der Herzspitze ein systolisches Geräusch . Arythmie .
In Ruhelage sind in der rechten Gesichtshälfte die Falten ver-
strichen , links die Lippen geöffnet ; beim Sprechen bleibt die rechte
Mundhälfte in den Bewegungen zurück . Der rechte Arm wird
spontan wenig benützt , die Bewegungen desselben werden lang-
sam und mit sichtlicher Anstrengung ausgeführt , der Händedruck
ist rechts äusserst schwach . Der rechte Arm ist kühler , die Hand
etwas cyanotisch . Die Bewegungsstörung des rechten Beines ist
beim Gang wenig auffallend , nur schleppt er es nach . Dagegen kann
er , wie er ins Bett zurück will , das Bein nicht hineinbringen und
muss die Hände zu Hilfe nehmen . Die Sensibilität , durch Nadel-
stiche geprüft , ist rechts nicht merklich verschieden .
Psychisch ist er etwas stumpf und theilnahmslos , er isst mit
gutem Appetit , spricht spontan den ganzen Tag über nichts , und
antwortet nur auf Fragen Ja oder Nein . Er findet sich in der
Krankenstube schlecht zurecht , kann sich den Abort nicht merken ,
verwechselt Gegenstände ; so kommt es vor , dass er seinen Urin
erst in das nebenstehende Wasserglas , und dann erst , da dieses
nicht ausreicht , in das Uringlas lässt .
Er versteht alle einfacheren , seinem Gesichtskreise Rechnung
tragenden Mittheilungen , antwortet richtig ja und nein und führt
jeden Auftrag richtig aus . Er kann aber spontan nur ja und
nein sprechen ; was er sonst auf Fragen antwortet , ist meist ganz
unverständlich , obwohl einige Articulation darin zu merken ist .
Dagegen kann er Alles richtig nachsagen , zwar mit einiger An-
arthrie , aber in den Vocalen , im Tonfalle der Sylben etc. deutlich
erkennbar . Bei näherer Prüfung stellt sich heraus , dass ihm nur
die Consonanten c , d , t , z und nächstdem das k Schwierigkeiten
machen . Aufgefordert die Zunge zu zeigen , öffnet er nur den
Mund ; auch wenn es ihm vorgezeigt wird , kein besserer Erfolg .
Nach rechts und links hin kann er sie nur schwerfällig und ruck-
weise bewegen , umdrehen kann er sie nicht . Die Beweglichkeit
der Zunge ist also sehr bedeutend beeinträchtigt .
Characteristisch für seine Sprachstörung ist folgende Unter-
haltung :
Guten Abend !
Guten Abend !
Wie geht es Ihnen ?
Ja .
Wie heissen Sie ?
Ja .
Heissen Sie Thomas ? Berthold ? Schulze ? Müller ? Nein ,
nein ( auf jede Frage ) .
Heissen Sie Seidel ? Ja .
Sagen Sie „ Seidel ‟ ! Seidel .
Sagen Sie „ Berthold , ‟ „ Thomas , ‟ „ Hospital , ‟ „ Irrenanstalt , ‟
„Krankenhaus , ‟ „ Maurerarbeit ‟ . Er wiederholt jedes Wort richtig .
Die Frage , ob er lesen und schreiben könne ? verneint er .
Doch kann er seinen Namen schreiben . Er schreibt richtig Seidel .
Er soll den Vornamen Karl dazu schreiben ; statt dessen schreibt
er Seidel . Es wird ihm Karl vorgeschrieben , er schreibt wieder
Seidel . Auf eine neue Seite wird ihm Garten vorgeschrieben ,
das soll er nachschreiben . Das Wort , das er nun schreibt , ist
ein Gemisch von Seidel und Garten , denn es fängt mit S an , und
enthält ein deutliches a und t. Inzwischen ist an einer andern
Stelle die Zahl 1874 hingeschrieben worden ; er bekommt nun
den Auftrag , 1874 zu schreiben . Er schreibt 1844 . Er soll nun
die Zahl 60 schreiben und schreibt 1848 ; auf den Irrthum auf-
merksam gemacht , schreibt er 18 ( also eine zweistellige Zahl ) und
giebt zu verstehen , dass dies nun gut wäre . Nachdem ihm 60
vorgeschrieben ist , schreibt er 66 nach . Jedenfalls lässt er sich
also durch das Vorgeschriebene beeinflussen . Das , was er endlich
zu Stande gebracht hat , scheint immer sehr lange zu haften und
stört dann jede neue Aufgabe . Er ermüdet auch sehr schnell
und giebt sich dann weiter keine Mühe .
