Aeſthetiſche Feldzuͤge.
Dem jungen Deutſchland
gewidmet
von
L. Wienbarg.
Hamburg,
bei Hoffmann und Campe.
1834.
Worte der Zueignung.
Dir junges Deutſchland widme ich
dieſe Reden, nicht dem alten. Ein jeder
Schriftſteller ſollte nur gleich von vorn herein er¬
klaͤren, welchem Deutſchland er ſein Buch be¬
ſtimmt und in weſſen Haͤnde er daſſelbe zu ſehen
wuͤnſcht. Liberal und illiberal ſind Bezeichnungen,
die den wahren Unterſchied keineswegs angeben.
Mit dem Schilde der Liberalitaͤt ausgeruͤſtet ſind
jetzt die meiſten Schriftſteller, die fuͤr das alte
Deutſchland ſchreiben, ſei es fuͤr das adlige, oder
fuͤr das gelehrte, oder fuͤr das philiſtroͤſe alte
Deutſchland, aus welchen drei Beſtandtheilen
daſſelbe bekanntlich zuſammengeſetzt iſt. Wer aber
dem jungen Deutſchland ſchreibt, der erklaͤrt, daß
*
er jenen altdeutſchen Adel nicht anerkennt, daß
er jene altdeutſche, todte Gelehrſamkeit in die Grab¬
gewoͤlbe aͤgyptiſcher Pyramiden verwuͤnſcht, und
daß er allem altdeutſchen Philiſterium den Krieg
erklaͤrt und daſſelbe bis unter den Zipfel der wohl¬
bekannten Nachtmuͤtze unerbittlich zu verfolgen Wil¬
lens iſt.
Dir junges Deutſchland widme ich
dieſe Reden, fluͤchtige Erguͤſſe wechſelnder Auf¬
regung, aber alle aus der Sehnſucht des Ge¬
muͤths nach einem beſſeren und ſchoͤneren Volks¬
leben entſprungen. Ich hielt ſie als Vorleſungen
auf einer norddeutſchen Akademie, hoffe aber, ſie
werden den Geruch der vier Fakultaͤten nicht mit
ſich bringen, der bekanntlich nicht der friſcheſte
iſt. Ich war noch von der Luft da draußen
angeweht und der Sommer 1833 war der erſte
und letzte meines Dozirens. Univerſitaͤtsluft, Hof¬
luft und ſonſtige ſchlechte und verdorbene Luftar¬
ten, die ſich vom freien und ſonnigen Voͤlkertage
abſondern, muß man entweder gaͤnzlich vermeiden
oder nur auf kurze Zeit einathmen. Riechflaſchen
mit ſcharfſatiriſchem Eſſig, wie ihn z. B. Boͤrne
in Paris deſtillirt, ſind in dieſem Fall nicht zu
verachten. Lobenswerth iſt auch die Vorſicht, die
man beim Beſuch der Hundsgrotte beobachtet —
ſonderlich wenn's in die Hofluft geht — man
buͤcke ſich nicht zu oft und zu tief. Abſchreckend
iſt das Beiſpiel von Miniſtern und Hofleuten,
die des Lichtes ihrer Augen und ihres Verſtandes
dadurch beraubt worden ſind und ſchwer und
aͤngſtlich nach Luft ſchnappen.
Dir junges Deutſchland widme ich
dieſe Reden, dem braͤunlichen wie dem blon¬
den, welches letztere mich umgab und die Muſe
war, die mich zweimal in der Woche begeiſterte.
Ja, begeiſternd iſt der Anblick aufſtrebender Juͤng¬
linge, aber Zorn und Unmuth miſcht ſich in die
Begeiſterung, wenn man ſie als Zuͤchtlinge ge¬
lehrter Werkanſtalten vor ſich ſieht. Sclaverei iſt
ihr Studium, nicht Freiheit. Stricke und Bande
muͤſſen ſie flechten fuͤr ihre eigenen Arme und
Fuͤße, dazu verurtheilt ſie der Staat. Die Un¬
gluͤcklichen, wie haben ſie mich geſucht und ge¬
liebt, als ich ihnen die Freiheit wenigſtens im
Bilde zeigte.
Preußen traͤgt ſich mit dem Plan, die alten
Univerſitaͤten umzuſchmelzen. Immerhin, und mag
das gelehrte Deutſchland auch Blut uͤber den
Frevel ſchwitzen. Ich traue freilich dem neuen
Guſſe nicht, weil ich nicht einſehe, woher Preu¬
ßen das rechte Metall dazu nehmen will, es
waͤre denn preußiſch-evangeliſches Kanonen- und
Glockengut. Aber auch dieſes halte ich fuͤr beſ¬
ſer als die alte tonloſe Miſchung, die ſelbſt un¬
ter Thors Hammerſchlaͤgen keinen Klang mehr
von ſich geben wuͤrde.
Zur Zeit der Reformation waren die Univer¬
ſitaͤten Stuͤtzpunkte fuͤr den Hebel des nenenneuen Um¬
ſchwungs. Gegenwaͤrtig bewegen ſie nichts, ja ſie
ſind Widerſtaͤnde der Bewegung und muͤſſen als
ſolche aus dem Wege geraͤumt werden.
Zu warnen aber ſind junge Maͤnner von
Kraft und Talent, ſich nicht unbedacht jener ed¬
len Taͤuſchung hinzugeben, als ob ſich dennoch
ein zeitgemaͤßer und volksthuͤmlicher Wirkungs¬
kreis fuͤr ſie auf unſern Univerſitaͤten erſchwingen
laſſe. Glaubt mir, ihr hebt den Fluch nicht auf,
den die Zeit uͤber jene alten Gemaͤuer ausgeſpro¬
chen hat, ihr ſetzt euch hingegen der Gefahr aus,
mit demſelben Fluche auf euren eigenen geiſtigen
Schwingen belaſtet zu werden. Zittert vor der
greiſen alma mater, die als Ahnfrau unſerer
Univerſitaͤten ihr faltenreiches, mottenzerfreſſenes
Gewand auf dem Boden der Aula einherſchleift,
und ihre alten Liebhaber-Pedanten durch junge
und friſche zu rekrutiren ſucht. Zittert vor ihrer
duͤrren Umarmung, vor dem Kuß ihrer geſpen¬
ſtiſchen grauen Lippen, denn ſie ſaugt euch das
Blut langſam aus den Adern und ſchrumpft die
Hochgefuͤhle eurer Bruſt zu jenem Minimum
zuſammen, das etwa einem alten ausgedoͤrrten
Wilhelm Traugott Krug oder Chriſtian Daniel
Beck kaum verſchlaͤgt, um damit den letzten
Athemzug fuͤr den Himmel zu beſtreiten. Denkt
daran, daß alle große Deutſche der neuern Zeit
nur zu ihrem Ungluͤck deutſche Univerſitaͤtslehrer
geworden ſind, daß ein Fichte, Schelling, Nie¬
buhr, Schleiermacher, geborene Tribunen des
Volks, fuͤr das Volk und ihren eigenen hoͤheren
Ruhm verloren gegangen ſind. Fichte's Reden an
die deutſche Nation verhallten nicht blos deswe¬
gen in den Wind, weil die Nation taub war,
ſondern weil zwiſchen ihr und ihm eine Scheide¬
wand aufgerichtet war, die ſelbſt Fichte's eherne
Stimme nicht zu durchdringen vermochte.
**
Nun denn, junges Deutſchland, mit Gott!
Wir leben ja noch einen Tag zuſammen, und
wer weiß, ob unſer Hort und Fuͤhrer uns ſo
lange durch die Wuͤſte ziehen laͤßt, wie Moſes
die Iſraeliten.
Iſt aber eine Silberlocke unter deiner Schaar,
ein Greis mit jugendlichem Herzen, ich kuͤſſe ihm
Auge und Stirn und wuͤnſche auch mir einen
warmen Fruͤhling unter der Eisdecke kuͤnftiger
Jahre.
Erſte Vorleſung.
Meine Herren. Sie wollen mir die Ehre ge¬
ben, meinen Vortraͤgen uͤber Aeſthetik beizuwoh¬
nen. Ich freue mich uͤber Ihre Zahl und ich
bemerke mit Vergnuͤgen, aber nicht ohne Gefuͤhl
meiner unzulaͤnglichen Kraͤfte und Huͤlfsmittel, die
Theilnahme und Aufmerkſamkeit, womit Sie der
Eroͤffnung dieſer in mehr als einer Hinſicht be¬
denklichen Vortraͤge entgegenſehen. Es iſt zwar
das, was die Seele, das Prinzip der Aeſthetik
ausmacht, naͤmlich das Schoͤne, die Form, die
Geſtalt ſchon im Alterthum von den tiefſinnigſten
Weiſen behandelt worden; allein wie abſtechend
von dieſer Behandlung iſt die heutige Form einer
akademiſchen Disziplin, in welcher die Aeſthetik
ſeit Baumgartens Zeit in Deutſchland aufgetreten
iſt. Selbſt der Name ruͤhrt aus dieſer Zeit her,
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 1
er iſt von Baumgartens Erfindung und war den
alten Griechen und Roͤmern in dieſem Sinne voͤl¬
lig unbekannt.
Aesthetica betitelt Baumgarten die beiden
Volumina, welche im Jahr 1750 und 1758 ans
Licht traten. Den Barbarismus des Wortes will
ich nicht tadeln, nur den Barbarismus, der darin
lag, ein ſolches Werk in lateiniſcher Sprache zu
ſchreiben. Barbariſch — pedantiſch war der Ur¬
ſprung der Aeſthetik oder der vagen Wiſſenſchaft,
welche man mit dieſem Namen bald allgemeiner
zu bezeichnen anfing. Riedel und Sulzer machten
daraus eine Theorie der ſchoͤnen Kuͤnſte und Letz¬
terer ſchrieb ſogar eine ſolche „allgemeine Theorie
der ſchoͤnen Kuͤnſte“ nach alphabetiſcher Ord¬
nung, zwei Quartbaͤnde unfruchtbarer Theorien,
die weder dem Philoſophen noch dem Kuͤnſtler
foͤrderlich ſein konnten. In ein hoͤheres Gebiet
wurde die Aeſthetik aufgenommen, als Kant ſei¬
nen eminenten Scharfſinn auch nach dieſer Seite
wandte und in „der Kritik der Urtheilskraft“ eine
von ſeinem Standpunkt und ſeinen Prinzipien
ausgehende Kritik des Geſchmacks aufſtellte. Nach
ihm wurde die Aeſthetik von mehreren Profeſſoren
der Philoſophie bearbeitet, am Vollſtaͤndigſten von
Fr. Bouterwek, deſſen Werk (in zwei Baͤnden)
das bekannteſte iſt und drei Auflagen erlebt hat.
Grundzuͤge aͤſthetiſcher Vorleſungen ſchrieb 1808
Heinrich Luden, die auf ſeine bekannte Weiſe geiſt¬
reich und gediegen ſind. Bluͤhender und an wah¬
rem aͤſthetiſchen Gehalt reicher iſt die Vorſchule
der Aeſthetik von Jean Paul, die 1813 eine neue
Auflage erlebte.
Ich werde mein Urtheil uͤber dieſe akademi¬
ſchen Schriften (die Jean Pauliſche gehoͤrt nicht
in ihren Kreis) zuſammenfaſſen und nur vorher
bemerken, daß die Aeſthetik nicht immer mit den
Anſpruͤchen auf wiſſenſchaftliche Form und Voll¬
ſtaͤndigkeit in Deutſchland aufgetreten, ſondern daß
es ſehr intereſſante aͤſthetiſche Abhandlungen gibt,
die ſich ungebundener und freier auslaſſen. Dazu
gehoͤren die aͤſthetiſchen Abhandlungen von Schil¬
ler, die ich als bekannt vorausſetze, z. B. ſein
Aufſatz uͤber die aͤſthetiſche Erziehung des Men¬
ſchen, uͤber die nothwendigen Grenzen beim Ge¬
brauch ſchoͤner Formen (!), uͤber naive und ſenti¬
mentale Dichtung, uͤber das Erhabene, ſeine Ge¬
danken uͤber den Gebrauch des Gemeinen und
Niedrigen in der Kunſt u. ſ. w. Auch laſſen
ſich viele Aufſaͤtze von Goethe in den Propylaͤen
und in Kunſt und Alterthum als ſehr bedeutende
Beitraͤge zu der Aeſthetik des Goethiſchen Jahr¬
hunderts betrachten. Was Schiller betrifft, ſo
behandelte er die Theorie des Schoͤnen mehr in
1*
Beziehung auf dichteriſche Form und geſelliges
Leben, dagegen Goethe mehr die bildenden Kuͤnſte,
insbeſondere die Antike ins Auge faßte. Bilden¬
der fuͤr den Geſchmack ſind bei weitem die Be¬
merkungen von Goethe, in ſofern ſie mehr aus
dem einheitlichen Quell des Goethiſchen Lebens her¬
vordringen und die ungetruͤbteſten Anſchauungen
der Welt und ihrer Schoͤnheiten in Natur, Kunſt
und Leben enthalten, wie die ſaͤmmtlichen Goethi¬
ſchen Werke, ſeien ſie Gedichte oder Proſa. Waͤh¬
rend Goethe's geiſtige Magnetnadel ſich unverwandt
gegen den ſchoͤnen Kunſtpol neigte, bewegt ſich
Schiller's ringende Natur nach den entgegengeſetz¬
teſten Richtungen und ſtrebt vergebens nach dem
Schwerpunkt, der ſeiner geiſtigen Natur angemeſ¬
ſen war. Reinhold hatte ihn in Jena in die Kan¬
tiſche Philoſophie eingefuͤhrt, als Schiller auf dor¬
tiger Akademie hiſtoriſche Vorleſungen hielt. Nun
gerieth er zwiſchen zwei Feuer, das griechiſche
der Kunſt und Poeſie, das in Weimar gluͤhte,
und das nordiſche der Philoſophie, welches zu
jener Zeit mit kritiſch verzehrendem Feuer, von
der Oſtſee, aus Koͤnigsberg ausgebrochen war. Es
iſt gewiß, daß ſeine ſchoͤnere Natur zuletzt den
Sieg davontrug, was beſonders ſeit der Zeit
merklich wird, als die Vorurtheile zwiſchen ihm
und Goethe hinweggefallen waren und beide große
Naturen durch gegenſeitigen Umtauſch ihrer Ge¬
danken und perſoͤnlichen Umgang in Weimar wett¬
eifernd ihrer Ausbildung entgegenſchritten. Allein
ſeine erwaͤhnten aͤſthetiſchen Anſichten tragen noch
deutlich die Spuren geiſtiger Entzweiung, die aus
dem Studium der Kantiſchen Philoſophie fuͤr ihn
reſultirte. Er iſt ſich ſelbſt nicht klar und laͤßt
daher auch einen ſehr unklaren Eindruck auf den
Leſer zuruͤck. Die Bewunderung fuͤr Kant's dik¬
tatoriſches und von der moraliſchen Seite ſo er¬
habenes Genie, die ihm Reinhold's Vortraͤge und
Studium der Kantiſchen Kritiken eingefloͤßt hatte,
verleitete ihn zur Annahme Kantiſcher Prinzipien,
die, wie man ſie ſonſt auch verſteht, auslegt, bil¬
ligt oder verwirft, von Niemand ſo leicht als
kunſtfoͤrderlich oder auch nur vertraͤglich mit den
Forderungen des aͤſthetiſchen Sinnes betrachtet wer¬
den moͤgen. Es gibt vielleicht keinen konſequenten
Kantianer gegenwaͤrtig auf der Welt, damals aber
war alle Welt Kantiſch, es ging eine Seuche durch
Deutſchland, ſich Kantiſch auszudruͤcken und bei
Dietrich in Goͤttingen erſchien im Jahr 1801 ſo¬
gar eine Kantiſche Poſtlehre mit dem Titel: „Vor¬
laͤufige Darſtellung der Begruͤndung einer allge¬
meinen Poſtanſtalt.“
Daher findet man denn auch die meiſten
Handbuͤcher der Aeſthetik, die aus jener Zeit ſtam¬
men, mehr oder weniger in die abſtrakten For¬
meln der Kantiſchen Philoſophie gebannt, z. B.
die von Ben David und von Krug, welcher ſchon
als ſolcher und inmitten ſeiner Philoſophie, der
leibhaftige Tod fuͤr die Aeſthetik iſt.
An ſich, meine Herren, gehoͤrt das Element
der Aeſthetik, das Schoͤne, ohne Zweifel in den
Kreis der erhabenſten Philoſophie. Die Wirkun¬
gen der Schoͤnheit, die Schoͤnheit ſelber iſt uns
ein Geheimniß, ein Raͤthſel, zu deſſen Aufloͤſung
wir den Schluͤſſel bei einer Wiſſenſchaft ſuchen,
von der, wie Sie wiſſen, wenigſtens die Rede
geht, daß ſie den großen goldenen Schluͤſſel zu
allen Geheimniſſen der Welt, wenn auch nicht be¬
ſitzt, doch wenigſtens zu ſchmieden befliſſen ſei.
Dennoch, meine Herren, und wenn der Schluͤſ¬
ſel auch gefunden waͤre, iſt aufſchließen und ſchauen,
offenbar zweierlei. Nehmen wir z. B. an, daß der ver¬
ſtorbene Hegel, unter deſſen Schriften man ebenfalls
eine Aeſthetik findet, die im geſchloſſenen Ringe ſeiner
Philoſophie ihren beſtimmten Platz und Namen hat,
daß Hegel den Grund und das Weſen aller Dinge
nicht allein tiefer erforſcht haͤtte, als alle ſeine
Vorgaͤnger, ſondern auch wirklich und wahrhaftig
in dieſem Grunde angelangt waͤre und von da
aus im Staͤnde waͤre, die ganze Welt dem lieben
Gott nachzukonſtruiren und zu beweiſen, warum
Alles ſo waͤre und nicht anders ſein koͤnnte, als
es iſt, koͤnnte er mehr thun, als uns das Warum
der Schoͤnheit in abſtrakter Formel auszuſprechen,
koͤnnte er uns mit ſchoͤpferiſcher Kraft eine Ah¬
nung der Schoͤnheit ſelbſt ins Herz floͤßen? Muß
nicht das Schoͤne auch wieder durch das Schoͤne
bezeichnet werden, um ſich als ſchoͤn fuͤhlen zu
laſſen, kann man durch undichteriſche Schoͤnheits¬
lehren uͤber die Schoͤnheit belehren, hebt nicht
eine abſtrakte Definizion die Schoͤnheit, die ſie
definiren will, und daher ſich ſelber auf, kann
man die geiſtigſte Bluͤthe alles Erſchaffenen, ſei
es dem unmittelbaren Quell der Natur oder den Haͤn¬
den der Kunſt entſprungen, unter das anatomiſche
Sezirmeſſer bringen und iſt das, was unter ſolchen
Haͤnden ſeufzſt, todt oder lebendig zu nennen?
Nicht jede Philoſophie alſo hat, als ſolche,
die Kraft und die Eigenſchaft, das Prinzip der
Schoͤnheit wuͤrdig darzuſtellen und noch weniger
laͤßt ſich erwarten von den Schriften der gelehr¬
ten Pedanterie, wie ein ſolches muſterhaftes Bei¬
ſpiel oder Gegenſpiel der Aeſthetik in Baumgar¬
ten's lateiniſchen Werken vorliegt, der die auslaͤn¬
diſche Form natuͤrlich noch zum geringſten Vor¬
wurfe dient. Schon der Name Aeſthetik iſt ſo
unpaſſend als moͤglich, dieſer Name, der das ver¬
diente Schickſal gehabt hat, anfangs nur unter
lateiniſch-deutſchen Gelehrten, unter akademiſchen
Kathedriſten bekannt zu ſein, bei ſeinem Eintritt
ins große Publikum aber, ſo wie in gegenwaͤrti¬
ger Zeit, von den Gelehrten faſt verachtet, von
ſuͤßlichen Schoͤngeiſtern erniedrigt und in der Mei¬
ſten Munde beſpoͤttelt zu werden. Es waͤre in
der That ſehr zu wuͤnſchen, daß der Name und
die ganze Behandlung deſſen, was man unter die¬
ſem Namen zuſammenfaßte, in Deutſchland gar
nicht aufgekommen waͤre. Das Gefuͤhl des Schoͤ¬
nen iſt unter den Deutſchen keineswegs ſo verbrei¬
tet, befeſtigt und veredelt, daß es geſchuͤtzt und
ſicher genug waͤre vor den erkaͤltenden Einfluͤſſen,
womit daſſelbe auf der einen Seite von dem hoͤl¬
zernen Scepter der Schulgelehrſamkeit, auf der
andern von dem leichtfertigen Geckenthum des
Gallizismus bedroht wird. Die Aeſthetik iſt als
Wiſſenſchaft, fuͤr Deutſchland viel zu fruͤh gekom¬
men. Das Gefuͤhl des Schoͤnen muß ſich vor
Allem erſt durch das Leben befruchten und bilden,
wenn es in Buͤchern und Hoͤrſaͤlen wuͤrdig darge¬
ſtellt und ein wahrhaft integranter Theil der Phi¬
loſophie werden ſoll. Das Schoͤne ſelbſt aber
ſchwebt nicht in der Luft, eben ſo wenig, wie die
Bluͤthe und das Roſenblalt, es muß befeſtigt ſein
an einem Stamme, es muß Charakter haben und
nichts fehlte zur Zeit, als Baumgarten ſeine Aeſthe¬
tik ſchrieb, der deutſchen Nation mehr als dieſe.
Nationalgefuͤhl, muß dem Gefuͤhl fuͤrs Schoͤne,
politiſche Bildung der aͤſthetiſchen vorausgehen.
Ohne Kraft gibt es keine Gewandheit, ohne Cha¬
rakter keinen Ausdruck, ohne Ausdruck keine Schoͤn¬
heit, weder im Stil des Bildhauers, noch im
Stil des Schriftſtellers. Begluͤckter war das grie¬
chiſche Volk, als wir. Es beſaß freilich keine
Aeſthetik, aber dafuͤr platoniſche Dialogen, worun¬
ter wahre Opfer an die Goͤttin der Schoͤnheit,
behandelten ſie auch nicht, wie ſie thun, das κα¬
λον κἀγαϑον als ihren Hauptgegenſtand und iden¬
tifizirte ihr Urheber auch nicht, wie er thut, das
Schoͤne mit dem ewig Einen, mit Gott ſelber.
Unſere neuere Aeſthetik beſchraͤnkt ſich daher auch,
aus Mangel an Lebensfuͤlle, gaͤnzlich auf das
Schoͤne oder die Schoͤnheiten in Poeſie und Kunſt
und ſind, wie auch viele den Namen fuͤhren,
bloße Theorien der ſogenannten ſchoͤnen Kuͤnſte
und Wiſſenſchaften, die zu Anfang einige vorlaͤu¬
fige Definizionen vom Schoͤnen, Erhabenen, An¬
muthigen, Witzigen u. ſ. w. aufſtellen und dann
allerlei und mancherlei aus der Geſchichte und
Technik der ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften fol¬
gen laſſen. Es gibt nur eine einzige Schrift uͤber
gewoͤhnliche Aeſthetik, die genial und aͤſthetiſch iſt,
die Jean Pauliſche, wie nur ein einziges Werk,
das die Aeſthetik im hoͤhern, im griechiſch-plato¬
niſchen Sinne auffaßt, der Erwin von Solger.
Allein ſchon aus der allgemeinen Unkunde dieſes
Werks, muß ſich zweierlei klar machen, daß es
entweder nicht in zeitgemaͤßer Form geſchrieben,
oder daß ſein Inhalt nicht zeitanſprechend ſei.
Beides iſt mir ausgemacht. Die Form iſt dialo¬
giſch und der Inhalt eine Vergoͤtterung des Schoͤ¬
nen mit einem Anſchein des Enthuſiasmus, der
dem Platoniſchen nicht allein nahe kommt, ſondern
ihn noch zu uͤbertreffen ſcheint, der aber lange
nicht die Waͤrme und Kunſtloſigkeit hat, als der
des griechiſchen Meiſters. Um ſich davon einen
Begriff zu machen, vergleiche man die ſo wahre
als genievolle Schilderung, die Jean Paul von
den Griechen gibt, mit dem Leben, das wir Deut¬
ſche in Deutſchland fuͤhren, ſo wird man einſehen,
daß die Begeiſterung eines platoniſchen Dialogs,
wie des Sympoſions, eine natuͤrliche, Solger's
aber eine gemachte war, wie mehr und weniger
jede Begeiſterung, die iſolirt ſteht und ihre Quelle
nicht aus der Zeit nimmt.
Zweite Vorleſung.
Meine Herren. Ich bitte Sie, ſich aus der er¬
ſten Vorleſung den Satz ins Gedaͤchtniß zuruͤckzu¬
rufen, daß der Gegenſtand der Aeſthetik, die
Schoͤnheit und deren Erſcheinung in den Gebie¬
ten des Lebens und der Kunſt, weder von abſtrak¬
ter Philoſophie, noch von geiſt- und ahnungsloſer
Gelehrſamkeit aufgewieſen und dargeſtellt werden
koͤnne; daß aber die deutſche Aeſthetik, als akade¬
miſche Wiſſenſchaft, mit wenigen Ausnahmen eben
das Schickſal gehabt habe, von ſolchen Maͤnnern
geſchrieben und gelehrt worden zu ſein, denen der
rechte Naturſinn und die Bildung fuͤr die Schoͤn¬
heit bald voͤllig abging, bald nur in ſehr geringem
Grade beiwohnte. Einſeitigkeit in jeder Art iſt
keiner Wiſſenſchaft nachtheiliger, als der Lehre
vom Schoͤnen, ja es ſteht eben die Einſeitigkeit
im graden Widerſpruch mit der Schoͤnheit, welche
die freie Entfaltung liebt und nur im Elemente
der Freiheit ſowohl gedeihen, als verſtanden wer¬
den kann. Wenn in der Philoſophie, in der
Wiſſenſchaft eine große einſeitige Schaͤrfe des Ver¬
ſtandes, der Abſtraktion, wenn in Sachen der Ge¬
lehrſamkeit eine gewiſſe einſeitige Staͤrke des Ge¬
daͤchtniſſes, bedeutenden Leiſtungen nicht nur nicht
hinderlich, ſondern foͤrderlich ſcheint — eine Be¬
merkung, die ſich Ihnen bei der Geſchichte der
Philoſophie und der Gelehrſamkeit aufdringen
wird — ſo iſt dies der umgekehrte Fall bei den
Lehren des Geſchmacks, welche bei einſeitigen Rich¬
tungen der darſtellenden Individuen und ganzer
Zeitalter um deſto geſchmackloſer und den Sinn
fuͤr das Schoͤne um deſto weniger erregend und
bildend ſind, je naturwidriger und unharmoniſcher,
das heißt, je einſeitiger die Bildung ihrer Urheber
war. Ich moͤchte noch immer, nach Allem, was
bisher in Deutſchland Aeſthetiſches und uͤber Aeſt¬
hetik geſchrieben worden, ſo viele Goldkoͤrner Leſ¬
ſing, Herder, Jean Paul, Schiller, ſelbſt Bou¬
terwek auf dieſen duͤrren Boden hingeſtreut haben,
ich moͤchte noch immer dem Juͤnger des Schoͤnen
und dem Freund ſeiner eigenen harmoniſchen Aus¬
bildung den Rath geben, ſich ſeinem eigenen Ge¬
nius zu uͤberlaſſen und ſtatt ſich durch mehr oder
minder willkuͤhrliche Raͤſonnements uͤber die Schoͤn¬
heiten in Kunſt und Poeſie verwirren zu laſſen,
ſich nur an die meiſterhaften Kunſtprodukte der
alten und neuen Zeit ſelbſt zu halten und bei ihrer
Leſung, ihrem Anſchauen ſich von den unausbleib¬
lichen Wirkungen der geiſtigen Kraft der Schoͤnheit
lebendig zu erfuͤllen, wozu dem Deutſchen insbe¬
ſondere Goethe's Werke als muſterhaft vorſchweben.
Doch vielleicht, meine Herren, kommt den
Deutſchen, als Nation, die Schoͤnheitslehre und
der Schoͤnheitsſinn viel zu fruͤh, und dies war
der zweite Hauptſatz der erſten Vorleſung, in der
ich dieſe Behauptung aufzuſtellen gewagt habe.
Die Schoͤnheit, ſagte ich, beruht auf Kraft und
Charakter, ſie beruht auf leiblicher und geiſtiger
Geſundheit, auf Lebensfriſche, auf Behaglichkeit,
auf Freiheit und Harmonie; denn unter dieſen
Grundbedingungen kann jedes Volk des Erdbodens,
nicht allein das griechiſche unter ſeinem ewigblauen
Himmel und mit ſeiner offenen, ſonnigheitern
Sinnlichkeit, ſondern auch der Deutſche, der
Nordmann unter rauherem Himmel, den Sinn
fuͤr Schoͤnheit unter ſich ausbilden und aller Seg¬
nungen deſſelben und des doppelten und dreifachen
Lebensgenuſſes, der aus dieſem Sinn entſpringt,
theilhaftig werden. Aber faſt mehr noch als der
Grieche, der Sohn des Suͤdens, hat der Deut¬
ſche, der Nordmann auf die Ausbildung ſeines
Charakters hinzuarbeiten; unſer Geiſt iſt von Na¬
tur formloſer, als der griechiſche; zwiſchen unthaͤ¬
tiger Ruhe und traͤger Beharrung und momenta¬
ner heftiger Aufregung und aufblitzenden Leiden¬
ſchaften ſchwanken die Beſſeren und die Beſten
unter uns hin und her; die geiſtigſten Aeußerun¬
gen und die tiefſten Gemeinheiten vereinigen ſich
oft in einer und derſelben Perſon. An Leuten,
die vor Gelehrſamkeit ſtrotzen und halb daruͤber
platzen, wie an Leuten, die vor lauter Scharfſinn
und Spitzfindigkeit beſtaͤndig auf Nadeln gehen,
an uͤberſchwaͤnglichen Poeten, an wahnſinnigen
Muſicis, an eingehimmelten, augenverdrehenden
Froͤmmlern, an Charakteren dieſer Art, fehlt es
allerdings nicht in Deutſchland, allein ihre Fuͤlle
und Anzahl beſtaͤtigt eben meine Behauptung, daß
man zu wenig Charakter und Ausbildung deſſelben
unter uns antreffe. Es ſind dieſe und aͤhnliche
bizarre Originale (die noch dazu oft nur ſchlechte
Kopien), lebendige Muſter der charakterloſen Ein¬
ſeitigkeit einer zerſplitterten Zeit, die ſich zum wah¬
ren Charakter der Humanitaͤt in gar kein anderes
Verhaͤltniß ſtellen laſſen, als in das der Scheuch¬
bilder einer menſchlichen Geſtalt zur menſchlichen
Geſtalt ſelber. Daß ſolche und aͤhnliche Charak¬
tere oder Charakterverzerrungen unfaͤhig ſind, den
Stempel der Schoͤnheit aufzunehmen, bedarf wohl
keiner Erlaͤuterung. Eine zweite und noch zahl¬
reichere Gattung von Charakteren liefern uns die
Geſchaͤftsmaͤnner in allen Zweigen des Le¬
bens; die Amtleute, Juriſten, Advoka¬
ten, Sachwalter; dieſe Generalpaͤchter des
Geſetzes und der Gerechtigkeit, die noch in ſo
vielen Laͤndern die Barbarei eines unbekannten,
undeutſchen, unvolksthuͤmlichen und daher rechtlo¬
ſen Rechts taͤglich verewigen und die daher ſeit
alter Zeit eine pedantiſch gelehrte Kaſte bilden,
welche, wie alles Kaſtenweſen, der freien Bil¬
dung und ſchoͤnen Humanitaͤt ſchnurſtracks entge¬
genlaͤuft, — die Aerzte, welche ebenfalls ihre
Wiſſenſchaft und ihr ganzes Treiben vor den Au¬
gen der gebildeten Nation verbergen und ſich in
den Nimbus einer Kunſt huͤllen, die an unſern
eigenen Leibern experimentirt und taſtet — die
Schulmaͤnner, die ſich noch immer nicht ent¬
ſchließen koͤnnen, ihre Perruͤcke abzulegen und
deutſche Juͤnglinge ſtatt Latiniſten und Graͤziſiſten
fuͤrs Leben heranzubilden — die Theologen — kurz
alle Aemter, die als ſogenannte Brodſtudien auf
unſern Univerſitaͤten in eigenen abgeſchloſſenen Dis¬
ziplinen gelehrt werden, wie wenig entſprechen ſie
im Ganzen, Großen, wie im Einzelnen dem rei¬
nen Bilde der Humanitaͤt, und wie ſelten kann
man beim Anblick des Wirkens der in dieſen und
durch dieſe Disziplinen ausgebildeten Maͤnner
freudig ausrufen, hier iſt ein Charakter, der rein
und freudig im Geiſte ſeines Volks und im Hoͤ¬
heren der Menſchheit ruht, ein individueller Menſch,
der natuͤrlich und aus dem Grunde lebt, der die
Wiſſenſchaft, die Kunſt und Alles, was er treibt,
nicht auf angelernte Weiſe handwerksmaͤßig treibt,
ſondern mit innerem Drang, mit eigenem Den¬
ken und nach ſelbſtgemachten Erfahrungen, ein
Geiſt, deſſen charakteriſcher Zug es eben iſt, die
Bahn, die Art und Weiſe ſeiner Thaͤtigkeit ſich
weder von außen aufdringen zu laſſen, noch ſich
ſelber mit Willkuͤhr zu ſetzen, ſondern mit klarer
Beſonnenheit zu waͤhlen. An der Bildung eines
ſolchen Mannes, meine Herren, mag vielleicht die
letzte Feile fehlen, ſeiner geiſtigen Geſtaltung, ſei¬
ner leiblichen Erſcheinung noch Manches abgehen,
was der Grieche des Perikles, der auf jeden Zug,
auf jedes Wort, auf jede Bewegung achtete, Sorg¬
falt verwandte, was der ungern vermißt haͤtte, es
mag ihm noch nicht der rechte Sinn aufgegangen
ſein fuͤr die tiefe Bedeutſamkeit der aͤußeren ſchoͤ¬
nen Form, fuͤr die himmliſche Bluͤthe des Gei¬
ſtes, fuͤr den reinen Abdruck der innern Harmo¬
nie, es mag ihm Sinn und Gemuͤth noch nicht
gehoͤrig aufgeſchloſſen ſein fuͤr die Freuden der
Kunſt, fuͤr den Genuß der Poeſie, er mag den
Apoll von Belvedere noch nicht bewundern, ſich
fuͤr die Goethiſche Iphigenie noch nicht begeiſtern,
ſich vom Zauber einer ſchoͤnen Gegend, einer Mo¬
zartſchen Muſik nicht hinreißen laſſen, ſich uͤber¬
haupt noch nicht uͤber den bloßen baaren Ernſt
des Lebens in die freiere Region erhoben haben,
wo der Ernſt ein Spiel und das Spiel ein Ernſt
iſt, ich meine die Region der Kunſt, der aͤſtheti¬
ſchen Anſchauungen des Lebens — aber er iſt vor¬
bereitet, er iſt des Beſten wuͤrdig, was Gott fuͤr
uns beſtimmt hat, des Genuſſes, den nur derje¬
nige ahnt, dem er dafuͤr Empfaͤnglichkeit gegeben,
und dem Welt, Erziehung und Geſellſchaft deſſen
nicht beraubt haben.
Allein, ſo lange noch das Leben ſelbſt, das
uns von der Wiege auf umfaͤngt, ſo lange noch
die Schule, die Univerſitaͤt, dieſe Bildungsmittel
unſeres Geiſtes, ſpaͤter der Staat und das, was
jetzt unter dem Namen der guten Societé und im
weitern Umfang, der buͤrgerlichen Geſellſchaft be¬
ſteht, ſo lange dies Alles der eigenthuͤmlichen Bil¬
dung und Entwicklung unſers Charakters mit Haͤn¬
den und Fuͤßen entgegenarbeitet, werden ſolche
Maͤnner immer nur zu den ſeltenen Erſcheinungen
gehoͤren und ſomit auch die Ausbildung des Schoͤn¬
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 2
heitſinnes, nach meiner innigſten Ueberzeugung,
eine vergebliche, ja in vielen Faͤllen ſchaͤdliche ſein,
eine Erfahrung, die wir ſowohl an jenen geſchmack¬
vollen Kunſtkennern machen, welche in unmaͤnnli¬
cher Sorgloſigkeit und Unbekuͤmmertheit die Wiſ¬
ſenſchaft ums Vaterland und die großen Intereſſen
der Zeit, in italieniſchen und antiken Kunſtgenuͤſ¬
ſen ſchwelgen, oder, wenn ſie es nicht zur Kunſt¬
kennerſchaft bringen, fade Schoͤngeiſter werden, die
ſich bei den Gebildeten, und die Aeſthetik mit
ihrer Perſon beim großen Haufen laͤcherlich ma¬
chen. Vom Letzteren habe ich bisher noch gar
nicht einmal geſprochen, indem ich die Unfaͤhigkeit
unſerer Zeit zum Genuß und zur Wuͤrdigung des
Schoͤnen in dieſer Einleitung beruͤhrte. Wer hat
ihn, dieſen großen Haufen, beſſer geſchildert als
Kant in ſeinem Werke uͤber das Gefuͤhl des Schoͤ¬
nen und Erhabenen, wenn er ſpottend ſagt: wohl¬
beleibte Perſonen, deren Autor der Koch iſt und
deren Werke von feinem Geſchmack im Keller lie¬
gen, werden bei gemeinen Zoten und einem plum¬
pen Scherz in eben ſo lebhafte Freude gerathen,
als diejenige iſt, worauf Perſonen von edler Em¬
pfindung ſo ſtolz ſind. Ein bequemer Mann, der die
Lektuͤre der Buͤcher liebt, weil es ſich ſo wohl dabei
einſchlafen laͤßt; der Kaufmann, dem alles Vergnuͤ¬
gen laͤppiſch erſcheint, dasjenige ausgenommen, das
ein kluger Mann genießt, wenn er ſeinen Hand¬
lungsvortheil uͤberſchlaͤgt; der Liebhaber der Jagd,
er mag nun Fliegen jagen, wie Domitian, oder
wilde Thiere, Alle dieſe haben ein Gefuͤhl, wel¬
ches ſie faͤhig macht, Vergnuͤgen nach ihrer Art
zu genießen, ohne daß ſie andere beneiden duͤrfen,
oder auch von andern ſich einen Begriff machen
koͤnnen — allein, ich wende fuͤr jetzt keine Auf¬
merkſamkeit darauf. Es gibt noch ein Gefuͤhl von
feinerer Art, und ſo fort, unter dieſem Gefuͤhl
verſtand Kant das Gefuͤhl fuͤr das Schoͤne und
Erhabene, das in ihm ſelbſt, wenn auch mit Ue¬
bergewicht fuͤr das geiſtig und moraliſch Erhabene
lebendiger war, als in den meiſten ſeiner ſpaͤteren
Juͤnger, Fichte und Schelling ausgenommen.
Ueberhaupt bin ich weit entfernt, wenn ich
den Deutſchen der naͤchſtvergangenen und heutigen
Welt das rechte Lebenselement und daher den rech¬
ten Sinn der Schoͤnheit abſpreche, in dieſer Be¬
hauptung den Einfluͤſterungen gewiſſer Schriftſtel¬
ler Raum zu geben, die allzu leichtfertig uͤber un¬
ſere Nation den Stab brechen. Vor dieſer Ge¬
ſinnung ſchuͤtze uns nicht eben die Stumpfheit, die
man uns uͤberm Rheine vorwirft und die Gleich¬
guͤltigkeit gegen das Urtheil der Welt — denn
man kann wohl ſagen, daß die ganze Welt uͤber
uns richtet, und daß wir nicht allein dem raſchen
2 *
Franzoſen, ſondern auch dem bedaͤchtigen Englaͤn¬
der, ja ſelbſt dem knechtiſch-feigen Italiener ein
willkommner ſatyriſcher Stoff ſind — ſondern der
Glaube an unſere Nation, das Vertrauen auf die
Zeit, die Roſen und Ketten bricht, die Kenntniß
unſerer Geſchichte, die uns einen Spiegel vorhaͤlt,
worin wir eine beſſere und glaͤnzendere Vorzeit be¬
ſchauen.
Ja, ich bin im Gegentheil ſo weit entfernt
von Kleinmuth, daß ich der Ueberzeugung lebe,
keine einzige von den großen europaͤiſchen Natio¬
nen ſei von der Natur beſſer bedacht, als eben
die unſrige. Das ſehen wir am Mittelalter, an
demſelben Mittelalter, das, als es veraltet war,
Luthers Hand, und der dreißigjaͤhrige Krieg, und
der ſiebenjaͤhrige, und die Revolution und Napo¬
leon und die Befreiungskriege, Alles, was auf
Deutſchland losgeſtuͤrmt hat, nicht ſo weit hat zer¬
ſtoͤren und abbrechen koͤnnen, daß nicht noch ge¬
genwaͤrtig die alten zerbroͤckelten Saͤulen und Bo¬
gengaͤnge in Schulen und auf Univerſitaͤten, in
Kirche und Staat vor unſern Augen daſtaͤnden,
und uns an eine Zeit ermahnten, deren geiſtiges
Prinzip laͤngſt untergegangen iſt, deren leiblicher
Schutt aber noch immer unausgekehrt, Leben und
Wachsthum hemmend in der Gegenwart liegt.
So großartig baute jenes granitne Mittelalter,
ſolche Maſſen thuͤrmte es in die Luft, mit ſo fe¬
ſtem Kitt band es die Formen ſeines Lebens an
einander feſt und ſo lange Zeit muß es dauern,
daß nach ſeinem Fall eine neue Generation ſich
wieder erheben und auf eigenem Grund und Bo¬
den fuͤr ſich daſtehen kann. Unzweifelhaft leiden
wir Deutſchen blos am Mittelalter — daher un¬
ſere Pfaffen, daher unſere Hoͤfe, daher unſere
Ritter, daher unſere lateiniſchen Juriſten, medici‚
theologi, Promotionen und Diſſertationen und das
ganze Spießbuͤrgerthum unſerer politiſchen und ge¬
lehrten Welt, woruͤber unſere Nachbarn und wir
ſelbſt im guten Humor uns ſo oft luſtig machen.
Allein, beweiſt nicht eben dieſe Zaͤhigkeit und Un¬
zerſtoͤrbarkeit der mittelaltrigen Formen, die ein
ganz anderer Geiſt beſeelte, fuͤr die ungeheure auf¬
bauende Kraft jener Zeiten?
Das iſt aber klar, ſagt Moriz Arndt, daß,
wenn man dieſe Zeit aus ihren Werken und Schoͤ¬
pfungen erklaͤren und erkennen will, man bei ih¬
nen nicht ſtehen bleiben darf. Ein tapferer und
hoͤherer Lebensgrund, in der fruͤhſten Zeit gewor¬
fen, eine uralte, geiſtreiche und ſeelenvolle Reli¬
gion, die aus Aſien in die Waͤlder Germaniens
eingewandert war, die innigſte und tiefſte Welt¬
anſchauung und Weltdurchdringung, die ſich in
tauſend Zeichen und Bildern in der fruͤheſten
Sprache wiederſpiegelt, einer Sprache, welche die
Geiſter des Lichts erfunden haben — alles dieſes
muß man glauben, wenn man begreifen will,
wie ein Volk, das ſie im neunten Jahrhundert
noch Barbaren nannten, im zwoͤlften und drei¬
zehnten Jahrhundert ſchon ſo herrlich ſchaffen und
bilden konnte. Woher iſt alles das Namenloſe
und Unendliche, was jene fruͤhſte Zeit geboren
hat? Aus welcher Bruſt klang zuerſt das Nibe¬
lungenlied und ſo viele ſuͤße Volksgeſaͤnge? Wer
hat die Dome in Mailand, Ulm, Koͤln, Wien,
Straßburg und Piſa gebaut? Woher entſpran¬
gen die unendlichen Bilder, gleichſam aller Welt¬
kraͤfte Spiegel, die in tauſend Geſtalten uns wie
Traͤume und Daͤmmerungen aus einer lange ver¬
gangenen oder wie Andeutungen und Weiſſagun¬
gen einer zukuͤnftigen Zeit zu umflattern ſcheinen?
Wahrlich, dieſe Werke und Bilder ſind Beides,
denn dieſe freudigen Menſchen lebten mitten in
Gott und er ſelbſt ſchuf aus ihnen.
In der That, wenn es nach des ſchoͤnen
Griechenlands Entartung eine Epoche in der Welt¬
geſchichte gab, welche ſich durch ihr reges Walten
und Wirken und durch ihren Sinn fuͤr Kunſt und
Schoͤnheit die Auszeichnung erwarb, nicht mit
Griechenland verglichen, ſondern Griechenland an
die Seite geſtellt zu werden, ſo iſt dieſes die Epoche
des deutſchen Mittelalters.