Das 1874 , das er leidlich nachgeschrieben hat , kann er nicht
lesen . Beim Lesen stört die leichte Ermüdbarkeit und das Nach-
klingen des Alten noch viel mehr . Er liesst von einer Reihe von
Buchstaben den ersten richtig , die andern nicht mehr . Er liesst
die Zahl 5 richtig , die 9 bald darauf nicht mehr . Es werden ihm
5 Finger vorgehalten , er sagt nach wiederholtem Fragen 5 . Darauf
werden 2 vorgehalten , er findet keinen Ausdruck dafür . Sind es
fünf Finger ? Ja . Dies wird bestritten : Das sind doch nicht fünf
Finger ! „ O ja . ‟
Epikritisch lässt sich zu diesem Falle bemerken , dass er
bei vorhandener Insufficienz der Mitralis , sicher auf Embolie und
Erweichung zurückgeführt werden kann . Der Erweichungsheerd
muss das Gebiet der I. Urwindung und der Insel intact gelassen
haben , da der ganze psychische Reflexbogen aa 1 bb 1 erhalten ist .
Dagegen sind die Faserzüge cb und db durchbrochen , denn der
Begriff vermag nicht mehr die Sprachbewegungsvorstellung zu
innerviren . Der Erweichungsheerd betrifft also das Marklager
der Hemisphären . Zugleich weisst die rechtsseitige Lähmung ,
vor allem aber die Lähmung der Zunge , auf eine Betheiligung
des Linsenkernes hin . Es ist also ein grösserer Erweichungsheerd
anzunehmen , welcher einen Theil des Linsenkernes zerstört hat
und sich in das Marklager der linken Hemisphäre , oberhalb des
Seitenventrikels , hinein erstreckt . Die Störungen beim Schreiben
und Lesen dürften bei der mangelhaften Bildung des Kranken
wenig verwerthbar sein .
Dieser Fall zeigt uns eine neue Art der Aphasie , welche
trotz ihrer äusseren Aehnlichkeit mit der motorischen Form , doch
ihrem Wesen nach der Aphasie der Inselgegend am nächster
steht ; denn wie die letztere beruht sie auf Unterbrechung der
Verbindungsbahnen zwischen motorischen und sensorischen Centren
während diese selbst erhalten sind . Es bedarf kein er weiteren
Begründung , dass der Zustand des Seidel als Aphasie bezeichnet
werden muss , obwohl auch Andeutungen von Asymbolie vorhan-
den sind . Die characteristischen Sprachstörungen
finden aber nur in der Unterbrechung der Bahnen ch
und db ihre Erklärung ; die ohnehin nur angedeutete Asym-
bolie muss als zufällige , d. h. durch die Ausdehnung des Processes
bedingte , Complication aufgefasst werden und kann die eigen-
tümliche Sprachstörung nicht erklären .
Die unter III abgehandelte Leitungsaphasie findet in diesem ,
gewiss höchst selten vorkommenden , Falle eine nothwendige Er-
gänzung .
8. ) Louise Funke , Inquilinengenossin , 59 Jahre , erlitt am
6. December 1873 einen apoplectischen Anfall und wurde am 8.
December ins Allerheiligen-Hospital aufgenommen . Damals zeigte
sie das exquisite Bild der Gehirnblutung . Hypertrophie des linken
Ventrikels und etwas Eiweiss im Urin liess sich nachweisen . Läh-
mung der rechten Körperhälfte und Sprachlosigkeit wurden con-
statirt .
Anfang März 1874 fand ich folgenden Zustand : Vollständige
Lähmung der rechten Extremitäten . Der rechte Mundwinkel
steht tiefer , die Raphe von Nase zur Oberlippe ist nach links
verzogen , die Falten rechts verstrichen . Bei den Bewegungen
betheiligt sich nur die linke Mundpartie . Die Zunge wird sehr
unsicher und zitternd hervorgestreckt , keine Abweichung zu con-
statiren . Die Lidspalten sind gleich weit , der Lidschluss auch
rechts möglich . Die rechten Extremitäten sind passiv leicht be-
weglich , jedoch bei schnellen Bewegungen schmerzhaft . Die linke
Pupille ist verengert und reagirt nicht auf Lichteinfall , wohl aber
sympathisch bei Beleuchtung des anderen Auges . Puls verlang-
samt , 48. Schmerzempfindlichkeit , so weit sich constatiren lässt ,
rechts erhalten oder nur wenig abgeschwächt .
Sie verfügt nur über das eine Wort ja , das sie auf alle
Fragen zur Antwort giebt . Will sie sich spontan äussern , so
wiederholt sie ja , ja , in infinitum . Sie versteht nichts , was zu ihr
gesprochen wird , die einfachsten Fragen und Aufträge rufen nie
eine andere Reaction hervor , als das oft wiederholte Wort ja .
Durch Gesten jedoch kann man sich ihr leidlich verständlich
machen ; wenigstens giebt sie die Hand , wenn sie ihr entgegen-
gereicht wird , zeigt die Zunge , wenn man ihr auf den Mund
deutet oder es vormacht , etc . Alle weiteren Untersuchungen
scheitern an ihrem Mangel an Verständniss , es lässt sich daher
auch nicht feststellen , ob auf einer oder beiden Seiten Taubheit
besteht .
Es besteht hier eine ausgedehnte Zertrümmerung des Lin-
senkernes und des I. Urwindungsbogens oder der Markfaserung
desselben .
9. ) Siegmund Zwettels , Kaufmann , 43 Jahr alt , erlitt vor
3 Jahren einen Schlaganfall , welcher eine Lähmung des rechten
Armes ( das Bein war angeblich ganz intact ) und Sprachlosigkeit
zurückliess . Nur seinen Namen S. Zwettels konnte er sprechen
ebenso konnte er denselben schreiben , während er sonst die
Fähigkeit zu lesen und zu schreiben gänzlich verloren hatte . Die
Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes und die Sprache haben sich
seitdem fast vollständig wieder eingestellt , nur findet er manch-
mal die Worte erst nach einigem Besinnen und kann vorgezeigte
Gegenstände nicht sogleich richtig benennen . Da sein Zustand mit
rechtsseitiger Hemiopie complicirt und seine Intelligenz vollkom-
men intact ist , so vermag er über den Einfluss Rechenschaft zu
geben , welchen die Hemiopie beim Lesen übt . Er giebt an , dass
er sich beim Lesen die einzelnen Buchstaben zusammensuchen
müsse und kann desswegen nur langsam lesen . Dabei passirt es
ihm , dass er auf der Strasse im Vorbeigehen sehr bequem die
Schilder liesst , und nur das fixirte Wort macht ihm Schwierigkeit .
Beim Lesen der einzelnen Buchstaben gelingen ihm die meisten ;
doch hält er einmal inne und findet den Buchstaben erst , nach-
dem er sich das Alphabet bis an denselben aufgesagt hat ( ein
Residuum seiner früheren Alexie ) . Eine vierstellige Zahl liest
er nur nach langem Besinnen und Probiren , wobei er sich die
Zehner vor den Einern klar machen muss . Diese Angaben stimmen
mit denen überein , welche oben beim Falle Beckmann zur Er-
klärung der Symptome benutzt wurden .
10. ) Withold v. Salmonsky , Handlungsdiener , einige 20 Jahre
alt , wurde am 19. März 1874 ins Allerheiligen-Hospital aufge-
nommen . Daselbst hatte er einen epileptischen Anfall mit 12
Minuten lang anhaltender Bewusstlosigkeit , klagte über Rücken-
schmerzen und Schmerzen in den Armen , besonders bei Berührung .