Von ſonſtiger Vergleichung zwiſchen beiden
kann allerdings nicht die Rede ſein, jede iſt zu
eigenthuͤmlich ausgepraͤgt und kann daher nur aus
ſich ſelbſt begriffen und mit ſich ſelbſt verglichen
werden. Man hat die Kunſt und Poeſie des
Mittelalters mit dem Namen der romantiſchen, die
Kunſt und Poeſie der Alten mit dem Namen der klaſ¬
ſiſchen getauft, welcher Name und Gegenſatz von
einer deutſchen Dichterſchule, Tieck und den bei¬
den Schlegeln, die man ſelbſt zur neuromantiſchen
Klaſſe zaͤhlte, ausging, in Deutſchland viel Streit
und Gerede machte und ſeit einem Dezennium
auch in Frankreich und Italien die groͤßten Spal¬
tungen erregte, indem die jungen franzoͤſiſchen und
italieniſchen Dichter ſich zu den deutſchen Roman¬
tikern ſchlugen, und im Gegenſatze zu den Nach¬
ahmern des altklaſſiſchen Stils ſich mehr der brit¬
tiſchen und deutſchen Phantaſiefuͤlle und Regello¬
ſigkeit hingaben, worin ſie hauptſaͤchlich das We¬
ſen der Romantik erblickten. Ueberhaupt hat man
viel Mißbrauch mit beiderlei Namen getrieben, und
man iſt ſich noch jetzt, weder in Deutſchland,
noch bei unſern Nachbarn ſelten klar, worin denn
eigentlich das unterſchiedliche Weſen der einen und
der andern Art beſtehe. Vielleicht druͤckt man ſich
daruͤber am Richtigſten aus, wenn man ſagt, die
Kunſt der Alten, das iſt, die Klaſſik, habe darin
beſtanden, daß ſie jede Idee, die ſie darſtellen
wollten, ſei's mit dem Meißel, am Stoff des
Marmors, ſei's mit dem Griffel, am Stoff der
Sprache, daß ſie jede darzuſtellende Idee, ſo voll¬
kommen an dieſem Stoffe ausdruͤckten, daß nichts
mehr und nichts weniger, als eben die Idee ſelbſt
ſinnlich vor Augen trat; dagegen die Kunſt der
Romantiker darin beſtand und beſteht, daß ſie die
Idee im ſinnlichen Stoff keineswegs vollkommen
erſchoͤpften, ſondern nur ſymboliſch an ihm dar¬
ſtellten, ſo daß man bei ihren Gebilden immer
etwas mehr hinzuzudenken habe, als man vor Au¬
gen ſaͤhe. Die Urſache war denn die, daß die
alten griechiſchen Kuͤnſtler, nach ihren Begriffen
von ſinnlicher Form und Schoͤnheit, alle diejeni¬
gen Ideen zur Darſtellung verſchmaͤhten und von
ſich wieſen, welche ſie nicht in feſte Form voll¬
kommen einfaſſen konnten, die Kuͤnſtler und Dich¬
ter des Mittelalters aber ſich kein Bedenken dar¬
aus machten, das Hoͤchſte und Tiefſte, was nur
die Menſchenbruſt faſſen, aber kaum ein ſterblicher
Mund ausſprechen konnte, ſymboliſch in Formen
und Geſtalten wenigſtens anzudeuten. Daß uns
eine ſolche Kunſt der Bedeutſamkeit, eine ſolche
Symbolik der Religion und der Liebe aus den
Denkmaͤlern des Mittelalters uͤberall anweht, uns
bald heimlich, bald großartig, bald abentheuerlich
ergreift und etwas Unendliches, Ahnungvolles,
Sehnſuͤchtiges in uns anregt, wird Jeder geſte¬
hen, dem das Mittelalter bekannter geworden iſt,
wie aus Buͤchern der neuern Zeit uͤber daſſelbe.
Sollte es nun dieſe romantiſche Art der
Schoͤnheit ſein, die uns als Muſter, als natio¬
nelles Element vorſchweben muß, wenn wir uns
aus dieſer Zeit nach einer ſchoͤneren umſehen?
Ehe ich mir dieſe Frage zu beantworten ge¬
traue, werfe ich einen kritiſchen Blick auf gewiſſe
Erſcheinungen des Mittelalters, die als die glaͤn¬
zendſten von den romantiſchen Dichtern geprieſen
worden ſind; bewaͤhren ſich dieſe als echt, als fuͤr
alle Zeiten echt, ſind ſie nicht allein dem Schooß
einer gewiſſen Bildungsſtufe, ſondern dem ewigen
Schooße der Natur ſelbſt entſprungen, ſo wuͤrden
ſie fuͤr die romantiſche Schoͤnheit, mit welcher ſie
in ſehr genauer Verbindung ſtehen, in unſern
Augen ein ſehr guͤnſtiges Vorurtheil erwecken. Ich
meine hier insbeſondere die Andacht, die Ritter¬
ehre und die Frauenliebe des Mittelalters, drei
2 * *
der ſchoͤnſten Strahlen aus dem Leben dieſer wun¬
derbaren Zeit.
War, frage ich mit Herder, war jene An¬
dacht des Mittelalters, ich ſpreche nur von der
reinen und uneigennuͤtzigen, von der hohen, myſti¬
ſchen Andacht und nicht von der pfaͤffiſchen mit
ihrem Klingklang und ihrer Selbſtſucht, jene An¬
dacht, welche die ungeheuren Dome baute, welche
ſich unermeßlichen und unennbarenunnennbaren Gefuͤhlen hin¬
gab, war ſie rein menſchlich, oder lag nicht etwas
Uebertriebenes, Ungeſtaltetes und Falſches darin?
Ich glaube, ja. Das Unermeßliche, ſagt Herder,
hat kein Maß, das Unendliche keinen Ausdruck.
Je laͤnger man an dieſen Tiefen ſchwindelt, deſto
mehr verwirret ſich die Zunge, Du ſagſt nichts,
wenn Du vorhatteſt, etwas Unausſprechliches zu
ſagen.
Und jene Frauenliebe, jene Galanterie der
Liebe, war ſie nicht ein falſcher Geſchmack, war
es die Sprache des Herzens, der rein menſchliche
Erguß des Gefuͤhls und natuͤrlicher Neigungen,
welche in dieſen Bildern, Schwuͤren, Worten,
Witzen und Wendungen der mittelaltrigen Ge¬
dichte (das Nibelungenlied iſt uͤberall auszunehmen)
ſpielt. — Ich denke ja, und daſſelbe denke ich
von der uͤbertriebenen Ritterwuͤrde. Alles Geklirr,
ſagt derſelbe Herder, alles Geklirr an Mann und
Roß kann uns, wo Verſtand, Zweck, Ebenmaß,
wo Humanitaͤt fehlt, kein Klang einer himmli¬
ſchen Muſe werden. — Daß die Raubritter des
ſpaͤtern Mittelalters zu dieſem Gemaͤlde nicht ein¬
mal geſeſſen haben, ſehen Sie von ſelbſt.
Dritte Vorleſung.
Indem ich dem deutſchen Leben von geſtern und
heute denjenigen Charakter abſprach, der uͤberhaupt
nur faͤhig waͤre, ſich zur Schoͤnheit zu ſteigern
und zu verklaͤren, wies ich zugleich die Beſchuldi¬
gung von mir, als ob ich unſerer Nation uͤberall
Charakterbefaͤhigung und daher Schoͤnheitsbefaͤhi¬
gung abzuſprechen gedaͤchte. Ich hielt Ihnen den
Spiegel des deutſchen Mittelalters vor, Sie ſahen
den nationalen Quell des deutſchen Lebens eroͤff¬
net, in jugendlicher Freiheit dahin ſtroͤmend, ge¬
waltige und zugleich ſchoͤne Unternehmungen, ſtarke
und zugleich kunſtreich gebildete Menſchen, Kuͤnſte
die der Reichthum ernaͤhrt, kunſtreiche Kirchen und
oͤffentliche Gebaͤude, Ernſt im Schaffen, Luſt im
Spiel, Kriegsuͤbungen, weibliche Ritter, tapfere
Buͤrger, welche das Schwert zu fuͤhren verſtan¬
den, keuſche Weiber, die in Anmuth, Zucht und
Unſchuld aufbluͤhten und daher nach Allem auch
eine Poeſie, welche der Wiederſchein dieſes Lebens
war und in der ſich alle Strahlen ſammelten, die
romantiſche Poeſie des Mittelalters.
Mußte nun dies Spiegelbild viel Anziehendes
fuͤr unſere Phantaſie haben, die in der Gegen¬
wart aus Mangel an Nahrung zu verſchmachten
droht, ja lag uns die Frage nahe, ob es nicht
eben dieſe romantiſche Schoͤnheit des Mittelalters
ſei, deſſen Wiederbelebung der Zeit und dem deut¬
ſchen Volke Noth thue, ſo ließen wir uns doch
nicht darauf ein, dieſe Frage eher zu beantworten,
als bis eine andere aufgeworfen und beantwortet
waͤre, naͤmlich die: traͤgt die romantiſche Schoͤn¬
heit des Mittelalters auch in der That den Stem¬
pel der ſchoͤnen Humanitaͤt an ſich, der uns als
Ideal vorſchwebt, war ſie lautre Natur, frei von
Kuͤnſtelei und Ueberſpannung, war ſie dem deut¬
ſchen Geiſte ſo eigenthuͤmlich, daß keine ſpaͤtere
Zeit ihre Kraft entfalten kann, ohne ſich in dieſe
Form zu ſchmiegen, muß die neue ſchoͤnere Zeit,
die heranzieht, die als Samenkorn in tauſend und
aber tauſend deutſchen Herzen verſchloſſen liegt, um
an irgend einem Fruͤhlingsmorgen neuerwacht ins
Leben zu bluͤhen, muß ſie haben Barone, Ritter,
Knechte, Dome, Pfaffen, galanten Frauendienſt,
Minnegeſang und alle jene Denk- und Lebensfor¬
men, wodurch ſich das Mittelalter auszeichnete.
Und da glaubten wir mit Nein antworten zu
muͤſſen, und ich denke, Alles was jung iſt in
Deutſchland, ſteht auf unſerer Seite und lebt der
frohen Hoffnung, daß auch ohne Verjuͤngung mit¬
telaltriger Formen eine Wiedergebaͤrung der Na¬
tion, eine poetiſche Umgeſtaltung des Lebens, eine
Ergießung des heiligen Geiſtes, eine freie, natuͤr¬
liche, zwangloſe Entfaltung alles Goͤttlichen und
Menſchlichen in uns moͤglich ſei.
Das Mittelalter hat ſich uͤberlebt, ſein Geiſt
iſt ein Schatten der Geſchichte, der auf verwit¬
terten Ruinen einherwandelt. Poeſie mag ihn
beſchwoͤren, mag ihn in romantiſchem Mondlicht
unſerm Auge voruͤberfuͤhren, der helle Tag ſieht
und kennt ihn nicht mehr. Schon zur Zeit der
Reformation gehoͤrte er zu den Abgeſchiedenen, die
Erfindung des Pulvers, der erſte Kanonenſchuß,
die Entdeckung der griechiſchen und lateiniſchen
Klaſſiker, die Entdeckung von Amerika hatten ihn
in Europa, und hauptſaͤchlich in Deutſchland all¬
maͤhlig geſchwaͤcht und vernichtet, als Luther auf¬
trat und durch den Erfolg ſeiner kuͤhnen Worte
und Unternehmungen darthat, daß ſeine aͤlteſte
Burg und ſein feſteſtes Prachtgebaͤude, die Kirche,
nur ſein eignes Mauſoleum ſei.
Meine Herren, man hat es unſerm Luther
verdacht und ich kann große Maͤnner dafuͤr an¬
fuͤhren, daß er beim Werk der Reformation ſo
wenig auf der einmal gegebenen hiſtoriſchen Baſis
fortbaute, daß er der Kirche, welche er ſtiftete, ſo
wenig aus der Nachlaſſenſchaft der alten zertruͤm¬
merten aneignete, daß er das ehrwuͤrdige Erbe der
Vaͤter zu unbedenklich Preis gegeben, die Tradi¬
tion verworfen, die Zeremonien und Aeußerlichkei¬
ten verachtet habe; allein dieſer Vorwurf beruht
auf Mißverſtaͤndniß ſowohl der Reformation, als
uͤberhaupt der geſchichtlichen Fortbildung der Menſch¬
heit, wie ſie uns eben in der Geſchichte ſelbſt zu
Tage liegt, wenn wir unſere Augen nicht durch
willkuͤhrliche Vorurtheile blenden. Die Reforma¬
toren waren begreiflicher Weiſe keine Anhaͤnger der
hiſtoriſchen Schule, welche gerade in unſerer Zeit
ſo viele Haͤupter und Verfechter findet und deren
Prinzip der allmaͤhligen, ſchrittweiſen Entwicklung
des Poſitiven, des Staats, des Rechts u. ſ. w.
zu kleinlichen und engherzigen Anſichten und Irr¬
thuͤmern Veranlaſſung gibt. Haͤtte Luther das
traditionelle Prinzip zugegeben, ſo haͤtte er es
nicht wagen duͤrfen, auch nur einen Stein an
Sankt Peter zu ruͤhren, dazu hatte das Gebaͤude
der alten Kirche viel zu viel Konſequenz, als daß
ein Einzelner haͤtte mit Einzelnem willkuͤhrlich
ſchalten und walten duͤrfen. Luther, der ſchwach
anfing, ward durch innere Nothwendigkeit auf ſei¬
nem Wege immer weiter fortgetrieben und ſah
ſich am Ziel ſeiner Laufbahn durch eine unuͤber¬
ſteigliche Kluft von der Kirche des Mittelalters
getrennt, nicht etwa, als haͤtte er ein poſitiv Le¬
bendiges dem poſitiv Todten gegenuͤber geſtellt —
denn was Luther aus der Bibel und der fruͤhſten
chriſtlichen Zeit dogmatiſch Poſitives zum Behuf
ſeiner Kirche aufzuſtellen ſich veranlaßt fand, war
in ihm ſelbſt allerdings mit gewaltſamen und gro߬
artigen Zuͤgen ausgepraͤgt, zeigte ſich aber bald
in verſteinertem Zuſtande der Orthodoxie und ohne
jugendliche Zeugungskraft — ſondern weil er ge¬
gen die Unvernunft und gegen die Hiſtorie prote¬
ſtirte und Papſt, Religion und Kirche ſeinen lu¬
theriſchen Kopf entgegenſetzte, der denn auch ſo
feſt, eiſern war, daß er unbeſchadet an ihrem
Fels anrennen konnte.
Dies Proteſtiren gegen die Hiſtorie, meine
Herren, das iſt die große Erbſchaft, die Luther
uns uͤbermacht hat und wollte Gott, ſeine Kraft
und ſein Geiſt ſenkte ſich auf uns nieder und wir
waͤren im Stande, das begonnene Werk der Re¬
formation nach allen Seiten hin wuͤrdig zu vollen¬
den. So wie aber die Reformation einſeitig ſte¬
hen geblieben iſt, ſo wie dieſelbe ſich in aller
Haſt vermaͤhlt hat mit der Einſeitigkeit des Ver¬
ſtandes, mit der Proſa des Lebens, haͤngt die
ſchoͤne Frucht leider ſaftlos und traurig am duͤrren
Aſt und ſehnt ſich abzufallen und einer neuen
Bluͤthe Platz zu machen. Wehmuth ergreift mich,
ſehe ich den Lorbeerbaum von tauſend Wucher¬
pflanzen umſchnuͤrt, ſeiner beſten Saͤfte und Kraͤfte
durch Schmarotzer beraubt, froͤſtelnd in kalter Luft,
abſterbend in fremdem Boden, ohne einen Fu߬
breit vaterlaͤndiſche Erde, im Treibhaus der Un¬
natur, ſtatt frei und offen dazuſtehen in Gottes
ſchoͤner Welt, ſeine Wurzel befruchtet durch die
uralten Quellen der Poeſie, ſeine Blaͤtter dem
Saͤuſeln der Liebe und dem Sturm der Leiden¬
ſchaften Preis gegeben, ſeine Krone dem Himmel,
dem Frieden, der Sehnſucht und den Segnungen
der himmliſchen Sonne, Religion.
Wie ſich aber unſer nationales Leben in Zu¬
kunft geſtalten und entfalten wird, ſo viel ſcheint
gewiß zu ſein, daß die Hoffnung der Zukunft
einerſeits beruhe auf der Jugend, andererſeits auf
der Wahl deſſelben Weges, auf dem Luther den
erſten Rieſenſchritt machte und auf dem ihm die
Pygmaͤen der Folgezeit in Stich gelaſſen haben.
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 3
Ich meine auf dem Wege des Proteſtirens, des
Proteſtirens gegen alle Unnatur und Willkuͤhr,
gegen den Druck des freien Menſchengeiſtes, gegen
todtes und hohles Formelweſen, Proteſtiren wider
die Ertoͤdtung des jugendlichen Geiſtes auf unſern
Schulen, wider das handwerksmaͤßige Treiben der
Wiſſenſchaften auf unſern Univerſitaͤten, Proteſti¬
ren wider den Beamtenſchlendrian im Leben, wi¬
der die Duldung des Schlechten, weil es her¬
koͤmmlich und hiſtoriſch begruͤndet, wider die Reſte
der Feudalitaͤt, wider die ganze feudal-hiſtoriſche
Schule, die uns bei lebendigem Leibe ans Kreuz
der Geſchichte nageln will, und vor allen Dingen
Proteſtiren gegen den Geiſt der Luͤge, der tauſend
Zungen ſpricht und ſich mit tauſend Redensarten
und Wendungen eingeſchlichen hat in alle unſere
menſchlichen und buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe.
Es iſt eben zu dieſer Zeit, wo der Geiſt
aus veralteten Formen gaͤnzlich herausgewichen iſt,
die Hiſtorie ſelber zur Luͤge geworden und die Be¬
hauptung, es muͤſſe ſich das Neue aus dem Al¬
ten, das todt und abgethan iſt, allmaͤhlig fortent¬
wickeln, iſt eben die abgeſchmackteſte Luͤge, womit
der Anbruch des Neuen zuruͤckgehalten werden ſoll.
Es iſt wahr, es liegt im Gange der Menſchheit,
ſich in der Dauer gewiſſer Epochen am Poſitiven
weiterzubilden; allein nicht weniger wahr iſt es,
daß mit dem Schluſſe dieſer Epochen die geiſtige
Entwicklung voͤllig aufhoͤrt — das Poſitive ver¬
fault, es muß ein neuer Lebensfunke in die Bruſt
der Menſchheit fallen, zur neuen Entwicklung von
Formen und Gebilden, welche ebenfalls ihre Zeit
haben, um zu bluͤhen, zu wachſen, zu welken
und zu vergehen. Betrachte ich die geiſtige und
leibliche Lebendigkeit jugendlicher Voͤlker, z. B.
einſt der Griechen und unſers eigenen Volks und
vergleiche dieſe mit den europaͤiſchen der Gegen¬
wart, ſo ſehne ich mich unter jenen geſchichtloſen
Menſchen zu leben, die nichts hinter ſich ſehen,
als ihre eigenen Fußſtapfen und nichts vor ſich
als Raum, freien Spielraum fuͤr ihre Kraft.
Die Menſchheit, ſagen freilich die feudalen Hiſto¬
riker, iſt nicht ſo uͤbel daran, immerfort bildet
und beſeelt ſie das Alte, den Theil, der ſich nicht
laͤnger bilden und beſeelen laͤßt, ſtreift ſie von ſich
ab und ſie hat daher aus ihrem Wege nichts wei¬
ter zu tragen, als ſich ſelbſt. — Was nicht iſt,
bemerken Andere, ſollte wenigſtens ſo ſein: ſucceſ¬
ſive Fortentwicklung iſt das Geſetz des Lebens, jede
Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu re¬
vidiren, durch Stehenlaſſen und Ausmerzen Heute
und Geſtern mit einander zu verſoͤhnen. Aber,
frage ich, wer ſchreibt denn die Geſetze des Le¬
bens, Ihr oder die Geſchichte. Seht Ihr nicht,
3 *
daß den fortlaufenden Generationen ſich von ſelbſt
und trotz aller Gegenmuͤhe ſpaniſche Stiefel an
die Fuͤße haͤngen, daß die Ausduͤnſtungen des Le¬
bens ſich nach und nach am Buſen der Voͤlker
verſteinern, ſich als Kruſten um ihre Bruſt ſetzen
und ihnen das Athemholen ſchwer machen, daß
es fuͤr die Voͤlker keine Wohlthat, ſondern Plage
iſt, Tauſende von Jahren hinter ſich her am
Schlepptau zu ziehen? Alle Urſagen der Voͤlker
beſtaͤtigen uns, daß ſelbſt die fruͤheſte, ſchoͤpfungs¬
junge Menſchheit ſich bald, ſehr bald ausgelebt
und gleichſam abgenutzt habe; bildet es doch ein
Hauptſtuͤck in den hebraͤiſchen, indiſchen, griechi¬
ſchen Sagen, daß Suͤndfluthen das fruͤh gealterte,
ſeiner eigenen Geſchichte verfallene Geſchlecht der
Menſchen wegraffen und vom Erdboden vertilgen?
Muß nicht eine neue Jugend die Erde bevoͤlkern,
wenn die Elohim, die Goͤtter den Anblick der er¬
baͤrmlichen, ſuͤndigen und ausgearteten Soͤhne des
Staubes nicht laͤnger ertragen koͤnnen? Und in
der Geſchichte — man werfe nur einen Blick auf
die Roͤmer und Griechen zur Zeit des Heilandes:
Was hatte die fruͤhere Goͤtter- und Heroenwelt,
die Zeit der Ariſtide und der Katonen ihnen zum
Erbtheil uͤberlaſſen? Ihren Leichengeruch. Und
dieſes weltverjuͤngende Chriſtenthum, das nicht
neuen Moſt in alte Schlaͤuche fuͤllte, dieſes Chri¬
ſtenthum in den Tagen vor Luther? Ausgearteter,
als das Judenthum je geweſen. Statt Kinder
Gottes, wie die Chriſten ſein ſollten, nicht ein¬
mal Knechte Gottes, was die Juden waren,
Knechte des Papſtes, der Pfaffen, der Tradition,
der Geſchichte, die ihren Abfall und Kehricht den
Menſchen thurmhoch auf die Seele geſchichtet
hatte. Die Anwendung auf unſere Zeit uͤberlaſſe
ich Ihnen ſelbſt. Wir ſind krank an unſerer Hi¬
ſtorie und wir werden vielleicht daruͤber hinſterben,
ehe wir uns den Muth faſſen, den unheilbaren
Sitz unſerer Krankheit einzuſehen, und uns dem
wunderbaren Genius anvertrauen, der verjuͤngend
durch die Welt ſchreitet. Jedoch ſteht dem Truͤb¬
ſinnigen, das in dieſer Anſicht fuͤr uns liegt, der
Spruch der Hoffnung gegenuͤber, daß ein Augen¬
blick Alles umgeſtalten kann, ſo im Schickſal des
Einzelnen, als im Schickſal der Voͤlker und Na¬
tionen. Was aber der Jugend, als dem Element
im Staat, das die neue Geſchichte bildet, jeden¬
falls obliegt, iſt der feſte Vorſatz, nach Kraͤften
den bezeichneten Weg einzuſchlagen, iſt der feſte
Wille, ſich immer entſchiedener von der Luͤge los¬
zuſagen, immer deutlicher ſich des Gegenſatzes
zwiſchen dem Alten und Neuen bewußt zu werden,
jung und jugendlich zu leben, das Handwerk fah¬
ren zu laſſen und die Kunſt zu ergreifen, das
Unſchoͤne in Wort und That an ſich und Andern
nicht zu dulden, ihr Ohr dem Wehen des nahen
Geiſtes nicht zu ſchließen und, weder gedankenlos
und leichtfertig dahinlebend, noch ſchwermuͤthig
bruͤtend, die Bluͤthen des Lebens und der Wiſſen¬
ſchaft mit jugendlicher Unſchuld und Heiterkeit zu
pfluͤcken.
Es muß anders werden, das ſollte das Ge¬
fuͤhl ſein, das ſich Aller bemaͤchtigte, wir ſelbſt
ſind dazu berufen, das ſtarke Echo dieſes Gefuͤhls.
Wie viel duͤrre Blaͤtter wir dazu aus dem Kranze
unſeres Lebens herausreißen muͤſſen, wie viel Un¬
ſchoͤnes wir von uns abthun, wie viel gemeine
Proſa wir fuͤr ewig in den Schlamm und Schlick
der abgeſtandenen Zeit verſenken muͤſſen, welche
neue Anſichten der Wiſſenſchaft, der Kunſt, der
Poeſie, der Religion, des Staats, des Lebens
wir faſſen und zum Eigenthum unſeres Herzens
machen muͤſſen, dies Alles muß uns oft und leb¬
haft beſchaͤftigen und das Befreundete muß ſich
verbinden mit dem Befreundeten, um ſich gegen¬
ſeitig auszutauſchen und zu befeſtigen.
Jetzt, darauf komme ich zuruͤck, jetzt liegt
Alles noch, Anſicht, Gefuͤhl, und gar das Leben
und Treiben gar zu ſehr in roher Unbildung, in
Verwirrung, Uneinigkeit und Zwiſt, und es haͤlt
ſchwer, wenn nicht unmoͤglich, fuͤr den Einzelnen,
ſich leicht und rein hinzuſtellen und ſich aus dem
truͤben unaͤſthetiſchen Fahrwaſſer gemeiner Anſich¬
ten immer gluͤcklich herauszuziehen. Schon habe
ich mit wenig Worten unſerer Schulen, Akademien
und Brodſtudien als ſolcher Erwaͤhnung gethan,
die im ſchneidendſten Kontraſte ſtaͤnden mit indi¬
vidueller und volksthuͤmlicher Bildung, der Grund¬
bedingung charakteriſtiſcher Schoͤnheit und ihres
Verſtehens und Auffaſſens. Doch unterliegen nicht
geringerem Tadel unſere Anſichten und Studien
jener allgemeineren Wiſſenſchaften, welche den
Schlußſtein unſerer hoͤheren Geiſtesbildung aus¬
machen ſollten und ich will darunter nur die der
Philoſophie und der Geſchichte mit Namen auf¬
fuͤhren, vom Studium und der wiſſenſchaftlichen
Aneignung der Religion aber gaͤnzlich ſchweigen.
Beginnen wir von der Geſchichte. Welche
unleidliche, lebloſe Anſicht machen wir uns uͤber
dieſelbe. Ueberall, wo wir zuruͤckgehen auf die
fruͤhſten Zeiten eines Volkes, iſt es leicht zu mer¬
ken, wie Poeſie und Hiſtorie ungetrennt von
einem Gemuͤth aufbewahrt und von einem begei¬
ſterten Munde verkuͤndet wurde. Beide vereinigen
ſich darin, das Leben mit allen ſeinen Aeußerun¬
gen aufzufaſſen und darzuſtellen. Erſt eine ſpaͤ¬
tere gelehrte Anſicht mußte ſie trennen, welche die
Hiſtorie auf kritiſche Wahrheit beſchraͤnkt, die epi¬
ſche Poeſie aber dem Dichter uͤberlaͤßt. Allein
die kritiſche Wahrheit, hat an ſich gar keinen
Werth, ſondern erhaͤlt ihn nur in Verbindung mit
poetiſcher; nicht irgend eine aͤußere Thatſache wol¬
len wir wiſſen, ſondern ihren Zuſammenhang mit
dem Leben. Was will man von der Geſchichte
anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche
ſie darſtellt, und muß nicht alſo unſere jetzige kri¬
tiſche Hiſtorie wieder, wenn auch auf einem an¬
dern Wege, eins werden mit der Poeſie, mit dem
Epos der Voͤlker? Denken Sie an das beſte Ge¬
ſchichtswerk der neuern Zeit, an unſers Niebuhr's
roͤmiſche Geſchichte. Iſt nicht eine contradictio in
adjecto in dieſem Titel, kann jemals durch ge¬
lehrte Forſchungen etwas, was einmal nicht Ge¬
ſchichte war und iſt, zur Geſchichte erhoben wer¬
den? Laſſen Sie uns doch einen Augenblick be¬
denken, was es heißt: Roms Geſchichte ſoll vor
unſern Augen entſtehen, ſich fortſpinnen, mannig¬
fach verknuͤpfen, in immer groͤßern Radien anſchie¬
ßen bis zur Vollendung des aͤußerſten und zur ge¬
waltſamen Durchloͤcherung und Zerfetzung des gan¬
zen Weltſpinnengewebes durch die furchtbaren
Stuͤrme des Nordens.
Die erſten Faͤden aller Voͤlkergeſchichten ver¬
laufen ſich in den Morgenhimmel des Mythus,
Goͤtter ſpinnen ſie aus ihrem Buſen, ſie fliegen
wie verklaͤrte Genien in einem loſen, lieblichen
Durcheinander und man ſieht es kaum, wo ſie
ihren leichten Fuß auf den glatten Boden der
Geſchichte ſetzen. Dichter und Kuͤnſtler ſind dar¬
uͤber leicht zu troͤſten; allein Geſchichtsforſcher und
Mythologen wandern verzweifelnd in der poetiſchen
Goͤtterdaͤmmerung umher, vielfach geneckt von den
raͤthſelhaften verzauberten Geſtalten, die nicht ſel¬
ten mit ſchelmiſcher Ironie ſich grade vor ſie hin¬
ſtellen, ſich geduldig entkleiden, befuͤhlen und be¬
taſten laſſen, und dann auf einmal wie der Wind
aus ihren Haͤnden entſchluͤpfen. Doch laͤßt man
ſich auf die Laͤnge nicht abſchrecken. Man macht
ſich an das Geſchaͤft, die fluͤchtigen Weſen, ſo gut
es gehen will, zu klaſſifiziren, die einen nennt
man religioͤſe, die andern naturhiſtoriſche, die drit¬
ten voͤlkerhiſtoriſche Mythen, die widerſpenſtigſten
Schwaͤrmer laͤßt man laufen, hartnaͤckig widerſtre¬
bende bringt man auf die Folter und von da zum
Geſtaͤndniß, oder man bindet ihnen ſo triftige Ar¬
gumente und eine ſo ſchwerfaͤllige Gelehrſamkeit
ans Bein, daß ſie ſich ſeufzend und abgemattet
in ihr Geſchick begeben.
Sie wiſſen, meine Herren, auch die roͤmiſche
Urgeſchichte verlaͤuft ſich in Goͤtter- und Heroen¬
dunkel. Bewunderungswuͤrdig iſt es zu ſehen, mit
welchem Muth, welcher Ausdauer, welcher Vor¬
und Umſicht unſer Niebuhr dies dunkle Gebiet
durchirrt hat, mit wie ſcharfen, unverwandten
Blicken er die kuͤmmerlichen Spuren verfolgt hat,
die vor den Stadtthoren Roms an die Urſitze der
italiſchen Volksſtaͤmme leiten, Spuren, die unauf¬
hoͤrlich kreuz und quer von Goͤttertritten und
Schweinepfoten, griechiſchen Fluͤchtlingen und ſaͤu¬
genden Woͤlfinnen, Heroen und Banditen verwirrt
und verwiſcht werden. Ohne Glauben kommt man
ihm nicht nach. Seine Schuͤler ſchlagen ein Kreuz,
faſſen ihn getroſt beim Rockzipfel und gehen mit
ihm durch Dick und Duͤnn, was freilich am Ende
nichts ſchadet, da die Leitung eines ausgezeichne¬
ten Mannes, ſelbſt in die Irre, immer belehrend
und fruchtreich iſt. Allein wir fragen nur, iſt das
der Weg zur Geſchichte, kann ſelbſt in ſpaͤtern,
ſogenannten hellen und hiſtoriſchen Zeiten etwas
zur Geſchichte erhoben werden, was nicht im Ur¬
ſprung Geſchichte war? Duͤrfen alterthuͤmliche
Forſchungen, waͤren ſie noch ſo geiſtreich und
ſcharfſinnig, den großen Namen „Geſchichte“
an der Stirn fuͤhren? Nein, meine Herren, das
duͤrfen ſie nicht. Geſchichte iſt nicht das Reſultat
gelehrter Forſchungen, ſie ſpringt nackt und ſchoͤn
wie Aphrodite aus dem Schaum der Wellen, wie
Minerva in unmittelbarer Vollendung aus dem
Haupte der kreiſenden Zeit.
Nehmen Sie an, man koͤnnte es in einer
nachtraͤglichen Geſchichte zu einer gewiſſen
aͤußerlichen, ich moͤchte ſagen peinlichen, dem Ver¬
hoͤr von hundert durcheinanderſprechenden Zeugen
abgewitzigten Wahrheit bringen, was waͤre dieſe?
Ein todtes Reſiduum von Kraͤften, die, laͤngſt
im großen Weltenraum zerſtoben und verflogen,
kein Zauberſpruch zuruͤckbeſchwoͤrt, Muſchel, kal¬
kene Schale auf den Gebirgen, die nur ſchwache,
unſichere Spuren ehemaliger Beſeelung erlugen
laͤßt. Aber die Seele? die innere Wahrheit?
Wahrheit, ſeliger Reinhold, was iſt Wahr¬
heit? Ich fuͤhle es, was ich geſchichtliche Wahr¬
heit nenne, hat fuͤr mich etwas Unmittelbares und
Zuverſichtliches, etwas, was allen kleinlichen Zwei¬
fel niederſchlaͤgt, was meinen Geiſt mit ſuͤßem
Verſtaͤndniß in ſeine Kreiſe zieht. Ich hoͤre das
Fernſte aus fernen Zeiten und verſtehe es ſonder
Muͤhe; ich ſehe die wunderbarſten Geſtalten und
Erſcheinungen an mir voruͤberziehen und bin mit
ihnen vertraut, wie mit alten Bekannten und kann
mir ihre Wirklichkeit nicht anders denken, als wie
ſie mir eben erſcheint. Denn ſo kryſtalliſch klar
ſteht die That, der geſchichtliche Heldenleib vor
meinen Augen da, daß ich die innerſte Seele, die
Alles belebt und bewegt, die zarteſten Adern, die
feinſten Gefaͤße, den ganzen lebendigen Organis¬
mus hell und offen vor mir liegen ſehe. Iſt das
nun, wie ich's beſſer fuͤhle als ausſprechen kann,
hervorſtechender Charakterzug der Geſchichte, ſo
ſind mir Homer's goͤttliche Geſaͤnge tauſendmal
geſchichtlicher, als die aſſyriſche, aͤgyptiſche, perſi¬
ſche Hiſtorie, ja, Homer's Achilles hat in meinen
Augen mehr Fleiſch und Bein, als Cyrus und der
große Alexander. Alexander — welche Verkehrheit,
von einer Geſchichte Alexanders zu ſprechen. Wiſ¬
ſen wir nicht, daß es der einzige große Schmerz
des Welteroberers war, keinen wuͤrdigen Geſchicht¬
ſchreiber, keinen Homer zu beſitzen? Deſſenunge¬
achtet haben wir eine Geſchichte von ihm? Was
man unter Gevattern Geſchichte nennt, in der
That aber ſo wenig eine, ſo ſehr keine, daß man
heutigen Tags nicht weiß, ſoll man ihn einen jun¬
gen Gott oder einen wahnſinnigen Melech nen¬
nen. Wer zeichnet uns das lebendige Alexander¬
geſicht? Plutarch von Chaͤronea, Quintus Cur¬
tius, Schloſſer von Heidelberg, oder die allgemeine
Welthiſtorie, ſo in England durch eine Geſellſchaft
von Gelehrten u. ſ. w. — o uͤber den armen
großen Alexander!
Geſchichtliche Wahrheit iſt lebendige Harmo¬
nie zwiſchen Leib und Seele der Geſchichte, zwi¬
ſchen Gedanke und That. Wie in Toͤnen die
Seele des Muſikers athmet, ſo athmet die Seele
des Helden in der That. Den wahren Geſchicht¬
ſchreiber muß das Spiel der Harmonien in unmit¬
telbarer Gegenwaͤrtigkeit ergreifen, im hiſtoriſchen
Konzertſaal, unter den ſchwellenden Toͤnen, den
ringenden, jauchzenden Menſchen, da feſſelt er mit
unnachahmlichem Zauber das Unſichtbare an das
Sichtbare, den Geiſt an die Erſcheinung, den
Sinn an die That. Geſchichtliche Wahrheit —
mich uͤberfaͤllt ein Grauen, denke ich an den Tod¬
tentanz, den man Geſchichte nennt — geſchicht¬
liche Wahrheit, iſt ſie nicht das Leben, ſelbſt ge¬
lebt und angeſchaut von einem Genius, ſchwebend
auf den Fluͤgeln ſeiner Zeit, in ihre Stroͤme ſeine
Feder ſenkend, wie ein begeiſterter Apoſtel nieder¬
ſchreibend, was der zur That gewordene, der
Fleiſch gewordene Geiſt der Zeiten ihm diktirt?
Wer ſchrieb Geſchichte, die ſolches Namens wuͤr¬
dig war? Sind es nicht Maͤnner, die gleich
Thukydides, Macchiavelli, Seguͤr, der Zeit im
Schooße ſaßen? Geſchichte wird einmal nicht ge¬
ſchrieben, ſie ſchreibt ſich ſelber, ſie waͤhlt einen
ihrer Lieblinge unter den Sterblichen zur Ver¬
zeichnung ihrer großen Thatengedanken. Wir ha¬
ben keine Geſchichte Roms, Griechenlands, Ita¬
liens, Frankreichs, wir haben keine Weltgeſchichte im
gewoͤhnlichen Sinn und Stil, aber die echte Blume
der Geſchichte, die bluͤhendſte Entfaltung
der Voͤlkerkraft, bluͤht und duftet durch alle
Jahrhunderte, wenn auch das Volk, dem ſie an¬
gehoͤrt, laͤngſt erſtarrt, abgeſtorben, zerſtreut oder
ausgeartet iſt. So haben wir eine Geſchichte der
Griechen unter Miltiades und Perikles, eine Ge¬
ſchichte der Roͤmer waͤhrend der Karthagerkriege,
eine Geſchichte der lombardiſchen Staͤdte, als
Freiheit ſie begeiſterte, eine Geſchichte Frankreichs
unter dem ſiegreichen Kaiſer, eine Geſchichte
Deutſchlands — welche die Zukunft geſchehen laſ¬
ſen und dann auch ſchreiben wird. In der Ge¬
ſchichte, hat man geſagt, gibt es großartige Epo¬
poͤen; allein ich kenne keine andere Geſchichte, als
die ſich von ſelbſt zur großartigen epiſchen Dich¬
tung geſtaltet, Verherrlichung eines Volkes, das
ſich ſelbſt verherrlicht hat. Traum und Phanta¬
ſieleben, vegetatives Fortwuchern, Krankengeſchich¬
ten gehoͤren nicht ins goldene Buch des Lebens.
So hat Tazitus, der uͤber die unnatuͤrlichen Kraͤm¬
pfe der roͤmiſchen Kaiſer und die fallende Sucht
ihrer Unterthanen ſchrieb, nur einen aͤrztlichen
Bericht, aber keine Geſchichte geſchrieben. Das
Gemaͤlde eines Peſthofes, wo das gelbe Fieber
auf hundert verzerrten Geſichtern brennt, iſt kein
Gemaͤlde, kein Kunſtwerk, — und Geſchichte, ſie
iſt Kunſt, Kunſt auf ihrem hoͤchſten Gipfel.
Ich ſchließe, meine Herren. Moͤchte Ihnen
dieſe Diatribe uͤber den wahren, aͤſthetiſchen Be¬
griff der Geſchichte, uͤber ein ſo wichtiges Stu¬
dium die Augen oͤffnen.
Vierte Vorleſung.
Gegen den Unfug Hiſtorie, gegen die ſchlechten
Gewohnheiten, die das Leben umſtricken, gegen
die gemeinen Anſichten, gegen das unfreie und
knechtiſche Formelweſen, das nur den blinden Ge¬
horſam und das todte Gedaͤchtniß in Anſpruch
nimmt, gegen Alles, was die Aeußerungen der
ſchoͤnen und wahren Natur im Keim erſtickt, kuͤhn
und offen zu proteſtiren, das ſei die Aufgabe
der edleren Jugend, war der Inhalt und die Auf¬
forderung meiner letzten Vorleſung.
Um Ihnen aber dieſe Aufgabe recht nahe zu
legen und Sie auf den ganzen Umfang derſelben
aufmerkſam zu machen, fuͤhrte ich Sie zum Schluß
in die Hallen zweier Wiſſenſchaften, welche ſich
humaniora nennen und durch dieſes epitheton or¬
nans ſchon in der Benennung ſich uͤber jene Stu¬
dien erheben, welche das Poſitive der drei Fakul¬
taͤten umfaſſen und denen der Name: Brodſtudien,
leider nur mit zu vollem Rechte zukommt. War¬
nen und verwahren wollte ich bei ſo paſſender Ge¬
legenheit vor dem Irrthum, als bringe das Stu¬
dium der Geſchichte und Philoſophie, wie es an¬
noch damit gehalten wird von den Studierenden,
in jenen hoͤhern Kreis der Humanitaͤt, und als
ſei daſſelbe in der That etwas Beſſeres und Edle¬
res, als z. B. das Studium des Rechts oder der
Medizin oder der Diplomatik oder der Genealogie
und Wappenkunde, welche letztere, wie Hegel
ſpoͤttiſch ſagt, die poſitiveſte aller Wiſſenſchaften
iſt. Von dem Ungeſchichtlichen, das iſt Unepiſchen
unſerer Geſchichte habe ich dies ausfuͤhrlicher und
aus dem Begriff der Geſchichte ſelbſt zu erweiſen
geſucht und ich zweifle nicht daran, daß manches
Wort aufgehen wird, als Samenkorn, das die
ſchoͤnere Idee und Anſicht zur Reife bringt; bin
ich mir doch ſelbſt bewußt, daß mir von der Zeit
an, als mir die Ahnung der Geſchichte aufging,
das ganze Leben klarer geworden iſt und ich fuͤr
das Theoretiſche und Praktiſche, fuͤr das Wahre
und Schoͤne, das ſich gemeiniglich polariſch gegen¬
uͤber zu ſtehen pflegt, einen Mittelpunkt gefunden
habe, in dem ſich beide geſchwiſterlich vereinigen.
4
Es bleibt mir noch, Sie auf das Studium der
Philoſophie aufmerkſam zu machen, und auch in
dieſer Hinſicht der lebendigeren Anſicht, der mit
der Schoͤnheit verwandteren die Thuͤr zu oͤffnen,
wogegen die unaͤſthetiſche Anſicht breitſtaͤmmig ſich
anlehnt. Ich habe aber abſichtlich die Philoſophie
hinter der Geſchichte genannt, um von ihr einen
Uebergang zu machen zu der Philoſophie jener
Kunſt oder Wiſſenſchaft, welche der beabſichtigte
Inhalt dieſer Vorleſungen iſt.
In welcher Abſicht ſtudirt man auf Univer¬
ſitaͤten die Philoſophie? In der Regel aus kei¬
ner, oder um des Examens wegen. Aus keiner;
denn welche Abſicht ſoll einen zur Erlernung einer
Wiſſenſchaft hintreiben, deren Weſen und Zweck
ſo unbekannt ſind, wie die Philoſophie den Mei¬
ſten, die von der Schule auf die Univerſitaͤt zie¬
hen. Auch hier findet ſich das klaͤgliche Mißver¬
haͤltniß zwiſchen den hoͤhern und niedern Bildungs¬
anſtalten, das uͤberall durchbricht und nach allen
Seiten eine Scheidewand zwiſchen den beiden gro¬
ßen Schritten zieht, welche der ſtudirende Juͤng¬
ling zu machen gezwungen iſt, dem Schritt der
Schulbildung und dem Schritt der akademiſchen
Bildung. In der That ſind die beiden Prinzi¬
pien, worauf hier die Schule, dort die Akademie
gegruͤndet ſind, durchaus von einander verſchiedene
und bewegen ſich in entgegengeſetzten Elemen¬
ten. Die Schulbildung leitet in die alte klaſſiſche
Welt, oder wenigſtens macht Anſtalten, beſtrebt
ſich, gibt ſich das Anſehen, dieſes zu thun. Die
Univerſitaͤtsbildung dagegen bereitet vor zum prak¬
tiſchen Leben, zum Staatsdienſt, zur Ausfuͤllung
derjenigen Aemter, welche herkoͤmmlich in dieſe
große hoͤlzerne Maſchine eingreifen, welche wir
unſer oͤffentliches Leben nennen. Ich wuͤßte aber
nicht, welche beide Richtungen ſich kontraſtirender
nach ganz verſchiedenen Regionen verlaufen, als die
Richtung auf das Leben der Alten und auf unſer Le¬
ben, ſie beruͤhren ſich wirklich eben ſo nahe, als
der Nordpol und der Suͤdpol am Himmel, als
Hemmung und Freiheit, Kunſt und Unkunſt, Poe¬
ſie und Proſa, Geiſt und Geſchmackloſigkeit, freier
Marktplatz und enge Stube, bewußter Genuß und
dumpfe Vegetation, Maͤnnerwuͤrde und ergebenſte
Diener u. ſ. w. Doch wird es gluͤcklicher oder
ungluͤcklicher Weiſe mit dem Studium des freien
Alterthums auf unſern Schulen, nicht ſo gruͤnd¬
lich ernſthaft gemeint, als ſollte denn nun auch
im Gemuͤth der Jugend aufgehen der Strahl, der
jene untergegangene Welt verklaͤrte, als ſollte es
in Liebe entflammen fuͤr den großen Sinn und
die Großthaten einer Heldenwelt, als ſollte es ſich
mit der ahnungsvollen friſchen Begeiſterung jener
4 *
gluͤcklichen Jahre, die wir in den hoͤheren Klaſſen
der gelehrten Schule zubringen, den erzgegoſſenen
Pforten des Heiligthums naͤhern, ſich unter die
Schatten jener froͤhlichen Menſchheit mengen, die
ihn bevoͤlkern, und aus ihren Geſichtern, Bewe¬
gungen, Reden und Geſaͤngen den ſchoͤnen Geiſt
ſtudiren, der uͤber Allem thront und ſchimmert —
ſo iſt es denn nicht ſo recht eigentlich gemeint,
obgleich uns gelegentlich und in Schulreden und
Schulprogrammen viel Schoͤnes und Ruͤhrendes
vom bildenden Studium der alten Klaſſiker vor,
geſprochen wird und wir ſelbſt auch ſelten verfeh¬
len, beim Abgang in lateiniſchen oder deutſchen,
gereimten oder ungereimten Abſchiedsworten, die
hohe Wichtigkeit der Freundſchaft und der Vater¬
lantsliebe u. dergl. nach Muſtern des Alterthums
darzuſtellen und dieſem mit dem beſten Kranze
unſerer erſten jugendlichen Beredtſamkeit, mit den
erleſenſten Floskeln aus Zizero das Haupt ſchmuͤ¬
cken. Allein ich frage Sie ſelbſt und die Mehr¬
zahl deutſcher Studirender, ob dieſe feſtliche Be¬
geiſterung, die ich ſo eben erwaͤhnte, der natuͤr¬
liche, aufrichtige und ungekuͤnſtelte Erfolg und Er¬
guß iſt aus den Studien, die wir in der Klaſſe
getrieben, oder nicht vielmehr ein hergebrachter Ak¬
tus, bei dem wir entweder nichts fuͤhlen und den¬
ken, oder, im beſſeren Fall, bei dem wir mit
Phantaſie und einigem Gefuͤhl gleichſam wehmuͤ¬
thig das ausſprechen, was uns das Alterthum
haͤtte ſein ſollen und werden koͤnnen in der bluͤ¬
henden Zeit, als wir in Prima ſaßen, und uͤber
der Schale nicht zum Kern gelangen konnten.
Zerſtreut ſind wir worden und ermuͤdet vor der
Zeit, ein nacktes, duͤrftiges Wiſſen von Vokabeln
und Regeln, von Stellen und Gebraͤuchen haben
wir in die Faͤcher unſeres Gedaͤchtniſſes eingeſam¬
melt, roh und ungebildet oder froſtig gelehrt und
altklug gehen wir aus der Schule der Alten her¬
vor, und nicht duͤrfen uns beneiden jene Geſpielen
unſerer erſten Jahre, welche nicht, wie wir, zur
Fahne der Gelehrſamkeit ſchworen, ſondern mit
duͤrftigem Wiſſen, aber deſto derberem und froͤh¬
licherem Lebensgefuͤhl ſich dem Landbau oder an¬
dern buͤrgerlichen Geſchaͤften widmeten. Sie ha¬
ben ſich noch ſelbſt behalten, ſie ſind ſich noch der
Einheit ihres Lebens bewußt, ihre Seele wird
nicht hin und her geworfen durch widerſprechende
Gefuͤhle und Anſichten, ſie lieben die nahe Ge¬
genwart, die kernhafte Arbeit des Tages, ſie ruhen
von ihrem Geſchaͤft, ſpannen ſich an und ab nach
dem aͤlteſten Geſetze der Natur, das im behagli¬
chen Wechſel zwiſchen Thaͤtigkeit und Ruhe be¬
ſteht, und wenn ihr Geiſt auch nicht fuͤr den Ge¬
nuß hoͤherer Freuden ausgebildet iſt, ſo ſchwebt er
auch nicht, wie Tantalus, durſtig an der verbote¬
nen Quelle, ohne einen Tropfen der Labung er¬
haſchen zu koͤnnen, ſo iſt er auch nicht verbildet,
halbgebildet, unfruchtbar gebildet und durch die
verſchiedenen Elemente ſeiner Bildung mit ſich
ſelbſt in Kampf und Streit gerathen, was Alles,
wie wir ſelbſt am Beſten wiſſen, unſerer jetzigen
gelehrten Schulbildung ſaure Frucht zu ſein pflegt.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß es fuͤr den tuͤch¬
tigſten Schulmann eine unendlich ſchwere Aufgabe
iſt, den Dichter, den Redner, den Geſchichtſchrei¬
ber, den Philoſophen des griechiſchen und roͤmi¬
ſchen Alterthums, bei unſern heutigen geſellſchaft¬
lichen Zuſtaͤnden, bei der Mechanik des Staatsle¬
bens, deſſen hoͤlzerne Raͤder auch in der Schul¬
ſtube klappern, fruchtreich in den Schulen zu er¬
klaͤren; allein eben ſo gewiß iſt es, daß den We¬
nigſten nur einmal die Ahnung aufgegangen iſt
von der Bedeutung der Alten fuͤr das jetzige Le¬
ben, daß ſie ſelbſt jene großen und leuchtenden
Zuͤge in den Pergamenten klaſſiſchen Alterthums,
die Zuͤge der reinen Natur, des tiefen Sinnes
fuͤr die Myſterien der Welt, fuͤr Wahrheit und
Schoͤnheit nur ſelten einmal mit verwandtem Auge
ſelbſt angeſchaut und ſich von ihnen durchdrungen
haben. Wie ſollte es anders kommen. Ein
Schulmann bildet den andern und die Philologie
iſt ſo weit aus dem Leben geruͤckt und das Leben
ſelbſt aͤußert ſich noch ſo glatt, ſchwach, duͤrftig
und widerſprechend, daß es immer ein halbes Wun¬
der bleiben muß, wenn ein Voß, ein Auguſt Wolf
mitten aus philologiſchem Wuſte ſich erheben und
Funken poetiſcher Lebendigkeit ausſtroͤmen, die kein
Menſch vor ihnen dieſer Wiſſenſchaft zutraute.
Waͤren und wuͤrden nun ſolche Maͤnner haͤu¬
fig und haͤufiger, entvoͤlkerten ſich die Schulaͤmter
nach und nach von Leuten, die mit dem Alterthum
nicht blos ein Sylbenſtechen halten, konjugiren
und dekliniren lehrten, ſondern deſſen Geiſt zu er¬
laͤutern und Juͤnglingen einzufloͤßen verſtaͤnden, ſo
wuͤrde dies eine Reaktion auf die Univerſitaͤten
verurſachen, welche ſich auf alle die humanen und
inhumanen Studien erſtrecken wuͤrde, die man her¬
koͤmmlich auf ihnen treibt, und es wuͤrden nicht allein
die ſogenannten Brodſtudien davon gut haben und
zu Geiſtſtudien aufruͤcken und mit der Humanitaͤt
mehr Hand in Hand gehen, ſondern auch ſelbſt
die humaniora wuͤrden humaner werden und nicht
ſo leicht einer Geſchichte und Philoſophie nur
darum etwas ſtudiren, weil etwas Kenntniß davon
im Examen verlangt wird, ſondern aus innerm
Antrieb, aus reiner Bildungsluſt und mit der,
auf Schulen bereits erzielten Vorbereitung zum
wuͤrdigen Eintritt in dieſe hoͤhern Gebiete der Wiſ¬
ſenſchaft. Denn es iſt eben das Leben der Alten,
wie es in den Schriften derſelben erſcheint, wahr¬
haft geeignet, eine ſolche Vorbereitung zu bewerk¬
ſtelligen und eine Geſinnung und Gemuͤthsſtim¬
mung zu erzeugen, die auf das Ideale in jeder
Kunſt und Wiſſenſchaft gerichtet iſt. Und ſchon
allein das Studium, das iſt das lebendige Ergrei¬
fen der ſchoͤnſten platoniſchen Dialoge, in welchen
die ewigen Ideen der Schoͤnheit wie Fixſterne fuͤr
alle Zeiten leuchten, iſt hinlaͤnglich, um die Weihe
fuͤr ein ganzes Leben zu erhalten, hinlaͤnglich zu¬
naͤchſt, um auf das Studium der Philoſophie und
der mit der Philoſophie unmittelbar verwandten,
aus ihr entſprungenen und durch ſie zu befeſtigen¬
den Wiſſenſchaften eingeleitet zu werden; denn
wie Boͤckh richtig ſagt, in dem Maß, als der
Juͤngling ergriffen wird vom Geiſt der Alten, in
demſelben iſt er faͤhiger zum Philoſophiren. Aber
man glaube nicht, daß man Philoſophie ſtudirt,
wenn man ſich die logiſche Technik zu eigen macht,
wenn man Alles das lernt und weiß, was die
Philoſophen von Indien durch Griechenland bis
nach Deutſchland, von der aͤlteſten Zeit bis auf
die jetzige gewußt und nicht gewußt haben, wenn
man ungekochte und unverdaute Meinungen uͤber
Gott und Welt in ſein Hirn preßt, wenn man
die Sprache der Philoſophen als ein Abrakadabra
unverſtanden und unverſtaͤndlich nachbetet, oder
ſich auch ſelbſt „mit Worten ein Syſtem berei¬
tet,“ weil man, um mich eines Ausdruckes von
Goethe uͤber das hohle ſcholaſtiſche Treiben einer
Gattung von Philoſophie zu bedienen, weil man
der Anſicht lebt:
An Worte laͤßt ſich trefflich glauben,
Von einem Wort laͤßt ſich kein Jota rauben.
Philoſophie iſt nichts, was ſich lehren und
lernen laͤßt auf dem Wege hiſtoriſcher Mittheilung.
Die Philoſophie ſteht nicht auf dem Katheder und
ſpricht die Zuhoͤrer zu Philoſophen, der Lehrer
kann ſie dem Schuͤler nicht in die Hand druͤcken,
wie ein Stuͤck zurechtgekauter Wiſſenſchaft, wie
ein fertiges Machwerk, die Philoſophie iſt eben
nichts anders als das Philoſophiren, als das wiſ¬
ſenſchaftliche Bearbeiten ſeiner eigenen Begriffe,
als das Selbſtdenken, wenn ſie ſich theoretiſch,
das Selbſtfuͤhlen und Selbſtanſchauen, wenn ſie
ſich praktiſch aͤußert. Das iſt nun aber eben ſo
wenig eines jeden Menſchen Sache, als die Poe¬
ſie, die Liebe, und was einem ſonſt als freies
Geſchenk vom Himmel faͤllt, und das man wohl
durch Fleiß und Muͤhe ausbilden und veredeln,
aber im Schweiße ſeines Angeſichts ſich nicht an¬
ſchaffen kann, wenn das Organ dafuͤr nicht an¬
geboren iſt. Allerdings ſind alle Menſchen zum
Denken, zum Selbſtdenken berufen und wenn man
die Menge ſo gedankenlos in den Tag leben ſieht,
ſo ſchreibe man dies eben ihrer Erziehung und
dem bleiernen Druck der Verhaͤltniſſe zu, der auf
ihr laſtet; wird dieſer Druck aufgehoben, ſo fan¬
gen auch die Federn ihres Verſtandes an zu ſpie¬
len und die Geburtſtunde der, freilich immer rela¬
tiven, Selbſtſtaͤndigkeit hat fuͤr ſie geſchlagen. Al¬
lein auch der gebildetſte Menſch, geſchweige denn
die Maſſe, iſt nicht immer fuͤr jene Art der Be¬
arbeitung ſeiner Begriffe geſchaffen, welche im
heutigen Sinn und unter uns Deutſchen vorzugs¬
weiſe die philoſophiſche heißt und die in ihrer letz¬
ten ſcharfen Beſtimmung auch nur als Laie zu
ahnen, man einigermaßen von Natur beguͤnſtigt
ſein muß, die alſo mit einem gelegentlichen Wort
nicht abgethan werden kann. Das Philoſophiren
in dieſem ſtrengen Sinn, mag es nun fuͤr den
Philoſophirenden ein Gluͤck, oder Ungluͤck ſein,
mag es ein Zuſtand der Geſundheit oder Krank¬
heit des Geiſtes genannt werden muͤſſen — und
daruͤber lauten bedeutende Stimmen ſehr verſchie¬
den — kann und darf nur als eine freie Kunſt
getrieben werden, zu der Niemand gezwungen iſt,
ja, zu der Niemand aufgefordert werden ſoll,
noch weniger, von deſſen Reſultaten er zu Gluͤck
ſtadt oder Schleswig endliche Rechenſchaft zu lie¬
fern haͤtte, es muß ſich freiwillig und von ſelbſt
einfinden, es muß ihm, wie jedem freien Erzeug¬
niß des Geiſtes allerdings nichts in den Weg ge¬
ſchoben werden, im Gegentheil muß er die Mit¬
tel ſeiner Nahrung auf den vaterlaͤndiſchen Bil¬
dungsanſtalten antreffen und der Staat muß ſei¬
nem ſpaͤteren Einfluß auf Geſellſchaft und oͤffent¬
liches Leben ruhig entgegenſehen — das ſind die
Bedingungen, unter welchen die hoͤhere Philoſo¬
phie bei uns wachſen und gedeihen muͤßte, wenn
ſie Juͤnger und Enthuſiaſten findet, die, nach ge¬
wiſſenhafter Pruͤfung, ihr Leben ihr zu widmen
gedaͤchten; denn darauf, auf die Widmung eines
ganzen Lebens mit allen ſeinen Tendenzen macht
ſie Anſpruch, denn ſie will nicht etwa dann und
wann, und hie und da, zu dieſem oder jenem
Behufe, ſtudirt, zitirt und benutzt werden, ſon¬
dern rein um ihrer ſelbſt willen, und verlangt alle
die Opfer, welche eine eiferſuͤchtige und gerecht¬
ſtolze Geliebte ihrem Liebhaber zum Geſetze macht.
Ihr Bild ſoll er auf dem Herzen tragen, ihr
Gedanke ſoll ihm vorſchweben Tag und Nacht,
nur fuͤr ihre Geſpraͤche ſoll er ein Ohr haben,
und in ihrem Umgang ſich gluͤcklich fuͤhlen und
gegen jedermaͤnniglich behaupten und ausfechten,
daß ſie die Unvergleichlichſte und Schoͤnſte ſei un¬
ter allen ihren Schweſtern auf der Welt.
Iſt das nun, meine Herren, dieſer Urania
echter und weſentlicher Charakterzug, an der ſie
jeder Selbſtphiloſophirende erkennt, an der ſie ein
Plato, ein Kant, ein Fichte, ein Reinhold wie¬
dererkannt haͤtten, ſo fuͤhlen und begreifen Sie
wohl, daß Philoſophie in dieſem deutſchen Sinn
— denn Franzoſen und Englaͤndern iſt der Be¬
griff der Philoſophie ſo weit, daß die erſteren eine
leichte luſtige Lebensanſicht und die letzteren die
Experimentalphyſik fuͤr Philoſophie und Elektriſir¬
maſchinen und Luftpumpen fuͤr philoſophiſche
Inſtrumente ausgeben — daß Philoſophie in
dieſem Sinn nur einer kleinen Zahl von Sterb¬
lichen angehoͤre, wozu namentlich weder ich, noch
vielleicht einer von den Anweſenden ſich zaͤhlen
moͤchte. Und da hoͤren Sie offen und freimuͤthig
ausgeſprochen, was man ſo ſelten geſteht, wo¬
mit man ſich unter einander ein Geheimniß macht,
das aber die Waͤnde unſerer Hoͤrſaͤle laͤngſt ausge¬
plaudert haben, das Geſtaͤndniß, Philoſophie liegt
de facto außer dem Kreis der groͤßten Anzahl der
Menſchen, ja mehr, außer dem Kreis ſelbſt jener
Auserwaͤhlteren, welche ſich auf Akademien dem
Studium der Wiſſenſchaften hingeben. —
Wollten die Waͤnde noch etwas hinzufuͤgen,
ſo koͤnnten ſie auch ſagen: das gerade iſt eine von
euren vielen Luͤgen, daß ihr dutzendweiſe auftretet
und ſagt: mit der Philoſophie auf vertrautem
Fuß zu leben, obgleich euch dieſe verſchleierte,
edle Dame kaum dem Namen nach kennt.
Sie ſehen hieraus, meine Herren, daß ich
nicht der Meinung bin, als muͤſſe die Leſung der
Alten auf Schulen und was man ſonſt noch auf
denſelben zur Vorbereitung fuͤr die Akademie zu
treiben pflegt, eine vorherrſchende Richtung auf
die Philoſophie bekommen, im Gegentheil glaube
ich, daß der Schulmann ſich in dieſer Hinſicht
darauf zu beſchraͤnken hat, die geiſtreiche Faſſung,
die wunderbare Form und Schoͤnheit bemerklich
zu machen, wodurch ſich die philoſophiſchen Schrif¬
ten des Alterthums ſo ſehr zu ihrem Vortheil von
den neuen Schriftſtellern der Philoſophie unter¬
ſcheiden. Und ſind es nicht uͤberall vorzuͤglich
dieſe idealen Formen des Alterthums, zu deren
Anſchauung und Wuͤrdigung der Schuͤler fruͤhzeitig
ſoll hingeleitet werden und auf denen am Ende
die Frucht jener muͤhſeligen und zeitraubenden
Studien beruht, denen ſich der Schuͤler unterzie¬
hen muß, um zum Verſtaͤndniß der Quellen zu
gelangen? Sind es nicht dieſe ſuͤßen, wohllau¬
tenden Toͤne der Ilias, an denen ſein Ohr Har¬
monie und Rhythmik erlauſchen ſoll, iſt es nicht
die klare und durchſichtige Darſtellung der homeri¬
diſchen Welt, die ſeinen Geiſt mit gewiſſem Zau¬
ber befangen und ihn aufmerkſam machen ſoll auf
die dichteriſche Juweleneinfaſſung eines Stoffes,
der unter andern Haͤnden, als unter Homers, von
jedem andern gemeinen Stoffe vielleicht nur durch
den tragiſchen Ausgang und die Zerſtoͤrung einer bluͤ¬
henden Stadt verſchieden waͤre. Und wird darum
nicht Herodot, Thuzydides recht eigentlich auf
Schulen geleſen, oder ſollten ſie nicht darum ge¬
leſen werden, um den Schuͤlern den echten epi¬
ſchen Stil der Geſchichte fruͤhzeitig an ſo ausge¬
zeichneten Muſtern vor Augen zu ſtellen und ihnen
den Unterſchied zwiſchen ihm und der modernen
Geſchichtsklitterung klar und augenfaͤllig zu ma¬
chen? Und Platons Sympoſium, Phaͤdrus nicht
hauptſaͤchlich, um ihrem Geſchmack attiſches Salz
auf die Zunge zu legen, Beſonnenheit in der Be¬
geiſterung, Beherrſchung des Stoffes und ſokrati¬
ſche Ironie zu lernen? Hat denn wirklich noch
außerdem der deutſche Schulmann einen hoͤhern
Zweck bei Leſung der Alten vor Augen, oder darf
und ſoll er ihn haben? Soll er vollkommne Grie¬
chen aus unſern deutſchen Juͤnglingen machen,
auch im beſten Sinn GrlechenGriechen, und nicht blos
Graͤculi? Einmal muͤßte er nothwendig in ſeiner
Abſicht ſcheitern, da ſich der Charakter einer Na¬
tion nicht uͤberdoziren laͤßt auf eine andere, und
zweitens, waͤre ſchon die Abſicht ein Hochverrath
gegen die eigene Nation, die, ſo ſchmaͤhlich ſie
auch zerriſſen und zerruͤttet iſt, doch noch immer
nicht an ſich ſelbſt zu verzweifeln braucht und noch
im Grunde ihres Daſeins tieflaufende Adern be¬
wahrt, die neu entdeckt und ausgegraben ploͤtzlich
uͤber die Wuͤſte herſprudeln und dem ſchmachten¬
den Zuſtande ein Ende machen koͤnnen. Erziehung
des Juͤnglings nicht zum Philoſophen, nicht zum
Griechen, ſondern zum wackern, gebildeten Deut¬
ſchen, iſt des deutſchen Lehrers hoͤchſte, zum le¬
bendigen Glied jener Kette der Nationalitaͤt, die
Gottlob von Tage zu Tage mehr Glieder und
Ringe in ſich aufnimmt und von der Donau bis
zur Oſtſee mehr freudig hoffende Seelen umſpannt,
iſt des deutſchen Lehrers naͤchſte Pflicht.
Bildung, meine Herren, iſt ein weites Wort
und laͤßt ſich viel darein faſſen. Von theologiſcher,
philoſophiſcher, juriſtiſcher Bildung macht man ſich
leichter Begriffe, aber, wo von hoͤherer, allgemei¬
ner, von humaner Bildung die Rede iſt, da
ſchwebt der Begriff ins Unbeſtimmte und weder
der Bildung Ziel noch Umfang tritt den Meiſten
recht klar vor Augen. Das kommt, wir ſind, wie
die Fiſche außer dem Waſſer, und leben in keinem
rechten Element, wir geben uns im Ganzen Muͤhe
genug uns zu bilden und vielleicht mehr als irgend
je eine Nation auf dem Erdboden; allein, obgleich
wir ſchon behaupten koͤnnen, daß wir unendlich
viel mehr wiſſen und lernen, als z. B. unſere
Nachbarn uͤberm Rhein und ſelbſt die Englaͤnder,
ſo moͤchten wir uns ſchwerlich mit Recht, wenn
wir im Leben mit ihnen zuſammenſtoßen, mehr
Bildung beilegen duͤrfen, als ihnen. Gutmuͤthig
ſcheinen wir den Fremden, und das iſt Alles, was
ſie Gutes von uns ſagen. Hoͤren wir dagegen
unſere Philoſophen, ſo liegt die Unvollkommenheit
unſerer Bildung darin, daß wir noch nicht tief
genug in die Paragraphen ihrer Philoſophie ein¬
gedrungen ſind, und, waͤhrend der Franzoſe, der
Englaͤnder, die aͤußere Form und Faſſung an uns
vermißt, vermißt ein Hegel noch die erſte, noth¬
wendige philoſophiſche Grundbildung bei den Ge¬
bildeten der Nation. Wenn wir uns nun keines¬
wegs dazu verſtehen koͤnnen, in eine uns fremde
oberflaͤchliche Form und Feinheit nach Franzoſen¬
art Werth zu ſetzen; auch nicht mit Allgemein¬
heit das tiefere philoſophiſche Beduͤrfniß fuͤhlen, ſo
muͤſſen wir doch anerkennen, daß uns ſelbſt noch
jenes ſchoͤne Mittel zwiſchen dem Allerinnerſten und
Aeußerſten, zwiſchen dem myſterioͤſen Grund der
Philoſophie und der mit Leichtſinn und Flitter¬
gold belegten Oberflaͤche des Lebens nicht ſo recht
inwohne, ſo daß wir ſagen koͤnnten, wir lebten
darin, wie die Voͤgel in der Luft, und wie die
Fiſche im Waſſer. Vielmehr iſt es gar Vielen
nicht einmal zum Bewußtſein gekommen, daß ih¬
nen der eigentliche Mittelpunkt der Bildung ab¬
gehe, daß ſie, um ſich zu foͤrdern und in guter
Abſicht rechts und links umhergreifen, um ſich
Elemente zur Bildung anzueignen, welche dann
oft die allerheterogenſten ſind und eine wunderliche
muſiviſche Arbeit hervorbringen, wo rothe, blaue,
gelbe und gruͤne Steine ſeltſam und abenteuerlich
neben einander liegen. Wo die Grundwurzel die¬
ſes Uebels liege, iſt leicht abzuſehen. Die Grie¬
chen hatten's leichter, ſich zu bilden, ſie wuchſen
ſchon als Kinder in ſolche Bildung hinein, Reli¬
gion, Politik, Moral, der Himmel ſelbſt beguͤn¬
ſtigte ſie. Wir haben es dagegen ſchwer, oft iſt
uns Alles entgegen, wir werden von fruͤh auf
hierhin geriſſen, dorthin geriſſen, ſind eine Beute
der widerſprechendſten Neigungen und haben nir¬
gends einen breiten ſichern Grund, um in Gemein¬
ſchaft mit Andern darauf fortzuwandeln. Es man¬
gelt uns an großen gemeinſamen Zwecken, es
mangelt uns an oͤffentlichem Leben, und wenn die
Schwingungen des griechiſchen Geiſtes zwiſchen
Wiſſenſchaft und Staat, zwiſchen Wahrheit und
Schoͤnheit, zwiſchen Religion und Poeſie, zwiſchen
Himmel und Erde gleichmaͤßig hin und her gingen
und ſich nie aus der Bahn entfernten, ſo ſchwan¬
Wienbarg, aͤsthet. Feldz. 5
ken die unſrigen ohne rechtes Maß bald zu der
einen, bald zu der andern Seite uͤber und es koͤn¬
nen in einem Hauſe der tiefſinnigſte und abſtrakteſte
Philoſoph, der plattſte Lebemenſch, der wuͤthendſte
Demagoge und der ledernſte Philiſter wohnen.
Es fehlt uns alſo an gemeinſamen Mitteln
der Bildung, weil es uns an Aeußerungen des
gemeinſamen Lebens fehlt. Doch ſchon dieſe Ein¬
ſicht, die ſich in der That immer mehr verbreitet,
iſt ſchon ein halber Schritt zur Beſſerung und
dieſe Einſicht, zur hoͤchſten Evidenz und Klarheit
gebracht, die ein Jeder ihr zu geben im Stande
iſt, ſteht ſchon mitten in der Vorhalle derjenigen
Wiſſenſchaft, welche, unter Vorausſetzung eines
rechten und tuͤchtigen nationalen Lebens, ſich den
Zweck ſetzt, die Elemente jener hoͤhern, allgemei¬
nern Bildung darzuſtellen und an Werken der
Kunſt und Wiſſenſchaft zu erlaͤutern, der Aeſthe¬
tik, oder der Philoſophie der Kunſt, dies
Wort im weiteſten Sinn befaßt, worin auch der
Menſch als ein Kunſtwerk erſcheint.
Fuͤnfte Vorleſung.
Es fehlt uns nicht an Philoſophie, wenigſtens
nicht an Philoſophen, es fehlt uns nicht an Ge¬
lehrſamkeit, es fehlt uns an einem gemeinſamen
Mittelpunkt der Bildung, und Urſache deſſen, es
fehlt uns an gemeinſamem Leben.
Was iſt der Zweck der Erziehung? Der
Zweck der Erziehung iſt Vorbereitung auf den
Zweck des Lebens. Was iſt Zweck des Lebens?
Der Zweck des Lebens iſt das Leben ſelbſt.
Scheint etwas einfacher zu ſein, als dieſe
Antworten auf dieſe Fragen? Gewiß nicht. Den¬
noch hat man den Ruf der Natur uͤberhoͤrt und
die kuͤnſtlichſten Syſteme, Erziehungsplaͤne und
Lebensanſichten auf die Bahn gebracht.
Leben wir, um zu lernen? Oder lernen wir
vielmehr, um zu leben? Daß man die Natur
auf den Kopf ſtellen kann, um das erſtere zu be¬
haupten! Hat es doch in Deutſchland ſogar den
Anſchein, als ob die Menſchen der Buͤcher wegen
geboren wuͤrden. Klaͤglicher Irrthum, moͤnchiſche
Verdumpfung, trauriger Reſt aus den Kloſter¬
zellen.
Leben, was iſt Leben? Kein Wort iſt ſchwe¬
rer, oder vielmehr weniger zu definiren. Leben iſt
ein Hauch, ein wehender Athem, eine Seele, die
Koͤrper baut, ein friſches, wonnigliches, thatkraͤfti¬
ges Prinzip, und wenn es Jemand nicht wuͤßte
oder fuͤhlte, er erinnere ſich einer Stunde, wo
ſein Herz voll aufging, wo ſeine Muskeln ſich
ſpannten, ſeine Augen glaͤnzten, und ein maͤnnli¬
cher Entſchluß allen Hinderniſſen zum Trotz in ſei¬
ner Seele aufſtieg; auch ſchlage er nur das Buch
des Lebens auf, die Geſchichte, und frage nach
den Griechen, nach den Roͤmern, den Roͤmern,
die ſo viel Thatenfuͤlle auf einen kleinen Punkt
der Welt, zwiſchen ſieben armſelige Huͤgel zuſam¬
mendraͤngten, daß ſie damit das ganze Erdenrund
uͤberſchnellten. Die haben gelebt, und darum ſind
ſie auch unſterblich.
Aber großartiges und ruhmvolles Leben, ob¬
wohl am wuͤrdigſten fuͤr die Traͤume der Jugend,
iſt oft nur Reſultat der Zeit und Umſtaͤnde, bei
Einzelnen, wie bei ganzen Voͤlkern. Es gibt ein
Leben, das dem Griffel der Geſchichte keine Nah¬
rung gibt und dennoch aus der goͤttlichen Quelle
entſprungen iſt, aus der alles Lebendige abſtammt.
Sie wiſſen aus Herodot, wie wenig dazu gehoͤrte,
einem alten Perſer im Sinne ſeines Volkes eine
ſolche Lebensbildung zu geben. Man gab ihm
ein Pferd, Pfeil und Bogen, lehrte ihn die Wahr¬
heit ſprechen und damit war er fertig. Sollen
wir mit chriſtlichem Mitleid auf des armen Men¬
ſchen Unwiſſenheit herabſehen? Ich denke, wir
laſſen es bleiben. Ein Perſer auf ſeinem ſchnel¬
len Roß, hinter Tigern durchs Gebirge ſtreifend,
Pfeil und Bogen in den ſchlanken Haͤnden, Au¬
gen voll Feuer, trotziges Laͤcheln auf den von Luͤge
unentweihten Lippen, das war ein Menſch, auf
den die Sonne, die er anbetete, mit Luſt und
Wohlgefallen herabſah — wir wuͤrden eine ſchlechte
Rolle an ſeiner Seite ſpielen.
Das bloße Wiſſen, meine Herren, hat kein
inneres Maß und Ziel, es geht ins Unendliche,
ſein Stoff zerfließt in Zentillionentheilchen. Wie
manche Wiſſenſchaft, ja wie mancher Aſt einer
fruͤheren, erfordert gegenwaͤrtig eines Menſchen
volles Leben, taͤgliches und naͤchtliches Arbeiten und
Lernen, um ſich des Stoffes nur einigermaßen zu
bemaͤchtigen. Nun ſtellen Sie ſich vor, wir haͤt¬
ten eine Welthiſtorie nach zweitauſend Jahren, die
mit Begebenheiten ſo reich ausſtaffirt waͤre, als
das letzte Jahrtauſend, oder imaginiren Sie ſich
einen Profeſſor, der a dato nach zweitauſend Jah¬
ren im Kollegio Welthiſtorie vorzutragen haͤtte —
bedenken Sie, daß nicht blos Europa, daß auch
Aſien, Afrika, Amerika, die Inſeln der Suͤdſee
eine Geſchichte haben werden, und wenn Sie auch
der Anſicht leben, daß die Geſchichte ſich immer
mehr vergeiſtigen und die inneren Umgeſtaltungen
der Kuͤnſte, Erfindungen, des Lebens befaſſen werde,
bedenken Sie, welche Fluth von Erfindungen, Ver¬
aͤnderungen, Evolutionen im Staatsleben, in der
Kunſt, in der Wiſſenſchaft muͤſſen tauſend Millio¬
nen gebildeter Menſchen in tauſend und aber tau¬
ſend Jahren beſtaͤndiger Generationserneuerung
hervorbringen und beurtheilen Sie darnach die
Angſt und Verlegenheit beſagten Profeſſors der
Geſchichte, wenn er das Alles in einen halbjaͤhri¬
gen oder einjaͤhrigen oder dreijaͤhrigen akademiſchen
Kurſus einzwaͤngen ſoll. Wie will er es nur
ſelbſt zu einem Stuͤckwerk von Gelehrſamkeit, zu
einer oberflaͤchlichen Materialienkenntniß bringen in
einem Fache, das ſo unendlich, unuͤberſehlich ſein
wird, wie das Weltmeer, von ſo unzaͤhlbaren Ein¬
zelheiten, wie Tropfen darin. Ins Unendliche
theilen muͤßte man die gelehrte Arbeit, wie es in
Fabriken geſchieht, wo der Eine den Knopf, der
Andere den Schaft, der Dritte die Spitze der
Nadel fabrizirt. Der eine Profeſſor verſtaͤnde ſich
auf das Jahr 2000, der Andere auf das Jahr
1999, oder der eine waͤre gelehrt in der Geſchichte
aller großer Maͤnner, deren Name mit dem Buch¬
ſtaben A, der andere in der Geſchichte der beruͤhm¬
ten Leute, deren Name mit dem Buchſtaben Z an¬
faͤngt, und wie man ſich noch weiter ſcherzhafter¬
weiſe den laͤcherlichen Wirrwarr entknaͤueln mag,
der aus der ungeheuerlichen Menge und Zerfallen¬
heit des Stoffes mehr und mehr entſpringen wird.
Alſo, Wiſſen als ſolches kann nicht Aufgabe
und Zweck des Lebens ſein, weil daſſelbe maßlos
mit dem Anwachſen des Stoffes ſich ſelbſt zerſtoͤrt
und aufhebt. Dieſem maßloſen Wirken gegenuͤber
ſteht ein Geiſt, deſſen Kraͤfte nur zu wohl gemeſ¬
ſen und abgewogen ſind. Die Vergroͤßerung der
Wiſſensmaſſe macht das menſchliche Hirn nicht groͤ¬
ßer, ſeine Kapazitaͤt bleibt dieſelbe wie vor Alters.
O wie dieſes gelehrte Unweſen ſeit Jahrhunderten
die edelſten Kraͤfte Deutſchlands zur unfruchtbaren
Tantalusarbeit verurtheilt hat, wie wir Deutſche
aus wandernden Helden Stubenſitzer, aus Krie¬
gern und Jaͤgern lebensſieche, thatenſcheue Magi¬
ſter geworden ſind!
Hatten die Griechen nicht auch Gelehrte,
Wiſſende? Ich meine. Aber kein griechiſcher
Gelehrter konnte ſich dermaßen verknoͤchern, weil
Welt und Studium ſich die Hand boten und die
Palaͤſtra neben der Stoa ſich befand. Die Wiſ¬
ſenſchaft der Griechen war die Frucht ihres Le¬
bens, uns iſt ſie der traurige Reſt deſſelben. Als
jenes griechiſche Leben verfiel, als jenes ſchoͤne Herz
ſtockte und ſtillſtand, da ward es in der Kapſel
nach Aegypten gebracht, zu Alexandrien einbalſa¬
mirt und die trockne Mumie nannte Eratoſthenes
Philologie. Meine Herren, als das Leben
todt war, hielt die Gelehrſamkeit Leichenſchau.
Haͤtten wir nur das Eine von den alten
Griechen gelernt, das Eine, wie wir den Orga¬
nismus unſers Geiſtes, die Einheit unſers Lebens
uͤber Alles, alles Uebrige aber danach zu ſchaͤtzen
wuͤßten, ob es ſich unſerm Organismus lebendig
veraſſimilirt.
Eine kleine Welt nennt man den Menſchen
und man hat Recht. Mikrokosmus koͤnnte und
ſollte der Menſch ſein, denn eingeſchloſſen ſind in
ſeinem Weſen die Elemente und die Kraͤfte des
Alls und er iſt im buchſtaͤblichen Sinn die ganze
Schoͤpfung, im Auszug. Alles Geſchaffene iſt freilich
Mikrokosmus, Stern, Thier und Blume, doch in truͤ¬
berer Geſtalt und bewußtlos. So iſt es und doch fuͤr
uns iſt der Ausdruck und die Wahrheit nur be¬
ſchaͤmend, wir ahnen, was wir ſein ſollten und
fuͤhlen, was wir nicht ſind. Wir repraͤſentiren
nicht unſere eigene Welt, wir tragen nur eine
fremde zur Schau, unſere Gebildeten, unſere
Dichter und Denker begnuͤgen ſich damit, die
Welt in kalter Geſchliffenheit wieder abzuſpiegeln,
unſere Gelehrten duͤnken ſich eine Welt zu ſein,
wenn ſie ſich eine Welt von Gedanken, Sachen,
Zahlen und Woͤrtern in den Kopf gelernt haben.
Daher, klein genug ſind wir, aber wo bleibt
unſere Welt, die lebendig organiſche Ganzheit, die
geſunde, vollbluͤhende Gegenwart? Die kleinſte
Alpenroſe beſchaͤmt uns. Sie hat ein pulſirendes
Herz, Lebenseinheit, ſie gleicht einer Welt im
Kleinen. Was uns geiſtig zuſammenhaͤlt, iſt
nicht innerer Hauch, nicht polariſche Attraktion,
ſondern gemeine Kohaͤſion. Die Alpenroſe mit
ihren klaren, klugen Augen iſt auf ihre Weiſe auch
nicht ungelehrt, ſie iſt eine kleine Studentin, hoͤrt
Kollegia uͤber Felserde, Wetterkunde, Thautro¬
pfen, Fruͤhlingsathem, aber ſie weiß Alles beſſer
in succum et sanguinem zu vertiren, das iſt bei
uns nur eine ſchulfuͤchſiſche Redensart, womit wir
unſer oͤdes, lateiniſches Treiben ſelbſt verſpotten.
Das Leben iſt des Lebens hoͤchſter Zweck und
hoͤher kann es kein Menſch bringen, als den leben¬
5 * *
digen Organismus darzuſtellen. Kenntniſſe und
Wiſſenſchaften ſind nicht fuͤr ſich, ſind nur fuͤr den
Geiſt vorhanden, deſſen Trank und Speiſe ſie ſind.
Der Geiſt iſt kein Magazin, keine kalte, ſteinerne
Ziſterne, die den Regen des Wiſſens auffaͤngt, um
ſich damit bis an den Rand zu fuͤllen. Er gleicht
einer Blume, die ihren Kelch den Thautropfen
aufſchließt und aus den Bruͤſten der Natur Leben
und Nahrung ſaugt. Aufzubluͤhen, ins Leben hin¬
einzubluͤhen, Farben auszuſtrahlen, Duͤfte auszu¬
hauchen, das iſt die Beſtimmung der Menſchen¬
blumen.
Wir haben uns herausſtudirt aus dem Leben,
wir muͤſſen uns wieder hineinleben. So gruͤnd¬
lich, wie wir ſtudiren, ſo gruͤndlich ſollen wir le¬
ben. Deutſchland war bisher nur die Univerſitaͤt
von Europa, das Volk ein antiquariſches, ausge¬
ſtrichen aus der Liſte der Lebendigen und geſchicht¬
lich Fortſtrebenden. Tauſend Haͤnde ruͤhrten ſich,
um der Vergangenheit Geſchichte zu ſchreiben, we¬
nige Haͤnde, um der Zukunft eine Geſchichte zu
hinterlaſſen. Deutſchland hatte nur Bibliotheken,
aber kein Pantheon. Die Deutſchen waren nur
Zuſchauer im Theater der Welt, aber hatten ſelbſt
weder Buͤhne noch Spieler. Sie waͤren ſtolz auf
ihre Unparteilichkeit, ihre vorurtheilsfreie Anerken¬
nung und Wuͤrdigung aller Lebens- und Kraft¬
aͤußerungen fremder Nationen, aber ſie ſelbſt wur¬
den nicht wieder anerkannt, denn ſie hatten keinen
poſitiven Lebensgehalt zur Ruͤckanerkennung frem¬
den Voͤlkern zu bieten. Nur die Kraft mag an¬
erkennen und ſie erhoͤht ihren Werth, wenn ſie
es nicht unterlaͤßt — die Schwaͤche muß.
Der Kraͤftige fragt den Schwaͤchling nicht, ob er
ihn und ſeine Kraft gelten laſſen will, dem
Schwaͤchling bleibt keine Wahl, er muß, er ſieht
ſich dazu gezwungen, aller Bettelſtolz hilft ihm
zu nichts. Der kleinſte Funke einer ſchoͤpferiſchen
Lebenskraft hat ſeinen Altar auf der Welt, ſeine
Prieſter, Verehrer, aber ohne den iſt Alles nichts.
Bloßes Wiſſen, ſage ich, kann nicht Zweck
der Erziehung, nicht Aufgabe des Lebens ſein, und
ich habe unter Wiſſen bisher nur den Ballaſt
hiſtoriſcher Poſitivitaͤten verſtanden, womit Deutſch¬
land zum Verſinken befrachtet iſt. Es gibt aber
ein dem hiſtoriſchen und dogmatiſchen Wiſſen ent¬
gegengeſetztes hoͤheres, ein Wiſſen nicht des Ge¬
daͤchtniſſes, ſondern des Verſtandes, ein ſelbſtthaͤ¬
tiges, verſtehendes Wiſſen, das man mit dem Na¬
men des philoſophiſchen bezeichnet. Der tiefſten
metaphyſiſchen Seite deſſelben iſt in voriger Stunde
mit ſchuldiger Ehrerbietung Erwaͤhnung gethan, ſie
fuͤhrt vom Leben ab, das liegt in ihrer Natur
und die Thatſache leidet keinen Zweifel; denn ſie
muß die Welt erſt zerſtoͤren, um ſie aufzubauen,
ſie iſt der Tod der Sinne und der Sinnlichkeit,
und ſchon Plato definirte ſie als ein langſames
Abſterben fuͤr die bunten und wechſelnden Geſtal¬
ten und Erſcheinungen der Welt und ein Feſtwer¬
den in den Ideen der Ewigkeit. Auch haͤngt ſie
in hoͤherem Grade, als eine blos dialektiſche, kri¬
tiſche und pſychologiſche Sekte der modernen Phi¬
loſophie zugeſtehen mochte, mit dem religioͤſen
Myſtizismus eng zuſammen.
Neben und außer der Philoſophie, die ſich
in der Geſellſchaft gleichſam iſolirt, herrſcht ein
weites Reich des Gedankens, das ſich, gleich je¬
ner, uͤber den Zwang des Gegebenen, Hiſtoriſchen
und Poſitiven erhebt, keinesweges aber mit ihr
gleichſam an die aͤußerſten Grenzen der erſchaffe¬
nen Welt verliert, ſondern in der Mitte und Fuͤlle
der lebendigen Schoͤpfung ſtehen bleibt und ſich
an den organiſchen und gebildeten Naturen derſel¬
ben erfreut. Auch hier iſt Zweck und Reſultat
ein Wiſſen und zwar ebenfalls ein ſolches, das
ſich ſowohl durch die Analogie der Erſcheinungen,
als durch die Harmonie mit den Geſetzen unſeres
Denkvermoͤgens bewaͤhrte, ein Wiſſen, zu dem am
Ende auch die abſtrakte Philoſophie gelangen muß,
wenn ſie, wie Herbart in Koͤnigsberg dies witzig
und ſcharfſinnig ausgedruͤckt hat, wenn ſie Rech¬
nungsproben zu ihren allgemeinen Saͤtzen ſucht.
Es hat dieſes Wiſſen bald die Natur, bald den
Staat und die Geſellſchaft, bald die einzelnen
Produktionen derſelben, die Werke der Kunſt, Be¬
redtſamkeit und Poeſie im Auge. Es zerſtoͤrt
nicht das Gegebene, es erhebt ſich nur uͤber daſ¬
ſelbe, es laͤßt ſich in freie Betrachtungen ein, es
unterſucht, urtheilt, pruͤft und vergeiſtigt ſich den
Stoff, indem es ihn geiſtig bearbeitet und repro¬
ducirt. Der Naturforſcher unterſucht den Orga¬
nismus der Pflanzenwelt, die Metamorphoſen eines
Gewaͤchſes, die Brechungen des Lichts, die Kry¬
ſtalliſationen des Fluͤſſigen und es iſt uͤberall ſein
hoͤchſtes Bemuͤhen, den organiſchen Zuſammen¬
hang und die Identitaͤt des Mannigfaltigen an
einem Werke, einer Erſcheinung der Natur auf¬
zufaſſen. So unterſucht und erforſcht der Politi¬
ker den Organismus des Staats, der Aeſthetiker
den Organismus der Kunſt und die Geſetze und
Bedingungen, unter denen ſich die Kunſtſchoͤnheit
entfaltet. Zweck und Reſultat alles deſſen iſt und
bleibt das Wiſſen, ſo ſehr es ſich auch durch
Friſche und Individualitaͤt vom abſtrakten und gar
vom geiſtloſen hiſtoriſchen Wiſſen unterſcheidet.
Aber auch dieſes Wiſſen, das Kennzeichen
der Bildung, das allgemeinſte Erforderniß, um
auf den Namen eines denkenden und gebildeten
Menſchen Anſpruch zu machen, habe man ſich nun
mehr auf die eine oder auf die andere Seite deſ¬
ſelben geworfen, iſt nicht und erſetzt nicht
das Leben; wenn ſie auch in naturgemaͤßem
Zuſtande denkbar waͤre, ohne Vorausſetzung des
Letzteren.