Das Liegen auf der linken Seite war ihm schmerzhaft . Es ent-
wickelte sich eine phlegmonöse Parotitis links , welche incidirt
wurde und längere Zeit Eiterung unterhielt . Seine Ernährung
machte Rückschritte . 10—12 Tage vor seinem Tode fiel eine
Sprachstörung auf , der Gang derselben wurde leider nicht ge-
nügend beobachtet . Am 14. Mai 1874 bot er folgenden Status :
Sehr anämisches , schlecht genährtes Individuum , mit atrophischer
Muskulatur , von stupidem Gesichtsausdruck , klagt über Schmerzen
im Rücken und in der linken Kopfhälfte . Puls voll , kräftig , weich ,
104. Resp. nicht beschleunigt . Lungen frei . Die rechte Gesichts-
hälfte ist abgeflacht , die Nasolabialfalte verstrichen , der rechte
Mundwinkel steht tiefer ; die Störungen sind besonders beim Lachen
auffallend . Die Stirn wird gleichmässig gerunzelt , Lidschluss in-
tact , rechte Pupille erweitert , auf Licht reagirend . Keine Läh-
mung der Extremitäten zu constatiren . Klopfen auf die linke
Schläfegegend ist äusserst schmerzhaft . Hochgradige Hyperaesthesie ,
auf die unteren Extremitäten beschränkt . Der Gang ist breit-
beinig und mühsam . Bei der Augenspiegeluntersuchung zeigen
sich beide Papillen grau verfärbt , mit ganz verwaschenen Rändern
ohne auffallende Stauungserscheinungen , jedoch deutlich als Stadien
der Stauungspapillen erkennbar .
Er versteht das Meiste , was zu ihm gesprochen wird , ver-
fügt selbst über einen unbeschränkten Wortvorrath , verwechselt
aber die Wörter , ohne sich dessen bewusst zu werden . Dabei
ist das Sprechen vollständig articulirt , ohne mechanische Behin-
derung . Vorgehaltene Gegenstände benennt er bald richtig , bald
falsch ; so nennt er die Uhr richtig Uhr , ein Messer aber auch
Uhr ; das Messer wird nun aufgemacht und ihm wieder gezeigt ,
er nennt es eine aufgemachte Uhr .
Das laute Lesen ist sehr characteristisch , es zeigt dieselbe
Sprachstörung , wie sie beim spontanen Sprechen hervortritt . Er
liest die Zeilen glatt herunter , aber setzt beliebig andere Wörter
ein , während er doch richtig zu lesen glaubt ; dadurch entsteht
ein unsinniges Gemisch von richtig gelesenen und falschen Wörtern .
Wie er sich zum Schreiben verhält , wurde nicht untersucht .
Auf Grund des beschriebenen Symptomencomplexes wurde
von Herrn Dr. Friedländer , dem ich die Benützung dieses Falles
verdanke , die Diagnose auf Hirnabscess in der linken Hemisphäre
gestellt . Dieselbe stützte sich ausserdem noch auf unregelmässige ,
nicht sehr hohe , Fieberschwankungen .
Am 18. Mai liess sich eine linksseitige Pneumonie nach-
weisen , Pat. wurde soporös und starb am 21. Mai 1874 .
Die Section ergab folgendes Resultat : Dura bietet nichts
Auffallendes , keine Schädelverletzung . Pia trocken , anämisch ,
leicht getrübt . Die Sulci verstrichen , die Windungen an einander
gedrückt , besonders hochgradig an der linken Hemisphäre . Bei
der Herausnahme des Gehirnes Fluctuation im linken Schläfe-
lappen zu fühlen , an der basalen Fläche des Gyrus hippocampi
zeigt sich eine etwa groschengrosse Stelle der Gehirnsubstanz
grün gelb verfärbt , die Pia jedoch nicht wesentlich betheiligt . Die
linke Fossa Sylvii wird vorsichtig durch Abziehen der Pia und
der Gefässe blossgelegt . Es zeigt sich dabei , dass die einander
zug ekehrten Flächen der I. Schläfewindung und des Klappdeckels
sich gegenseitig in einander abgedrückt haben , so dass der Schläfe-
lappen nach aussen , der Klappdeckel nach innen mit scharfen
Ka nten vorspringen . Zwischen Schläfelappen und Klappdeckel
sin d die Inselwindungen eingeklemmt , indem die Insel mit einem
sch arfen Riff nach aussen vorspringt . Das ganze Stammhirn links
5
zeigt sich von oben nach unten zusammengedrückt und dafür ver-
breitert , der linke Hirnschenkel ist an seiner untern Fläche sattel-
förmig eingebogen . Die ganze F. Sylvii kann blossgelegt wer-
den , ohne Eröffnung des Abscesses .