Denn es iſt der Menſch nicht blos der Spie¬
gel, der die Schoͤpfung reflektirt und geiſtig wie¬
der auffaßt, er iſt ja ſelbſt eine Schoͤpfung und
ihm angeboren iſt das Recht und die Kraft, ſelbſt
etwas fuͤr ſich zu ſein und unter den Exiſtenzen
der Welt ſeinen Platz einzunehmen. Er ſoll ſich
dort behaupten durch ſelbſteigene ſchoͤpferiſche Thaͤ¬
tigkeit, er ſoll, da wo er geboren iſt, mit den
Fuͤßen Wurzel faſſen in der Gegenwart und die
Hand ruͤhren zu Werken, welche ſein fluͤchtiges
Daſein beurkunden, er ſoll ſich freuen an menſch¬
licher That, ſich hingeben menſchlichem Genuſſe,
das Spiel ſeiner Kraͤfte entfalten, fuͤr Recht und
Wahrheit in die Schranken treten, die Unſchuld
lieben, die Tugend ehren, die Luͤge haſſen, die
Bosheit entlarven, den Frevel raͤchen, die Gefahr
verachten, und wenn's noͤthig, ſein Leben fuͤr die
hoͤchſten Guͤter, ſei's zur Erringung oder Behaup¬
tung derſelben, fuͤr Freiheit und Vaterland in die
Schanze zu ſchlagen.
Wir ſind nicht blos auf die Welt geſetzt, um
uͤber die Welt zu raiſonniren, um Philoſophen,
Naturforſcher, Aerzte und Politiker zu ſein. Die
Welt geht ihren Gang ohne uns, wir ſollten nur
mehr unſern eigenen Gang gehen, die Sinne ſchaͤr¬
fen, die Kraft ausbilden und Kraft gegen Kraft
abreiben. Um das Denken und die humane Bil¬
dung iſt es eine ſchoͤne Sache, aber fehlt ihr der
Mittelpunkt, fehlt ihr das Herz, das Leben, der
ungebrochene ſtarke Wille, ſo iſt das Denken nur
ein Spiel und die Bildung ohne Gehalt. Denke
dir den Blitz und fuͤhle ihn, ſagt ein Schwede,
und das Wort iſt ſelbſt ein Blitz, das man den¬
kend fuͤhlt.
Das Leben iſt des Lebens hoͤchſter Zweck,
kein Wiſſen und keine Wiſſenſchaft, keine Bil¬
dung erſetzt den Fond des Lebens, koͤnnte ſie auch
ohne Vorausſetzung des Letzteren im naturgemaͤßen
Zuſtande gedacht werden.
Allein, meine Herren, das kann keine Wiſ¬
ſenſchaft. Nur im Element des Lebens bilden ſie
ſich naturgemaͤß, außer dieſem ſind es kuͤnſtliche
Gewaͤchſe, die mehr oder minder die Flecken und
Gebrechen der Willkuͤr, der Unnatur, der Ge¬
ſchmackloſigkeit an ſich tragen. Das Leben raͤcht
ſich an ſeinen Veraͤchtern und ſeine Rache beſteht
darin, daß es die großen, einfachen Wahrheiten,
die ſonſt Jedermann einleuchten, mit einem Nebel
von Vorurtheilen verhuͤllt und ſie dem Auge der
Naturforſcher, der Philoſophen, der Politiker, der
Aeſthetiker entzieht. Zum ſchlagenden Beweiſe
fuͤhre ich die unnatuͤrliche Geſchmackloſigkeit an,
die in den letztvergangenen zwei Jahrhunderten in
allen Kreiſen der Kunſt und Wiſſenſchaft an der
Tagesordnung war. Die Politik, dieſe hohe Wiſ¬
ſenſchaft, die den vollkommenſten aller Organismen,
den Staat, analyſiren ſoll, wie konnte ſie ſich zu
der Hoͤhe dieſer Bedeutung aufſchwingen, da die
europaͤiſchen Staaten ſo unendlich tief unter ihr
ſtanden und ein franzoͤſiſcher Koͤnig mit edler Drei¬
ſtigkeit zu behaupten ſich unterſtand: l'état c'est
moi. Was konnte ſie anders ſein zu dieſer Zeit
als ein trauriges Abbild dieſes hoͤfiſchen Ichs, das
ſein gepudertes Haupt aus allen Fenſtern und
Erkern des Staatsgebaͤudes herausſteckte, als eine
Wiſſenſchaft des Despotismus, der Intrigue, der
Geheimnißkraͤmerei, als eine Satyre auf den
Staat? Und die Aeſthetik, die Lehre des Ge¬
ſchmacks, die Analyſe der Schoͤnheit, konnte ſie
auch nur im Entfernteſten der Idee entſprechen,
zu einer Zeit, wo die Natuͤrlichkeit der menſchli¬
chen Lebensaͤußerungen untergegangen war im ſteif¬
ſten Zeremoniell, wo nichts ſich ruͤhrte und regte,
als auf den Wink pedantiſcher Zuchtmeiſter, wo
man ſchwarze Lappen auf geſchminkten Wangen
Schoͤnpflaͤſterchen nannte, und die Damen ihre
Huͤften mit ungeheuern Reifbaͤndern umgaben, wo
das Volk ſich in die Pfuͤtze warf, wenn abge¬
ſchmackte goldene Karoſſen mit betreßten und be¬
zopften Hanswuͤrſten hinterm Kutſchenſchlag vor¬
uͤberraſſelten, wo im ausbrechenden Kriege die Ge¬
nerale und Kondottieris mit einander Schach ſpiel¬
ten, moderne Helden, die durch Maitreſſen eben
ſo oft ihre Stelle erhielten, als verloren und noch
oͤfter die Feldzugsplaͤne aus dem Schlafgemach des
Koͤnigs ins Lager mitnahmen. Wie war zu die¬
ſer Zeit eine ſchoͤne Natur moͤglich in Frankreich,
oder gar in Deutſchland, wo man ſich der plum¬
peſten Nachahmung des franzoͤſiſchen Unſinnes hin¬
gab. Wie war zu dieſer Zeit ein Kuͤnſtler, ein
Dichter moͤglich und nun gar ein Aeſthetiker, der
doch der Schoͤnheit, der Kunſt, der Poeſie, nicht
geſetzgeberiſch vorauf, ſondern geſetzempfangend
hintennach geht. Sie werden vom Abbé Bat¬
teux gehoͤrt haben. Sein unique principe des
belles lettres war einmal ein europaͤiſch beruͤhm¬
tes Werk der Aeſthetik und Rammler hat es in
vier deutſche Baͤnde gebracht. Dieſer Abbé nannte
die Nachahmung der Natur und zwar der ſchoͤnen
Natur, das einzige große aͤſthetiſche Prinzip, das
den Arbeiten des Geſchmackes zu Grunde gelegt
werden muͤſſe. Leſen Sie das Werk eines ſonſt
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 6
geiſtreichen Mannes, das noch immer die Art von
Verachtung nicht verdient‚ womit man gegenwaͤr¬
tig davon ſpricht, was das eigentlich mit der ſchoͤ¬
nen Natur und ihrer Nachahmung auf ſich hatte‚
und in einer Epoche auf ſich haben konnte‚ als
alle wirkliche Natur aus dem Leben geſchwunden
war und Malerei, Bildhauerei, Muſik, Poeſie‚
Baukunſt‚ Gartenkunſt und was es ſonſt fuͤr
Kuͤnſte gibt‚ die an einem gegebenen Stoff das
Schoͤne verwirklichen wollen‚ unglaublich verſchro¬
ben und manierirt waren.
Diderot und Rouſſeau hießen die beiden un¬
ſterblichen Maͤnner‚ die ſich aus der Unnatur ih¬
res Jahrhunderts zuerſt herausriſſen. Rouſſeau’s
Emil legte den Grund zu einer neuen Erziehung
der europaͤiſchen Jugend, ſein contrat social den
Grund zur franzoͤſiſchen Revolution‚ dem Todes¬
ſtoß der europaͤiſchen Tyrannis in Kunſt‚ Sitte
und Staat. Fuͤr die Deutſchen ging zu gleicher Zeit
Shakſpeare auf und damit ein fluthendes Luftmeer
von Genien und Kraͤften‚ woran die unerſaͤttlichſte
Phantaſie ewigen Stoff zur Schwelgerei findet.
Lange Zeit nahm man den Genuß nur ſo hin,
ohne uͤber die Quelle deſſelben nachzudenken; ſo wie
man ſich auch die franzoͤſiſche Revolution mit der
Phantaſie aneignete, ohne etwas Arges dabei zu
denken und ohne aus der Schlaͤfrigkeit des buͤr¬
gerlichen Lebens zu erwachen. Dann aber kam
eine Zeit und ſie dauert fort, wo man ſich fragt,
woher ſtammt dieſe Fuͤlle von Leben und Kraft,
die uns an Shakſpeare entzuͤckt und ſeine dich¬
teriſchen Gebilde ſo lebensderb, ſo kuͤhn, ſo un¬
uͤbertrefflich macht? Und da lautete die Antwort:
das hat er ſich nicht auf ſeinem Stuͤbchen zuſam¬
mengedichtet, das hat er nicht aus dem Stegreif
phantaſirt, das hat er gelernt und herausgeſchaut
aus dem wildbewegten, großartigen Leben, das
ſeine Jugendtraͤume umflatterte und ihn ſpaͤter als
Juͤngling und Mann in ſeine Mitte aufnahm.
Und ſo kommt uns von allen Seiten die
Beſtaͤtigung zu, daß das Leben das Hoͤchſte iſt
und allem Uebrigen, wenn es gedeihen ſoll, zu
Grunde liegen muß, geſchweige der Kunſt, der
Schoͤnheit, und der ſich mit ihr beſchaͤftigenden
Aeſthetik.
Und ſo ſchließe ich dieſe Vorleſung mit den
Schlußworten der vorigen:
Es fehlt uns an einem gemeinſamen Mittel
der Bildung, weil es uns an gemeinſamem Le¬
ben fehlt. Doch ſchon dieſe Einſicht, die ſich
immer mehr verbreitet, iſt ein Schritt zur Beſſe¬
rung, und dieſelbe zur hoͤchſten Evidenz und Klar¬
heit gebracht, die ein Jeder ihr zu geben im
6 *
Stande iſt, ſteht ſchon damit in der Vorhalle der¬
jenigen Wiſſenſchaft, welche unter Vorausſetzung
eines rechten und tuͤchtigen Lebens, die Schoͤnheit
der Bildungen in Leben und Kunſt aufweiſet und
erlaͤutert, der Aeſthetik.
Sechste Vorleſung.
Nach der gegebenen Einleitung, meine Herren,
wird es Ihnen klar geworden ſein, daß wir der
Aeſthetik ſowohl einen weitern Umfang, als eine
tiefere Bedeutung einzuraͤumen haben, als dies in
den gewoͤhnlichen Aeſthetiken zu geſchehen pflegt.
Es gibt Wiſſenſchaften, deren Zeitraum und Pe¬
ripherie ſeit Alters ſo ziemlich gleichmaͤßig beſtimmt
geweſen; wie z. B. die Mathematik, die Logik.
Dieſe ſtehen gleichſam uͤber der Geſchichte; indem
ſie ſich zu allen Zeiten weſentlich gleich ſehen und in
Anlage und Ausfuͤhrung, wenn auch nicht unver¬
aͤnderlich, dennoch nur ſolcher Veraͤnderungen faͤ¬
hig ſind, welche als bloße Erweiterungen von in¬
nen heraus treten. Sie gedeihen in allen Zeit¬
laͤuften und auch, wenn die Zeit ſtille ſteht, das
heißt, wenn das geſchichtliche Leben der Voͤlker
todt und abgeſtorben iſt; daher denn auch Logik
und Mathematik am Allerwenigſten den menſchli¬
chen Geiſt in ſeiner Bewegung abſpiegeln, und
wie dies die Erfahrung lehrt, das eifrige Stu¬
dium derſelben keinen Schluß auf die Bluͤthe an¬
derer Studien zu ziehen erlaubt. Es erſcheint in
ihnen das Geiſtige nur in den allgemeinſten For¬
men, Denk- und Anſchauungsgeſetzen, aber man
vermißt Herz und Leben und hat es nur mit einem
Skelett zu thun. Mit vollem Recht kann man
behaupten, daß der Logiker, Mathematiker weder
Blut noch Gewiſſen, weder Geiſt noch Herz zu
beſitzen braucht, daß ihm Alles fremd bleiben kann,
was des Menſchen Buſen erfuͤllt und begeiſtert,
was ihn zum Menſchen macht, daß ein Logiker
und Mathematiker eben ſo gut auf dem Jupiter
oder Uranus ſeine Heimath finde, daß es nur
gleichſam reine Zufaͤlligkeit iſt, wenn er ſeine Ope¬
rationen und Berechnungen auf der Erde inner¬
halb der gewoͤlbten Waͤnde eines menſchlichen Ge¬
hirns anſtellt. Dieſe Wiſſenſchaften geben uns
keine Ahnung von der Fuͤlle der Menſchheit, es
iſt ihr Charakter, ihre Aufgabe von allem denkba¬
ren Inhalt zu abſtrahiren. Glauben Sie nicht,
daß dies zur Verachtung derſelben geſagt werden
ſoll, ich verehre insbeſondere die Mathematik und
erkenne nur zu wohl ihren ungeheueren jetzigen
und kuͤnftigen Einfluß auf die materielle Fortbil¬
dung der Geſellſchaft. Allein es war auch nur
meine Abſicht, dieſe Wiſſenſchaft in ihrer theoreti¬
ſchen Abſtraktheit aufzuſtellen und ſie zum Gegen¬
ſatz auf jene andern Zweige des Wiſſens zu lei¬
ten, welche von vorn herein ſich mit irdiſchem
Heimathsgefuͤhl zum Menſchen geſellen und an den
hoͤheren geiſtigen Evolutionen des Geſchlechts in¬
nigen Antheil nehmen. Dahin zaͤhle ich die Stu¬
dien der Natur und Kunſt, die gleichſam Hand
in Hand mit ihren Zeitaltern fortgehen, ihre Ge¬
ſchichte theilen. Dieſelbe geſchichtliche Natur hat
die Aeſthetik. Sie beruht auf dem Leben, iſt
mehr oder minder lebendig, tief oder oberflaͤchlich,
welk oder bluͤhend, je nachdem das Herz, das in
einem Zeitalter pulſirte, das Eine oder das Andere
war. Man ſieht ſie von Zeit zu Zeit bei Plato,
Plotin, Hemſterhuis, Solger in veraͤndertem Ge¬
wande hervortreten, in ſchoͤner Form, in Unform,
als tiefſinnigſte Lebensphiloſophie, als Tagsgeſchwaͤtz,
bald unter dieſem, bald unter jenem Namen.
Laſſen Sie ſich nicht irre machen uͤber ihre Natur
und Exiſtenz! Jeder ausuͤbende Kuͤnſtler, jeder
handelnde und fuͤhlende Menſch traͤgt ſeine Aeſthe¬
tik in ſich, bewußt oder unbewußt faͤllen wir taͤg¬
lich Hunderte von aͤſthetiſchen Urtheilen, aus denen
grade das Eigenthuͤmlichſte unſerer Geſinnungs-
und Denkweiſe unmittelbar hervorbricht.
Folgen Sie mir, meine Herren, in das Ge¬
biet der Geſchichte. Es muͤßte Schuld meiner
Darſtellung ſein, oder es wird aus den wenigen
großen welthiſtoriſchen Zuͤgen, welche ich anzufuͤh¬
ren gedenke, in Ihrer Seele der Begriff der Aeſt¬
hetik in hoͤchſter Potenz ſich als der Begriff deſ¬
ſen lebendig machen und erweitern, was man in
neuerer Zeit ſo paſſend Weltanſchauung genannt
hat, eine Bezeichnung, die ebenfalls nur der deut¬
ſchen Sprache, oder vielmehr dem deutſchen Ge¬
danken eigenthuͤmlich iſt.
Erkennen und Handeln ſind die beiden Pole
unſeres Geiſtes. Das aͤſthetiſche Element tritt
zwiſchen beide in die Mitte, es iſt ein Denken
und zugleich ein Fuͤhlen, das in jedem Moment
beim Kuͤnſtler ins Handeln umſchlaͤgt. Alle aͤſthe¬
tiſchen Urtheile ſind von dieſem Gefuͤhl begleitet,
ſie ſind nichts ohne daſſelbe, das
bald anziehend bald abſtoßend, bald beifaͤllig, bald
mißfaͤllig das Gemuͤth in elektriſchen Stroͤmungen
lebendig erhaͤlt. Was uns nur als ſchoͤn oder
haͤßlich, als gut oder boͤſe anmuthet oder wider¬
ſteht, iſt aͤſthetiſcher Natur, hat ſeine Wurzel im
ſinnlich-geiſtigen Urgrund unſeres Weſens, und er¬
kennt in dieſer Unmittelbarkeit keinen hoͤheren Rich¬
ter uͤber ſich. Nach Verſchiedenheit der Indivi¬
dualitaͤten ſind die aͤſthetiſchen Gefuͤhle und Ur¬
theile ſo verſchieden, wie die menſchlichen Grund¬
naturen; alle vereinigen ſich wieder in gewiſſen
Grundgefuͤhlen, Anſichten und Urtheilen, welche
den beſondern Charakter eines Volks, einer ge¬
ſchichtlichen Epoche ausmachen.
Schlagen wir zunaͤchſt unſere Blicke auf jene
uralte indiſche Welt, von deren Groͤße uns nur
ein armſeliger Schatten uͤbrig geblieben; betrachten
wir jene traͤumeriſchen Menſchen, welche die Ufer
des Ganges bevoͤlkerten und gleich menſchlichen
Sinnpflanzen unter Lotos und Bananen bluͤhten.
Große Werke der Religion, Philoſophie, Poeſie
und Kunſt haben ſie uns hinterlaſſen, zu deren
Verſtaͤndniß erſt die neueren Zeiten den Schluͤſſel
geliefert. Dennoch koͤnnen wir uͤber das Verſtaͤnd¬
niß nicht ſo recht zum Genuß derſelben durchdrin¬
gen — die aͤſthetiſche Grundanſchauung der Inder
iſt zu verſchieden von der unſrigen. Legen wir
den Maßſtab unſerer Moral und Aeſthetik an die
Moral und Aeſthetik der Inder, ſo offenbart ſich
das entſchiedenſte Mißverhaͤltniß, obgleich wir be¬
kennen muͤſſen, es ſpreche ſich wirkliche Natur und
wirklicher menſchlicher Zuſtand nicht weniger im
Indiſchen, als im Europaͤiſchen aus. Bedenken
wir uns nun jenes aͤſthetiſche Grundprinzip, das
der indiſchen Weltanſchauung zu Grunde liegt und
das Kriſchnas in der Bagavadgita (Unterredung
des Kriſchnas) mit den Worten ausſpricht: nie
iſt der Werth einer Handlung in
die Frucht geſetzt, ſo fuͤhlen wir ſchon
gleich alle Konſequenzen, welche aus dieſem Grund¬
ſatz fuͤr Leben und Kunſt ohnedies herausfließen
muͤßten. Nie iſt der Werth des Han¬
delns in die Frucht geſetzt: das heißt:
nicht die That iſt etwas, nicht der Erfolg,
nur der Gedanke, die Abſicht. Wilhelm
Humbold, der uͤber die Bagavadgita ſich in einer
eigenen Schrift verbreitet hat, nennt eine ſolche
Stimmung eine unlaͤugbar philoſophiſche, eine an
das Erhabene grenzende. Das Erſtere wird man
ihm leicht zugeſtehen, da die Philoſophie als ſolche,
oder die Metaphyſik, ſich nicht allein aus dem
Kreiſe menſchlicher Handlungen, ſondern aus
allem Stoffartigen der Natur und Menſchheit zu¬
ruͤckzieht und, wie ſchon bemerkt, mit der entkoͤr¬
pernden Myſtik in nahen Verhaͤltniſſen ſteht. Auch
die Bezeichnung des Erhabenen oder deſſen, was
an das Erhabene grenzt, mag man unangetaſtet
laſſen, da das Erhabene auch in unſern Augen
dann hervortritt, wenn ein Menſch, ohne Aus¬
ſicht auf Erfolg, ſich fuͤr eine große Sache auf¬
opfert, und nur die Heiligkeit und Schoͤnheit des
Gedankens, der ihn begeiſtert, vor Augen hat.
Allein ſchon hierin muͤſſen wir auf der Hut ſein,
das indiſche Geſetz nicht europaͤiſch auszulegen
und darin etwa Kant's kategoriſchen Imperativ zu
ſehen, nach dem man die Pflicht nur um ihrer
ſelbſt willen thun ſoll; ſelbſt Schleiermacher's in
den Monologen ausgeſprochenes Prinzip, das
faſt woͤrtlich ſo lautet, wie das indiſche in der
Bagavadgita, ſtimmt dem Sinne nach, wenigſtens
nicht in allen indiſchen Konſequenzen damit voͤllig
uͤberein.
Denn, betrachten wir nun, wie das indiſche
Leben, ihre Philoſophie und Poeſie ſich geſtaltet
hat, ſo ſehen wir ſo recht deutlich, wie tiefgreifend
der aͤſthetiſche Grundſatz durch alles dieſes hindurch
geht und dem ganzen Inderthum Farbe und Ge¬
praͤge gibt. Die Negation der That iſt nichts
anders, als die indiſche Geſchichte, Kunſt und
Poeſie ſelber.
Das Handeln wird uͤberall vom Denken,
Traͤumen, Phantaſiren abſorbirt, ſelbſt dieſes Den¬
ken und Phantaſiren zieht ſich immer weiter zu¬
ruͤck von der Welt der Sinne, es verſenkt ſich
in ſich ſelbſt, es laͤßt im indiſchen Philoſophen
und Myſtiker die ganze Welt hinter ſich zuruͤck,
um als einſames Ich uͤber ſeinem Ich zu bruͤten,
und das goldne Ei der indiſchen Weltphiloſophie
auszuhecken, das Nichts und doch Alles in ſich
faßt. Nichts zu denken, war grade die hoͤchſte
Aufgabe der Yogalehre.
In der Vertiefung der Menſch muß ſo vertiefen,
ſinnentfremdet ſich,
Tilgend jeder Begier Streben, von Eigenwillens Sucht
erzeugt,
Der Sinne Inbegriff baͤndigend mit dem Gemuͤthe ganz
und gar,
So ſtrebend nach und nach ruh' er, im Geiſt gewinnend
Staͤtigkeit,
Auf ſich ſelbſt das Gemuͤth heftend und irgend etwas
denkend nicht —
So lauten Kriſchnas Worte in der Bagavad¬
gita. Weitere Vorſchriften und Zuͤge ſtellt Wil¬
helm Humbold aus indiſchen Schriften zuſam¬
men: der Fromme ſoll in einer menſchenleeren
reinen Gegend einen nicht zu hohen, nicht zu nie¬
drigen, mit Thierfellen bedeckten Sitz haben, Hals
und Nacken unbewegt, den Koͤrper im Gleichge¬
wicht halten, den Odem hoch in das Haupt zu¬
ruͤckziehen und gleichmaͤßig durch die Naſenloͤcher
aus- und einhauchen, nirgends umherblickend, ſeine
Augen gegen die Mitte der Augenbrauen und die
Spitze der Naſe richten, und die beruͤhmte Sylbe
Om! ausſprechen. — Zu ſolchem unſchoͤnem,
unnatuͤrlichem, ſtumpfem und dumpfem Zuſtande
fuͤhrte auf gradem Wege das Prinzip, das der
indiſchen Weltanſchauung zum Grunde lag. Den¬
noch haben wir es bezeichnet als ein aͤſthetiſches,
obwohl es in unſerm und griechiſchem Sinne der
Aeſthetik gradezu als unaͤſthetiſch erſcheint. Allein
eben ſo gut, wie wir die Poeſie in indiſchen Ge¬
dichten Poeſie nennen, und zur Anerkennung der¬
ſelben uns genoͤthigt fuͤhlen, eben ſo gut duͤrfen
und muͤſſen wir jene Grundanſicht, die auch der
Poeſie vorſchwebt, als aͤſthetiſch bezeichnen, weil
ſie auf einem aͤſthetiſchen Punkt wenigſtens be¬
ginnt und von ihm ausgeht: naͤmlich von einem
beſtimmten Grundgefuͤhl des Lebens, das ein¬
mal vorhanden war, moͤgen wir daſſelbe gegenwaͤrtig
theilen oder nicht.
Nur kann uns keine Pietaͤt gegen die Ge¬
ſchichte und gegen die geiſtigen Aeußerungen eines
der Urvoͤlker des Menſchengeſchlechts die Freiheit
benehmen, nach unſern Anſichten und Grundge¬
fuͤhlen ſowohl das Prinzip ſelbſt, als deſſen Ein¬
fluß auf Leben, Kunſt und Poeſie zu beurtheilen.
Der in den indiſchen Dichtungen herrſchende Ge¬
ſchmack iſt fuͤr uns ein Ungeſchmack und als ſol¬
chen hat ihn auch Goethe gegen die Anpreiſung
der modernen Inder dargeſtellt. Wir verlangen
fuͤr Poeſie und Kunſt vor allen Dingen Charak¬
tere mit ſcharfbegrenzter Individualitaͤt, ſie ſollen
ihren Geiſt auf beſtimmte Zwecke richten, deren
Verwirklichung fordern und anſtreben und nur in
dieſer Eintracht des Willens mit der That ſehen
wir poetiſche Lebendigkeit und poetiſche Wirkung.
Der indiſche Dichter hingegen, dem es auf die
That nicht ankommt, der die Harmonie zwiſchen
Verſtand und Willen, Denken und Thun nicht
als das hoͤchſte Geſetz anerkennt, uͤberlaͤßt ſich ganz
naiv der vollen Abſurditaͤt der Phantaſie und der
traͤumeriſchen Richtung der Gefuͤhle und erfuͤllt
auf dieſe Weiſe das aͤſthetiſche Geſetz im Sinne
ſeines Volks, wie er es, im Sinne der neueren
Voͤlker uͤbertritt. Man kann ſich kaum einen Be¬
griff machen von den ungeheuerlichen Schoͤpfun¬
gen, mit denen ein indiſches Dichterhirn ſchwan¬
ger ging. Am Ausfuͤhrlichſten und Glaͤnzendſten
iſt in dieſer Hinſicht die Epiſode des Ramajuna,
dieſes indiſchen Nationalgedichts, das ſich der
groͤßeſten Beruͤhmtheit erfreut.
Verfolgen Sie nur die charakteriſtiſchen Zuͤge,
die den Umriß des Gedichts ausmachen:
Wuſchiſta, ein Bramin, lebt in einer Einſie¬
delei, die mit Blumen, rankenden Pflanzen be¬
deckt iſt, beobachtend heilige Gebraͤuche, umringt
von Weiſen, die dem Opfer und der Wiederho¬
lung des heiligen Namens (Om! Om!) ihr Leben
widmen, 60,000 Weiſen, entſprungen aus den
Haaren und Naͤgeln Brahma's, alle ſo groß wie
ein Daͤumling. Nun kam einmal der Koͤnig
Wiſchwamitra zu jenem Weiſen, weil er die Kuh
beſaß, die der Koͤnig zu erhalten wuͤnſchte; zum
Preiſe bietet er erſt 100,000 Kuͤhe, dann 14,000
Elephanten mit Saͤtteln und Zeug von purem
Gold und außerdem 100 goldene Wagen, jeden
von vier weißen Roſſen gezogen. Aber umſonſt.
Er nimmt ſie alſo mit Gewalt. Durch Brahma's
Huͤlfe erhaͤlt der Weiſe eine Armee von hundert
andern Koͤnigen und dieſe zerſtoͤren die Armee des
Koͤnigs Wiſchwamitra; und Wiſchwamitra geht
verzweiflungsvoll in eine Wildniß. So groß iſt
die Macht des Brahma.
Allein in der Wildniß uͤbernimmt der Fluͤchtige
die ſtrengſten Uebungen, um Shivas oder Maha¬
devas, des boͤſen Geiſtes, Geiſt und Unterſtuͤtzung
zu erlangen; er ſteht auf den Spitzen ſeiner gro¬
ßen Zeh, mit aufgehobenen Haͤnden, wie eine
Schlange von Luft gefuͤttert — hundert Jahre
lang. Der Gott gewaͤhrt dem Koͤnige die von
ihm verlangte Kunſt des Bogens in ihrem ganzen
zerſtoͤrenden Umfang. Er gebraucht ſie, um an
dem betenden Brahminen Wuſchiſta Rache zu
nehmen, er verbrennt und verwuͤſtet den Wald,
den Schauplatz der Devotion deſſelben, ſo daß die
Weiſen, Thiere, Voͤgel zu Tauſenden davonfliehen.
Aber Wiſchnu's Bogen, vor dem ſonſt die Goͤtter
und alle drei Welten in Schrecken gerathen, wird
zu Schanden vor dem einfachen Stabe, den Wu¬
ſchiſta in der Hand fuͤhrt. So groß iſt Brahma's
Macht. Der Koͤnig ſieht es, ſeufzt und faͤngt
eine neue Laufbahn ſtrenger Uebungen und Ab¬
ſtraktionen an, um nur erſt Brahmane zu wer¬
den. Daruͤber bringt er tauſend Jahre zu.
Dieſes gefaͤllt Brahma und nach Verlauf der
Zeit erklaͤrt er ihn fuͤr einen koͤniglichen
Weiſen.
Wiſchwamitra laͤßt aber ſein Haupt mit
Scham haͤngen und ſpricht voll Verdruß: nach¬
dem ich ſolche Uebungen vollbracht, nur ein koͤnig¬
licher Weiſer (die koͤnigliche Weisheit muß ſchon
damals fuͤr nicht weit her gehalten ſein). Ich
achte mich fuͤr nichts und damit beginnt er von
Neuem ſeine Uebungen und Abſtraktionen. In¬
deſſen faͤllt es einem gewiſſen Fuͤrſten Trichunko,
einem Mann der Wahrheit, von beſiegten Leiden¬
ſchaften, ein, ob er nicht in ſeinem koͤrperlichen
Zuſtande unter die Goͤtter kommen koͤnne. Er
wendet ſich an Wuſchiſta, allein dieſer erklaͤrt ihm
die Unmoͤglichkeit der Sache, ſpricht einen Fluch
uͤber ſeinen Frevel und macht eine niedrige Krea¬
tur aus ihm. Der eiferſuͤchtige Wiſchwamitra
aber erbietet ſich, durch ein Opfer den ungluͤckli¬
chen Fuͤrſten wirklich in den Himmel zu verſetzen.
Er ladet den Wiſchuſta und die Goͤtter zu dieſem
Opfer ein, aber unwillig ſchlagen ſie die Einla¬
dung aus. Voll Zorn ergreift nun der große
Wiſchwamitra den geheiligten Kochloͤffel und
ſchwoͤrt, kraft ſeiner geuͤbten Enthaltſamkeiten, ſei¬
nen Freund und Schuͤtzling wohl von ſelbſt in
den Himmel zu bringen. Trichunko ſteigt
wirklich in den Himmel empor; allein, angekom¬
men, wirft ihn Indra, der Gott des Himmels,
wieder heraus. Wiſchwamitra ſieht ihn fallen und
nach Huͤlfe ſchreien; er ruft halt und auf dieſen
Zuruf bleibt er ſo zwiſchen Himmel und Erde
hangen. Dann ſchafft Wiſchwamitra im vollen
Zorn einen ganz neuen Himmel und andere Goͤt¬
ter darin und an ihrer Spitze einen neuen Indra.
Die Goͤtter und Weiſen, verſteinert vor Er¬
ſtaunen, wenden ſich hierauf an Wiſchwamitra
um Einhalt und bitten ihn demuͤthig, nicht auf
die Verſetzung eines vom Brahminen Verfluchten
ohne vorhergaͤngige Reinigung zu beſtehen und
uͤberhaupt die alte gute Ordnung im Himmel und
auf Erden zu zerſtoͤren. Der Koͤnig beharrt auf
dem, was er ſprach, doch vereinigt er ſich zuletzt
auf guͤtliche Weiſe uͤber einen Platz nicht im
Himmel, ſondern am Himmel.
Nach tauſend Jahren vollbrachter Abſtraktio¬
nen erklaͤrt Brahma den Koͤnig fuͤr einen ober¬
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 7
ſten Weiſen. Noch nicht zufrieden damit, faͤngt
er einen neuen Kurſus an; hier kommt aber zu
ſeinem Ungluͤck ein ſchoͤnes Maͤdchen (die Mutter
der Sakontula) zu ihm und nimmt ſo ſehr ſeine
Sinne gefangen, daß er 25 Jahr mit ihr ver¬
taͤndelt. Erwachend aus dieſer Vergeſſenheit faͤngt
er ein neues Jahrtauſend ſtrenger Buͤßungen an.
Die Goͤtter gerathen ſchon in Bangigkeit, er werde
ihnen durch ſeine ſtupende Froͤmmigkeit neues Un¬
gluͤck bereiten. Brahma geſteht ihm darauf das
Prinzipat unter den oberſten Weiſen zu. Auf des
Koͤnigs Frage, warum er noch nicht zu einem
Brahma-Weiſen ernannt werde, erklaͤrt Brahma:
noch haſt du deine Leidenſchaften, Zorn, Luſt und
Liebe nicht unterjocht.
Abermals beginnt er ſeine Uebungen; aber
vergebens ſucht ihn Indra durch das ſchoͤnſte Maͤd¬
chen zur Liebe und durch allerhand Schelmenſtreiche
zum Aerger zu reizen. Nachdem der Chef der
Weiſen tauſend Jahr lang geſchwiegen, wird dem
Gott Indra im Himmel bang um den Himmel.
Er wendet ſich an Brahma. In dieſem großen
Weiſen, ſagt er, iſt nicht der kleinſte Schatten
einer Suͤnde mehr — wenn das Verlangen ſeines
Geiſtes nicht geſtillt wird, wird er mit ſeiner Ab¬
ſtraktion das ganze Univerſum zerſtoͤren. Die Ex¬
treme der Welt ſind in Verwirrung, das Meer
brauſt, die Berge ſtuͤrzen ein, die Erde zittert —
o Brahma!
So wird nun Wiſchwamitra von Brahma
endlich zum Brahmaweiſen erklaͤrt und ver¬
ſoͤhnt ſich mit Wuſchiſta, der weniger kuͤhn, es
noch nicht ſo weit gebracht hat, als er.
In dieſem Gedicht liegt die indiſche Weltan¬
ſchauung, wie in dem Satz des Kriſchna die
aͤſthetiſche Quelle derſelben. Wie anders lautet das
aͤſthetiſche Prinzip im Munde eines griechiſchen
Gottes, und wie ſehr verſchieden iſt das chriſtliche
von beiden. Die aͤſthetiſche Weltanſchauung, die
im Griechenthum und Chriſtenthum ſich offenbart,
wird das Object der naͤchſten Vorleſung ſein.
7 *
Siebente Vorleſung.
Im Indiſchen, wie wir geſehen, verwirrt ſich
der von der That und der Welt der Sinne ſich
losſagende Gedanke einerſeits in das Gebiet der
abſtruſeſten Phantaſiebilder, andererſeits in einen
bodenloſen Abgrund der Myſtik, wo er uͤberhaupt
aufhoͤrt Gedanke zu ſein und als ein Nichts uͤber
dem Nichts in ſchauerlicher Oede hinbruͤtet. Die
aͤſthetiſche Weltanſchauung der Indier machte nur
die Augen auf, um ſie wieder zu ſchließen, ſie
ward ſich der Sinne nur bewußt, als zu vernich¬
tender Widerſpiele des Geiſtes, des Geiſtes nur
als einer zu toͤdtenden Mannigfaltigkeit von Ge¬
danken, Gefuͤhlen und Beſtrebungen, der ganzen
Welt nur, als einer kriminaliſtiſchen Mummerei
wechſelnder Geſtalten, welche aus Blumen und
Thieraugen den Menſchen wehmuͤthig ſchmerzlich
anſehen und in Gemeinſchaft mit ihm nach der
Zeit ſchmachten, wo ihre Larven fallen und ſie
wieder in den Zuſtand der Seligkeit, das iſt der
Bewußtloſigkeit, der Vernichtung zuruͤckkehren. —
Zu verweſen bei lebendigem Leibe, dieſe ſchauder¬
hafte Sehnſucht zieht ſich durch die indiſche Welt,
und erfuͤllt uns mit einem ſeltſamen, unheimli¬
chen Gefuͤhl, das uns durch den ganzen Orient
begleitet und uns nicht eher verlaͤßt, als bis wir
an den Ufern des lebensfriſchen und lebensfrohen
Griechenlands Athem holend angelangt ſind. Wel¬
cher Himmel, welche Erde, welche Menſchen, welche
Goͤtter, welche Geſchichte, welche Gedichte, welche
Natur, welche Kunſt, das Alles iſt Griechenland
und man muß ſtaunen und ſich verwundern, daß
zwei ſo ungleiche Laͤnder, wie Indien und Grie¬
chenland, auf einem und demſelben Planeten zuſam¬
men liegen. Unaufloͤslich wuͤrde in der That das
Raͤthſel ſein, wie die Weltanſchauung und das
Leben bei Geſchoͤpfen von einerlei Natur und Art,
aus einerlei Teig geknetet und mit demſelben gei¬
ſtigen Odem durchweht, ſo grundverſchieden, ja
in jedem Punkt und nach allen Richtungen ent¬
gegengeſetzt ſich geſtalten konnte, waͤre uns die Ur¬
geſchichte des griechiſchen Geiſtes voͤllig unbekannt
und koͤnnten wir nicht einige ahnungsvolle Blicke
auf den fruͤheren Zuſammenhang orientaliſcher und
europaͤiſcher Bildung werfen. Die Natur, das iſt
unſere Ueberzeugung, kennt keine Widerſpruͤche,
keine ſchreiende Diſſonanzen, ſie arbeitet ſich durch
tauſend Mittelglieder hindurch und verbindet die
Enden der Welt mit einem unſichtbaren Zauber¬
bande, das im Dunkel des Mythos und der Ge¬
ſchichte flattert, und nur vom Auge des Geiſtes
erkannt wird. Alle die Toͤne der Weltenlyra klin¬
gen zuſammen in einen einzigen ungeheuren Ak¬
kord, in dem nichts Einzelnes mehr unterſcheidbar
iſt und ſo haben alle Sprachen und Sagen aller
Voͤlker, ſo fremd und diſſonirend ſie klingen, einige
Grundlaute mit einander gemein, die eben den
geiſtigen Urlaut des menſchlichen Daſeins bilden.
Aber durch allen Sinn und Unſinn der Geſchichte,
durch den Wirrwarr aller Voͤlkerſtimmen geht die¬
ſer rein menſchliche Ton, dieſe Stimme der Na¬
tur, welche ihre Kinder, die Schwarzen und die
Weißen und die Olivenfarbigen und die tauſend¬
jaͤhrigen Todten und die Lebendigen heutigen Tags
um den einen gemeinſchaftlichen Urborn des leib¬
lichen und geiſtigen Lebens der Menſchheit ver¬
ſammelt.
Europaͤer ſind Aſiaten, das lehrt die Ge¬
ſchichte: Europa iſt ein Stuͤck von Aſien, lehrt
die Geographie. Die europaͤiſche Bildung hat ihre
Wurzeln in Aſien, das deuten uns die aͤlteſten
Mythen und die Urelemente der Sprache, der
Schrift, der Sitten und Geſetze der europaͤiſchen
Voͤlkerſchaften; auch die Bildung der Griechen hat
ihre Wurzel jenſeit des Hellesponts, oder vielmehr
ſie hat ſich mit dieſer Wurzel von aſiatiſchem Bo¬
den losgeriſſen und ſie in griechiſche Erde ver¬
pflanzt. Es gab eine Zeit, wo die Griechen noch
nicht Griechen waren, eine Zeit, wo ihr Geiſt
noch verſenkt war in den ſtarren Naturſymbolen
des Orients, wo Prieſterherrſchaft und Kaſtengeiſt
noch die Entfaltung des oͤffentlichen Lebens hemmte,
wo ihre Sinne ſich noch mit einem daͤmmernden
Flor umzogen und ſie nur noch die erſten Ver¬
ſuche machten, ſich aus den bleiernen Armen der
aſiatiſchen Tradition loszuringen und ihr Leben auf
eigenthuͤmliche Weiſe zu geſtalten. Nicht immer
ward der griechiſche Olymp von Goͤttern bewohnt,
wie Homer ſie ſchildert, nicht immer war den
Griechen wuͤſte Phantaſie und Abgeſchmacktheit
ein Greuel, ihre aͤlteſten Goͤtterdynaſtien, ihre
Thier- und Menſchenungeheuer, Sphinxen und
Centauren, ihre pelasgiſchen Kabiren verrathen uns
nur zu deutlich eine fruͤhere Bildungsſtufe, auf
der ſie den Aegyptern und Indiern aͤhnlicher ſehen,
als ſich ſelbſt in ſpaͤterer Zeit. Lange Zeit moͤgen
ſie in dieſer dunkeln Naturmyſtik befangen gewe¬
ſen ſein, worin ſie, wie die alten Indier noch
ſchlaftrunken und mondſuͤchtig am Abgrund des
Weſens hintaumelten und ihr Hirn ſchwindeln
machten von den myſterioͤſen Duͤnſten, welche ſpaͤ¬
ter die Pythia allein einſog. Nur allmaͤhlig kam
die Menſchheit zur Beſinnung, ſie aber waren die
erſten, welchen das menſchliche Bewußtſein auf¬
ging, die menſchliche Perſoͤnlichkeit gegen die dun¬
keln Maͤchte der Natur geltend machten, die, wenn
der Ausdruck nicht zu kuͤhn iſt, das Nabel¬
band zerſchnitten, das den Menſchen bisher, wie
ein Thier, mit dem Schooß der Erde verknuͤpfte
und ihm das Bewußtſein eigner freier Exiſtenz
fortwaͤhrend verduͤſterte. Der Indier hatte kein
Gefuͤhl von ſeiner Kraft, daher war auch ſeine
Weltanſchauung eine leidende und auf Vernichtung
aller Perſoͤnlichkeit, aller ſelbſtſtaͤndigen That ab¬
zielende. Des Griechen Weltanſchauung ward
eine thaͤtige, und drang mit Bewußtſein auf die
Harmonie des Gedankens und Willens und griff
in alle Saiten der Seele und wuͤhlte Toͤne auf,
die kein ſterbliches Ohr bisher geahnt und ſetzte
Gedanken ins Leben, die nicht untergehen werden,
ſo lange die Welt ſteht. Suchen wir einen Na¬
men, um die beſondere Art ihrer aͤſthetiſchen Welt¬
anſchauung zu bezeichnen, ſo duͤrfen wir nur die
Augen aufſchlagen und auf ihren Werken den ein¬
gepraͤgten Stempel betrachten, die ſchoͤne, die
freie, die plaſtiſche, die perſoͤnliche, die harmoni¬
ſche, die rein menſchliche; Namen fuͤr eine Sache,
Strahlen eines Lichts, Blumen auf einem Staͤn¬
gel; denn nur als Perſoͤnlichkeit, nur als freie
und ſchoͤne Perſoͤnlichkeit iſt der Menſch ein rei¬
ner Menſch, ein nach allen Kraͤften ſeiner Natur
durchgearbeitetes Weſen, ein wachendes, handeln¬
des, freudiges Geſchoͤpf, das den ſchoͤnen Kreis,
der ſeine bewußte Exiſtenz umgibt, nur dann
durchbricht, wenn Schlaf, Traum oder Tod es
unwillkuͤhrlich herbeifuͤhren. Dem traͤumenden In¬
dier ward das ganze Leben zum Traum und der
Traum ſelber eine Sehnſucht nach dem Austraͤu¬
men, das heißt nicht nach dem Erwachen, ſon¬
dern nach Stillſtand, Tod, Aufloͤſung.
Vor Traum und Tod, welche die Lebendigen
und Wachenden umlauern, fand der Grieche kei¬
nen Schutz, aber er traͤumte nicht, wenn er wachte
und er toͤdtete ſich nicht ab, um dem Tode den
Sieg zu verſchaffen; ja die Vorſtellung des letztern
ſuchte er ſich zu verſchoͤnern und zu erheitern und
ſtatt eines grinſenden Schaͤdels blickte ihn auf
Grabmalen der Juͤngling mit umgekehrter Fackel
an. Die Spanne zwiſchen Geburt und Grab;
die Stunden zwiſchen Schlaf und Wachen, die
nannte er ſeine Welt, ſeine Zeit, ſein Eigen¬
thum, darin bluͤhten ſeine Hoffnungen, darin reif¬
ten ſeine Plaͤne, darin herrſchte ſeine That; was
draußen und dahinter lag, war fuͤr ihn kein Ge¬
genſtand der Sehnſucht und der Aufopferungen.
Nur das menſchlich Geſtaltete, das Organiſche ge¬
dieh ihm zur Luſt und Freude, und daher belebte
er die ganze Natur, Erde, Himmel und Meer,
mit Geſtalten, die ihm glichen und die zum Mit¬
gefuͤhl ſeiner Leiden und Freuden ſich herabließen.
Und nicht allein auf den Gipfeln des Olymps
und des poetiſchen Parnaſſus lebte eine perſoͤnliche,
vielgeſtaltige Goͤtterwelt, ſondern auch auf den
Hoͤhen der Philoſophie regte ſich das plaſtiſche
Streben des griechiſchen Geiſtes und ich ſehe in
der platoniſchen Ideenlehre nur Goͤtter, die Plato
Ideen nennt und denen er die Idee der Ideen,
das Eine, das Gute, als einen Ideenzeus uͤber¬
ordnet, ſo aber, daß jede durch Theilnahme an
der Natur des Einen, eine volle und ſelbſtſtaͤndige
Goͤttlichkeit genießt.
Wie in Philoſophie, Poeſie und Kunſt, ſo
insbeſondere im Staate war das plaſtiſche Prin¬
zip der Griechen wirkſam, welches wir als ihr
oberſtes aͤſthetiſches Grundgeſetz betrachteten. Un¬
ter den Griechen tritt die Beſeelung des Staates,
als eines Kunſtwerks zuerſt hervor, und zwar nach
dem allgemeinen Gang und der Natur des Prin¬
zips durchaus demokratiſch. Die erwachte Freiheit
machte ſich ganz und gar als Beſonderheit gel¬
tend, auf ſich ſtrebte jede Perſoͤnlichkeit ſich zu
baſiren, jeder reklamirte im allgemeinen Wechſel¬
verkehr ſeine natuͤrlichen und angebornen Rechte.
Zu gleicher Zeit fuͤgten ſich alle dieſe Einheiten
der hoͤhern Einheit des Staats, ſie waren frei
und beſeelt, aber ſie theilten ihre Seele miteinan¬
der. Es war eine ſtrahlende Lebendigkeit in allen
dieſen Geſtalten, ein inneres, heroiſches Ungeſtuͤm
trieb die Gemuͤther ins Leben und aus jeder haͤus¬
lich duͤrftigen Beſchraͤnkung heraus, der Schwung
der Gemuͤther druͤckte gegen jede Feſſel und drohte
ſie zu zerſprengen. Und doch zerfloß das Ganze
nicht in Anarchie, denn die verborgene Einheit
zuͤgelte wieder den Uebermuth, dieſe Einheit, nicht
des dumpfen Zwanges der Natur oder Gewohn¬
heit, ſondern des Geiſterreiches, der Kraft und
Zuͤgel, Bedenken und Thun ſinnig vereinte, kein
modernes Abſtraktum, kein logiſcher Staatsbegriff,
ſondern die Einheit des Lebens, der Kunſt und
der Schoͤnheit, welche im Mannigfaltigen das
Identiſche feſthaͤlt. In dieſer Elaſtizitaͤt der Wil¬
lenskraͤfte, die federnd nach außen wirkten, ver¬
bunden mit jener Sympathie der Vaterlandsliebe
ging das großartige Leben des Alterthums hervor.
So hatten ſie ganz und gar ihren Beſtand im
Sinnlichen gegruͤndet, waren Autochthone, wie ſie
ſich auch nannten und hingen mit dem verwitter¬
ten Urſtamme der aſiatiſchen Menſchheit nur in
ſo fern zuſammen, als ſie die nachquillenden rohen
Naturſaͤfte deſſelben zu ihrer eigenen Bluͤthe ver¬
wandten.
Leider war auch dieſe Bluͤthe vom Schickſal
beſtimmt, um zu verwelken und andern Bluͤthen
des menſchlichen Geiſtes Platz zu machen. Die
Roͤmer haben Griechenland nicht zerſtoͤrt, ſie haben
nur die letzte Hand daran gelegt, ſie haben die
ſterbende Nationalexiſtenz nach hoͤherem Beſchluß
exekutirt. Sie ſtehen uͤberhaupt in der Geſchichte
als unerbittliche Exekutoren da, die alles Leben,
was nicht auf den Beinen feſtſteht, vor ſich nie¬
derwerfen und mit eiſernem Fuße auf eine unter¬
jochte und zertruͤmmerte Welt hintreten. Die
Griechen waren ſich ſelbſt genug, daher machten
ſie keine auswaͤrtigen Eroberungen, außer geiſti¬
gen. Die Roͤmer hingegen draͤngten ſich, mit aller
Kraft einer iſolirten Richtung, aus ſich heraus
und wurden Eroberer und Unterjocher, weil ihnen
das innere poetiſche Leben und der geſtaltende Sinn
der Kunſt abging. Rom hat keine großen Dich¬
ter und Kuͤnſtler erzeugt, noch viel weniger einen
Philoſophen, aber Roms Redner beſaßen eine daͤ¬
moniſche Kraft, weil die Beredtſamkeit des Forums
mit der Richtung ihres Geiſtes uͤbereinſtimmte und
einen thatſaͤchlichen Charakter trug; Maͤnner der
That hat kein Volk in ſo großer Zahl und ſo
ununterbrochener Reihe aufzuweiſen. Poſitiv und
praktiſch war die Weltanſchauung der Roͤmer, im
graden Gegenſatz zur indiſchen, die ſich in ſich zu¬
ruͤckzog, waͤhrend die griechiſche ſich in der Har¬
monie des Geiſtigen und Leiblichen ſchwebend er¬
hielt, daher denn auch mit Recht Virgilius den
Roͤmern zurief:
Tu regere imperio populos, Romane, memento
Hae tibi erunt artes.
Der Zuruf kam freilich zu ſpaͤt, die Roͤmer hat¬
ten Kuͤnſte und Wiſſenſchaften bekommen, aber
ihre Kraft war gebrochen und der Koloß ihrer
Herrſchaft ging in Faͤulniß und Gaͤhrung uͤber.
Das nun hervortretende Chriſtenthum, das
ſich nicht als Volks-, ſondern als Voͤlkerreligion
geltend zu machen ſuchte, wurzelte allerdings im
Judenthum und in den Ideen des Orients, ward
aber von einem durchaus neuen und eigenthuͤm¬
lichen Geiſte beſeelt, wie es auch andrerſeits von
den heidniſchen Religionen des Occidents ſich we¬
ſentlich unterſchied und unter den juͤngeren Gene¬
rationen, welche ſich auf dem Ruin der alten occi¬
dentaliſchen Welt anbauten, eine von allen bishe¬
rigen Erfahrungen verſchiedene Anſchauungsweiſe
hervorrief. Ueber dem alten Goͤtterhimmel woͤlbte
ſich ein neuer Himmel, und wenn einſt der ſinn¬
lich gluͤckliche Grieche ſich von ſeinen Goͤttern
ſelbſt uͤber die irdiſche Seligkeit beneiden ließ, ſo
ſchlug nun die Sehnſucht ihren Blick in die Hoͤhe
und die himmliſche Seligkeit uͤberſtrahlte die irdi¬
ſche, welche keine mehr war, ſondern eine Pruͤ¬
fung, ein vergaͤnglicher Wandel, ein Leben im
Fleiſch, in dem das Boͤſe wohnt und das ge¬
kreuzigt werden muß, damit das Leben im Geiſt
beginne. Draͤngt ſich uns danach die reſigni¬
rende Natur der chriſtlichen Weltanſchauung auf,
ſo gerathen wir doch nicht auf die irrthuͤmliche
Verwechſelung der chriſtlichen Reſignation mit der
indiſchen Negation des Sinnlichen. Dieſe hob
nicht allein das Sinnliche, ſondern mit dem Sinn¬
lichen das verwandte Geiſtige auf, waͤhrend der
reſignirende Chriſt nur noch energiſcher und kraͤfti¬
ger die hoͤhere Welt anſtrebte und die gedemuͤthigte
Seele wieder erhob und zu reineren Regionen mit
ſich fortriß. Balſam war ſie fuͤr ihre Zeit; die
geſunkene Menſchheit richtete ſich an ihr wieder
auf und die Millionen Sclaven warfen ihre Feſ¬
ſeln hin, um mit ihren Herren vor den Altar
des Herrn aller Herren zu treten. So bemaͤch¬
tigte ſie ſich anfangs aller Geiſter, die hienieden
nichts zu hoffen hatten, im Fortgang der irdi¬
ſchen Großen, die viel zu fuͤrchten hatten, und
kroͤnte ihr Werk mit Ergreifung jener jugendli¬
chen Nationen von germaniſchem Stamm, die
wild und feurig in der Welt umherſtreiften und
ſich noch erſt Wohnplaͤtze auf der weiten Erde
aufſuchten. Neues Blut und neue Kraft draͤngte
ſich nun auf die Buͤhne der Geſchichte und nun
erſt bekam die neue Lehre ihre wahren Juͤnger,
welche die alte abgeſtorbene Zeit ihr kaum bilden
konnte. Das Element des Myſtizismus, das in
ihrem Grundcharakter urſpruͤnglich lag, aber in
ihrem Verkuͤndiger ganz in unmittelbar praktiſche
Lebensſitte, Kindlichkeit und Reinheit der Geſin¬
nung eingeſchleiert war, aber ſchon in den naͤch¬
ſten Nachfolgern zum Vorſchein kam, wurde nun
von den nordiſchen Naturen, die innere Anlage
dieſem Ziel entgegentrieb, mit friſcher, junger
Kraft und Energie ausgebildet und zur romanti¬
ſchen Entwicklung hinangetrieben. Es war das
Ferment, das mit der urſpruͤnglichen Kraft des
Nordens durchgaͤhrte und die ganze mittlere Ge¬
ſchichte, Papſtthum, Kaiſerthum, Ritterthum, Feu¬
dalismus, gothiſche Baukunſt, Poeſie, Malerei
und Skulptur des Mittelalters bilden half. Solche
Geſtaltung des Lebens war nur durch die chriſt¬
liche Anſchauungsweiſe moͤglich, war nur einmal
da in der Welt, und wird nicht wiederkommen.
Selbſt die Kunſt, welche das Chriſtenthum eine
Zeit lang verherrlichte, die Malerkunſt des 14.
und 15. Jahrhunderts trug mit zur Ausartung
deſſelben bei; ſie war bei den Griechen in die
Schule gegangen und hatte die Schoͤnheiten der
Form an der Antike ſtudirt und mit griechiſchem
Auge im Leben aufgeſucht. Offne und freie Schoͤn¬
heit der Form aber iſt dem Chriſtenthume fremd,
das Chriſtenthum iſt ernſt, verhuͤllt und zuͤchtig,
und immer ahnt es die Schlange, die hinter den
Roſen verſteckt liegt. Auf einer raphaeliſchen Ma¬
donna wuͤrde der Blick eines Paulus ſchwerlich
mit demſelben Wohlgefallen geruht haben, wie
etwa der unſrige, derſelbe Apoſtel, der der Jung¬
frau verbot ihre Haare wallen zu laſſen und Kraͤnze
auf ihr Haupt zu ſetzen, mußte auch die Abſicht
des Malers verrathen, bei aller Heiligkeit und
Unſchuld der Madonna doch hauptſaͤchlich das
Bild eines ſchoͤnen und reizenden Weſens vor Au¬
gen zu bringen.
Eben ſo gefaͤhrlich, als die neu erwachende
Sinnlichkeit der griechiſchen Kunſt, ward der ur¬
ſpruͤnglichen Anſchauungsweiſe des Chriſtenthums
der ſcharfe Verſtand, der unglaͤubige Witz, der
ſcharf die Dinge ſcheidet, der klar und hell in die
Erſcheinungen blickt und der freſſend, zehrend den
Zauber, der ihn fangen will, durchſchneidet. Und
ſo ſieht ſich daſſelbe von zwei Richtungen in die
Mitte genommen, von der Sinnlichkeit und vom
Verſtande, und es gaͤhrt wieder, wie ehemals, in
einem neuen geſchichtlichen Prozeſſe und Jeder
von uns fuͤhlt ſich mitbegriffen, bewegt und er¬
ſchuͤttert im Weben der Zeit und ſucht der Rich¬
tung zu folgen, welche ſich am Herrſchendſten in
ihm geltend macht. Ohne Zweifel wird ſich aus
dieſem Kampf eine neue aͤſthetiſche Anſchauungs¬
weiſe entwickeln und damit eine Umgeſtaltung der
Dinge, welche eine neue Kunſt, eine neue Poe¬
ſie, ein neues Leben herbeifuͤhren wird. Mehr in
ahnenden Zuͤgen, als in wirklichen Umriſſen ſie
darzuſtellen, wird meine Aufgabe fuͤr die naͤchſte
Vorleſung ſein.
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 8
Achte Vorleſung.
Die Manifeſtation einer neuen Anſchauungsweiſe,
und damit eines neuen Lebens, einer neuen Kunſt
und Poeſie iſt, wie wir am Beiſpiel der griechi¬
ſchen und chriſtlichen geſehen, kein momentaner
Akt, der ſich ſofort aller geſchichtlichen Elemente
bemaͤchtigte und die Formen der fruͤheren Anſchau¬
ungsweiſe auf einmal zertruͤmmerte, ſondern ein
progreſſiver Akt, dem nur allmaͤhlig die Ueberwaͤl¬
tigung und Ausſcheidung der zuckenden, abgeſtor¬
benen Lebensreſte gelingt. Es verharrt die Zeit
ſo lang im Verpuppungszuſtande, bis ihr unter
der Decke die Fluͤgel ausgewachſen ſind, ſie dehnt
ſich, lockert ſich, erwartet den Augenblick — dann
koſtet es nur einen Sonnenſtrahl, vielleicht den
erſten nach ſchwerem Gewitter und geſprengt iſt
der alte Leib und die Pſyche der Menſchheit ath¬
met wieder die Freiheit ein.
In ſolch verpupptem Zuſtande erſcheint uns
die Gegenwart. Sie traͤgt noch die Larve der
alten Zeit, die haͤßliche, runzligte Larve und das
Leben, das ſich im Innern entfaltet, iſt nur noch
ein huͤpfender Punkt, iſt noch gemiſcht aus Seuf¬
zern der Hoffnung und Seufzern des Schmerzes.
Aber es iſt ein neues Leben, ſo gewiß und wahr¬
haftig, als das alte todt iſt und nur noch mit ge¬
ſpenſtiſcher Huͤlle das junge druͤckt, verſchließt und
beaͤngſtigt.
Taͤuſchen wir uns nicht, Vieles ſcheint noch
lebendig, weil es leibhaft vor uns ſteht. Groß iſt
die Macht, die im Schein des Sichtbaren liegt,
tiefgewurzelt die glaͤubige Gewohnheit hinter dem
Sichtbaren das Unſichtbare vorauszuſetzen. Nur
mehr, unendlich mehr, wir ſelbſt ſind die Traͤ¬
ger der abgeſtorbenen Zeit, wir ſelbſt ſind verhuͤllt
von Kopf bis zu Fuͤßen, ſprechen und handeln im
Charakter unſerer Maske, bewußtlos wie die Menge,
mit Bewußtſein, wie Viele. Nur Wenige haben
die Aufrichtigkeit, mit dem Finger auf ihre Maske
hinzudeuten, noch Wenigere den Muth, ſie ſich
und Andern vom Antlitz zu reißen.
So ſteht es bei uns. Es iſt eine druͤckende
Zeit. Man iſt unwohl in ſeiner eigenen Haut
8 *
und doch luͤgt man ſich die Haut voll. Das
Herz kann man ſich nicht beluͤgen. Die Zunge
freilich iſt ein furchtſames Glied, dem Einen iſt
ſie der Kloͤppel der ehernen Unverſchaͤmtheit, dem
Andern das Laͤmmerſchwaͤnzchen demuͤthiger Erge¬
benheit. Auch die Wange iſt kein treuer Spiegel
der Seele mehr, ſie wird eher roth oder blaß,
wenn die Wahrheit, als wenn die Luͤge zum Vor¬
ſchein kommt. Aber das Herz kann man ſich
nicht beluͤgen, ſchon das Auge nicht; taͤglich,
ſtuͤndlich koͤnnen wir uns unſere moraliſchen, reli¬
gioͤſen, politiſchen Luͤgen aus dem Auge herausle¬
ſen. Das iſt der Fluch der Zeit, der auf einer
Uebergangsepoche, wie der unſrigen ruht, das iſt
der Schmerz, der die edelſten Geiſter durchdringt,
der in ſo vielen Stunden die Hoffnung uͤbertaͤubt
und die Unruhe, die Zerriſſenheit, den Zweifel
erzeugt, Plagegeiſter der Menſchheit, wenn ſie
naͤchtlich mit neuen Geburten ſchwanger geht.
Dennoch ſollte die Hoffnung groͤßer ſein, als
die Furcht. Schon deswegen, weil die Furcht
hemmt, die Hoffnung befluͤgelt, weil die Furcht
Zweifel erregt, die Hoffnung ſie zerſtreut, weil die
Furcht trennt und zerruͤttet, die Hoffnung einigt
und auferbaut, vor allen Dingen, weil die Furcht
den Feinden Muth gibt, die Hoffnung aber ihnen
denſelben laͤhmt. Vergebens aber ſchminkt ſich
dieſe alte Zeit mit Hoffnungen, die Todtenfarbe
ſchimmert hindurch; vergebens ſucht ſie ſich an
das junge Leben anzuklammern, jeder Pulsſchlag
draͤngt ſie weiter zuruͤck.
Unſere Zeit gleicht der Zeit des Kaiſers Ju¬
lian und ſie gleicht ihr in ſo uͤberraſchenden Zuͤ¬
gen, daß wir darin eine wunderbare Fuͤgung des
Schickſals erblicken muͤſſen. Unſerer Zeit ging
vorauf die Revolution und Napoleon ihr Erbe,
der Konduktor ihrer elektriſchen Freiheitsſchlaͤge;
dann kam die heilige Allianz, der Bund der alten
Maͤchte gegen die neuen und es begann der Kampf
zwiſchen dem alten und neuen Genius, uͤberall,
wo dieſer aus dem webenden Dunkel hervortrat
und Geſtalt anzunehmen verſuchte, gluͤcklich oder
ungluͤcklich, bisher ohne Sieg, Niederlage und Ab¬
ſchluß. Auch der Zeit des Julian ging eine Re¬
volution vorher und Konſtantin hieß der Kaiſer,
der die Klugheit hatte, ſich an ihre Spitze zu ſtel¬
len und ihr Symbol, das Kreuz, auf die Standar¬
ten jener Legionen zu pflanzen, welche Chriſtum
gekreuzigt und Jeruſalem zerſtoͤrt hatten. Aber
noch ſchwankte der Sieg, denn die Inſtitute des
Heidenthums waren zu maſſiv und das Chriſten¬
thum war nur noch ein reiner Spiritus, ein uͤber¬
irdiſcher Pilger, der ohne Schimmer und Prunk
einherging und ſein zweiſchneidiges Schwert unter
dem Mantel der Armuth und Demuth verbarg.
Julian verſammelte die bisherigen Goͤtter der
Welt zu einer „heiligen Allianz“ gegen den neuen
Gott und ſprach den Bann uͤber ihn aus. Er
ließ ſeine Trabanten das Kreuz umſtoßen, ſeine
Philoſophen das Kreuz laͤcherlich machen und ein
zeitgemaͤßeres Heidenthum fabriziren; aber um¬
ſonſt. Die Goͤtter ſahen aus todten Augen, die
Speere zerbrachen wie Glas und die Philoſophie
ſah ſich genoͤthigt, ihre Ohnmacht und Unfrucht¬
barkeit zu bekennen. Die neue Weltanſchauung
behielt den Sieg.
Drum ſoll die Hoffnung groͤßer ſein, als die
Furcht, denn unſere Zeit gleicht der Zeit des
Julian.
Sie gleicht ihr — bis auf einen Zug —
denn nichts wiederholt ſich vollkommen in der
Weltgeſchichte. Erklaͤre ich, was ich meine. Ueber
das neue Leben, das Julian zu verdraͤngen, zu
vernichten trachtete, war ſchon damals und gleich
vom Urſprung an, die Formel der Bedeutung aus¬
geſprochen, Einer hatte es offenbart, Zwoͤlf hatten
es der Welt verkuͤndigt und Tauſende und Millio¬
nen ſchwuren auf das Wort, das Menſch geworden
war. Welche Lippe hat aber das Wort ausgeſpro¬
chen, worin ſich der neue Geiſt inkarniren will,
wo iſt der Meſſias, wo ſind die Apoſtel, wo ſind
die gemeinſamen Symbole dieſes Geiſtes? Es iſt
wahr, er weht durch die ganze Welt und wir
hoͤren ſein Brauſen, aber wiſſen wir auch, woher
er kommt, wohin er geht? Es iſt wahr, wir rei¬
ßen uns allmaͤhlig aus der Umarmung des ſtarr¬
gewordenen Lebens los, wir fuͤhlen uns mit Geiſt
und Sinnen in eine neue Stroͤmung verſetzt, die
uns unaufhaltſam mit ſich fortreißt, wir ſehen
neue Sterne vor unſerm Blicke aufgehen, aber
wiſſen wir auch, welchen Ufern die Welle uns
zutreibt? Prophetiſch iſt jede Zeile, die gedruckt,
jedes Wort, das geſprochen, jede That, die voll¬
fuͤhrt wird, aber meſſianiſch keine. Sollen wir,
wie die Juden, den Meſſias erwarten, als eine
Perſon, oder ſollen wir einer innern Ahnung
Glauben ſchenken, die uns zufluͤſtert, voruͤber ſind
die meſſianiſchen Zeiten, wo die Offenbarung aus¬
ging von einem Einzigen, die Zeit ſelbſt iſt fort¬
hin der gebenedeite Schooß der Jungfrau, der
vom Geiſt befruchtet wird und das iſt die Erfuͤl¬
lung der alten Weiſſagung von einer Zeit, wo alle
Juͤnglinge und Jungfrauen ſich dem Zuge der
Begeiſterung uͤberlaſſen?
Wie dem auch iſt, ſo unbezeugt hat ſich die
Zukunft nicht gelaſſen, ſo unſicher, verwirrt und
ſchwach ſind nicht die Aeußerungen des neuen Gei¬
ſtes bisher geweſen, um jeden divinatoriſchen Ver¬
gleich, die Elemente und Grundzuͤge der werdenden
Weltanſchauung ahnungsvoll aufzufaſſen, ſchon a
priori zu einem nichtigen zu machen. Es iſt hin¬
gegen Pflicht, ſein Bewußtſein zu ſchaͤrfen und
das Ziel ins Auge zu faſſen, um nicht die Kraft,
wie es ſo oft geſchieht, in unnuͤtzen Beſtrebungen
zu verzehren nach einem Ziel, das uns nicht im
Angeſicht, ſondern im Ruͤcken liegt.
Sieh auf die Zeit, betrachte die naͤchſte Ver¬
gangenheit, erforſche die Gegenwart und beachte,
was ſich im Kleinen und Großen lebendig regt
und den Progreſſus der Geſchichte bildet, beachte
vor allen Dingen die Phaͤnomene deines eigenen
Geiſtes, ſchwaͤrme nicht, aber ſei noch weniger
ſtumpfſinnig, reibe dir nur die Augen aus und
ſieh, was in dir und um dich vorgeht. Dann
denke an die laͤngſtvergangenen Zeiten, an die
Welt vor einem Halbtauſend von Jahren, an die
Menſchen und die Erſcheinungen, welche jene Zeit
hervorrief, und vergleiche ſie mit den Menſchen
und Erſcheinungen in der Gegenwart; tritt dir
dann nicht der ſchlagendſte Kontraſt entgegen, magſt
du dann noch glauben oder hoffen, jene Zeit koͤnne
ſich auf eine Art, durch eine Art nur wieder er¬
neuern, ſo ſei uͤberzeugt, du biſt ein Nachtwandler
unter den Lebendigen und kannſt als Poet die
ſchoͤnſten Traͤume haben und als Prediger die feu¬
rigſten Reden halten, als Politiker die feinſten
Staatsplaͤne ſpinnen, aber du kannſt es auch zum
Heil der Welt eben ſo gut laſſen, denn dein Traum
entzuͤckt nicht, deine Rede bekehrt nicht, dein Ge¬
ſpinnſt haͤlt nicht, du biſt der Zeit verfallen, die
Geſchichte kennt dich nicht und wenn du dem Le¬
bendigen und Wachen uͤber den Weg kommſt, ſo
wirſt du bei Seite geſchoben.
Kaum aber laͤßt ſich erwarten, daß ein auf¬
richtiger und unparteilicher Zuſchauer der Weltbe¬
gebenheiten, ein Pruͤfer ſeines eigenen Herzens
die maͤchtige Scheidewand verkennen wird, die un¬
widerruflich zwiſchen uns und der alten Zeit nie¬
dergefallen iſt. Schon vor 400 Jahren begann
die Bildung der neuern Zeit und ein Deutſcher
war es, der den erſten Grundſtein dazu legte.
Die Erfindung der Buchdruckerkunſt durch Fauſt
hat die geiſtige Kaſtenordnung in der europaͤiſchen
Welt zuerſt gebrochen, und indem ſie eine unbe¬
ſchraͤnkte Gemeinſchaft der Geiſter einfuͤhrte, die
Schranken umgeſtuͤrzt, welche der Despotismus
des Staats und der Wiſſenſchaft um ſich erbaut.
Eine unendliche Maſſe von Licht hat ſich uͤber
Europa ausgegoſſen und Luther Flammen aus
Licht gezaubert und verzehrend die alten Heiligthuͤ¬
mer angetaſtet. Der Sohn dieſes Lichts und die¬
ſer Flamme, der Verſtand, errang die Herrſchaft
8 **
und hat ſie von Tage zu Tage mehr ausgebreitet.
Man legte Baͤnder um ihn her, aber er ſchluͤpfte
hindurch wie eine Sylfe, man wollte ihn gewalt¬
ſam greifen und halten, aber er zerrann in den
Haͤnden ſeiner Feinde und ſpottete ihres nichtigen
Beginnens. Er war es auch, der die Riegel weg¬
ſchob vor der eingekerkerten Sinnlichkeit, und nun
im Verein mit der ſinnlichen Kraft offen die Spitze
bot und die franzoͤſiſche Revolution zu Stande
brachte.
Verſtand und Sinnlichkeit habe ich ſchon in
voriger Stunde als diejenigen Kraͤfte gedacht, welche
die entſchiedenſte Richtung gegen die Anſchauungs¬
weiſe der alten Zeit eingeſchlagen. Unzweifelhaft
ſind es dieſe beiden Elemente, auf deren harmo¬
niſcher Vereinigung die Form der neuen Anſchau¬
ungsweiſe beruhen wird. Hiſtoriſch denkreich iſt
es wieder, daß unſer proteſtirendes Deutſchland
auch der geiſtige Herd war, wo der zuruͤckge¬
draͤngte Funke des ſinnlichen Lebens zuerſt aus
der Aſche der Schulweisheit aufblitzte. Nicht nur
poetiſche, ſondern hiſtoriſche Bedeutſamkeit hat die
Sage vom Fauſtus, der ſeine Buͤcher an die
Wand wirft und im Ueberdruß nichtiger Weisheit
ſich in das bunte Leben ſtuͤrzt, um ſein verwelk¬
tes Herz wieder mit den Stroͤmen der Liebe und
des Haſſes aufzufriſchen. Daß dieſe deutſche Volks¬
ſage mit der Erfindung der Buchdruckerkunſt koin¬
zidirt, ja, daß ſie ſogar den Erfinder uns als
Fauſtus vorſtellt, iſt tief und charakteriſtiſch. Kein
Dichter hat die ganze Tiefe dieſes ernſthaften
Maͤhrchens ſo geiſtreich nachempfunden, als der
große Goethe, der im Fauſt Niemand anders,
als ſich ſelbſt und den Drang der neuen Zeit ge¬
ſchildert hat. Freilich ſtammt das Maͤhrchen noch
aus einer Zeit, wo: das Recht des Sinnli¬
chen geltend zu machen gegen die An¬
maßungen des Spiritualismus, als ein
ſchwarzes Verbrechen erſchien, woher denn auch
der Fauſtus nach der Sage von Gott abfaͤllt und
einen Bund mit dem Boͤſen ſchließt — einen
volksthuͤmlichen Zug, den Goethe als Dichter wie¬
der aufzunehmen nicht verſaͤumte.
Das hat, ſagt ein bekannter Schriftſteller,
das hat nun das deutſche Volk laͤngſt geahnt, daß
die Menſchen nicht blos zu einem himmliſchen,
ſondern auch zu einem irdiſchen Gluͤck berufen
ſind; denn das deutſche Volk iſt ſelbſt jener ge¬
lehrte Doktor Fauſt, der nach materiellen Genuͤſ¬
ſen verlangt und dem Fleiſche ſeine Rechte wieder¬
gibt — doch noch befangen in der katholiſchen
Simbolik, wo Gott als der Repraͤſentant des
Geiſtes und der Teufel als der Repraͤſentant des
Fleiſches gilt, bezeichnete man jene Rehabilitation
des Fleiſches als einen Abfall von Gott, als ein
Buͤndniß mit dem Teufel.
Jener brennende Glaube, jene Kaſteiung des
Fleiſches, jener heroiſche Sinn, der ſich ſelbſt und
ſein Liebſtes opfert, um der Liebe Gottes willen,
war die Seele des Mittelalters. Glaube iſt aber
der kindlich unſchuldige Sinn, die einfaͤltige Hin¬
gebung an die aͤußere Auktoritaͤt.
Nie wird die Liebe aus der Welt gehen, wie
der Heroismus, wie der Glaube, daß in Gott
alle Dinge leben, weben und ſind. Aber eben
darum, und weil noch immer in der zertruͤm¬
merten Welt Heroismus, Glaube und Liebe die
Wache halten, gibt es eine neue Geſchichte, gibt
es Maͤrtyrer der Freiheit und des Glaubens, gibt
es Enthuſiaſten und Opfer, gibt es Hochgefuͤhle
in unſerer Bruſt, die erhabener und reiner ſind
als die, welche der verwitterte Glaube und die
erkaltete Liebe der Vorzeit zu erregen im Stande
ſind.
Fuͤrchtet nicht, daß der Verſtand der neuen
Zeit alles Heilige zum Geſpoͤtte, alle Ahnung
zum Kindertraum, alles Schoͤne zum Beduͤrftigen
herabwuͤrdigen wird. Wohl iſt der Verſtand ein
Handelsherr, Maſchinenmeiſter, Konſtitutionsſchmie¬
der, und an ſich mehr Feind als Freund des Ge¬
muͤths und des poetiſch ſinnlichen Lebens. Aber
ihm gegenuͤber macht ſich geltend ein poetiſcher
Sinn, der in der Kraft der Jugend wurzelt, der
dem Verſtande allerdings dankbar iſt fuͤr die in
der Befreiungsſache geleiſtete Huͤlfe, keineswegs
aber geſonnen, ſich von ihm als einem neuen Des¬
poten unter ein neues Joch ſpannen zu laſſen.
Fuͤrchtet auch nicht, daß dieſe uͤppige Jugend aus
ihren felſigten Ufern hervortreten und die Bluͤthen
des Geiſtes, die ſie ſelbſt hervorgerufen und be¬
fruchtet, uͤberſchwemme und zerſtoͤre. Sie iſt ja
eben die Poeſie und das Leben ſelber und alle
edlen und großen Leidenſchaften und die ſchoͤpfe¬
riſche Kraft der Geſchichte fließt aus ihrem Blut
und Nervengeiſte. Sie iſt das bewegende Prin¬
zip und nimmt alle Keime der Bildung auf in
ihrem Schooße, wie man's ſieht an jenem Mit¬
telalter, an der Jugend unſerer Nation, welche
die ſchoͤnen und herrlichen Erſcheinungen des Chri¬
ſtenthums (wie wirkte daſſelbe im greiſen Orient?)
erſt moͤglich und wirklich machte.
Behauptung der Rechte des Verſtandes und
des ſinnkraͤftigen Gemuͤths, darauf draͤngt der
Geiſt der neuen Zeit. Ueber unſerer Aſche wird
ſich ein neues europaͤiſches Griechenthum erheben,
angemeſſen dem geiſtigen Fortſchritt, den das
Chriſtenthum vorbereitet hat. Nur zweimal hat
der Erdball die Erſcheinung erlebt, daß Menſchen
in ſinnlich-geiſtiger Eintracht organiſche Monaden
bildeten und ein Leben der Friſche und Geſund¬
heit fuͤhrten. Von dem Einen berichtet uns die
Sage des Paradieſes, von dem Andern die Ge¬
ſchichte Griechenlands. Indien vernichtete das
Sinnliche, Palaͤſtina uͤberhob das Geiſtige, zwi¬
ſchen beiden bluͤhte Griechenland wie zwiſchen zwei
Abgruͤnden, deren bodenloſe Tiefe es ahnungs¬
los mit Roſen und Lorbeeren uͤberſtreute. Aber
die Menſchheit mußte hinuͤber und dem germani¬
ſchen Stamm war es vorbehalten, in die tiefſte
Tiefe hinabzuſchauen und ſelig den zu preiſen,
„der lebt im roſigen Licht.“ Dem germaniſirten
Europa bleibt die dritte Entwicklungsſtufe der
Menſchheit vorbehalten, in der das Sinnliche
durchgeiſtigter wie bei den Griechen, das Gei¬
ſtige durchſinnlichter wie bei den Chriſten zur Er¬
ſcheinung kommt. So gleicht das Menſchenge¬
ſchlecht in ſeiner geſchichtlichen Entwicklung einem
wahren Organismus, einer erhabenen Pflanze, die
von Zeit zu Zeit in neue Knoten anſchießt, ſich
zuſammenſchließt, um ſich deſto kraͤftiger wieder
zu entfalten.
Neunte Vorleſung.
Wir haben uns in die Weltanſchauung der In¬
dier, der Griechen, des chriſtkatholiſchen Mittel¬
alters verſetzt, und geſehen, wie eine nach der
andern mit Leben, Kunſt und Dichtung ihren
Kreis in der Zeit beſchloß und einem unabaͤnder¬
lichen Schickſal anheimfiel. Dadurch beſtaͤtigte
ſich uns die aufgeſtellte Anſicht, daß die Aeſthetik,
wenn irgend etwas eine geſchichtlich geſchloſſene
Diſziplin iſt, und als ſolche einem viel hoͤhern,
aber zugleich auch beſchraͤnkteren Standpunkt an¬
gehoͤrt, als man ihr gewoͤhnlich einraͤumt, naͤm¬
lich dem Standpunkt der jedesmaligen Weltan¬
ſchauung ſelber. In dieſem Sinne iſt freilich
keine Aeſthetik der Indier, der Griechen, des
Mittelalters vorhanden, wenn wir unter dieſem
Namen den ganzen heutigen Umfang aͤſthetiſcher
Geſetze und Urtheile begreifen, allein theils iſt
dieſe Art wiſſenſchaftlicher Vollſtaͤndigkeit uͤberhaupt
mehr eine Erſcheinung der neueren Zeiten, wor¬
auf es das Alterthum nicht ablegte, theils beſitzen
wir in den Gedichten, Philoſophemen und Kunſt¬
werken der Indier, der Griechen, des Mittelalters
die lebendigſte Aeſthetik jener Zeiten und Voͤlker,
um ſo lebendiger, da ſie aus dem Leben ſelbſt ge¬
ſchoͤpft iſt.
Von Geſchmack und Ungeſchmack kann auf
dieſem Standpunkt nicht die Rede ſein. Die ab¬
ſurdeſten Extravaganzen der indiſchen Phantaſie,
ein Fluß, die Ganga, die vom Himmel herab¬
faͤllt, und ſich in dem wulſtigen Haupthaar eines
Gottes verſtrickt, ein Gott mit Elephantenruͤſſel
u. dergl. ſind fuͤr die Anſchauungsweiſe des indi¬
ſchen Aeſthetikers eben ſo muſterguͤltige Bilder und
Vorſtellungen, wie nur irgend ein Bild und eine
Vorſtellung aus dem griechiſchen und chriſtkatholi¬
ſchen Anſchauungskreiſe, wie z. B. die Venus
Anadiomene, die ſich aus dem Schaum der Wel¬
len erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei
der Taufhandlung Chriſti uͤber den Waſſern des
Jordan flattert. Entweder man hat den Ge¬
ſchmack, oder man hat ihn nicht, das iſt Alles,
was ſich ſagen laͤßt; denn dies heißt dann weiter
nichts, als daß man entweder als Indier, oder
als Grieche, oder als Chriſt die Welt und ihre
Erſcheinungen auffaßt. So geſchieht es allerdings
oft, daß dem chriſtlichen Auge mißfaͤllig und un¬
ſchoͤn vorkommt, was dem griechiſchen ſchoͤn und
gefaͤllig, was Beiden vielleicht uͤbereinſtimmend
ſchoͤn, dem indiſchen Auge als das grade Gegen¬
theil, oder umgekehrt, daß, was den Indier ent¬
zuͤckt, dem Griechen und Chriſten ein Abſcheu und
Graͤuel iſt.
Alle dieſe verſchiedenen Geſchmacksurtheile ſind
keineswegs willkuͤhrlich und zufaͤllig, nicht etwa
nur aus augenblicklicher Laune gefaͤllt, oder aus
individueller Mißbildung der Organe hervorgegan¬
gen; ſondern man muß ſie betrachten als direkte,
geſetzmaͤßige Ausfluͤſſe aus der Grundquelle aͤſthe¬
tiſcher Urtheile, als volksthuͤmliche Formen, die
nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanſchau¬
ung ausgepraͤgt ſind.
Solche Geſetze und Formen mußte die Aeſt¬
hetik, wie ſchon bemerkt, nach dem wiſſenſchaftli¬
chen Beduͤrfniſſe unſerer Zeit, in moͤglichſter Voll¬
ſtaͤndigkeit enthalten und dies iſt eine Aufgabe,
welche die Reflexion des Aeſthetikers ohne Schwie¬
rigkeit zur Loͤſung bringen kann, ſobald ſein Leben
in eine Zeit faͤllt, der eine eigenthuͤmliche, Alles
durchdringende WeltauſchauungWeltanſchauung zu Theil gewor¬
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 9
den, ſobald ſein Leben einer Menſchheit angehoͤrt,
die mit ihm und mit ſich ſelbſt ſympathiſirt und
gleichſam aus einem Zeuge gewebt iſt. Da
denke ich mir den Aeſthetiker, wie er zunaͤchſt aus
dem tauſendfaͤltig Gegebenen, vermoͤge eines Akts
poetiſch divinirender Abſtraktion, die einfache For¬
mel des aͤſthetiſchen Bewußtſeins oder, was daſ¬
ſelbe, der zeitig lebendigen Weltanſchauung auf¬
ſucht. Hat ſich ihm dieſe ahnungsvoll erſchloſſen,
ſo mag er ſie im Eingang ſeines Werkes ausſpre¬
chen, als eine Definition der Schoͤnheit, womit
auch die modernen Aeſthetiker den Anfang zu ma¬
chen pflegen, und daß in ihrer geſchichtloſen und
todten Weiſe der Begriff der Schoͤnheit zur allge¬
meinen Abſtraktion wird, waͤhrend ſie bei jenem
eine konkrete Innigkeit gewinnt, da er ſie aus
den ſchoͤnſten Bluͤthen der Gegenwart ſelbſt aus¬
geſogen und eingeathmet hat. So mochte z. B.
der indiſche Aeſthetiker auftreten und ſagen, die
Schoͤnheit, oder das, was gefaͤllt, iſt der Ueber¬
oder Untergang des Wirklichen und Natuͤrlichen
in Brahm, das hieße bei uns, in das Nichts;
der Grieche, die Schoͤnheit oder das, was gefaͤllt,
iſt die goͤttliche Idee der Einheit im Mannigfalti¬
gen und Wirklichen, welche verklaͤrt zur Erſcheinung
kommt; eine Abſorbtion des Geiſtigen durch das
Sinnliche; der Chriſt, die Schoͤnheit oder das,
was gefaͤllt, iſt der Sieg des Unſichtbaren uͤber
das Sichtbare, des Himmliſchen uͤber das Irdi¬
ſche, die Abſorbtion des Sinnlichen durch das Gei¬
ſtige, oder, wie Jeder von dieſen Supponirten das
Eigenthuͤmlichſte ſeiner aͤſthetiſchen Grundanſchau¬
ung ausſprechen mochte.
Nach dieſem denke ich mir den Aeſthetiker,
wie er den Begriff der Kunſt entwickelt und zwar
nach dem weiteſten Umfang, in dem nicht nur die
Poeſie und die bekannten Kuͤnſte eingehen, ſon¬
dern auch und vorzuͤglich, die groͤßte und erha¬
benſte Kunſt, die Kunſt, ſein innres und aͤußeres
Leben als Einzelner, als Glied der Familie, als
Glied des Staats, als Glied der Menſchheit zu
geſtalten, die Kunſt alſo, die ſich unſer Sittliches
und Sinnliches ſelbſt zum Stoffe auswaͤhlt, um
an ihm die Schoͤnheit zu bethaͤtigen. Hierauf
hat er auf eine Reihe von Kunſtlehren ſich einzu¬
laſſen und in jeder beſonderen darauf ſein Haupt¬
augenmerk zu richten, daß das urſpruͤngliche Ge¬
ſetz, die Grundanſchauung ſeiner Zeit und ſeiner
Aeſthetik durch nichts Fremdartiges verdunkelt werde,
ſondern moͤglichſt klar und individuell heraustrete
und ſeine Rechtfertigung in ſich ſelber und im
Ganzen finde. Da aber der Aeſthetiker nicht
eigentlich Geſetze gibt, ſondern nur zuruͤckgibt, ſie
nur entdeckt und nicht erfindet, kurz, da ſie zu
9 *
den geſchichtlichen Wiſſenſchaften gehoͤrt, ſo wird
ihm die kritiſche Betrachtung vorhandener Kunſt¬
werke, des Lebens, der Sitten, der Zeitdichtun¬
gen und uͤberhaupt der Produkte des Genies, den
Beſchluß jener Kunſtlehren bilden, wie ſie in der
That auch ihren Anfang erſt moͤglich machten.
Dieſes iſt in kurzen Zuͤgen das Bild eines
Aeſthetikers und einer Aeſthetik, wie es mir vor¬
ſchwebt, vorſchwebt, ohne daß ich die entfernteſte
Moͤglichkeit ſaͤhe, wie es ein ſterblicher Menſch
heut zu Tage realiſiren koͤnnte, weil Leben, Sit¬
ten, Kuͤnſte, Dichtungen in einem widrigen Zwie¬
licht ſtehen, wie alles Charakteriſtiſche total unter¬
gegangen iſt, weil noch die Zeit ihren Geiſt ſucht,
der ihr abhanden gekommen iſt, wie Peter Schle¬
mihl ſeinen Schatten und weil das, was man
vorlaͤufig Zeitgeiſt nennt, bisher nur mehr nega¬
tive als poſitive Lebensaͤußerungen von ſich gege¬
ben hat.
Was man bisher deutſche Aeſthetik nannte,
war ein unaͤſthetiſches Gemengſel ſogenannter aͤſthe¬
tiſcher Geſetze und Formen, woraus die Dichter
des Ramajana und Mahabarat, wonach Firduſi
und Sophokles, wonach Pindar und Horaz, Cal¬
deron, Shakſpeare und Goethe, Jeder etwas und
Alle nichts haͤtten ſchoͤpfen koͤnnen. So war auch
die Zeit zuſammengemiſcht aus allen moͤglichen
Elementen und man moͤchte die groͤßten Dichter
derſelben poetiſche Kamaͤleons nennen, die bald
im reichen orientaliſchen Talar, bald im ſpani¬
ſchen Mantel, bald als eiſerne Ritter in Helm
und Panzer, bald als Moderne im Pariſer Frack
auftraten und die Poeſie fremder Voͤlker und Zei¬
ten auf die taͤuſchendſte Weiſe nachzuahmen ver¬
ſtanden; dadurch ward die Poeſie allerdings im¬
mer poetiſcher und die Zahl der Poeten in einem
Poeten nahm mit den Jahren immer zu; allein
auf der andern Seite ward das Leben immer pro¬
ſaiſcher, immer fader, immer mehr platt wirklich.
Die nationale Quelle der Poeſie war ver¬
trocknet und haͤtten die Poeten auch das poetiſche
Weltmeer ausgeſchoͤpft und den Strom aller himm¬
liſchen und irdiſchen Poeſien uͤber die ſchmachtende
Gegenwart ergoſſen, ſie waͤre darob um nichts
poetiſcher und bluͤhender geworden, als ſie war.
Eben dieſer Zeitraum, den wirklich geniale und
große Dichter, wie Schiller und Goethe verherr¬
lichten, liefert uns den ſchlagendſten Beweis, daß
die Poeſie und alles Schoͤnſte immer und ewig ein
Fremdling bleibt, wenn es aus der Fremde kommt
und nicht geboren und aufgewachſen mit den Kin¬
dern der Heimath. Und die Poeſie unſerer Dich¬
ter war das Maͤdchen aus der Fremde, wovon
Schiller ſingt, die erſcheint, man weiß nicht wo¬
her, und ſpurlos verſchwindet, wenn ſie Abſchied
nimmt. So kam die Poeſie zu den Deutſchen,
ſo laſen ſie Schiller's und Goethe's Gedichte, ſo
ſahen ſie den Tell auf der Buͤhne, und wenn die
Poeſie wieder weggegangen war, ſo war ihre Spur
verloren und des Philiſteriums breite, ausgetretene
Fußſtapfen wurden betreten, nach wie vor.
Gegenwaͤrtig iſt es freilich anders. Nicht,
daß wir ſchoͤner lebten; doch fuͤhlen wir allmaͤhlig
Sehnſucht danach und es faͤngt uns an zu daͤm¬
mern von einer Poeſie des Lebens, die aller Kunſt¬
poeſie Mutter iſt und zwar mater, filia pulchrior.
Die großen Dichter ſind todt und wir graͤmen uns
nicht ſo ſehr daruͤber, uͤberall ſind wir mehr gleich¬
guͤltig gegen Kunſt und Poeſie geworden, in dem
Verſtand, worin beide bisher gepflegt, auch Das
nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieſes, daß die
ſogenannte Proſa, die ungebundene Rede wirklich
ungebundener und poetiſcher zu ſtroͤmen anfaͤngt,
als bisher, wo die Proſa eben den von den Stri¬
cken der Philiſter gebundenen Simſon vorſtellte
und die ſogenannte gebundene Rede, die Poeſie,
ſchrankenlos umherſchwaͤrmte.