Der Abscess nimmt den grössten Theil des Schläfelappens
ein , und zwar die äussere und untere Wand des Unterhornes des
Seitenventrikels , dessen Ependym nicht durchbrochen ist . Er
enthält übelriechenden , grünen Eiter und ist mit einer Abscess-
membran ausgekleidet . Die Umgebung ist jedoch so erweicht ,
( macerirt ) , dass die Grenzen des Gesunden sich nicht mehr fest-
stellen lassen . Das Mark der I. Schläfewindung zeigt sich in
seinen tieferen , dem Marklager zugewandten Theilen ebenfalls er-
weicht , die in der Windung befindliche Markleiste jedoch erhalten ,
nur ödematös . Der Abscess erstreckt sich an der Verbindungs-
stelle des Schläfelappens mit dem Stammlappen in denselben
hinein , daselbst ist die Gehirnsubstanz ( confluirter Nucl . candatus
und Linsenkern ) selbst eitrig infiltrirt , und keine Membran vor-
handen ; die äussersten Fasern des Hirnschenkels sind dadurch
mit betroffen . Der linke Tractus opticus ist zum Theil weiss
erweicht und abgeplattet .
Abgesehen von der Compression zeigen sich alle übrigen
Theile des Gehirnes , besonders die ganze I. linke Stirnwindung
und die Stammganglien normal .
Im Lumbaltheile des Rückenmarkes findet sich eine circum-
scripte eitrige Meningitis , das Rückenmark ist daselbst durch dicke
Eiterklumpen comprimirt . Das übrige Rückenmark zeigt nichts
Abnormes .
Der eben mitgetheilte Fall bietet so viele Räthsel , dass es
kaum möglich scheint , sich eine befriedigende Vorstellung von
dem Verlaufe des Falles zu machen . Da keine rechtsseitige Hemi-
plegie vorhanden war , so müssen die linksseitigen Stammgan-
glien trotz der Compression fungirt haben , oder die Compression
muss erst sehr spät eingetreten sein . Haben sie aber fungirt , so ist
sicher auch die Aphasie nicht durch die Compression der I. Stirn-
windung zu erklären : dieses negative Resultat ist das einzige , wel-
ches sich für die Lehre von der Aphasie aus diesem Falle ziehen
lässt . Ob das Mark der I. Schläfewindung , auf das es hier an-
kommt , schon bei Lebzeiten erweicht war oder nicht , liess sich
unmöglich feststellen ; sicher war es noch besser erhalten , als das
der übrigen Schläfewindungen . Die klinischen Symptome sprachen
für eine Aphasie der Inselgegend , diese aber kann kaum zur Er-
klärung zugezogen werden , wenn die Stammganglien normal fun-
girten , denn Stammganglien und Inselrinde litten unter derselben
Compression .
Andererseits ist die Aphasie nicht von ihrer Entstehung an
genügend beobachtet worden , sie kann weit früheren Datums sein
und damals die Symptome der sensorischen Aphasie geboten
haben ; in der Zwischenzeit kann die andere Hemisphäre die
Function des linken Schläppelappens übernommen haben , was ja
bei sensorischer Aphasie sehr schnell geschieht . Es giebt aber
bei Heilung der sensorischen Aphasie ein Stadium , in welchem
die Kranken schon das Meiste verstehen und doch noch Wörter
verwechseln .
Keinesfalls kann aus diesem Falle ein Beweis für oder gegen
die von mir angenommene Localisation der Sprachcentren gemacht
werden . Der Hirnabscess , welcher wie der Tumor seine Druck-
wirkung auf verschiedene Stellen des Schädelinhaltes nach uns
noch gänzlich unbekannten Gesetzen ausübt , kann eine derartige
Frage nicht entscheiden . Nur der Erweichungsheerd ver-
spricht uns Aufschlüsse über die localisirten Func-
tionen des Gehirnes .
Unerklärt ist ferner die Lähmung des rechten Mund-Facialis ;
wenn sie auf die partielle Zerstörung der linken motorischen Gan-
glien zu beziehen ist , so müsste die zerstörte , oben näher be-
zeichnete Partie den Kern des Mund-Facialis enthalten .
Die Hyperaesthesie der Unterextremitäten erschwerte wäh-
rend des Lebens die Diagnose . Sie fand in der circumscripten
Meningitis spinalis eine einfache Erklärung .
Hier finde ich den Ort , meinen lieben Collegen im Hospitale
Friedländer und Weigert für ihre freundschaftliche Unterstützung
und die bereitwillige Ueberlassung ihres Materiales meinen herz-
lichsten Dank auszusprechen .