Unſere Dichter ſind proſaiſcher geworden, un¬
ſere Proſaiker aber poetiſcher, und das iſt ein be¬
deutſamer Wechſel, ein Wechſel, der zu den er¬
freulichen Zeichen und Erſcheinungen der Zeit ge¬
hoͤrt, weil Proſa unſere gewoͤhnliche Sprache und
gleichſam unſer taͤgliches Brod iſt, weil unſere
Landſtaͤnde in Proſa ſprechen, weil wir unſere Per¬
ſon und Rechte nachdruͤcklicher in Proſa vertheidigen
koͤnnen, als in Verſen.
Doch iſt dem Aeſthetiker mit alledem nicht
viel geholfen; die Stagnation des Lebens iſt noch
zu allgemein und vorherrſchend und das gruͤne,
truͤbſchmutzige Waſſer iſt kaum trinkbar fuͤr einen
Muͤllereſel, geſchweige fuͤr das gefluͤgelte Roß, das
ſeinen Durſt in der klaren Fluth der Hippokrene
ſtillen will.
Alſo, es gibt keine Aeſthetik im angegebenen
Sinn, es kann keine echte Aeſthetik geben, wer
ſie ſchriebe, muͤßte vorher (neue Religion, eine
neue Moral) eine neue Kunſt, ein neues Leben
herbeiſchaffen. Weder in Muͤnchen, noch in Ber¬
lin wird ſie ein Profeſſor leſen, alle Gemaͤlde,
Bildſaͤulen und geſchnittene Steine der Koͤnige
von Preußen und Baiern reichen nicht aus, um
einen Paragraphen der Aeſthetik zu fuͤllen, die der
neuen Geſchichte, ich meine, der Zukunft ange¬
hoͤrt. Iſt doch ſelbſt jene ſogenannte neue Kunſt-
und Malerſchule an beiden genannten Orten, nur
die Schule einer Schule, nur ein Anfang zur
Wiederholung von Kunſtideen und Kunſtformen,
die, wie Alles, ihre Zeit gehabt haben.
Indem ich dies Geſtaͤndniß, das ich ſchon
in der erſten Stunde ablegte, wiederhole, nach¬
dem mir alles Bisherige zur Erlaͤuterung und Ar¬
gumentation deſſelben gedient hat, ſchreite ich zur
Beantwortung der Frage, was denn, da die Aeſthe¬
tik gegenwaͤrtig ihrer Aufgabe, eine lebendig ge¬
ſchichtliche zu ſein, durchaus nicht entſprechen kann,
von Aeſthetik noch bleibt.
Zunaͤchſt wird Jeder gleich ſehen, daß uns
hier ein reicher Spielraum fuͤr individuelle An¬
ſichten aufnimmt, und daß jeder heutige Aeſtheti¬
ker ſich in den Fall verſetzt findet, mit hinlaͤngli¬
cher Willkuͤhr den alten Weg zu verfolgen und
aus dem Chaos untergegangener Schoͤnheiten belie¬
big Dies und Jenes auszuwaͤhlen, bald mehr die
klaſſiſchen, bald mehr die romantiſchen zu beguͤn¬
ſtigen, bald mehr die Kunſt, bald mehr die Poeſie
in ſein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhe¬
toriſchen Schoͤnheiten das Uebergewicht zu ver¬
ſtatten.
Aus dieſem Wirrwarr iſt wirklich das, was
wir heutiges Tags Aeſthetik nennen, entſprungen.
Man iſt ausgegangen, ſagt Herbart, von der
Thatſache, daß uͤber Sachen des Geſchmacks ver¬
ſchieden geurtheilt wird; man wuͤnſcht aber zu
einer ſichern Entſcheidung zu kommen, und nun
betrachtet und behandelt man die Aeſthetik als
eine, der vorhandenen unſichern Beurtheilung des
Schoͤnen in der Natur und Kunſt vorgeſcho¬
bene und zum Dienſt derſelben beſtimmte Wiſ¬
ſenſchaft. Sehr richtig. Jeder abſtrahirte nun
die Geſetze des guten Geſchmacks (ein Wort, das
den Alten natuͤrlicherweiſe nicht bekannt war, da
ihr Schoͤnheitsſinn nicht allein guten Geſchmack
an Artiſtik und Poeterei, ſondern auch am Leben
bezeichnete, mit dem unſer guter Geſchmack gar
nichts zu ſchaffen hat, Jeder, ſage ich, abſtrahirte
die Geſetze des guten Geſchmacks aus den ihm
bekannten Poeten und Kuͤnſtlern. Da nun das
vorige Jahrhundert die Livree von Ludwig XIV.
trug, ſo war man anfangs ziemlich einig uͤber
die echten Muſter der Poeſie und Kunſt, und da¬
her auch uͤber die Kunſterzeugniſſe, welche bei der
Abfaſſung jener ſteifzierlichen, franzoͤſiſch antiken
Meiſterwerke zur Richtſchnur dienen ſollten.
In Deutſchland wurde ſolche Kritik des Ge¬
ſchmacks Aeſthetik, und nur etwas langweiliger,
gelehrter, philoſophiſcher unter dieſem Namen auf
den Univerſitaͤten dozirt. Das durch Winckelmann
wieder aufbluͤhende Studium der Antike, die Be¬
kanntſchaft mit Shakſpeare, mit Kalderon und
andern auslaͤndiſchen Dichtern, mit dem romanti¬
ſchen Mittelalter, mit Indien und Perſien zuletzt,
alles dieſes, was zur neuern Geſchmacksbildung,
das heißt, zur neuern Geſchmacksverwirrung ge¬
hoͤrt, bereicherte und verwirrte auch die Aeſthetik.
Bouterwek, die Schlegel, gaben den Leuten, die
ihren Geſchmack bilden wollten, die halbe Welt
durchzuſchmecken, woraus aber mehr Ekel, als
Genuß und Bildung hervorging und wovon all¬
maͤhlig Widerwille gegen alles Aeſthetiſche die na¬
tuͤrliche Folge war.
Beantworte ich alſo die Frage, was uns ge¬
genwaͤrtig als Aeſthetik noch bleibt, damit, daß
ich ſage: die alte Aeſthetik fuͤr die, die ihrer noch
nicht uͤberdruͤſſig geworden ſind, fuͤr die Andern
aber, das leiſe aͤſthetiſche Gefuͤhl, das im Schooß
der Zeit ſich regt, das prophetiſche Gefuͤhl einer
neu beginnenden Weltanſchauung, das ſich von
Tage zu Tage bewußter und deutlicher wird, die
Einleitung zur kuͤnftigen Aeſthetik.
Als eine ſolche, meine Herren, moͤgen Sie
auch die gegenwaͤrtigen Vorleſungen betrachten.
Was uns betrifft, ſo koͤnnte uns ſchon deswegen
die gewoͤhnliche Aeſthetik nicht genießlich ſein, da
wir im Norden aller kuͤnſtleriſchen Bildung er¬
mangeln, da es am hieſigen Ort weder Gemaͤlde¬
ſammlungen, noch Gypsabdruͤcke, noch Daktilio¬
theken gibt, da ich auch auf keine Anſchauungen
der Art hinweiſen, noch mich auf fruͤhere berufen
koͤnnte. Hoͤren Sie alſo den Plan, den ich in
der Zukunft befolgen werde. Was den Stoff be¬
trifft, ſo muͤſſen wir uns, einige Allgemeinheiten
abgerechnet, allerdings beſchraͤnken auf Poetik und
Rhetorik, was den Geiſt und die Darſtellung be¬
trifft, hoffe ich Sie aber an die unfruchtbare
Pedanterie fruͤherer Behandlungen, ſo wenig als
moͤglich zu erinnern, indem es meine Aufgabe ſein
wird, ſowohl Poeſie als Proſa im Zuſammen¬
hang mit den Richtungen der Zeit aufzufaſſen und
Sie das Geſetz der Schoͤnheit, das uͤber beiden
gemeinſchaftlich waltet, als das Geſetz der wer¬
denden Weltanſchauung ahnen zu laſſen. Meine
Bemerkungen werden ſich anreihen an die Werke
einiger neuerer Schriftſteller, an Byron und Goe¬
the in poetiſcher, an Heinrich Heine in proſaiſch
ſtiliſtiſcher Beziehung. Die Proſa wird vor allen
Dingen unſer Augenmerk ſein, und ich hoffe Sie
ſelbſt in den letzten Stunden zu praktiſchen Uebun¬
gen zu bewegen. Die Proſa iſt eine Waffe jetzt
und man muß ſie ſchaͤrfen; dies allein ſchon waͤre
ein erfreuliches Reſultat unſeres Zuſammentreffens.
Zehnte Vorleſung.
Haben wir die aͤſthetiſche Weltanſchauung als
eine Offenbarung der Geſchichte angeſprochen, un¬
ſerer Zeit aber eine ſolche abgeſprochen, ſo muͤſſen
wir deſſenungeachtet das Zugeſtaͤndniß machen, daß
das aͤſthetiſche Gefuͤhl auch zu unſerer Zeit An¬
ſpruͤche mache, Urtheile faͤlle, zu Handlungen reize,
Befriedigung ſuche. Wir ſchreiben uns einen Ge¬
ſchmack zu, um eine ſchoͤne That von einer haͤßli¬
chen zu unterſcheiden, um eine Sudelei nicht mit
einem Meiſterwerk zu verwechſeln; und ſind wir
ſelbſt die Handelnden und die Kuͤnſtler, ſo trach¬
ten wir bei unſern Handlungen und Produktionen
ſowohl nach eigenem, als nach fremdem Beifall,
und ſuchen das Mißfallende nach Kraͤften zu ver¬
meiden. Was alſo unterſcheidet uns und unſere
Zeit von ſolchen Menſchen und Zeiten, die ſich
einer gemeinſamen Weltanſchauung zu ruͤhmen ha¬
ben? Nach dem Bisherigen und Ihrem eigenen
Gefuͤhl iſt die Antwort: der Mangel an Einheit
und daher der Mangel an Kraft und Sicherheit,
und daher der Mangel an Wahrheit. Wir ſind
im Handeln eben ſo unſicher, wie im Genießen,
im Schaffen eben ſo ſchwankend, wie im Beur¬
theilen, Kopf ſtoͤßt ſich an Kopf, Gefuͤhl an Ge¬
fuͤhl, es iſt eine Welt von Diſſonanzen, die ihren
Generalbaß erſt von der Zukunft erwartet.
Was iſt ſchoͤn? Was nennt man heutzu¬
tage unisono eine ſchoͤne That? Denken Sie an
den Aufſtand der Polen! — Daß vor vielen
Jahrhunderten die Schweizer ſich von Oeſtreich
losriſſen, daß Tell den Gesler erſchoß, daß Win¬
kelried der Freiheit eine Mauer war und die feind¬
lichen Lanzen in ſeine eigne Bruſt ſchob, das fin¬
den wir allerdings unisono ſchoͤn und es iſt jedem
Deutſchen ſowohl polizeilich, als aͤſthetiſch erlaubt,
daruͤber in gelinden Enthuſiasmus zu gerathen.
Allein, daß ein ſchaͤndlich zerſtuͤcktes und unter¬
druͤcktes Volk vor unſern Augen die Eisdecke der
Tyrannei in die Luft ſprengt, daß es eine Nacht
gab, wo wir ruhig in unſern Betten ſchliefen
und Gott weiß, von welcher Oper traͤumten,
eine Nacht, wo eine Handvoll kuͤhner Juͤnglinge
den Palaſt zu Warſchau ſtuͤrmten und nach der
Flucht und dem Tode von wenig feilen Kreaturen
einer Morgenroͤthe zujauchzten, welche die geſpreng¬
ten Ketten einer großen und edelmuͤthigen Nation
beleuchtete, dieſes Ereigniß und alle die glaͤnzen¬
den Thaten und Opfer, die es nach ſich zog —
fand es ſo allgemeinen Anklang, riß es ſo allge¬
mein und wahrhaft die Gemuͤther hin, oder hoͤrte
man nicht, wo Zwoͤlf zuſammenſtanden, den Ei¬
nen verabſcheuen, den Andern bewundern und Ze¬
hen mit den Haͤnden klatſchen, als wohnten ſie
nur im Theater der Welt der Auffuͤhrung eines
ſchoͤnen Stuͤckes bei.
Ich fuͤhre eben dieſes tragiſche, uns ſo nahe
liegende Beiſpiel an, um zu zeigen, was es fuͤr
eine Bewandtniß habe mit unſern aͤſthetiſchen Ge¬
fuͤhlen, wenn auch die gluͤhendſte Thatenſchoͤnheit
ſich vor unſern Blicken aufthut. Hier ſehen Sie
eine That, von deren Schoͤnheit man durchdrun¬
gen ſein muß, wenn man einen Tropfen Roͤmer¬
blut, einen Hauch aus Timoleons Seele in ſich
ſpuͤrt, wenn nicht Alles Luͤge und Schulgeſchwaͤtz
iſt, was wir der alten Geſchichte nachruͤhmen,
der kontraſtirendſten Beurtheilung anheim fallen,
nach den Extremen der Bewunderung und des Ab¬
ſcheus hingetrieben und bei der Menge entweder
dumpfes Staunen, ſtupides Ergoͤtzen, oder eine
Art von kuͤnſtleriſchem, dramatiſch-theatraliſchem
Wohlgefallen erregend. Ein ſolches Schickſal, meine
Herren, wird jede andere ſchoͤne That unter uns
erleben: Viele werden ſie ſchoͤn finden, nicht als
Ereigniß der Geſchichte, nicht als ſittliche Hand¬
lung, nicht als wiederbegeiſternde Begeiſterung
ſchoͤner Seelen, ſondern als ein ſchoͤnes Natur-
oder Kunſtprodukt, deſſen bequeme und ruhige
Betrachtung wohl eine angenehme Waͤrme im
Herzen verbreitet, aber eine Waͤrme, die fuͤr das
Herz ſo flau und unſchuldig iſt, wie eine Taſſe
Thee fuͤr den Magen; immer nur Wenige wird
es geben, denen die That auf's Herz ſchießt, wie
ein Blitz, entzuͤndend, begeiſternd, zu aͤhnlichen
Thaten befluͤgelnd, kurz, auf deren Gemuͤth die
geſchichtliche, lebendige Schoͤnheit, wie es in ihrem
urſpruͤnglichen Weſen liegt, geſchichtlich und leben¬
dig wirkſam iſt.
Leichter, werden Sie ſagen, vereinigt man
ſich uͤber die Schoͤnheiten der Kunſt und Dichtung.
Sie haben recht, und das iſt es auch eben, was dem
Kuͤnſtler und Dichter nicht allen Muth nimmt
in dem Maß, wie dem handelnden Menſchen,
das iſt ſogar die Urſache, weswegen der Aeſtheti¬
ker, wenn er auch ſeiner Aufgabe nicht entſprechen
kann, die Aeſthetik nicht ganz fahren laͤßt. Laſſen
Sie ein Dichtergenie, gleich dem des Shakſpeare,
die Polenrevolution, den Kampf und Untergang
der Freiheit, großartig poetiſch in ruhiger Zeit auf
die Breter bringen, „welche nicht die Welt ſind,
ſondern die Welt bedeuten,“ wie Schiller ſagt,
dann werden Sie hoͤren, wie alle Urtheile ſich
vereinigen, wie das Parterre klatſcht, wie die
Faͤhndriche ſich in die Bruſt werfen, wie die Kri¬
tiker ihre Brillen wiſchen, welcher Enthuſiasmus
ſich in den Logen verbreitet und wie vielleicht ſelbſt
ein erſtarrtes Amts- und Miniſtergeſicht am Schluß
des Stuͤcks und der Freiheit Thraͤnenwaſſer und
einen Reſt von Mitgefuͤhl und Wehmuth auf den
Wangen hat.
Woher dieſe Erſcheinung? Hat der Dichter
Begeiſterung und Schmerz der That erſt hinzuge¬
dichtet, oder gehoͤren ſie nicht vielmehr der That
an; hat der Dichter Erhabenes und Schoͤnes aus
ſeinem Hirn geboren oder iſt nicht bereits die
That erhaben und ſchoͤn, liegt Alles, was ſo
maͤchtig ruͤhrt, nur darin, daß es in Verſen aus¬
geſprochen und in fuͤnf Akte vertheilt iſt, oder
hat die Poeſie einen tieferen Grund, weswegen
ſie zum Herzen ſpricht? Ja, die Poeſie hat einen
tieferen Grund. Die dramatiſche Poeſie waͤre gar
keine ohne die Poeſie der That, der Dichter iſt
kein Gott, der uns aus angebornem Kraftvermoͤ¬
gen neue Welten erſchaffen koͤnnte, er iſt auch kein
Taſchenſpieler, der durch Reim und Klang, durch
eine rhythmiſche Abwechſelung von ſechs metriſchen
Fuͤßen, allerhand Phantome der Luſt und des
Schmerzes, der Furcht und der Begeiſterung in
der Seele ſeiner Zuhoͤrer aufregen koͤnnte; der
Dichter nimmt Stoff und Begeiſterung aus der
That und die hoͤchſte Palme hat er errungen, wenn
die Schoͤnheit der That aus dem Leben in eine
andere Welt, in die Kunſtwelt, von ihm verpflanzt,
ſein Gedicht durchſtrahlt und wieder vom Gedicht,
wie ein Juwel in der Einfaſſung, neuen Glanz
annimmt. So durchlaͤuft die Schoͤnheit einen
doppelten Kreis und bringt zweifache Wirkung her¬
vor, einmal im Leben, als ſittliche, poetiſche, hiſto¬
riſche, geſellſchaftliche, das andere Mal in der
Dichtung, als kuͤnſtleriſche, dramatiſche, epiſche.
In beiden Faͤllen wirkt ſie ein aͤſthetiſches Gefuͤhl,
aber im erſten mehr ein thaͤtiges, im andern
mehr ein leidendes, im erſten mehr ein unmit¬
telbar, im zweiten ein mehr mittelbar ruͤckwirken¬
des. So ſollte, wollte ich ſagen, die Schoͤn¬
heit einen doppelten Kreis durchlaufen und ſowohl
auf den Willen, wie auf das Gefuͤhl ihren zau¬
bervollen Einfluß ausuͤben; allein wir gingen mit
Recht davon aus, daß der Zauberſtab der Schoͤn¬
heit, womit ſie die Zuſchauer und Hoͤrer ſchoͤner,
großer Thaten, ſelbſt wieder zu ſchoͤner und gro¬
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 10
ßer That bewegt, leider keine Macht uͤber uns
ausuͤbt, und daß nur das Luftigere der Kunſt un¬
ſere Gemuͤther bewegt, und zur paſſiven Mitem¬
pfindung anreizt.
Ueber das Schoͤne in Kunſt und Dichtung
findet daher eine leidliche Verſtaͤndigung in der
Regel Statt, auch theilen wir beim Anblick ſchoͤ¬
ner Gemaͤlde und Gedichte miteinander ſo ziem¬
lich denſelben Eindruck; allein im Gebiet des
Thatſaͤchlichen zerfallen die Meinungen und Ge¬
fuͤhle und hier, wo das Schoͤne unmittelbar aus
der Quelle ſprudelt, wo es vom goͤttlichen Athem
noch gleichſam warm angehaucht iſt, hier laͤßt es
ſo Viele kalt; hier wird es von ſo Vielen ver¬
ſchmaͤht. Plato wollte keine Dichter in ſeine Re¬
publik aufnehmen, ſondern nur handelnde Maͤnner,
unſere Geſetzgeber wollen keine Maͤnner, nur Dich¬
ter im Staat, keine Thaten, nur die Schatten
derſelben, keine andern Schoͤnheiten, als gereimte
und gemalte.
Eben daher iſt uns denn auch der Begriff
der Schoͤnheit ſo zuſammengeſchrumpft, daß der
Name: ein ſchoͤner Geiſt, eben nur einen Belle¬
triſten von Fach andeutet, der Ausdruck einer
ſchoͤnen That uns an ein gegebenes Almoſen
und an Alles eher, als an eine heroiſche Hand¬
lung erinnert; die ſchoͤnen Wiſſenſchaften und
Kuͤnſte aber mitſammt den Schoͤnheiten der Na¬
tur, ſchoͤnen Weibern, ſchoͤnen Blumen den gan¬
zen Inbegriff des Schoͤnen ausfuͤllen.
Unſere Aeſthetiker, wenn ſie die Frage, was
iſt die Schoͤnheit, aufwerfen, haben dabei faſt
nur die Proportionen des Geſichts und der menſch¬
lichen Geſtalt vor Augen, und wenn ſie dieſe be¬
ſondere Schoͤnheit in eine Definition gezwaͤngt ha¬
ben, ſo glauben ſie die Weihe der Aeſthetik damit
ertheilt zu haben, noch dazu ſchlug der Gott der
Schoͤnheit die Meiſten mit Blindheit.
Uebereinſtimmung der Theile erklaͤren Viele
als das Myſterium der Schoͤnheit; wobei noch
dazu die klaͤglichſte Verirrung zur Einſeitigkeit
hinzutritt; denn die Theile eines Kamſchadalen
ſtimmen eben ſo gut uͤberein, wie die Theile
eines Antinous und uͤberhaupt iſt Proportion
nichts weiter, als Maaß. Man kann alle Ver¬
haͤltniſſe beobachten, jede Figur in ſo und ſo
viel Kopflaͤngen eintheilen, ohne doch eine ſchoͤne
Geſtalt zu Stande zu bringen. Die Schoͤnheit
liegt auch da wieder in etwas, was in der Defi¬
nition nicht liegt. Andere ſprachen von der An¬
gemeſſenheit jedes einzelnen Theils zum Zweck des
Ganzen. Aber Polyphems großes Stirnauge iſt
eben ſo gut zum Sehen geſchickt, als Apolls, und
ſo zweckmaͤßig auch und harmoniſch mit dem gan¬
10 *
zen Leibe die Stacheln eines Stachelſchweins em¬
porſtarren, ſo wenig ſchoͤn finden wir dieſen An¬
blick. Der engliſche Maler Hogarth fand die
Lineamente der Schoͤnheit in der Wellenlinie,
wonach denn auch das unfoͤrmlichſte Ganze, die
oͤdeſte Seekuͤſte, mit den Spuren der Wellenlinie
darin ſchoͤn genannt werden muͤßte.
Fragt die Kroͤte, ſagt Voltaire, was ſchoͤn
iſt, oder einen Schwarzen von Guinea, oder einen
Philoſophen, — dieſer allein wird euch mit einem
Gallimathias antworten. Man kann Voltaire nur
beiſtimmen. Selbſt Platon's Erklaͤrung der Schoͤn¬
heit iſt nur eine ſchoͤne Mythe, welche bei naͤhe¬
rer Betrachtung das Weſen der Schoͤnheit eigent¬
lich aufhebt. Sie erinnern ſich, wo er von dem
Entzuͤcken ſpricht, worein Jemand gerathen wuͤrde,
erſchien ihm die Idee der Schoͤnheit ſelbſt in leicht
verkoͤrpertem Gewande. Allein dies Entzuͤcken wird
keinem Sterblichen zu Theil werden, Platon's
Idee der Schoͤnheit iſt, bei Licht betrachtet, von
jeder andern abſtrakten Idee durch nichts unter¬
ſchieden, wir koͤnnen die Schoͤnheit nicht abloͤſen
von den individuellen Organismen, in denen ſie
zur Erſcheinung kommt, die ſchoͤne That nicht vom
Charakter des Menſchen, der ſie ausfuͤhrt, die
ſchoͤne Roſenknospe nicht von dem ſchlanken, gruͤ¬
nen Staͤngel, worauf ſie waͤchſt, die ſchoͤnen Au¬
gen, den bezaubernden Mund, die feine Naſe
nicht von dem Geſicht und das Geſicht nicht von
dem Rumpfe des einzelnen Weſens getrennt und
abgeſondert denken, ohne uns uͤberhaupt den Ein¬
druck der Schoͤnheit zu zerſtoͤren.
Es iſt nicht meine Abſicht, hier alle Defini¬
tionen der Schoͤnheit zu beleuchten. Bemerke ich
nur, daß grade die tiefſinnigſte auf dem Grund¬
fehler beruhe, die Schoͤnheit als ein ideelles Et¬
was, als eine einzige beſtimmte Urſache fuͤr alle
Wirkungen des Schoͤnen zu betrachten. Allein
mannigfaltig iſt des Schoͤnen Natur und viele
Elemente gibt es, die das Schoͤne darſtellen.
Doch halte ich es fuͤr wichtig, ehe ich Ihnen
daruͤber meine Ideen mittheile, Sie vor der ſo
gewoͤhnlichen Verwechſelung des Schoͤnen, ſei es
mit dem Nuͤtzlichen und Angenehmen, ſei es mit
dem Intereſſanten, zu warnen. Ganze philoſo¬
phiſche Sekten, wie die ſtoiſche, haben das Schoͤne
mit dem Nuͤtzlichen verwechſelt; alle Dialektik der
Stoiker konnte den aͤſthetiſchen Sinn nicht erſetzen.
Das Schoͤne befriedigt, wie das Nuͤtzliche und
Angenehme, allein das Schoͤne befriedigt, wie es
geſucht wird, um ſein ſelbſt willen, das Nuͤtzliche
nur um eines Andern willen, wozu es nuͤtz iſt,
und, obwohl wir das Angenehme oft ohne wei¬
tere Nebenruͤckſichten begehren, und es alſo mit
dem Gefallenden und Mißfallenden im nahen Ver¬
haͤltniß ſteht, ſo fehlt uns doch noch oͤfter der be¬
ſtimmte Gegenſtand dafuͤr und es ſchwebt nur als
ein dunkles Gefuͤhl in uns, ohne uns, wie das
Schoͤne, als Gegenſtand entgegenzutreten und ſich
der Beurtheilung zu unterwerfen. Das Ange¬
nehme ergoͤtzt ſich mit augenblicklichen Gefuͤhlen,
die, ſobald man ſie aufklaͤrt, in Nichts zuruͤcktre¬
ten und verſchwinden, dagegen iſt das Schoͤne,
je laͤnger man es betrachtet, je ſchaͤrfer man ſeine
Natur unterſucht, deſto lebendiger und nachhalti¬
ger von Wirkung auf das Gefuͤhl, ſo wie nur
der Kenner der Kunſt den vollſten Genuß vom
Anſchauen der Meiſterwerke hat und dem Kenner
der Muſik tauſend Fibern im Ohr beruͤhrt wer¬
den bei Anhoͤrung eines wohlexerzirten Orcheſters,
gegen eine Fiber im Ohr des Unkundigen. Nur
das Schoͤne, wenn man den Ausdruck genau neh¬
men will, nur das Schoͤne gefaͤllt, nicht das Nuͤtz¬
liche, nicht einmal das Angenehme, obwohl dieſes
auf unmerklichen Wegen ſich zum Schoͤnen ſtei¬
gern kann; beſonders wenn es den Sinn des Ge¬
ſichts affizirt, wie bei den Farben, als bloßen
Pigmenten, oder bei einem Stuͤck blauer Luft,
oder gruͤnem Raſen und dergleichen. Doch iſt der
Sprachgebrauch hierin ziemlich lax und obwohl
Niemand ſagen wird, daß ihm der Zirkel gefaͤllt,
weil er rund iſt, ſo wird Mancher ſchon von dem
Geruch einer Hyazinthe, als etwas, das ihm ge¬
falle, ſprechen koͤnnen.
Das Intereſſante iſt aber, was ſich dem
Schoͤnen beigeſellt, ohne ſelbſt das Schoͤne zu
ſein. Ein Dichter, der es darauf anlegt, unſere
Aufmerkſamkeit auf mehrere Stunden in Anſpruch
zu nehmen, erreicht dieſen Zweck ſelten nur mit
bloßer Huͤlfe des Schoͤnen, er muß unſere Auf¬
merkſamkeit durch den Wechſel der Perſonen und
Szenen, durch den Wechſel des Ernſten und Hei¬
tern, uͤberhaupt durch Abwechſelung zu unterſtuͤtzen
ſuchen, er muß fuͤr unſere Unterhaltung ſorgen,
wenn er uns das Schoͤne zu genießen gibt. So
kann z. B. ein Trauerſpiel von 24 Akten ſehr
ſchoͤn ſein, aber ich zweifle, daß es auch unter¬
haltend iſt. Voltaire hat nicht Unrecht, wenn er
von den Gattungen der Dichtkunſt ſagt: jedes
Genre iſt gut, ausgenommen das langweilige.
Eilfte Vorleſung.
Die Empfindung des Schoͤnen, das Schoͤne ſelbſt,
haben wir voͤllig dem Kreis des Hiſtoriſch-Sub¬
jektiven vindizirt. Allein wir duͤrfen nicht bei die¬
ſem Satze ſtehen bleiben; auch das Gute, auch
das Wahre gehoͤrt in dieſes Gebiet. Wer es
laͤugnet, verkennt die Geſchichte und den innigen
Zuſammenhang des Guten, Schoͤnen und Wahren,
wie er ſich geſchichtlich kund thut.
Wir haben den Punkt zu bezeichnen geſucht,
der auf den verſchiedenen Kulturſtufen des Voͤlker¬
lebens als der Mittelpunkt aller geiſtig-ſinnlichen
Thaͤtigkeiten erſchien und in welchem alle indivi¬
duellen Anſchauungen ſich in eine große epochen¬
artige Weltanſchauung konzentrirten. Nur eine
Zeit, der gar keine gemeinſame Anſchauungsweiſe
zu Grunde liegt, konnte ſcheiden, was Gott ver¬
einigt hat, konnte mit duͤrren Schulbegriffen in
der geheimnißvollen Werkſtatt des Lebens operiren.
So wenig in ſolcher Zeit die Theologie mit der
Religion, ſo wenig hat die Moral mit der Sitt¬
lichkeit, mit der Anwendung auf das oͤffentliche
und einzelne Leben zu ſchaffen. Was man Moral
nennt, wird ein todtes Abſtraktum von Pflichten-
und Tugendlehre, die ſich den Anſtrich geben, ab¬
ſolut guͤltig zu ſein und jedem Menſchenkinde als
apodiktiſche Richtſchnur des Handelns zu dienen.
Was man Aeſthetik nennt, wird ein aͤhnliches Ab¬
ſtraktum von Schoͤnheitslehren fuͤr alle Zeiten und
Generationen, von der abſoluten Natur moraliſcher
Noͤthigungen nur dadurch unterſchieden, daß dieſe
auf einem kategoriſchen Imperativ beruhe, jene
aber, trotz ihrer anmaßlichen Allgemeinheit, der
Wahl und Willkuͤhr weiteren Spielraum oͤffnen.
Unter den Haͤnden der Philoſophen bekam die
Aeſthetik eine ſehr untergeordnete Stellung, wie
beſonders im Syſtem des Heros der kritiſchen
Philoſophie. Waͤhrend Kant die Erhabenheit der
Pflicht, die Majeſtaͤt des Geſetzes mit kraͤftigen
und glaͤnzenden Farben ſchilderte, ſtand ihm das
Bewußtſein und das Gefuͤhl des Schoͤnen ein klein
wenig uͤber den thieriſchen Vorſtellungskraͤften;
das Schoͤne ſelbſt iſt ihm etwas Begriffloſes, eine
gewiſſe Form der Zweckmaͤßigkeit eines Gegenſtan¬
des, welche nothwendiger Weiſe gefaͤllt, ſofern ſie
ohne Vorſtellung eines Zweckes wahrgenommen
wird, eine Definition, die ſo einſeitig als falſch
iſt, da die Zweckmaͤßigkeit, das iſt, das Treffen
des Mittels zum Zweck, wie ſchon bemerkt, we¬
der an ſich die Schoͤnheit iſt, da es ſehr viele
zweckmaͤßig haͤßliche Erſcheinungen gibt, noch uͤber¬
haupt ſchoͤn genannt werden kann, indem ſie nur
in dem Beduͤrftigen der Natur ihren Sitz hat.
Betrachtet man mit phyſiologiſchen Augen das
Innere des menſchlichen Leibes, ſo erſcheint uns
darin Alles durch die Verhaͤltniſſe von Zweck und
Mittel geordnet, was aber durchaus keine aͤſthe¬
tiſche Betrachtungsweiſe zulaͤßt. Zweck und Mit¬
tel ſind dort in ſtetigem Uebergang in einander
und zwar allerdings auf die kuͤnſtlichſte Weiſe, die
auch nichts von der Willkuͤhr unſerer Kuͤnſteleien
hat, ſondern die Nothwendigkeit einer hoͤhern
Kunſt. Allein Alles dieſes hat die Natur unſern
Augen wohlthaͤtig verborgen, und wir draͤngen uns,
um unſere Kenntniſſe zu bereichern, in ihre in¬
nere Werkſtaͤtte. Nicht den Prozeß ihrer Thaͤtig¬
keit, etwas viel Schoͤneres fuͤhrt ſie uns vor Au¬
gen, das Produkt derſelben, in welchem alle ihre
inneren Anſtalten ihr Ziel erreicht haben, vollen¬
det erſcheinen, bei welchem man alſo gar nicht
mehr von Mittel und Zweck als abgeſonderten
Gegenſtaͤnden ſprechen darf, ſondern wo Mittel und
Zweck in einander aufgeloͤſt und verfloſſen ſind.
Niemand hat dies ſcharfſinniger aus einander ge¬
ſetzt, als Solger im Ervin.
Moral und Aeſthetik haben in Kant's Phi¬
loſophie nichts mit einander gemein; der Geſchmack
am Guten und der gute Geſchmack ſind ſich durch¬
aus fremd; es iſt nicht blos gut, das Gute zu
empfinden, in dem Sinn, wie es ſchoͤn iſt, das
Schoͤne zu empfinden, nein, das Gute iſt ein
Muß, eine Pflicht, ein moraliſches Geſetz, dem
ſich der Wille beugen und unterwerfen muß, ohne
ſich an der Guͤte und Schoͤnheit der That zu er¬
freuen, ja, ein ſolches Wohlgefallen, das der
That vorhergeht oder ſie begleitet, iſt verdaͤchtig,
denn Luſt und Liebe ſind truͤbe Quellen und nur
die ſteinernen Tafeln des Geſetzes bewahren die
Welt vor dem Verfall der Sittlichkeit. Denken
Sie nur an eine Menge lyriſcher Gedichte und
insbeſondere auch an die aͤſthetiſchen Abhandlungen
des kantiſirenden Schillers. Hier ſehen Sie, wie
das freie Spiel der Schoͤnheit dem Ernſt der mo¬
raliſchen Geſetzgebung gegenuͤber geſtellt, dort, wie
die Luſt mit der Pflicht in grauſamem Kampfe
dargeſtellt wird.
So lange noch Moͤglichkeit vorhanden iſt,
ſagt unter Andern Schiller in ſeiner Abhandlung
uͤber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch
ſchoͤner Formen: ſo lange noch Moͤglichkeit vor¬
handen iſt, daß Neigung und Pflicht in demſelben
Objekt des Begehrens zuſammentreffen, ſo kann
dieſe Repraͤſentation des Sittengefuͤhls
durch das Schoͤnheitsgefuͤhl keinen poſiti¬
ven Schaden anrichten; obgleich, ſtreng genom¬
men, fuͤr die Moralitaͤt der einzelnen Handlungen
dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall
veraͤndert ſich gar ſehr, wenn Empfindung und
Vernunft ein verſchiedenes Intereſſe haben, wenn
die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Ge¬
ſchmack empoͤrt, oder wenn ſich dieſer zu einem
Objekt hingezogen fuͤhlt, das die Vernunft als
moraliſche Richterin zu verwerfen gezwungen iſt.
Jetzt naͤmlich tritt auf einmal die Nothwen¬
digkeit ein, die Anſpruͤche des moraliſchen und
aͤſthetiſchen Sinns auseinanderzuſetzen, ihre gegen¬
ſeitigen Befugniſſe zu beſtimmen und den wah¬
ren Gewalthaber im Gemuͤth zu erfahren.
Aber eine ſo ununterbrochene Repraͤſentation hat
ihn in Vergeſſenheit gebracht und die lange Ob¬
ſervanz, den Eingebungen des Geſchmacks unmit¬
telbar zu gehorchen, und ſich dabei wohl zu be¬
finden, muͤßte dieſem unvermerkt den Schein eines
Rechtes erwerben.
Und nun fuͤhrt Schiller die Liebe an, die er
unter allen Neigungen, die von dem Schoͤnheits¬
gefuͤhl abſtammen, diejenige nennt, die ſich dem
moraliſchen Gefuͤhl, als ein veredelter Affekt
vorzuͤglich empfehle und nachdem er erſt eine dich¬
teriſche Schilderung von ihr gegeben, daß ſie goͤtt¬
liche Funken aus gemeinen Seelen ſchlage, daß
ſie jede eigennuͤtzige Neigung verzehre, durch ihre
allmaͤchtige Thatkraft Entſchluͤſſe beſchleunige, welche
die bloße Pflicht den ſchwachen Sterblichen um¬
ſonſt wuͤrde abgefordert haben, ruft er auf einmal
aus: aber man wage es ja nicht mit dieſem Fuͤh¬
rer, wenn man nicht ſchon vorher durch einen
beſſeren geſichert iſt, was beilaͤufig zu ſagen, ſo
viel heißt, als: man liebe nicht ohne Kant's kate¬
goriſchen Imperativ.
Das Beiſpiel, das er nun anfuͤhrt, mag uns
zugleich dienſam ſein, die Natur des Irrthums
uͤber Pflicht und Schoͤnheitsſinn aufzudecken und
uns auf die richtige Spur zu leiten.
Der Fall ſoll eintreten, ſagt Schiller, daß
der geliebte Gegenſtand ungluͤcklich iſt, daß es
von uns abhaͤngt, ihn durch Aufopferung einiger
moraliſcher Bedenklichkeiten gluͤcklich zu machen.
Sollen wir ihn leiden laſſen, um ein reines Ge¬
wiſſen zu behalten. Erlaubt dieſes der uneigen¬
nuͤtzige, großmuͤthige, ſeinem Gegenſtand ganz da¬
hingegebene, Alles vergeſſende Affekt? Heißt das
lieben, wenn man beim Schmerz der Geliebten
noch an ſich ſelbſt denkt? So ſophiſtiſch, faͤhrt
er fort, weiß dieſer Affekt die moraliſche Stimme
in uns veraͤchtlich zu machen und unſere ſittliche
Wuͤrde als ein Beſtandſtuͤck unſerer Gluͤckſeligkeit
vorzuſtellen, das zu veraͤußern in unſerer Macht
ſteht.
Der Fall iſt gut gewaͤhlt, doch ſchuͤtzt er
nicht, um den Trugſchluß der ganzen Anſicht, die
Willkuͤhr philoſophiſcher Lehrſaͤtze eines Jahrhun¬
derts hinter der Willkuͤhr eigner Natur zu ver¬
ſtecken.
Wir ſehen hier einen Menſchen, den die Liebe
verfuͤhrt, dem, was er fuͤr Pflicht haͤlt, untreu
zu werden oder vielmehr, der ſich eine hoͤhere
Pflicht der Liebe erdichtet, um Pflichten der Menſch¬
heit zu uͤbertreten. Seine Neigung war an ſich
eine edle, ſie war entſprungen aus dem Schoͤn¬
heitsgefuͤhl, hatte ſich geſteigert zur Leidenſchaft
und drohte nur als ſolche der Sittlichkeit und dem
Pflichtgefuͤhl gefaͤhrlich zu werden, ſie war alſo in
ihrem Laufe eine andere geworden, das Schoͤn¬
heitsgefuͤhl, das eine zarte Neigung erzeugte, und
ſich mit dieſer verſchmolz, war getruͤbt worden
durch heftige Leidenſchaft, dieſe aber verbindet ſich
bekanntlich eben ſo oft mit der Liebe, als mit dem
Haſſe, dieſe ſtrebt eben ſo oft das Haͤßlichſte, als das
Schoͤnſte an, dieſe, wie ſie die Erzeugerin alles
Großen in der Weltgeſchichte iſt, war auch die
Mutter aller Gewaltthaten und Graͤuel, die nicht
vom kalten Blut und der vertrockneten Bosheit
diktirt wurden. Nicht allein die Liebe, die auf
dem Schoͤnheitsgefuͤhl beruht, hat ihre Leidenſchaf¬
ten, auch die Religion hat die ihrigen und die
liebevollſte unter allen, die chriſtliche, hat ſich mit
den furchtbarſten geſellt und iſt durch ſie in die
blindeſte Befangenheit trauriger Irrthuͤmer geſtuͤrzt.
Ja noch mehr, ſelbſt dieſe kalte Pflichtenlehre,
welche das moraliſche Geſetz mit eiſerner Ruthe
uͤber das Gewiſſen ihrer Unterthanen walten laͤßt,
ſelbſt dieſe kann ſich leidenſchaftlich aͤußern, und
es iſt mir von einem Kantianer erzaͤhlt, der mit
einer Art kaltphiloſophiſcher Wuth alle Blumen
der Luſt und Poeſie aus ſeinem Herzen riß und
nach den Trommel- und Taktſchlaͤgen des Kanti¬
ſchen Moralprinzips ſo eifrig, wie ein neuange¬
worbener Rekrut, auf dem Felde der Sittlichkeit
ſich einexerzirte. Koͤnnen wir uns nicht an der
Stelle des Schillerſchen Beiſpiels ein anderes den¬
ken, wo grade das zur hoͤchſten Einſeitigkeit aus¬
gebildete ſogenannte Pflichtgefuͤhl in Kolliſion mit
den ſchoͤnern Gewalten der Liebe, ſei's nun durch
Begehen oder Unterlaſſen empoͤrend und abſcheu¬
lich wird? Verſuchen wir ein ſolches; denken wir
uns einen aͤngſtlich gewiſſenhaften Pflichtmenſchen,
der ſich aͤrgert, wenn es ihm einmal widerfaͤhrt,
das Gute aus Luſt zu thun und das Boͤſe aus
Widerwillen zu unterlaſſen, der ſich aber gluͤcklich
ſchaͤtzt, daß er es ziemlich ſo weit gebracht hat,
entweder ſeine Neigungen zu toͤdten, oder trotz
ſeinen Neigungen (natuͤrlich auch ſeinen ſchoͤnen
und edlen Neigungen) nur auf die ſtrengen Ge¬
bote deſſen zu achten, was er Pflicht nennt. Denken
Sie ſich alſo einen Mann, der es nach Schiller's
obigem Ausſpruch wagen kann, ſich zu verlieben.
Er liebt wirklich. Der Gegenſtand ſeiner Liebe iſt
ein ſchoͤnes und edles Maͤdchen, lange geht es
gluͤcklich, lange theilt er die Neigungen der Liebe
mit Pflichten der Moral, bis ihn die Voraus¬
ſicht eines moͤglichen, ja wahrſcheinlichen Kolli¬
ſionsfalles unruhig und aͤngſtlich macht und die
bloße Furcht, in dieſem Kampfe der Liebe mehr
als der Pflicht zu gehorchen, das Gebot einer
Pflicht annimmt, die ihm anbefiehlt, ſein hoͤchſtes
Gut, die Moralitaͤt, den kategoriſchen Imperativ,
bei Zeiten in Sicherheit zu bringen und ſich, wenn
auch mit blutendem Herzen, von dem geliebten
Gegenſtand loszureißen. Mag nun auch aus den
Tiefen ſeiner beſſern und ſchoͤnern Natur die Stimme
der Liebe, der Ehre ſich empoͤren uͤber das eiſige
Gebot einer kuͤnſtlichen, mißverſtandenen Pflicht,
er hoͤrt ſie, uͤberhoͤrt ſie, flieht, macht ein edles
Weſen, ſich ſelbſt im Grunde der Seele ungluͤck¬
lich, triumphirt aber als guter Kantianer uͤber den
Sieg der Pflicht uͤber die Leidenſchaft, nach un¬
ſerm Gefuͤhl der ſophiſtiſchen Unnatur uͤber die
menſchliche Natur, welche uns unbewußter und
leiſer, aber deſto richtiger die Pfade des Lebens
fuͤhrt, als ein willkuͤhrliches und erdichtetes Mo¬
ralgeſetz, als ein Goͤtzenbild unſerer Philoſophie.
Unterſuchen wir nun, worauf die Herabſetzung
des Aeſthetiſchen in dieſer Anſicht beruht, ſo fin¬
den wir, daß eine voͤllige Verkennung ſowohl des
Schoͤnen als des Sittlichen ihre Quelle iſt. We¬
ſen, die ſchoͤn denken und ſchoͤn handeln, iſt das
Gute mit dem Schoͤnen voͤllig identiſch. Allein,
wenn das Leben verdirbt und von der Schoͤnheit
nur die Kunſt nachbleibt, ſo taucht eine Moral
auf, die um ſo unerbittlicher den Reſt ſchoͤner Nei¬
gungen bekaͤmpft, als dieſe wirklich, aus ihrem
Zuſammenhang mit dem Leben geriſſen, nur zu
oft in Gefahr ſtehen, dem bloßen ſinnlichen Trieb
anheim zu fallen und durch gemeine Beiſaͤtze ent¬
adelt zu werden. Niemand hat in ſolcher Zeit
den rechten Muth, ſich ſeiner Natur zu uͤberlaſſen,
als ob Jeder fuͤrchtete, ſich in ſeiner Bloͤße zu
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 11
zeigen und die ſchlaffen, unreinen Sprungfedern
ſeines innern Lebens vor den Augen der Welt
aufzudecken. Aber je armſeliger und nackter das
Innere, deſto prachtvoller iſt der moraliſche Appa¬
rat, den man nach außen aufthuͤrmt, deſto ſtoi¬
ſcher huͤllt man ſich in den Mantel der Entſagung,
deſto ſcheinheiliger verdammt man die nackte Na¬
tur und deſto niedriger und erbaͤrmlicher fuͤhlt man
ſich im Angeſicht jenes ſelbſtgeſchaffenen erhabenen
Pflichtprinzips, das man weder zu erfuͤllen noch
zu laͤugnen die Kuͤhnheit hat. Nun traͤgt die
arme Sinnlichkeit alle Schuld, nun iſt die Schoͤn¬
heit ſelbſt, die nicht lebendig mehr im Herzen
lebt, die Verfuͤhrerin, das Gewiſſen aber der Pi¬
latus, der ſich die Haͤnde in Unſchuld waͤſchet und
alle Schuld auf die unbaͤndigen Triebe wirft und auch
die Phantaſie anklagt, als ob ſie beſtaͤndig durch
den Reiz ihrer zuͤgelloſen Einfaͤlle zu Uebertretun¬
gen des moraliſchen Geſetzes verfuͤhre. So wird
unſere Seele dann vorgeſtellt als der Kampfplatz
aller moͤglichen widerſtrebenden Kraͤfte und Nei¬
gungen und uͤber dem Gewuͤhl und Wellen der
ruhig ernſte kategoriſche Imperativ, der quos ego
donnert. Eine ſolche Vorſtellung ſchickt ſich in
der That fuͤr ſolche Zeiten, die wir erlebt; aber
ſie iſt Gottlob nicht die natuͤrliche und wahre, ſie
gehoͤrt dem Gebiete an, woraus ſie ſtammt, dem
Gebiet der Schwaͤche und der Unnatur. Schafft
uns ein kraͤftiges Geſchlecht, ſprengt die Bande,
die den Krafterguß ſchoͤner Neigungen und Triebe
ſuͤndhaft gefeſſelt halten, befreit die Welt von den
Suͤnden der Schwaͤche, und dann ſeht, wie viele
Rudera eurer jetzigen Pflichtenlehre ſich in der
Umgeſtaltung des Lebens erhalten werden, und um
wie Vieles kuͤrzer und buͤndiger das Kapitel von
den Kolliſionsfaͤllen zwiſchen Moral und Trieb aus¬
fallen wird. Aber das iſt eben der Haupt- und
Grundfehler unſerer Moral, nur zu negiren, nur
zu verbieten, nur zu vernichten, dagegen ſie ſich
Muͤhe gibt, alles Treibende und Liebende in uns
als das Unmoraliſche, als das zu Negirende, als
das Suͤndhafte darzuſtellen.
Sie, der es nicht gelang, auch nur ein ein¬
ziges Gebot der Liebe zu predigen, wollte es mit
der Achtung und Ehrfurcht zwingen, die nach
ihrer Behauptung jeder Sterbliche dem kategori¬
ſchen Imperativ ſchuldig ſei. Allein, ſo groß
auch die Zahl ihrer Verehrer war, es fehlte ſchon
fruͤher nicht an Solchen, die den Imperativ grade
zu ablehnten, die rechte Luſt zur ſchoͤnen That
empfanden, rechten Abſcheu vor dem Haͤßlichen
und denen das Schoͤne und Haͤßliche in Bezug
11 *
auf die Perſoͤnlichkeit eben in dem Begriff des
Guten und Schlechten enthalten war. Eine
ſolche kernhaft ſchoͤne Natur war Goethe, nie hat
dieſer ſeine Lippe oder Feder mit einem Miſerere
vor dem Kampf zwiſchen Schoͤnheit und kategori¬
ſchem Imperativ beſchwert.
Zwoͤlfte Vorleſung.
Nur die deutſche Kathedermoral konnte das Ge¬
ſetz der Schoͤnheit ſo ſchnoͤde verkennen, um das
ganze ſittliche Leben in ihren duͤrren Formelkreis
bannen zu wollen. Man lege jetzt ihren Kodex
auf das Grab ihrer Schreiber und Urheber. Die
Zeit hat ſich uͤber den Werth der Moralkompen¬
dien hinlaͤnglich aufgeklaͤrt, man wuͤnſcht mehr
Moral im Leben und weniger auf dem Papier,
und man wuͤnſcht eine Moral der That, eine Mo¬
ral der Jugend, die, ſtatt uns die Fluͤgel zu be¬
ſchneiden und unſere Fortſchritte zu hemmen, uns
befluͤgelt und zur Ausuͤbung alles Guten und
Schoͤnen anleitet. Die Menſchheit, das edle Roß,
laͤßt ſich nicht laͤnger mehr trainiren, ſie iſt der
Reitſchule mit ihren veralteten Kuͤnſteleien uͤber¬
druͤßig, ſie will nicht laͤnger im Umkreis weniger
Schritte, im verdeckten Kaſten, auf den Wink
ihres Bereiters ihre edle Kraft vergeuden, und
peitſcht ſie nur, quaͤlt ſie nur, reißt ſie nur im
Zuͤgel, ſie hat die offene Thuͤr und das reiche,
gruͤne Feld geſehen, ein Schlag, ein Satz und
ihr liegt unter ihren Hufen und ein anderer Rei¬
ter ſchwebt mit ihr der Freiheit entgegen.
Ich habe bisher nur von der philoſophiſchen
Moral dieſes und des vorigen Jahrhunderts ge¬
ſprochen, von dieſer Antagoniſtin der menſchlichen
Kraft und Schoͤnheit, die mit der Anmaßung, eine
abſolute zu ſein, in Deutſchland auftrat. Ich
darf Ihnen wohl kaum erklaͤren, daß jede philoſo¬
phiſche Moral, erſcheine ſie, zu welcher Zeit ſie
wolle, die ſich fuͤr abſolut ausgibt, nur ein Mach¬
werk der Schule und keine Moral des Lebens ſei,
da dieſes immer nur unter konkreten Bedingungen
zur Erſcheinung kommt. Jede geſchichtliche Welt¬
anſchauung hat ihr eignes moraliſches Prinzip und
ſo lange die chriſtliche bluͤhte, gab es außer der
chriſtlichen Moral keine andere, die das Geſetz des
Lebens in ſich trug: Man ſchreibe, wenn man
kann, ein Moralkompendium des 13. Jahrhunderts,
eine Moral chriſtlichen Ritterthums und Buͤrger¬
thums, da beſaͤße man doch wenigſtens ein ver¬
dienſtvolles hiſtoriſches Werk, das alle die aus
dem abſtrakten Begriff des Chriſtenthums abſtra¬
hirten heutigen Moralen an wiſſenſchaftlichem
Werth uͤbertreffen wuͤrde; wuͤrde man zeigen, wie
die urſpruͤngliche menſchliche Kraft jenes Zeitalters
ſich durchdrang von den geſchichtlich gegebenen
Elementen des Chriſtenthums und wie dieſe Mi¬
ſchung ſich in den eigenthuͤmlichſten Formen kry¬
ſtalliſirte und das Groͤßte wie das Kleinſte in den
ſittlichen Aeußerungen ſo und nicht anders geſtal¬
tete, wie es die Geſchichte lehrt. Aber nun, nach¬
dem ſich die Grundbeſtrebungen der Zeit außer
dem fruͤheren, innigern Kontakt mit dem chriſtli¬
chen ſahen, eine Art formeller philoſophiſcher chriſt¬
licher Moral der geſchichtlich chriſtlichen ſubſtituiren
und nach willkuͤhrlichen Abſtraktionen aus dieſer
das Gewiſſen der neuen Zeit regeln und beſchwe¬
ren zu wollen, iſt ein nichtiges Unternehmen, das
auf die Geſtaltung des Lebens keinen Einfluß ha¬
ben und finden, obwohl auf Akademien, wie Alles,
ſich eine Zeit lang ſo hinſchleppen wird, bis etwas
Beſſeres dafuͤr an die Stelle tritt. Was ſollen
wir mit ſolcher Moral anfangen, wozu ſollte ſie
uns nuͤtzlich ſein? Entweder ſie geht unſern Weg
und dann iſt ſie nicht das, wofuͤr ſie ſich ausgibt,
dann muß ſie ſich beſcheiden, ihr Zentrum noch
nicht gefunden zu haben, oder ſie geht ihn nicht
und dann predigt ſie tauben Ohren. Sie gibt
freilich uͤberall nur einen undeutlichen Ton von
ſich, ſo daß Niemand ſich leicht ihrethalben zum
Kampfe ruͤſtet. Was ſagt ſie uns von der Mo¬
ralitaͤt oder Unmoralitaͤt unſerer Staatseinrichtun¬
gen, was hat ſie fuͤr ein Urtheil uͤber Freiheit
und Knechtſchaft? iſt es moraliſch oder unmora¬
liſch, oder gleichguͤltig, ſich in den Kampf der
Zeit einzulaſſen, das Schwert fuͤr Recht und Frei¬
heit zu zuͤcken, das Bollwerk der Privilegien, die
Mißbraͤuche des Kaſtenweſens anzugreifen? iſt es
ein moraliſcher oder unmoraliſcher Zuſtand, daß
unſer Volk kein vaterlaͤndiſches, verſtaͤndliches Recht
hat, daß es in ſo vielen Laͤndern noch keine
Stimme fuͤhrt, wo es ihre vornehmlichſten und
heiligſten Intereſſen betrifft? Fragt ſie uͤber dieſe
und aͤhnliche Verhaͤltniſſe und Zuſtaͤnde und hoͤrt,
welch undeutlich zwitſchernder Ton aus ihrem
Munde geht, wie ſie im ſelben Athem zugeſtehen
und ablaͤugnen, einraͤumen und beſchraͤnken, oder
gar, wie ſie dieſe Fragen, die allein gegenwaͤrtig
das Rad der Zeit umdrehen, als außer ihrem
Kreiſe liegende, außermoraliſche, oder außerakade¬
miſche, was weiß ich, von ſich ablehnen. Wirk¬
lich Letztere ſind noch die Beſten, man weiß doch,
woran man mit ihnen iſt. Es iſt unſers Amts
nicht, ſagen ſie, in der Moral uͤber das Beſte¬
hende und Werdende zu diskutiren, die Haupt¬
facheſache iſt, daß man erſt moraliſch wird, nach An¬
leitung unſers Kompendiums, oder vielmehr, daß
man erſt lernt, was Moral iſt, und daß man
ſich die großen Schwierigkeiten zu Gemuͤth zieht,
die fuͤr einen Moralkompendienſchreiber nach Erſchei¬
nung der Schleiermacherſchen Kritik aller Mo¬
ral auf dieſem Gebiet erwachſen ſind. Mit der
Gegenwart, mit dem Leben hat die Moral als
Moral nichts zu thun, denn die Moral iſt eine
akademiſche Wiſſenſchaft und die Akademie iſt gar
kein Leben, ſondern eine bloße Studienanſtalt, de¬
ren Wirkungskreis ſich voͤllig innerhalb der vier
Waͤnde unſerer Auditorien abſchließt.
Sehen Sie, man weiß doch, woran man
ſich zu halten hat, wenn man ſolche Stimmen
hoͤrt. Man kann ihnen gleich nur erwiedern, ſo
huͤtet euch, daß die Fenſter eurer Auditorien nicht
offen ſtehen, denn der Luftzug aus der wirklichen
Welt ſtroͤmt herein und erinnert die junge Bruſt
an ihre Hoffnungen, an ihren Zuſammenhang mit
dem Leben, an Alles, was draußen liebt und
haßt, kaͤmpft und ſtrebt, ſiegt und unterliegt, an
die Zeit, an die Gegenwart.
Es waͤre leicht zu zeigen, daß ſich dieſe Her¬
ren verſuͤndigten an der Moral wie an der Zeit,
allein dieſe ſelbſt hat dafuͤr geſorgt, daß Jene
11 **
Suͤnde nicht groß wird, und daß ihre eunuchiſche
Tendenz ſich ſelbſt vernichtet.
Eine maͤnnlichere und edlere Moral wird ſich
herbilden aus dem Schooße der Zeit, eine Moral,
die dem neuen Zeitalter ſo innig angehoͤren wird,
wie die chriſtkatholiſche dem Mittelalter. Jene
hab' ich im Sinn, wenn ich behaupte, die echte
Moral muͤſſe mitten in das Gebiet der Aeſthetik
verpflanzt werden. Wohin ſich die heutige akade¬
miſche ſtellt und wo ſie am Ende bbleibtbleibt, kann
uns gleichguͤltig ſein. Mitten in der Aeſthetik
wird die Moral ihren Platz haben, wenn die Zeit
erlaubt, die eine wie die andere in ihren lebendig
geſchichtlichen Zuͤgen aufzuſtellen; denn aus einem
Grundgefuͤhl muͤſſen beide entſprießen, ein Geiſt
muß ſie beide beſeelen, eine That muß ſie beide
vereinigen. Es gibt vielerlei ſchoͤne Kuͤnſte — die
Kunſt, ſein eignes Leben zu geſtalten und ihm eine
wuͤrdige, zeitentſprechende Form zu geben, die
Moral wird eine derſelben und zwar die ſchoͤnſte
und edelſte von allen. Man werfe mir nicht ent¬
gegen, daß der Meiſter der Lebekunſt, der Bild¬
ner ſeiner eigenen Perſoͤnlichkeit ſchon deswegen
himmelweit vom Bildner einer Statue, vom Ver¬
fertiger eines Gemaͤldes verſchieden ſei, daß Jenem
eine moraliſche Gottheit, ein Gewiſſen, das ihn
lohne und ſtrafe, im Herzen throne, waͤhrend die¬
ſer ohne moraliſches Gewiſſen zu Werke gehe:
dann kennt ihr den Genius des Kuͤnſtlers ſchlecht,
wenn ihr glaubt, er arbeite gewiſſenlos, er fuͤhle
nicht den warmen, lohnenden Kuß der Goͤttin,
wenn ihm ein Meißelſchlag, ein Pinſelzug unter
den Haͤnden gelungen, oder nicht den kalten,
ſchneidenden Blick des Tadels, wenn ihm durch
Leichtſinn, Unvorſichtigkeit das ganze Werk oder
ein Theil deſſelben mißlungen iſt, hat nicht jedes
Amt, jedes Handwerk, auch das gemeinſte, ſein
Gewiſſen und die goͤttliche Kunſt ſollte keins ha¬
ben, ſie, die nur eine ſo ſchmale, zarte Linie hat,
worauf das Geſetz der Schoͤnheit ihr erlaubt, den
Fuß zu ſetzen, ſie ſollte mit ihrer Gewiſſenhaftig¬
keit zuruͤckſtehen koͤnnen, vor irgend einer andern
und nun gar vor jener plumpen und weiten der
gemeinen Moral, wie ſie alltaͤglich im Leben aus¬
geuͤbt wird. Haltet ihr denn auch nichts vom
Gewiſſen des Dichters, des Muſikers, habt ihr
keine Ahnung von dem wirklichen Schmerz des
Letztern, wenn ſeinem Inſtrument ein falſcher Ton
entſchluͤpft, wenn der Violinſpieler nur eine Linie
breit auf dem Stege fehlgegriffen hat? Leider,
ich ſage das zu unſerer Schande, leider iſt im
Gegentheil die Kunſt gewiſſenhafter, als die Mo¬
ral, der Kuͤnſtler gewiſſenhafter als der Menſch.
Ach, waͤhrend in unſern Konzertſaͤlen himmliſche
Melodien die Luft erfuͤllen und das Reich der
Toͤne in der durchgreifendſten Harmonie ſich un¬
ſern Ohren aufthut, ſchreien die ſtummen Diſſo¬
nanzen unſerer Bruſt zum Himmel an, und,
koͤnnten ſie laut werden, ſie wuͤrden die Muſik
der Engel uͤbertoͤnen und die ſchrillendſten Mi߬
laute am Throne der Harmonie ſelbſt laut werden
laſſen. Ja, die jaͤmmerlichſte Katzenmuſik waͤre
eine ſolche moraliſche, welche wir in guter Geſell¬
ſchaft auffuͤhren wuͤrden, falls durch Zauberei un¬
ſere Empfindungen Trompeten-, Geigen- und Floͤ¬
tentoͤne wuͤrden. Und woher das? Weil unſere
Moral kein ſo ſeines Gewiſſen hat, als unſere
Muſik, weil wir die Gewiſſenloſigkeit haben, die
ſchaͤndlichen Disharmonien der Geſellſchaft, des
Staatslebens, unſers eigenen, ruhig und mit ge¬
duldig langen Ohren zu ertragen.
Auch den Einwurf ſtelle man mir nicht ent¬
gegen, daß die Moral Opfer verlange, die Kunſt
hingegen genieße. Beide, wenn ſie echt ſind, thei¬
len Genuß und Entſagung und beide beruhen in
Ewigkeit auf dem Grundſatz: nichts Großes kann
der Menſch vollbringen, nichts Großes der Kuͤnſt¬
ler geſtalten, ohne ſeine Kraͤfte zu konzentriren,
d. h. ohne Selbſtentſagung, ohne Aufopferung,
ohne Ausſcheidung des Unweſentlichen, Stoͤrenden
und Feindlichen. Und hier tritt nun derſelbe Fall
ein, wie bei dem vorigen Einwurf; man muß ihn
leider grade auf den Kopf ſtellen und behaupten,
daß die bisherige Moral, bei aller Rigoroſitaͤt ih¬
rer Prinzipien in der Anwendung eben die flaue
und laue iſt und nicht im Stande, einen kern¬
haften Menſchen zu bilden und ihn zu zwingen,
um eines Hoͤchſten willen den Genuß, den Beſitz
und die Guͤter der Welt fahren zu laſſen; dage¬
gen die Kunſt an Hunderten von Kuͤnſtlern unſe¬
rer Zeit das Beiſpiel gibt, zu welch anhaltendem
Streben, zu wie viel durchwachten Naͤchten, zu
welcher Menge und Groͤße der Opfer, Entſagun¬
gen und Entbehrungen ſie ihre erwaͤhlten Lieb¬
linge anſpornt. Und man leſe das Leben der gro¬
ßen Maler und Dichter der Vergangenheit, und
man leſe, ob einer von ihnen groß geworden iſt
ohne den heiligen Entſchluß, ſeinem Talent zu le¬
ben und zu ſterben, und der Kunſt alle Opfer zu
bringen, welche mit ihrer großartigen, leidenſchaft¬
lichen Ausuͤbung verbunden ſind. Freilich jene
Opfer wurden entſchaͤdigt und wohl uͤberreichlich
aufgewogen durch den freudigen Genuß und die
Seligkeit, die ſie uͤberſtroͤmte. Nicht der Entſa¬
gung wegen entſagten ſie, nein, des Genuſſes
wegen, ſie brannten im Feuer der Begeiſterung,
das alles Unreine verzehrt und ſelbſt den Schmerz
in Rauch und Aſche aufloͤſet.
Armſelige Moraliſten, die auftreten und den
Leichtſinn der Kunſt anklagen, der in unſerer Zeit
immer mehr einreiße und um ſich greife. Tretet
beſchaͤmt zuruͤck und ſchweigt; denn wo noch in
der Gegenwart der ſchoͤnere Funke der Natur, der
Wahrheit und der Freiheit hervorbricht, da ſieht
man ihn uͤberall eher im Geſang und Gedicht, als
im Leben, das unter der ſchalen, gedankenloſen
und leichtfertigen Oberflaͤche nur erſt ſpaͤrliche Lich¬
ter durchzucken laͤßt. Nicht die Kunſt iſt es, die
das Leben, das Leben iſt es, das die Kunſt ver¬
dirbt und zu allen Zeiten, zu den ſchlechteſten un¬
ter Nero, iſt dieſe noch immer beſſer und heiliger
geweſen, als jenes.
Nur Wenige ſind zu Kuͤnſtlern geboren: Alle
um Selbſtkuͤnſtler, Bildner ihrer eignen Perſoͤn¬
lichkeit zu ſein; dieſes eben, die Allgemeinheit und
Unerlaͤßlichkeit der Forderung iſt es, was die Le¬
benskunſt, die Moral, von den uͤbrigen Kuͤnſten
unterſcheidet, die man auch in dieſer Beziehung
frei nennen kann, indem es auf Talent und Luſt
ankommt, ſich mit ihnen zu befaſſen, waͤhrend
Jedem die Luſt angemuthet, das Talent zugeſpro¬
chen werden muß, ſeine eigne moraliſche Bildung
zu unternehmen.
So ſind beide nur in ihrem Umfang, aber
nicht in ihrem Urſprung und in ihrer aͤſthetiſchen
Geltung unterſchieden. Beide theilen auch daſ¬
ſelbe Ziel, Organiſirung der aͤſthetiſchen Elemente
zu einem gebildeten Ganzen, das bei der groͤßten
Mannigfaltigkeit ſeiner Theile von einer Grund¬
idee durchdrungen und zur Einheit verknuͤpft wird.
Nicht die Art und Menge dieſer Theile, nicht die
Art und Beſchaffenheit der Grundidee iſt das,
was dem Ganzen Werth und Wuͤrde gibt, ſon¬
dern einerſeits die Staͤrke und Maͤchtigkeit des zu
Grunde liegenden Lebens, andererſeits die mehr
oder weniger durchgefuͤhrte Einigung und Durch¬
dringung der zum Ganzen gehoͤrigen Theile. So
bei Menſchen, ſo bei Kunſtwerken, ſo bei Einzel¬
nen, ſo bei ganzen Zeitaltern. Nicht tief genug
kann man ſich dieſe Wahrheit einpraͤgen, nicht
lebhaft genug kann man es fuͤhlen und ausrufen:
der Menſch iſt nichts werth, der Kuͤnſtler iſt nichts
werth, der nicht Drang und Kraft und aufſprin¬
gende Fibern im Herz und Hirn hat, Alles, was
er bildet, und waͤr' es die vollkommenſte Idee im
feinſten Material, iſt nichts werth vor Gott und
Menſchen.
Solche Kraft iſt aber ein Erbtheil der Ge¬
burt und der einzige Adel, der die Probe der Zeit
beſteht. Sie kann nicht, wo ſie fehlt, erſetzt,
kann aber, wo ſie iſt, geſchwaͤcht, ja vertilgt wer¬
den. Welchem Geſchlecht hat die Natur ſie ganz
verſagt, welchem hat ſie den Brunnen ihres Le¬
benswaſſers ganz verſchloſſen. Was waͤre die Ge¬
ſchichte, welche armſelige Rolle haͤtte ſelbſt das
Chriſtenthum auf der Weltbuͤhne geſpielt, ohne
dieſe aͤlteſte und ewige Offenbarung und Ergießung
des Lebensgeiſtes, welche Gabe des Himmels kaͤme
einer ſchwindſuͤchtigen und ohnmaͤchtigen Menſch¬
heit zu gute, welche Engelszunge kann ein mat¬
tes, erſtorbenes Herz in Begeiſtrung ſetzen. In
jener geiſtig-leiblichen Urkraft ruht das Gute und
Schoͤne wie im befruchtenden Schooß, ohne ſie
ſind beide welk und unfreundlich und verdienen
den Sonnenſchein des Himmels nicht.
Auf dieſer Kraft beruht unſere Wiedergebaͤ¬
rung — wer ſie in ſich fuͤhlt, der wehre dem
Raube, womit die Zeit ſie bedroht.
Dreizehnte Vorleſung.
Wir haben die Moral als die Kunſt eines Je¬
den, ſeinen Charakter zu bilden und ſein Leben zu
geſtalten, dem Kreis der ſchoͤnen Kuͤnſte vindizirt,
indem wir die irrigen Anſichten vom Leichtſinn
und der Gewiſſenloſigkeit der Kunſt als dem Ernſt
und Gewiſſen der Moral entgegengeſetzt in die ge¬
hoͤrige Beleuchtung ſtellten. In der That, Jeder¬
mann iſt Kuͤnſtler und Kunſtwerk zugleich, beob¬
achten Sie nur die moraliſchen Aeußerungen der
Menſchen, mit denen Sie umgehen, mit kuͤnſtle¬
riſchem Auge, ſo werden Sie etwas von dem
Eindruck empfinden, den ein Gedicht, eine Ma¬
lerei, ein Bildwerk auf Sie zu machen pflegt.
Hier ſehen Sie einen Menſchen, der durch und
durch Charakter iſt, ſtark im Wollen, wenn auch
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 12
beſchraͤnkt und einſeitig, mit ſtarken, kuͤhnen, aber
wenigen Strichen gezeichnet; dort einen Menſchen,
der bei vielſeitiger, formeller Ausbildung nur einen
ſchwachen Nerv, zu wollen und zu handeln, ver¬
raͤth und waͤhrend der Erſtere als die beſonderſte
Individualitaͤt daſteht, von allen Seiten ſchroff,
gebieteriſch und unzugaͤnglich, dieſer glatt, gefaͤllig,
lenkbar und ſich allen Umſtaͤnden und Charakteren
anſchmiegend. Sie werden auch nicht lange un¬
ter Ihrer Bekanntſchaft zu ſuchen haben, um ſich
einen Dritten zur Anſchauung zu bringen, der von
der Natur in punktirter Manier ausgearbeitet iſt
und allen ſeinen Geſchaͤften, Handlungen und Re¬
den den Charakter aͤngſtlicher Ausfuͤhrlichkeit und
Genauigkeit verleiht, ſo wie einen Vierten, den
die Natur nur als fluͤchtige Skizze hingeworfen
hat und der daher mehr nach Einfaͤllen und Lau¬
nen die Dinge angreift, als ſie auszufuͤhren und
zu vollenden ſtrebt. Und ſo mag ſich ein Jeder
unter ſeinen Freunden und Bekannten eine Gal¬
lerie lebendiger Portraits ſammeln, die einem Bil¬
derſaal der Kunſt aͤhnlich, im verſchiedenſten Stil
gearbeitet ſind. Doch — glaube ich, ſtraͤubt ſich
noch immer bei Ihnen, und das mit Recht, et¬
was gegen dieſe Anſicht, welche die Moral in den
Kreis der Kunſt und des Aeſthetiſchen zieht. —
Spreche ich es richtig aus, wenn ich Sie ſo ver¬
ſtehe: allerdings muß zugegeben werden, daß das,
was man gemeiniglich unter dem Namen ſchoͤne
Kunſt begreift, ihr beſonderes Gewiſſen hat und
auch nicht ohne Opfer von Seiten des Kuͤnſtlers
zu Stande kommt; allein damit iſt es noch nicht
gethan und die Moral von Kunſt noch himmel¬
weit unterſchieden, denn das Gewiſſen der Moral
ſetzt unbedingt die Moͤglichkeit voraus, ſeinen An¬
forderungen Genuͤge zu leiſten, da die Moral fuͤr
Jedermann iſt und alle ihre Gebote oder Anforde¬
rungen oder leiſe Winke, ſowohl abſolut zu erfuͤl¬
lende, als, vermoͤge der menſchlichen Freiheit, auch
abſolut erfuͤllbare ſind. Es gibt nur eine Moral
und nur eine Art, wie der Menſch ſie ausuͤbt,
dagegen laͤßt die Kunſt einen weiten Spielraum
fuͤr verſchiedene Bearbeitungen derſelben und man
ſpricht daher von mehreren Kunſtſchulen, von ita¬
lieniſchen, altdeutſchen, hollaͤndiſchen Malerſchulen,
allein bisher iſt es noch Niemand eingefallen, von
einer beſondern italieniſchen, deutſchen oder fran¬
zoͤſiſchen Moral zu ſprechen. Darauf antworte ich
denn Folgendes: wenn wir uns recht verſtehen
und einmal abſtrahiren von der abſolut thuenden
Kathedermoral, welche der deutſche Student in
ſein Heft niederſchreibt und es dabei bewenden
laͤßt, falls er nicht rationaliſtiſcher Prediger, oder
auch wieder Profeſſor wird; wenn wir alſo ſtatt
12 *
gemachter und papierner Moral die Moral des
Lebens, die Moral der Geſchichte unſerer Betrach¬
tung wuͤrdigen, ſo muß es moͤglich ſein, uns uͤber
den beregten Punkt zu verſtaͤndigen. Wir denken
doch, daß es eine ſolche Moral im Leben und in
der Geſchichte gibt und daß die Moral nicht blos
in den Lehrbuͤchern und auf dem Papier ſtehe;
wir haben doch den Glauben, ich meine den leben¬
digen, daß das Goͤttliche in der Welt wirklich zur
Erſcheinung gekommen, daß Gott ſich in der Ge¬
ſchichte offenbart hat, wie in der Natur, welche
gleichſam nur die Vorhalle ſeines Offenbarungs¬
tempels iſt. Es waͤre ja gottlos, daran zu zwei¬
feln, daß Gottes Eigenſchaften ſich irgendwo un¬
bezeugt gelaſſen, unverſtaͤndig, ja unſinnig z. B. zu
ſagen, der gerechte Gott faͤnde ſich nicht in der
Natur und in dem, was nach chriſtlicher Termi¬
nologie natuͤrlicher Menſch heißt, und wir muͤßten
es, in Ermanglung reeller Offenbarungszeugniſſe,
Gott auf ſein Wort blos glauben, daß er ge¬
recht ſei, ohne die Idee der Gerechtigkeit in uns,
in der Natur, in der Geſchichte ausgepraͤgt zu
finden. Alſo, betrachten wir die Moral der Ge¬
ſchichte, ſehen wir, wie die goͤttlichen Ideen ſich
in dieſem, in jenem Volke, zu dieſer und zu jener
Zeit verkoͤrperten, in der Bruſt der Menſchenkin¬
der lebten und ſich zu Thaten entfalteten, ſo ſehen
wir zugleich, daß das eigentliche und wahre Leben
dieſer Ideen, der Guͤte, der Gerechtigkeit, der
Weisheit, der Tapferkeit nur in einer gewiſſen
eigenthuͤmlichen Beſchraͤnkung, ſo und ſo gefaͤrbt
und ausgepraͤgt, ſeinen Beſtand habe, was grade
das Charakteriſtiſche der Zeit und des Volkes aus¬
macht und was wir die jedesmalige Weltanſchau¬
ung genannt haben. Nun waͤre es ja ein Aber¬
witz, das ſittliche Leben der Indier, nach dem
Sittengeſetz der Griechen, dieſes nach der evange¬
liſchen Moral des Teſtaments, Alle nach dem Mo¬
ralkompendium eines deutſchen Profeſſors zu beur¬
theilen und zu richten — ein Aberwitz freilich, den
man oft genug findet, der aber die ganze Ge¬
ſchichte mit all ihrer Groͤße, Erhabenheit und goͤtt¬
lichen Mannigfaltigkeit in dem Muͤhlwerk einer be¬
ſchraͤnkten Anſicht zerſtampft und des Herrn Geiſt
und Werke ſo wenig begreift, wie ein Maulwurf
den Straßburger Muͤnſter oder ein bigotter Heng¬
ſtenberg und Tholuck die griechiſche Iliade und den
Jupiter des Phidias. Bedenken wir alſo den
Satz, daß die Moral der Voͤlker nicht minder ein
geſchichtliches Produkt ſei, als die Kunſt und die
Poeſie der Voͤlker, und daher auch nicht minder
verſchieden und wechſelnd, als dieſe, ſo muͤſſen
wir die Behauptung, es gaͤbe nur eine Moral,
wenn ſie Sinn, Verſtand und Wahrheit haben
ſoll, dahin faſſen, daß wir bekennen, die goͤttli¬
chen Ideen, die Begriffe der Moral ſind elemen¬
tariſch durch die ganze Welt zerſtreut, und alle
Menſchen, wenn ſie auf Moralitaͤt Anſpruch ma¬
chen wollen, muͤſſen den elementariſchen Gott in
ihrem Buſen tragen, muͤſſen die Keime der Liebe,
der Gerechtigkeit u. ſ. w. ſich eingepflanzt fuͤhlen;
obwohl dies zum moraliſchen Leben keineswegs
hinreicht und das Goͤttliche in der Geſchichte nicht
elementariſch und abſtrakt ſich aufweiſet, ſondern
als gebildet uns zu den verſchiedenartigſten Cha¬
rakteren verarbeitet, zur Erſcheinung kommt. Der¬
ſelbe Fall iſt es mit der Kunſt. Es kann eben ſo
wenig eine abſtrakte Kunſt geben, die dem ganzen
menſchlichen Geſchlecht angehoͤrte, als eine Mo¬
ral; dagegen findet ſich das Elementariſche der
Kunſt, die aͤſthetiſchen Ideen in den Kunſtwerken
aller Zeiten und Voͤlker wieder, und nur der in¬
dividuelle Komplex derſelben, der organiſche Zu¬
ſammenhang und Alles, was zur konkreten Leben¬
digkeit gehoͤrt, macht das Unterſchiedliche und Ei¬
genthuͤmliche in der Kunſt der Voͤlker aus. So
alſo unterſcheiden wir zunaͤchſt in der Einen Mo¬
ral und Kunſt die beſondere Weltanſchauung, welche
im Ganzen und Großen ihren Zeitcharakter
bildet. Allein hierbei bleiben wir noch nicht ſte¬
hen. Die eine Moral und Kunſt der beſondern
Weltanſchauung ſpaltet ſich nun wieder tauſend¬
fach in ihrem Kreiſe, nach dem Naturell der
Voͤlker, der Individuen, welche ſich mit ihrer Aus¬
uͤbung beſchaͤftigen. Hier verſchmilzt ſich der Volks¬
charakter mit dem Charakter des Einzelnen zu
einer Kraft, der Einzelne, auch der Talentreichſte
und Groͤßte bleibt immer ein Kind ſeiner Zeit,
ein Sohn ſeines Volkes und als ſolcher ſteht er
zwiſchen ihm und der Menſchheit und empfaͤngt
die Aufgabe, ſeine Individualitaͤt geltend zu ma¬
chen, ohne weder dem rein Menſchlichen, noch
dem Volksthuͤmlichen den gerechten und nothwen¬
digen Tribut zu verſagen. Welche unendliche Mo¬
difikationen erleiden nun nicht Moral und Kunſt
durch das Geſetz des Lebens, und welche Anwen¬
dung geſtatten jene abſtrakten Moralien und Kunſt¬
lehren dem Menſchen und Kuͤnſtler, der nach in¬
dividueller tuͤchtiger Bildung ſtrebt und Andere nur
in ſo fern und in dem Maaß achtet, als ſie im
ſelbigen Streben begriffen ſind. Haben nicht ſelbſt
die verſchiedenen Lebensalter, ganz allgemein be¬
trachtet, ihre beſondere Moral und wird man vom
Juͤngling die Ruhe, Umſicht und Weisheit des
Greiſes, vom Greiſe die Tapferkeit des Juͤnglings,
vom Kinde die Beſtaͤndigkeit des Mannes verlan¬
gen? Was will man alſo am Ende ſagen mit
der einen, abſoluten Moral, die weder kalt noch
warm macht und mit der man, um mich dieſes
Ausdrucks zu bedienen, keinen Hund hinterm Ofen
hervorlockt. Ja es gibt eine Moral der verſchie¬
denen Alter, der verſchiedenen Staͤnde, Talente,
Stellungen, Charaktere, es gibt eine Moral der
verſchiedenen Zeitalter und Weltanſchauungen, eben
ſo, wie es in den genannten Ruͤckſichten eine ver¬
ſchiedene Theorie der Kunſt und Poeſie gibt. Daß
man nicht von ſpaniſcher, franzoͤſiſcher, deutſcher
Moral in ihren Schulen ſpricht, iſt kein Grund,
um die ſprechende Thatſache zu laͤugnen. Ein
Gemaͤlde vom ſpaniſchen Maler Morillo, ein Ge¬
maͤlde vom franzoͤſiſchen Maler David, ein ande¬
res von unſerm Albrecht Duͤrer, jedes derſelben
kann nicht entſchiedener die charakteriſtiſchen Zuͤge
der Nationalitaͤt an ſich tragen, als die ſittliche
Perſoͤnlichkeit ſeines Malers ſelbſt, angeſchaut vom
feinen und geuͤbten Auge des Menſchenkenners und
nicht vom todten des Gelehrten, das ſich eben ſo
wenig auf die Individualitaͤt der Kunſt, als auf
die der Moral verſteht.
Dieſe Andeutungen ſtehen leicht weiter auszufuͤh¬
ren und mit andern zu befeſtigen, allein, ich hoffe, ſie
werden genuͤgen, um die Anſicht vom Zuſammenhange
des Aeſthetiſchen und Moraliſchen und von der Moral
als einer Kunſt unter den Kuͤnſten zu rechtfertigen
und etwanige Gewiſſensſkrupel, die ſich dieſerhalb
regen moͤchten, zu beſeitigen.
Gingen wir nun von der Anſicht aus, daß
eine allgemeine Kunſtlehre eben ein ſolches Ding
und Unding ſei, als eine allgemeine Moral, ſo
wollten wir doch damit keineswegs den allgemei¬
nen Theil einer Moral und Kunſtlehre negiren,
vielmehr haͤtte ich ſchon in fruͤhern Stunden bei
der ideellen Konſtruktion einer kuͤnftigen Aeſthetik,
dieſes allgemeinen Theils, als eines ſolchen Er¬
waͤhnung thun ſollen, der die Aufzaͤhlung der aͤſthe¬
tiſchen Elemente, die aller Moral und Kunſt zu
Grunde liegen, mit moͤglichſt groͤßter Vollſtaͤndig¬
keit enthalten muͤßte. Dagegen verlangt jede ein¬
zelne Kunſtlehre, gehoͤre ſie der Poeſie oder Proſa,
der Malerei oder Bildhauerei an, daß ſie vom
beſondern Standpunkt der Zeit und des Volkes
aufgefaßt und dargeſtellt werde. Ein Anderes
hieße, in den Tag hineinzureden und einen bun¬
ten Kolibri in einem Netz mit meilenweiten Ma¬
ſchen fangen zu wollen.
Es bleibt mir nun immer noch uͤbrig, ehe ich
fuͤr dieſe Vorleſungen den angekuͤndigten Weg ein¬
ſchlage, im Allgemeinen der Art und Weiſe zu
gedenken, wie nach Goethe's Ausdruck das gluͤck¬
lichſte Ergebniß einer kunſtreichen Behandlung des
Stoffes, das Schoͤne zur Wirkſamkeit gelangt.
Ich habe der verfehlten Definition des Schoͤnen
gedacht und bin nicht geſonnen, einen gleich un¬
gluͤcklichen Verſuch zu machen, in drei, vier aͤrm¬
liche Worte den myſterioͤſen Grund und Reich¬
thum der Schoͤnheit einzufaſſen. Allein ich hoffe,
ſowohl mich zu verſtehen, als verſtanden zu wer¬
den, wenn ich mich daruͤber ſo ausdruͤcke:
Die Schoͤnheit, oder wie man das nennen
mag, was den Menſchen als das Gelungenſte in
Natur und Kunſt, kraͤftig, reizend und wohlgefaͤllig
in die Augen ſpringt, iſt zunaͤchſt nichts Ideelles
und Abſtraktes, ſondern allemal etwas Konkretes
und Beſonderes, das an einem beſtimmten Stoffe,
ſei's That, ſei's Marmor, ſei's Fleiſch und Blut
zur Erſcheinung kommt. Eben ſo individuell, wie
die Schoͤnheit ſelber, muß das Auge ſein, das
ſich ihrer erfreut und ſo ſehen wir es im Weſen
der Schoͤnheit ſelbſt begruͤndet, daß ſie nicht Allen
ſchoͤn iſt und daß ſie in verſchiedenen Anſchauungs¬
kreiſen verſchiedene Gefuͤhle erregt, verſchiedene
Urtheile hervorruft, wenn man auch Alles das
vom Geſchmack der Voͤlker und des Einzelnen ab¬
rechnet, was ſeiner Anſchauungsweiſe nur zufaͤllig
und außerweſentlich iſt, wie dem Chineſen der
Geſchmack fuͤr winzig kleine Fuͤße. So erſcheint
uns alſo zunaͤchſt die Schoͤnheit vom hiſtoriſchen
Standpunkte. Allein, man iſt nur zu geneigt,
dieſen Standpunkt zu verlaſſen, und ſich auf einen
hoͤhern ſtellend, zu behaupten, daß die echte Schoͤn¬
heit nur in der Harmonie zwiſchen unſerm Auge
und dem Objekte beruhe und daß andere Augen
aus Ungeſchmack Schoͤnheiten bemerken, welche
keine waͤren. Dies erregt einen Streit, bei dem
Jeder ſich auf ſein Gefuͤhl zu berufen pflegt, wie
auf den letzten Schiedsrichter, und das mit Recht,
da im Aeſthetiſchen keine andere Appellation zu¬
laͤſſig iſt, als auf Gefuͤhl und Gewiſſen. Damit
ſoll aber nicht geſagt ſein, daß das ſubjektive
Recht auch ein objektives ſei; vielmehr findet ſich
der Nachdenkende veranlaßt, eine groͤßere und ge¬
ringere Kapazitaͤt des Schoͤnen, ein Plus und
Minus in der Bildung des Schoͤnheitsſinns unter
den Menſchen zu ſtatuiren. Haben wir doch
ſelbſt, von dieſem Standpunkte aus, uͤber die in¬
diſche Kunſt den Stab gebrochen, obgleich wir ſie
als hiſtoriſche Erſcheinung, in ihrer Guͤltigkeit
anzuerkennen gezwungen waren. Dagegen ſahen
wir in der griechiſchen Kunſt und Sitte eine Art
der Schoͤnheit, welche wir unſerm Geſchmack bei
weitem angemeſſener fanden, was kein Wunder, da
wir wirklich das Beſſere unſeres Geſchmacks eben
den Griechen verdanken, das Beſſere, Hoͤhere und
Edlere aber, das wir an Geſchmack und Geſin¬
nung vor den Griechen voraufhaben koͤnnten, nur
erſt elementariſch im Schooß der keimenden Zeit
ruht und weder zur Darſtellung noch zur Anſchau¬
ung bisher gelangt iſt. Genug alſo, wir leben
der Ueberzeugung, daß ſowohl das Schaffen als
das Genießen und Beurtheilen des Schoͤnen ſeine
Geſchichte hat, ſeine Bildungsſtufen durchlaͤuft und
in dieſer Ueberzeugung begruͤßen wir das Schoͤne,
das wir empfinden, ſowohl als wirklich und leben¬
dig, als auch als die vollkommenſte Wirklichkeit,
deren wir uns bewußt werden koͤnnen, ohne damit
die moͤglichen Erweiterungen und Veredlungen des
Schoͤnheitsſinns fuͤr die Zukunft abzuweiſen. Fra¬
gen wir nun, wie das Schoͤne uns wirklich wird,
ſo geben wir, in etwas belehrt, die obige Ant¬
wort, nur im Beſondern und Individuellen und
damit ſprechen wir aus, daß das Schoͤne jedesmal,
um ſchoͤn zu ſein, Charakter haben muß.
Lange hat man ſich in Deutſchland daruͤber geſtrit¬
ten, was der hoͤchſte Grundſatz der Alten in Sa¬
chen der Kunſt geweſen. Winckelmann ſagte: die
Schoͤnheit, Leſſing die klaſſiſche Ruhe, Fernow
das Idealiſche, Hirt das Charakteriſtiſche, bis
Goethe nach langem Forſchen und ſinnigem Stu¬
dium alle Parteien mit der Aeußerung zur Ruhe
brachte: „der hoͤchſte Grundſatz der Alten war das
Bedeutende, das hoͤchſte Reſultat aber einer gluͤck¬
lichen Behandlung das Schoͤne,“ welche Worte
uns als Text dienen ſollen, um in den naͤchſten
Vorleſungen uns mit wohlerwogenen Schlußwor¬
ten uͤber die Natur des Schoͤnen, uͤber das Hoͤchſte
der Kunſt und uͤber das Verhaͤltniß der Kuͤnſte
unter einander zu verſtaͤndigen.
Vierzehnte Vorleſung.
„Der hoͤchſte Grundſatz der Alten war das Be¬
deutende, das hoͤchſte Reſultat aber einer gluͤckli¬
chen Behandlung das Schoͤne“ dieſe Worte Goe¬
the's moͤgen uns heute zum Text dienen, um un¬
ſere Betrachtungen uͤber Natur und Kunſt, und
uͤber das Schoͤne als die Bluͤthe von Natur und
Kunſt daran fortzuſpinnen.
Eben ſo richtig haͤtte Goethe ſagen koͤnnen:
der hoͤchſte Grundſatz der Natur iſt das Bedeu¬
tende und ihr gluͤcklichſtes Reſultat das Schoͤne;
doch leidet dieſer Satz, von der Natur verſtanden,
eine bedeutende Einſchraͤnkung, indem wir tagtaͤg¬
lich ſehen, daß in der Natur das Prinzip der
Erhaltung, der bloßen Lebensrettung, wo es Noth
thut, mit ruͤckſichtsloſer Gewalt ſich geltend macht,
und in dieſem Fall ſowohl dem Charakter als der
Schoͤnheit des individuellen Naturprodukts Abbruch
thut. Verſtaͤndigen wir uns zunaͤchſt uͤber dieſen
ſo wichtigen Akt, der die Produkte der Natur von
den Produkten der Kunſt charakteriſtiſch unter¬
ſcheidet.
Das Bedeutende in Natur und Kunſt
iſt eben die individuelle Beſtimmtheit der Natur-
und Kunſtprodukte, ihr Charakter, ihr Begriff.