Ich bin weit entfernt , zu meinen , mit dem Vorstehenden
durchweg neue Ansichten über das Wesen der Aphasie ausge-
sprochen zu haben . Aehnliche psychologische und philosophische
Deductionen begegnen uns in den meisten bedeutenderen Autoren
über Aphasie , namentlich hat Baginsky in seiner Eintheilung der
Aphasie in centrifugale und centripetale schon sehr ähnliche An-
sichten ausgesprochen . Das Abweichende meiner Auffassung von
den früheren besteht aber in der durchweg festgehaltenen ana-
tomischen Grundlage . Es ist ein bedeutender Unterschied , theo-
retisch verschiedene Centra zu fingiren : ( Coordinationseentrum , Be-
griffscentrum etc. ) und von anatomischen Unterlagen dafür gänzlich
abzusehen , angeblich , weil die durchaus unbekannten Functionen
des Gehirnes zur Zeit noch nicht zu anatomischen Schlüssen be-
rechtigten , oder nach eingehendstem Studium der Gehirnanatomie
und auf den jetzt fast allgemein anerkannten Grundsätzen der
Erfahrungspsychologie fussend die anatomischen Daten in psycho-
logische umzusetzen und aus derartigem Materiale eine Theorie
zu construiren . Meine Erklärung des Sprachvorganges ist nur
die specielle Anwendung eines in seinen Grundzügen schon fest-
stehenden Vorganges , der spontanen Bewegung nämlich , auf die
zum Sprechen nöthigen Bewegungen . Die sensorische Function
des Hinterhauptsschläfelappens , die motorische des Stirnhirnes
liefern die einzelnen Bausteine ; und auch dasjenige , was noch
des anatomischen Nachweises bedürftig ist , nämlich die Verlegung
der Klangbilder in die I. Schläfewindung , findet ( abgesehen von
den Sectionsbefunden ) eine unbestreitbare anatomische Fürsprache
in der Gemeinsamkeit der Verbindungen , welche sich sowohl in
dem Bestehen der Vormauer , als in dem der Fibrae propriae
ausspricht .
Es ist die Frage , ob es berechtigt ist , noch nicht abge-
schlossene Ergebnisse anatomischer und physiologischer Forschung
zur Aufstellung einer neuen Theorie zu verwerthen . Die Beant-
wortung mag dem Leser überlassen bleiben , dem ich im Vor-
stehenden das Material dazu selbst in die Hand zu geben gesucht
und dem ich keine Lücke verschwiegen oder beschönigt habe .
Bedenkt man jedoch , wie kühn und wie fruchtbar das vorhandene
ebenfalls noch unfertige physiologische Material in einigen alten
Handbüchern , z. B. dem Romberg auf die Praxis übertragen wor-
den ist , so wird man den Versuch , dasselbe im Gebiete der Ge-
hirnpathologie endlich einmal zu wagen , nicht verdammen können .
Unsere Rechtfertigung liegt aber noch in anderen wesentlicheren
Momenten .
Es ist nirgends , so nahe bei dem behandelten Gebiete die
Versuchung dazu lag , über die einfachste , wohl kaum noch ernst-
lich anzufechtende Hypothese hinausgegangen worden , nach welcher
dem centralen Ende jedes Nervenfadens die Rolle eines psychischen
Elementes ( s. pag. 4 ) zugetheilt ist . So mussten verschiedene
Merkwürdigkeiten in dem Gebiete der Aphasie gänzlich unberück-
sichtigt bleiben , z. B. das Vergessen nur der Substantiva , oder
der Zeitwörter u. s. w. Das Eingehen auf solche , durch unsere
einfachsten Elemente nicht erklärbare Vorkommnisse
ist absichtlich vermieden worden ; und es soll hier klar
ausgesprochen werden , dass ganze Kategorien der Gehirn-
physiologie und die innerhalb dieser Kategorien
liegenden Alienationen — die meisten Seelenstörun-
gen — vorläufig einer wissenschaftlichen Behand-
lung ( in medizinischem Sinne ) noch nicht zugänglich sind .
Die klare Einsicht darüber , auf welche Gebiete vorläufig ver-
zichtet werden muss , ist das dringendste Desiderat für einen
künftigen Fortschritt der Psychiatrie .
Die aufgestellte Theorie der Aphasie vermag die so verschie-
denen klinischen Bilder derselben zusammenzufassen . Diese Man-
nichfaltigkeit selbst , welche bisher jedem neuen Beobachter neue
Räthsel zu lösen gab , wird nun nicht mehr auffallen , sie lässt sich
sogar nach den Gesetzen der Combination berechnen . Aber
allen ist das eigenthümlich , dass ihnen eine Unter-
brechung des beim normalen Sprachvorgange benütz-
ten psychischen Reflexbogens zu Grunde liegt . Damit
ist für den Leser eine klare Definition des Begriffes Aphasie ge-
wonnen .
Die Zerlegung des normalen Sprachvorganges in verschiedene
Centren vermag , so wie sie die Mannichfaltigkeit der Formen der
Aphasie in einen weiten Rahmen aufnimmt , auch die meisten
Widerprüche zu erklären , welche theils logisch in den Beobach-
tungen eines Forschers , theils zwischen den Ansichten verschie-
dener Beobachter bisher hervortraten . So theilt Sander seine und
Griesinger’s Ansicht mit , dass bei Aphasischen die Leitung vom
Gesichtsbild zum Klangbild zerstört , dagegen die vom Klangbild
zum Gesichtsbilde erhalten sei . Dieser logische Widerspruch löst
sich leicht durch Zerlegung des Griesinger’schen Klangbildes in
ein motorisches und ein sensorisches Centrum . Auch das Ver-
wechseln der Bewegungen , das bei Aphasischen beobachtet wor-
den ist , wird zum grössten Theil in mangelhaftem Verständnis des
Auftrages ( bei sensorischer Aphasie ) seine Erklärung finden .
Die Aphasie fällt unter den weiteren Begriff der psychi-
chischen Heerderkrankungen . Was unter denselben zu
verstehen ist , lässt sich durch Beispiele am besten erläutern .
Meynert fasst die maniacalischen Bewegungen als durch centrale
Reize bedingte Erregungen der motorischen Gehirnoberfläche auf
Sind solche maniacalische Bewegungen auf ein umgrenztes Mus-
kelgebiet beschränkt und längere Zeit constant Einen solchen Fall habe ich beobachtet und in der kürzlich erschie-
nenen Dissertation von Czarnowsky veröffentlicht . , so ist man be-
rechtigt , eine circumscripte Rindenerkrankung anzunehmen , welche
das betreffende psychische Heerdsymptom setzte . Die Asymbolie
ist eine derartige nur durch psychische Symptome diagnosticir-
bare Heerderkrankung . Diejenigen Psychosen ( gewöhnlich zum
Wahnsinn gerechnet ) , welche aus Gehörs- oder Gesichtshalluci-
nationen entstehen , sind wahrscheinlich , ebenso wie die maniaca-
lischen Bewegungen , durch central örtlichen Reiz verursacht . Dass
der Ursprung der Sensationen in die Sinnesorgane und demge-
mäss in die Aussenwelt verlegt wird , ist dann ebenso wenig be-
fremdend , wie der Schmerz , den der Amputirte in die abgeschnittene
kleine Zehe verlegt . Psychische Heerderkrankungen
sind demnach durch Symptome der Reizung oder des
Ausfalles circumscripter Gruppen psychischer Ele-
mente characterisirt .
Auch durch die Unterbrechung der Leitungsfasern , welche
die psychischen Elemente unter einander associiren , also durch
Erkrankungen des Grosshirnmarkes , können psychische Heerd-
symptome bedingt werden , wie an dem Beispiele der Aphasie
ausführlich gezeigt worden ist . So oft die Erkrankungen des
Grosshirnmarkes undiagnosticirt bleiben , so gross ist der Irrtum ,
dessen Functionen für geringfügig zu halten . Alle höheren geisti-
gen Processe wickeln sich wahrscheinlich im Grosshirnmarke ab .
Die weitere Forschung im Gebiete der psychischen Heerderkran-
kungen ist , aus leicht ersichtlichen Gründen , vorwiegend dem
Psychiater vorbehalten . Jedoch wird eine richtige Verwerthung der
Sectionsbefunde erst dann möglich sein , wenn die Anatomie des
Grosshirnmarkes durch Schnittpräparate ( denn die Faserung er-
weist sich dazu unzureichend ) genügend sicher gestellt sein wird .
Verfasser ist mit dieser Untersuchung beschäftigt , und hofft , da
er das Material dazu , in Schnittreihen vom Hunde- und Affenge-
hirne bestehend , fast vollständig angefertigt hat , in nicht zu langer
Zeit damit vor die Oeffentlichkeit zu treten .
Breslau , im Mai 1874 .