Je entſchiedener ſich dieſer Begriff ausgeſpro¬
chen bei einer Pflanze, einem Thier, einem Men¬
ſchen, deſto vollkommener iſt das Produkt. So
ſtellen wir den Schmetterling hoͤher, als die Raupe,
denn, obwohl ſchon an der Raupe und deren Ver¬
puppung die Ringe, Fluͤgel, Einſchnitte und an¬
dere Gliederungen des kuͤnftigen Schmetterlings
wirklich vorhanden ſind, ſo ſind ſie es doch nur
der Anlage und Tendenz nach, ihre Entfaltung
bleibt der hoͤhern Lebensſtufe des Schmetterlings
vorbehalten. Eben ſo uͤbertrifft die Palme an
Charakter und Schoͤnheit, nicht nur an Groͤße
und Dicke, den Grashalm, obgleich dieſer von den
Naturforſchern zu den Palmenarten gezaͤhlt wird
und eine noch unentwickelte Palme im Kleinen
vorſtellt. Durch daſſelbe Prinzip berechtigt ſpre¬
chen wir ſowohl im Pflanzenreich als im Thier¬
reich von hoͤhern und niedern Bildungen, je nach¬
dem wir Pflanzen und Thiere vollkommner oder
unvollkommner gegliedert und durchgebildet ſehen
und ſo ſtellen wir z. B. im Animaliſchen die Ge¬
ſtalt des Menſchen, als die individuellſte, kunſt¬
reichſte, verwickeltſte Organiſation, als das Mei¬
ſterwerk der Schoͤpfung, dem Mollusk und dem
ganzen Geſchlecht der Wuͤrmer, dem unentwickel¬
ten, kriechenden, zuckenden Schleim gegenuͤber,
den erſten Anfang der ſchoͤnſten Vollendung des
animaliſchen Lebens auf der Erde.
Ich ſage, als die ſchoͤnſte Vollendung. Denn
im ſelben Grade, wie wir den Charakter einer
Pflanze, eines Thieres ſich deutlicher entwickeln
ſehen, im ſelbigen ſchreiben wir ihm auch eine
groͤßere Schoͤnheit zu; und umgekehrt, je ſchoͤner
wir die Bildungen der Natur finden, deſto voll¬
kommner wird ſich bei naͤherer Unterſuchung ihre
Charakteriſtik ausweiſen. Wem z. B. gefaͤllt nicht
das bloße gruͤne Blatt eines Roſenſtrauchs, einer
Weinrebe vor hundert andern Blaͤttern, wenn ihm
auch die Urſache dieſes Gefallens nicht klar iſt, er
wird aber bei genauerer Betrachtung auch dieſe
entdecken, und die feineren Faſern, die zarteren
Verzweigungen, den regelmaͤßigeren Schnitt, die
gelungene Auszackung des Blattes dafuͤr halten.
Wem gefaͤllt nicht die Geſtalt eines Pferdes beſ¬
ſer, als die Geſtalt einer Kuh und wer ſieht nicht
gleich, daß er das Pferd darum ſchoͤner findet,
weil daſſelbe ſchoͤn im Aeußern, ſchaͤrfere Sinne,
ſchlankere Glieder aufweiſt und daher eine gebil¬
detere Organiſation des Innern verraͤth, alſo einer
entſchiedeneren Thiercharakteriſtik angehoͤrt. Mit
gleichem Recht halten wir daher die menſchliche
Geſtalt, nicht allein fuͤr die entſchiedenſte, an Or¬
ganen feinſte, an Funktionen reichſte, an Bewe¬
gung freiſte, ſondern auch, und aus demſelben
Grunde fuͤr die ſchoͤnſte, fuͤr die idealiſchſte Ge¬
ſtaltung der Animaliſation.
Wir ſehen alſo, daß die Natur, indem ſie
die Leiter ihrer Bildungen hinaufſteigt, dabei den
Grundſatz vor Augen hat, Schritt vor Schritt an
Bedeutung, wie an Schoͤnheit zu gewinnen, bis
ſie bei der bedeutſamſten Geſtalt, der menſchlichen,
anlangt und mit dieſer, gleichſam als Reſultat
ihres Strebens, die hoͤchſte Schoͤnheit vereinigt.
In ſo fern finden wir die Natur auf dem¬
ſelben Wege mit der Kunſt und die Kunſtgeſchichte
gewiſſermaßen analog mit der Geſchichte der Na¬
turreiche, indem die Anfaͤnge beider ſich erſt all¬
maͤhlig aus unbeſtimmter Charakterloſigkeit, aus
roher Maſſe, ſchwachen Andeutungen der Glieder
aufarbeiteten zu individuelleren Formen und Ge¬
ſtalten, bis das Prinzip der Schoͤnheit ſich merk¬
lich machte und die hoͤchſte Charakteriſtik mit der
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 13
hoͤchſten Anmuth zuſammenfiel. Man kann ſogar
darauf anſpielen, daß die aͤlteſte Malerei und
Bildhauerei von Thierſymbolen ausging und all¬
maͤhlig erſt ſich zur Darſtellung des Menſchlichen
ſteigerte, dieſes ſelbſt aber Jahrhunderte lang noch
ſehr unvollkommen blieb, ſteife, eckige Umriſſe, ge¬
ſchloſſene Arme und Beine, kaum bemerklichen
Unterſchied der Geſchlechter beibehielt, bis nach
der Sage Daͤdalus die Bildſaͤulen wandeln ließ,
das heißt getrennte Beine, fortſchreitende Fuͤße,
freie Arme, offene Augen, entſchiedene Geſchlechts¬
charakter am Marmorblocke ausfuͤhrte.
So ward auch fuͤr die Kunſt das Bedeu¬
tende immer mehr Grundſatz und da die Zeich¬
nung der feſten Theile, der Knochenbau als der
Traͤger des Bedeutſamſten an der menſchlichen Fi¬
gur anerkannt werden mußte, ſo gab es in der
griechiſchen, wie in jeder andern nationalen Kunſt¬
geſchichte, einen Zeitraum, wo die Bildung der
feſten Theile, des Charakters in ſeinem ſtarren
Typus, in ſeinen ſtark ausgedruͤckten Grundzuͤgen,
das uͤberwiegende Prinzip war und den ſogenann¬
ten Stil ausmachte. Winckelmann bezeichnet die¬
ſen zweiten Zeitraum als den großen und ho¬
hen Stil der griechiſchen Kunſt, in dem Phidias,
Zeitgenoſſe des Miltiades und Themiſtokles, der
ausgezeichnetſte Meiſter war. Erſt im dritten Zeit¬
raum, offenbarte ſich der ſchoͤne Stil, der mit
Beibehaltung des charakteriſtiſch Feſten auch das
charakteriſtiſch Weiche und Zarte ausdruͤckte, aus
welcher Behandlung eben die hohe Schoͤnheit ihrer
Meiſterwerke, wozu unter andern der Laokoon ge¬
hoͤrt, reſultirte; eben ſo wie die Natur unter allen
Schoͤnheiten, die ſie bildet, bei der Bildung eines
ſchoͤnen Juͤnglings oder Mannes ſich gleichſam ihr
aͤußerſtes Ziel geſetzt hat, da in einer maͤnnlich
ſchoͤnen Geſtalt das Feſte und Weiche harmoniſcher
in einander aufgehen, als in der ſchoͤnſten weibli¬
chen Geſtalt.
Allein die Meiſterin Natur hat andere Schwie¬
rigkeiten zu beſiegen, als die Meiſter der Kunſt.
Keine Schoͤnheit kann freilich die ihrige uͤbertref¬
fen, wenn und ſo oft ſie ſich einer ungeſtoͤrten
Entwicklung erfreut, die kuͤhnſte Bildnerei und
Malerei wird zu Schande vor ihrer nackten Ein¬
falt. Waͤhrend aber der echte Kuͤnſtler bei hin¬
laͤnglich gutem Material alle Zeit im Stande iſt,
die Verwirklichung des aͤſthetiſchen Geſetzes charak¬
teriſtiſcher Schoͤnheit ungehindert und ausſchließlich
anzuſtreben, wird die Kuͤnſtlerin Natur nur zu oft
in ihrem Streben gehemmt und waͤhrend ſie es
auf das Hoͤchſte anlegte, auf das blos Nothwen¬
dige der Exiſtenz, auf die Rettung des Daſeins
ihrer Geſchoͤpfe, auf Selbſterhaltung reduzirt. Se¬
13 *
hen Sie hier, meine Herren, den weſentlichen
Unterſchied zwiſchen dem Bildungsgange der Na¬
tur und der Kunſt. Die Kunſt gehoͤrt dem Reiche
der Freiheit, die Natur dem Reiche der Nothwen¬
digkeit an, die Kunſt kann nur wollen, und ihrem
Willen gelingt das Schoͤnſte, die Natur aber,
beim beſten Willen, ſieht ſich nicht ſelten genoͤ¬
thigt, durch den Schrei der nackten Exiſtenz in¬
nerlich gezwungen, ihren auf das Schoͤne gerich¬
teten Willen zu brechen und zunaͤchſt nur die aͤrm¬
lichen Forderungen des Daſeins zu erfuͤllen. Die
ganze Organiſation iſt ja nur die Frucht eines
Kampfes der bildenden Natur mit den rohen und
regelloſen Kraͤften des Chemiſchen, Unorganiſchen,
Chaotiſchen, das von allen Seiten auf das Orga¬
niſche eindringt, tuͤckiſch auf jede Bloͤße lauert,
welche daſſelbe darbietet und dann ſogleich den
nagenden, zerſtoͤrenden Zahn unmittelbar auf den
Nerv der kranken Stelle heftet. So kann man
z. B. das ganze Verdauungsſyſtem der Thiere als
einen defenſiven Akt der organiſchen Natur betrach¬
ten, die Speiſen, die wir zu uns nehmen, und
die unſer Magen mit ſo gebieteriſcher Regelmaͤßig¬
keit verlangt, ſind bei weitem weniger zu unſerer
Ernaͤhrung, als zu unſerer Vertheidigung beſtimmt,
wir werfen die animaliſchen und vegetabiliſchen
Stoffe dem Zerſtoͤrer hin zur chemiſchen Zerſetzung,
damit nicht unſer eigener Koͤrper ihm zur Zerſe¬
tzung und Zerſtoͤrung anheimfalle. Hier ſehen wir
alſo einen Erhaltungsakt, der einem regelmaͤßigen
Syſtem des Koͤrpers angehoͤrt, auf dem ſeine
ganze Exiſtenz baſirt iſt; allein, nun bedenken Sie
die tauſend moͤglichen, unvorhergeſehenen Zufaͤlle,
in welchen der geſchloſſene Organismus durchbro¬
chen und feierlich angegriffen werden kann, das
Heer der Stoͤrungen und Krankheiten, welche die
Huͤlfsmittel der Natur auf einem Punkt in
Anſpruch nehmen und ſich ihrer harmoniſchen Ver¬
wendung fuͤr das Ganze widerſetzen, und Sie be¬
greifen, daß dieſe Meiſterin ſelten in voller Kraft,
und gleichſam in Ruhe und Muße fortarbeiten
und die Idee, die ihr vorſchwebt, zur Ausfuͤh¬
rung und Vollendung bringen kann. Licht, Luft,
Erde, Waſſer, Waͤrme, Kaͤlte u. ſ. w. bedingen
unaufhoͤrlich die ideale Thaͤtigkeit der Natur, und
was zu den ſchoͤnſten Formen berechnet war, kann
der Zufall in die aͤrmlichſten und ſchlechteſten hin¬
abdruͤcken.
Funfzehnte Vorleſung.
Ich glaube annehmen zu duͤrfen, meine Herren,
daß die aufgeſtellte Anſicht vom Verhaͤltniß der
Natur zur Kunſt Manchem unter Ihnen Veran¬
laſſung gegeben, ſein Nachdenken auf dieſen wich¬
tigen Gegenſtand zu richten, der Ihnen vielleicht
unter neuem Geſichtspunkte erſchien. Um ſo mehr
darf ich hoffen, Ihre Aufmerkſamkeit mir zu be¬
wahren, wenn ich den Faden wieder aufnehme
und das Allgemeine noch einer beſondern Betrach¬
tung unterwerfe.
Natur und Kunſt, ſo ließen wir uns verneh¬
men, theilen dieſelbe Aufgabe, organiſche Einhei¬
ten zu bilden, Begriffe, Charaktere auszupraͤgen
und dieſelben mit der Bluͤthe der Schoͤnheit an¬
zuhauchen.
Fuͤr diejenigen nun, welche gewohnt ſind,
die Natur als ein rein Materielles, Todtes, Be¬
griffloſes zu betrachten, welche daher die Schoͤn¬
heit ſelber nur in der Ausdehnung und in raͤum¬
lichen Verhaͤltniſſen finden, hat eine ſolche Anſicht
wenig Empfehlendes. Sie gehen weder in der
Natur noch in der Kunſt von der Seele aus und
unbekannt bleibt ihnen daher jene gemeinſchaftliche
Quelle deſſen, was ihr Auge an den Produkten
der Natur und Kunſt in Entzuͤckung ſetzt.
Erkennen wir jene poſitive geiſtige Kraft an,
welche den zufaͤlligen und willkuͤhrlichen Stoff zur
Einheit des Begriffes verbindet und die widerſtre¬
benden Atome zwingt, ſich um dieſen zu verſam¬
meln. Eine geiſtige Symmetrie beherrſcht die
koͤrperliche, der Blick des Auges, die ausſtrahlende
Seele wirkt der aͤußere Bau und die Wohl- oder
Mißverhaͤltniſſe unſers Sehorgans. Kann man
daher behaupten, daß es blos koͤrperliche Schwin¬
gungen, Winkel und Linien ſind, womit uns das
Auge der Schoͤnheit anlaͤchelt, oder iſt es nicht
vielmehr das geiſtige Etwas, das ſich durch dieſe
Linien und Winkel ſymboliſch verraͤth?
Ich beruͤhre hier einen Punkt, um den ſich
die deutſche Naturphiloſophie wie um ihr Zentrum
dreht. Wenn die Natur nicht eben ſo gut Ver¬
ſtand und Kunſt beſaͤße, als wir Menſchen, wenn
die Natur nicht eben ſo gut Begriffe enthielte, als
das philoſophiſche Hirn, wie ſollte der Menſch
zum Begriff und Verſtaͤndniß der Natur gelangen.
Bleibt es doch unumſtoͤßlich wahr, daß das Fremde
das Fremde nicht begreift, daß nur Gleiches von
Gleichem erkannt wird, daß die Seele nichts wiſ¬
ſen koͤnnte von den Dingen, wenn die Dinge nicht
ſeeliſch, ſeeliſcher Natur, ſeeliſchen Urſprungs waͤ¬
ren. Wodurch unterſcheidet ſich denn die Wirk¬
ſamkeit der Naturdinge von der Wirkſamkeit un¬
ſeres Geiſtes? Durch das Bewußtſein, jene Sonne,
die auf den niederſten Stufen der Natur ſich hin¬
ter dem Horizont verbirgt und nach graduellen
Daͤmmerungen leuchtend in der Seele des Men¬
ſchen hervortritt. Die Natur ſtellt keine Reflexio¬
nen an. Bei der Roſe iſt der Begriff zugleich
die That, der Entwurf die Ausfuͤhrung. Daher
iſt auch ſinnliche Anſchauung Anfang und Ende
der Naturforſchung. Der Phyſiolog ergreift mit
dem Auge den verkoͤrperten Gedanken der Natur¬
gegenſtaͤnde, den Begriff, die Operationen der Na¬
tur in ihren immanenten Urtheilen und Schluͤſſen;
er huͤtet ſich weislich, ſeine eigenen Begriffe, Ur¬
theile und Schluͤſſe der Natur unterzuſchieben.
So z. B. ſieht ein Goethe den generellen Pflan¬
zenbegriff im Blatt der Pflanze, die Pflanze iſt
ihm Wiederholung des Blattes, das ſich periodiſch
ſucceſſive entfaltet und ſchließt, Staͤngel, Knoten,
Bluͤthe und Frucht bildet und ſo an ſich ſelbſt
die Urtheile und Schluͤſſe vornimmt, die der beob¬
achtende Phyſiolog nur zu wiederholen und gleich¬
ſam in menſchliche Sprache zu uͤberſetzen hat.
Selbſt die rohe Materie trachtet ja nach Einheit
und Geſtaltung, ſie nimmt ſtereometriſche Formen
an, die dem Reich der Begriffe angehoͤren und
etwas Geiſtiges in der verhaͤrtetſten Materie repraͤ¬
ſentiren. „Den Geſtirnen,“ ſagt Schelling, „iſt die
erhabenſte Zahl und Meßkunſt eingeboren, die ſie
ohne einen Begriff derſelben in ihren Bewegungen
ausuͤben; deutlicher, obwohl ihnen ſelbſt unfaßlich
erſcheint die lebendige Erkenntniß in Thieren, welche
wir unzaͤhlige Wirkungen hervorbringen ſehen, die
viel herrlicher ſind, als ſie ſelbſt; der Vogel, der
von Muſik berauſcht in ſeelenvollen Toͤnen ſich
ſelbſt uͤbertrifft, das kleine, kunſtbegabte Geſchoͤpf,
das ohne Uebung und Unterricht leichte Werke der
Architektur vollbringt, alle aber geleitet von einem
uͤbermaͤchtigen Geiſt, der ſchon in einzelnen Bli¬
tzen von Erkenntniß hervorleuchtet.“
Es iſt derſelbe Geiſt, der im Menſchen als
Freiheit erſcheint. Schon in den Naturweſen be¬
merken wir die Thaͤtigkeit, welche uͤber die Exi¬
ſtenz des Thieres hinausgeht, welche nicht blos im
Innern Knochen baut und die aͤußere Haut mit
Federn und Haaren beſetzt, ſondern nach Außen
ſich abloͤſt, ein kuͤnſtleriſches Reſiduum zuruͤcklaͤßt,
einen Geſang, ein Geſpinnſt, ein Neſt und der¬
gleichen zu Tage foͤrdert. Das iſt dieſelbe bildende
Kraft, die den Arm des Michel Angelo bewegte,
die ſich zum menſchlichen Genius verklaͤrt und zu¬
gleich mit daͤmoniſcher Unwiderſtehlichkeit, mit un¬
bewußtem Drang wie mit menſchlich bewußter
Freiheit Meißel und Pinſel ergreift und eine zweite
hoͤhere Schoͤpfung in der Schoͤpfung hervorbringt.
Nur auf den hoͤchſten Stufen der Individua¬
litaͤt wirkt die unbewußte Natur ſeeliſche Schoͤn¬
heit und Anmuth, der bewußte Menſch ſteht ſchon
oder ſollte ſchon auf dieſer ſtehen, er findet das
Geſetz der Schoͤnheit in ſich, außer ſich, die
Wahl des Schoͤnſten ſteht ſeiner Kuͤnſtlerhand
offen und wenn er ſich vergreift, wenn er ſtatt
Seelen nur Leiber, ſtatt Edelm Unedles bildet,
ſo faͤllt die Schuld einzig und allein auf ſein
Haupt, er hat ſeine Freiheit gemißbraucht, den
Beruf der Kunſt, ſein ſchoͤnſtes Vorrecht vor der
blind und nothduͤrftig waltenden Natur, ungehin¬
derte Bildung des Schoͤnſten im Charakter des
Individuellen, verkannt.
Dieſe gluͤckliche Lage der Kunſt zur Natur
ſollte man richtig einſehen und fleißig bedenken,
will man uͤber den Werth der verſchiedenen Kunſt¬
leiſtungen ein richtiges Urtheil faͤllen. Wirkt und
ſchafft der Kuͤnſtler blind, ſo unterſcheidet er ſich
durch nichts von der Natur, als durch die Un¬
vollkommenheit ſeines Werkes, verglichen mit dem¬
ſelben Werk der Natur. Will er ſich aber mit
Bewußtſein der Natur blos unterordnen, ſo wird
es ihm nicht darauf ankommen, welchen Gegen¬
ſtand er fuͤr die Kunſt bearbeitet, er wird mit
knechtiſcher Treue dieſen Gegenſtand wiedergeben,
verdoppeln, Abſchreiber der Natur aber kein Kuͤnſt¬
ler ſein. Kuͤnſtler iſt er nur dann, wenn er
Seelen erfaßt, wenn er ſeeliſche Schoͤnheit in
ihrer Verkoͤrperung darſtellt, wenn er alles Koͤr¬
perliche nur als Symbol des Geiſtigen betrachtet
und ſolche Symbolik aus ſeinem Kunſtwerk klaͤr¬
lich durchblicken laͤßt. Jenen im Innern der
Dinge wirkſamen, durch koͤrperliche Sinnbilder
zum Auge ſprechenden Naturgeiſt ſoll er in ſich
lebendig machen und erſt nach lebendiger Ergrei¬
fung deſſelben zur Nachahmung des Naturwerkes
ſchreiten. Dann hat er etwas Kuͤnſtleriſches ge¬
ſchaffen, das weder Natur noch Ideal iſt; denn
es iſt etwas Hoͤheres als die Natur, etwas Wahr¬
hafteres als Ideal, als eine Grille, die willkuͤhr¬
liche Schoͤnheiten willkuͤhrlich zuſammenrafft.
Es bedarf naͤmlich wohl keiner beſondern Er¬
waͤhnung und Ausfuͤhrung, daß fuͤr die Kunſt das
Ueberſchwaͤngliche, Idealiſche eben ſo unzulaͤſſig
ſei, als das Gemeine, Sklaviſche, Kopirte.
Die Forderung zu idealiſiren, ſagt Schelling
ſehr treffend, die Manche an den Kuͤnſtler machen,
ſcheint aus einer Denkart entſprungen zu ſein, nach
welcher nicht die Wahrheit, Schoͤnheit, Guͤte, ſon¬
dern von Allem das Gegentheil das Wirkliche iſt.
Waͤre das Wirkliche der Wahrheit und
Schoͤnheit entgegengeſetzt, ſo muͤßte es
der Kuͤnſtler nicht idealiſiren, ſondern
vernichten, um an deſſen Stelle die
Schoͤnheit hinzupflanzen.
Sechzehnte Vorleſung.
Nicht das Wirkliche als wirklich will der Kuͤnſt¬
ler nachahmen, ſondern dem Wirklichen eine kuͤnſt¬
leriſche Bedeutung geben. Der Kuͤnſtler huͤtet ſich
wohl, die marmornen Wangen ſeiner Diane roth
zu faͤrben. Er vermeidet ſelbſt den Schein, als
habe er mit der Natur wetteifern wollen. Er
verachtet den Trug natuͤrlicher Lebendigkeit, jedes
Inſekt, das auf dem Boden kriecht, wuͤrde ihn
beſchaͤmen. Er fuͤhlt ſich nicht geſchmeichelt, wenn
ſein Gemaltes oder Gemeißeltes des Zuſchauers
Sinne in die Taͤuſchung verſetzt, als ſei es ein
Lebendiges und Leibhaftes. Jene griechiſchen Anek¬
doten von gemalten Trauben und anpickenden Voͤ¬
geln, von gemalten Pferden und anwiehernden
lebendigen ſind zweifelsohne reine Erdichtung; je¬
denfalls aber keine Beweiſe großer Kunſt.
Wollte man ſie dafuͤr ausgeben, ſo waͤren
Wachsfiguren die Meiſterwerke der Kunſt, ſie kom¬
men dem Leben am Naͤchſten, ſtehen aber eben
deswegen vom Leben am Entfernteſten ab. Da¬
durch erregen ſie dem natuͤrlichen Betrachter den
widerlichſten Eindruck. Sie ſtieren uns an, als
wollten ſie uns weiß machen, daß ſie lebten, aber
uns graut vor dieſem waͤchſernen Blick, vor die¬
ſen unbegrabenen Leichen mit offenen Augen und
rothen Wangen und wir verwuͤnſchen die Finger¬
fertigkeit des Wachskuͤnſtlers, der uns mit den
Haaren zur Taͤuſchung herbeiziehen will. Dage¬
gen betrachten wir mit Luſt und Bewunderung
die Arbeiten des Bildhauers, die uns lebendige
Weſen, Goͤtter, Helden, Frauen vor's Auge fuͤh¬
ren — ihre marmorne Haut ſcheint uns nicht ge¬
ſpenſtiſch, eben ſo wenig ihr ſternloſes Auge; ja,
wir wuͤrden eher von dieſer Empfindung beſchlichen
werden, wenn ein ſolcher Stern des Marmorau¬
ges unſern Blicken begegnete. Wir ſehen, der
Kuͤnſtler hat uns kein qui pro quo vormachen wol¬
len, er gab uns das Leben der Kunſt ohne Wett¬
eifer mit dem Leben der Natuͤrlichkeit, ohne Falſch¬
muͤnzerei, wie der Wachsboſſirer. Lebendig und
wahr ſoll alſo die Kunſt ſein wie die Natur, aber
die Kunſt, wie es ihr ſelbſt, nicht wie es der
Natur zukommt.
Dieſes Geſetz gilt in allen Kreiſen der Kunſt
und man erkennt eben den Pfuſcher in der Ma¬
lerei, den Maler, dem die Weihe der Kunſt ab¬
geht, ſaͤhe man ihn auch im Beſitz vortrefflicher
Kunſtgriffe und mechaniſcher Fertigkeiten, man
erkennt ihn hauptſaͤchlich an der falſchen Beſtre¬
bung naturwahr ſtatt kunſtwahr zu ſein,
mit Fruͤchten, Figuren, Gegenſtaͤnden aller Art
das Auge des Beſchauers gleichſam aufzufordern,
ſie mit natuͤrlichen in Vergleich zu ſtellen.
In der Malerei faͤllt dies Beſtreben um ſo
mehr auf, da ſie nicht freie, rings von Luft
umgebene Bilder liefert, wie die Bildhauerei, ſon¬
dern da man ausdruͤcklich ihre Bilder als Bilder
anſehen ſoll. Sie legt ja darum auch weniger
Gewicht auf die Materie, als die Plaſtik, will
ſchon mehr als Seele zur Seele ſprechen, dage¬
gen die Bildhauerei, dem Material nach, ganz
und gar in der Sinnenwelt ruht und ein Taſtba¬
res, Irdiſches darſtellt. Daher ſtammen die ver¬
ſchiedenen Geſetze, die der Bildhauer und der
Maler in der Darſtellung befolgen. Waͤhrend je¬
ner ſich in Acht nimmt, die Zuͤge der Leidenſchaft
ſeinen Figuren uͤber ein gewiſſes Maaß einzupraͤ¬
gen, ja waͤhrend er ſich's zum Geſetze macht, das
bloße Leiden, den reinen Schmerz im Stein nicht
zu verewigen, iſt dem Maler keine ſo aͤngſtliche
Grenze geſetzt und der hoͤchſte Schmerz wie die
hoͤchſte Luſt, Leidenſchaft, Leiden, Duldung, That
gelingen ſeinem Pinſel auf's Vollkommenſte, falls
er anders nicht vergißt, daß auch ihm ein gewiſſes
Maaß der Leidens- und Thataͤußerungen von Noͤ¬
then bleibt.
Aus dieſem leicht bewaͤhrten Gegenſatz der
Malerei und der Plaſtik ergibt ſich das Vorherr¬
ſchen der letzteren im Alterthum, das Vorherrſchen
der erſteren in der neuern Geſchichte. Beide aber,
Plaſtik und Malerei, werden fuͤr ewig in ihren
beſtimmten Kreiſen getrennt operiren; die Plaſtik
darf nicht ins Maleriſche, die Malerei nicht ins
Plaſtiſche ausarten. Nicht ohne Zeitbedeutung
ſcheint es zu ſein, daß die Plaſtik der neueſten
Zeit an Canova, beſonders an Thorwaldſen ſo
große Meiſter gefunden; es iſt ein Sieg der That
uͤber die bloße Empfindung, des Griechenthums
uͤber das Mittelalter.
Noch geiſtiger als die Malerei zeigte ſich die
Poeſie und grade um ſo viel geiſtiger, als ihr
Material, die Buchſtaben, geiſtiger ſind, als ge¬
riebene Farbenerde. Leſſing druͤckte das Verhaͤlt¬
niß der Poeſie zur Malerei mit den Worten aus:
die Malerei ſchildert Koͤrper und andeutungsweiſe
durch Koͤrper Bewegungen (Leidenſchaften u. ſ. w.);
die Poeſie ſchildert Bewegungen und andeutungs¬
weiſe durch Bewegungen Koͤrper. Wie dieſer
Ausſpruch nun das ganze Verhaͤltniß durchaus
richtig angibt, ſo iſt auch der Schluß daraus von
Leſſing buͤndig und richtig abgeleitet, daß die Ma¬
lerei (wie die Plaſtik uͤberhaupt) ſich mit dem Si¬
multanen, die Poeſie ſich mit dem Succeſſiven
beſchaͤftigen muͤſſe. Die Poeſie ſoll es alſo unter¬
laſſen, koͤrperliche Schoͤnheiten zu ſchildern; ſie
kann nur Zug fuͤr Zug verfahren, und waͤhrend
ſie bei den Fuͤßen anlangt, iſt das Bild des Ko¬
pfes ſchon wieder verwiſcht. Der Malerei, die
alle Schoͤnheiten auf einmal darſtellt, ſoll ſie die¬
ſes uͤberlaſſen, die Malerei aber der Poeſie die
komplizirten Zuͤge einer Handlung, die bewegte
Schoͤnheit darzuſtellen; ihr gehoͤrt das Bewegte,
der Plaſtik das Ruhende.
Sehen Sie hier, meine Herren; die Urſache,
warum Naturſchilderungen, ſelbſt wenn Walter
Scott's eminentes Talent ſie ausfuͤhrt, je laͤnger
und breiter ſie hinausgezeichnet ſind, deſto vergeb¬
licher und unerfreulicher unſere Phantaſie abmar¬
tern und keine lebhafte Anſchauung hervorzubrin¬
gen im Stande ſind. Die engliſchen Dichter ſind
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 14
dieſem Fehler ſehr unterworfen. Walter Scott
wird nicht ſelten aus einem Dichter Maler, Archi¬
tekt, Kleiderſeller. Der echte Dichter ſchildert,
wie Leſſing ſich ausdruͤckt, Bewegung, Handlung
und nur andeutungsweiſe durch dieſe Koͤrper.
Zwingen, wie derſelbe Leſſing bemerkt, den Ho¬
mer beſondere Umſtaͤnde, unſeren Blick auf ein¬
zelne koͤrperliche Gegenſtaͤnde zu lenken, ſo wird
doch kein Gemaͤlde daraus, dem der Maler mit
dem Pinſel folgen koͤnnte; Homer weiß dieſen Ge¬
genſtand in eine Folge von Augenblicken zu ver¬
ſetzen und uns auf dieſe Art ſeine Geneſis vor
Augen zu legen. Will er uns z. B. den Wagen
der Juno ſehen laſſen, ſo muß Hebe ihn Stuͤck
fuͤr Stuͤck zuſammenſetzen, wir ſehen die Raͤder,
die Achſen, den Sitz, die Deichſel u. ſ. w. nicht
ſowohl, wie es beiſammen iſt, ſondern wie es un¬
ter den Haͤnden der Hebe zuſammenkommt. Will
er uns zeigen, wie Agamemnon bekleidet geweſen,
ſo muß der Koͤnig vor unſern Augen Mantel,
Stiefel, Schwert anthun und wenn er damit fer¬
tig iſt, ergreift er das Zepter. So iſt auch die
Beſchreibung des Zepters eine Geſchichte des Zep¬
ters, die Beſchreibung des Achilleiſchen Schildes
eine Reihe von Geſchichten. Fuͤr ein Ding hat
Homer gewoͤhnlich nur einen Zug. Ein Schiff
iſt ihm das dunkle, das ſchnelle, wenn's hoch
kommt, das wohlberuderte, dunkle Schiff. Aber
wohl dient ihm das Schiffen, die Abfahrt, das
Anlanden eines Schiffes zu ausfuͤhrlichen Gemaͤl¬
den, woraus der Maler jedesmal ein Halbdutzend
verfertigen muͤßte, wollte er ſie ganz auf die Lein¬
wand bringen. Mit gleicher Kunſt behandelt er
die menſchlichen Schoͤnheiten. Nireus war ſchoͤn,
Achilles noch ſchoͤner, Helena beſaß goͤttliche
Schoͤnheit; das iſt Alles. Nirgends laͤßt er ſich
auf umſtaͤndliche Schilderungen ein. Im Vorbei¬
gehen erfahren wir, daß ſie weiße Arme hatte.
Welchen Luxus wuͤrde ein ſchlechterer Dichter, als
Homer mit Helena's Schoͤnheiten getrieben haben.
Aber wuͤrde er uns auch, gleich Homer, durch
einen einzigen Zug, die Schoͤnheit der Helena
als die hoͤchſtdenkbare, fuͤhlbar gemacht haben?
Helena tritt ins Thor, wo die Greiſe Verſamm¬
lung halten; da fluͤſtert Einer dem Andern zu:
οὐ νεμεσις Τρωας και ἐϋκνημιδας Ἀχαιους
τοιη δ᾽ἀμφι γυναικι πολυν χρονον ἀλγεα πα¬
σχειν
αἰνως ἀϑανατησι ϑεης εἰς ὠπα εἰοικεν,
welche Worte im Munde von Graͤubaͤrten, die
Blut und Thraͤnen und erſchlagene Soͤhne nicht
achten, um eines ſo goͤttlichen Weibes wegen.
14 *
So viel im Allgemeinen vom Verhaͤltniß
der Poeſie zur Plaſtik, von dem der geiſtig¬
ſten aller Kuͤnſte, welche der Plaſtik im Kunſt¬
kreiſe polariſch gegenuͤberſteht, der Muſik in naͤch¬
ſter Vorleſung.
Siebzehnte Vorleſung.
Man ſollte denken, daß die Muſik diejenige un¬
ter den Kuͤnſten waͤre, welche am wenigſten Ge¬
fahr liefe, ihr eigenthuͤmliches Gebiet zu verken¬
nen; allein die Erfahrung hat gelehrt und lehrt
noch taͤglich, daß der Muſiker bald den Maler,
bald den Dichter zu uͤberbieten ſtrebt und dabei
die eigenthuͤmliche Wuͤrde ſeiner Kunſt außer Au¬
gen ſetzt. Im Gegenſatz zu einer Muſik, deren
Noten weder einer Empfindung noch einer Idee
entſprechen, die wie meiſtens die italieniſche, ins¬
beſonders die fruͤhere, ein reines, gedankenloſes,
ſchwelgeriſches Tonſpiel ausdruͤckten, bildete ſich
eine Charaktermuſik, die aus lauter Andeutungen,
phyſiſchen und geiſtigen, beſtehen ſollte, die Ge¬
witter, Mondſcheinkuͤſſe, Pferdegalopp nachahmte
und alles Maleriſche und Dichteriſche ohne Aus¬
nahme in ihr unnatuͤrlich erweitertes Gebiet auf¬
nahm.
Allerdings, meine Herren, iſt nicht zu ver¬
kennen, daß Poeſie und Muſik innig verwandte
Kuͤnſte ſind, die in ihrer Vereinigung z. B. in
der Oper, im Liede, die wunderbarſten Wirkungen
auf unſer Gemuͤth aͤußern. Allein, man erklaͤre
ſich den Umſtand, daß die Sprache und die Mu¬
ſik ſo ſelten, ja faſt nie ſelbſtſtaͤndig zuſammenwir¬
ken, daß bald die Sprache der Muſik, bald die
Muſik der Sprache untergeordnet erſcheint, jenes
in unſern heutigen Opern, wo der Text nur ſo
mitlaͤuft, dieſes in den Schau- und Trauerſpielen
der Alten, wo Text die Hauptſache, Muſik und
Tanz nur als Begleiterinnen auftraten. Woher
dieſe Schwierigkeit, beide Kuͤnſte in ihrer Selbſt¬
ſtaͤndigkeit mit einander zu verbinden? Die Ant¬
wort gab ſchon Leſſing. Die Muſik bedient ſich
natuͤrlicher, die Poeſie willkuͤhrlicher Zeichen, die
Muſik der Toͤne, die Poeſie der Buchſtaben.
Beide Zeichen wirken allerdings in der Folge der
Zeit, allein das Zeitmaaß iſt verſchieden. Ein
einziger Laut der Sprache, als willkuͤhrliches Zei¬
chen, kann in einem fluͤchtigen Augenblick ſo viel
Gedanken und Empfindungen ausdruͤcken, als die
Muſik nur in einer langen Reihe von Toͤnen nach
und nach hoͤrbar und fuͤhlbar machen kann. Die
hieraus entſpringende Regel nehmen ſich auch die
Dichter der Operntexte zu nutz, wenn ſie darauf
ausgehen, den Gedanken ſo wortreich als moͤglich
auszuſpinnen und die laͤngſten und geſchmeidigſten
Worte den energiſch kurzen vorziehen. Man hat
den Komponiſten vorgeworfen, daß ihnen die
ſchlechteſte Muſik die beſte waͤre; aber ſie iſt ihnen
nicht deswegen die liebſte, weil ſie ſchlecht iſt, ſon¬
dern weil die ſchlechte nicht gedraͤngt und gepreßt
zu ſein pflegt. Sie ſind oft genoͤthigt, ein Wort,
eine Sylbe ein Halbdutzendmal zu wiederholen,
um den entſprechenden muſikaliſchen Eindruck zu
machen. Dennoch ſcheint die Verbindung der
Muſik mit der Poeſie die aͤlteſte und urſpruͤnglichſte
zu ſein, die Trennung eine ſpaͤtere. Die Regeln
des Versbaues gruͤnden ſich alle auf Harmonie,
alle muſikaliſchen Abwechſelungen, Pauſen
ſind auch in der Sprache der Poeſie denkbar.
So waren die aͤlteſten Dichter zugleich auch Saͤn¬
ger, die aͤlteſte Poeſie zugleich Muſik. Wenn es
heißt, daß Orpheus Leier den Marmor ſchmolz und
Stroͤme in ihrem Lauf hemmte, wenn Amphion
Theben baute, ſo wurden unter den Toͤnen der
Leier nicht bloße muſikaliſche Laute, noch bloße
Worte, ſondern der wunderbare Einklang von
Poeſie und Muſik verſtanden.
Ueberhaupt war die Muſik der Alten immer
mit Poeſie verbunden, ſelbſtſtaͤndige Inſtrumental¬
muſik war ihnen fremd. Die Urſache liegt nahe.
Ihre Inſtrumente waren weder vollzaͤhlig noch
vollkommen, was ließ ſich mit der Harfe, Cither
oder Forminx, mit der Lyra oder Laute, mit der
Tibia oder Hoboe, mit der trompetenartigen Tuba
und mit dem Syrinx der Hirten aufſtellen? Erſt
in ſpaͤteren Zeiten, beſonders unter Italienern und
Deutſchen bildete ſich die Muſik zur eigentlich dar¬
ſtellenden Kunſt. Vorher war ſie nur die Huͤlle,
das Gewand der Poeſie. Jetzt riß ſie ſich, den
eigenen Kraͤften vertrauend, von ihr los, jedoch,
wenigſtens nicht bei den Deutſchen, um ſich ganz
von ihr zu trennen, ſondern, um ſich ihr mit
Freiheit wieder zu naͤhern. Selbſt das Wort
muſikaliſch ward nun ſelbſtſtaͤndig gebraucht fuͤr
die Kunſt der Muſik, fruͤher bezeichnete es den
Verein von Poeſie und Geſang, von Mimik und
Deklamation, in dem jeder griechiſche Juͤngling
ſich ausbilden mußte; in dieſem Sinne muß man
immer den muſikaliſchen Unterricht verſtehen, wo¬
von Plato, Plutarch und andere griechiſche Schrift¬
ſteller ſo oft ſprechen, als von dem weſentlichſten
Bildungsmittel der Jugend, das auf Geiſt und
Gemuͤth den unwiderſtehlichſten Einfluß ausuͤbe.
Die Alten ſahen nur auf Melodien, ihre
Choͤre wurden nur nach einander abgeſungen und
deklamirt. Kuͤnſtliche Harmonien, Durcheinander¬
laſſen der Toͤne auf verſchiedenen Inſtrumenten,
Tonverſetzungen, Fugen, Aufloͤſungen kuͤnſtlicher
Diſſonanzen, kurz Werke eines Haydn oder Mo¬
zart, ganze große, durchdachte, auf die Regeln der
Harmonie gegruͤndete, mit Kraft, Geſchicklichkeit,
großartiger Phantaſie ausgefuͤhrte muſikaliſche Kunſt¬
werke waren den Alten unerreichbar.
Raͤumen wir dieſe Selbſtſtaͤndigkeit der Mu¬
ſik in neuerer Zeit ein, ſo kehrt mit verdoppeltem
Nachdruck die Frage zuruͤck, welche Stelle nimmt
die Muſik unter den Kuͤnſten ein, welche Gren¬
zen ſind ihr geſetzt, was iſt ihr Reich, ihr
Gebiet?
Kant in ſeiner Kritik der Urtheilskraft ſagt
von der Tonkunſt, daß ſie unter den Kuͤnſten den
groͤßten Genuß, aber fuͤr ſich die wenigſte Kultur
gewaͤhre, indem ſie mit bloßen Empfindungen
ſpiele, welche auf unbeſtimmte Ideen von Affek¬
ten fuͤhrten.
Die Muſik ſtand alſo dem Koͤnigsberger nicht
ſehr hoch; auch Hegel machte ſich nicht viel aus
der Muſik, weil ſie ihm, wie er ſagte, zu wenig
zu denken gebe. Wie anders mußte Luthers
14**
Ohr vom Zauberſtabe der Muſik beruͤhrt werden,
wenn er ausruft: ich ſage es frei heraus, daß
nach der Theologie keine Kunſt ſei, ſo mit der
Tonkunſt kann verglichen werden, der die Floͤte
und noch kunſtreicher die Laute ſpielte, und ſei¬
nen hellen maͤnnlichen Tenor jeden Abend in
ſeinem Hauſe ertoͤnen ließ. Es iſt nur Mangel
an Tonſinn, an kindlicher Stimmung, an poetiſch¬
webenden Gefuͤhlselementen, was Kant, Hegel
und andere Philoſophen wie Nichtphiloſophen zur
Herabſetzung der Muſik beſtimmte. Schon das
Medium, der Stoff der Muſik erregen fuͤr ihre
aͤſthetiſche Wuͤrde ein guͤnſtiges Vorurtheil. Sie
ſpricht durch den Sinn des Gehoͤrs zu uns, ihr
Medium, die Luft, iſt unſichtbar, wie die Toͤne,
welche ſie hervorruft, in dieſem Unſichtbaren wirkt
ſie ſelber als etwas Unſichtbares, als etwas aus
fremder Welt, und zwar nicht als Todtes, Unbe¬
wegtes, Ruhendes, ſondern als etwas Eilendes,
Fließendes, uͤber, neben, unter uns Hinſchweben¬
des. Ihre Melodien ſind uns die Sinnbilder un¬
ſerer geiſtigen Regſamkeit, unſere ſtummen Ge¬
fuͤhle, Ahnungen, Hoffnungen, unſere Schmerzen
und Freuden, Alles wird laut in unſerer Bruſt,
wir fuͤhlen doppelt ſtark, allein wir erheben uns
uͤber den Schmerz und genießen dieſen nur als
Ton, der unſer Ohr entzuͤckt, ohne im Herzen
einen Stachel zuruͤckzulaſſen. Die Toͤne, ſagt
Heinſe in ſeinem muſikaliſchen Roman, greifen die
Nerven und alle Theile des Gehoͤrs an und ver¬
aͤndern dadurch das innere Gefuͤhl außer allen
Vorſtellungen der Phantaſie. Unſer Gefuͤhl ſelbſt
iſt nichts Anderes, als eine innere Muſik, immer¬
waͤhrende Schwingung der Lebensnerven. Die
Muſik ruͤhrt ſie ſo, daß es ein eigenes Spiel, eine
ganz beſondere Mittheilung iſt, die alle Beſchrei¬
bung von Worten uͤberſteigt. Sie ſtellt das innere
Gefuͤhl von außen in der Luft dar. Das Ohr,
ſagt er an einer andern Stelle, iſt gewiß unſer
wichtigſter Sinn und ſelbſt das Gefuͤhl, was man
bisher fuͤr den untruͤglichſten gehalten hat, bildet
ſich nach ihm. Das geuͤbteſte Auge eines Ma¬
lers, Meßkuͤnſtlers iſt gewiß nicht im Stande,
uns ſo, wie der Muſiker, die leichten Verhaͤltniſſe
der Haͤlften, Drittel, Fuͤnftel und Sechſtel einer
Linie, irgend einer Laͤnge und Groͤße in Wirklich¬
keit auf ein Haar zu treffen. Deswegen ſind die
Taubſtummen um ſo Vieles ungluͤcklicher als die
Blinden, weil ſie den Hauptſinn des Verſtandes,
der die andern zur Richtigkeit gewoͤhnt, nicht ha¬
ben und ſo gibt die Muſik unter allen Kuͤnſten
der Seele den helleſten und friſcheſten Genuß.
Ein Gluͤck, daß das Ohr des Menſchen an feiner
und mannigfaltiger Aufnehmung und Unterſchei¬
dung von Toͤnen das Ohr aller andern Thiere
uͤbertrifft, obwohl ein vollkommen zartes, feſtes,
reines und noch mehr, ausgebildetes Gehoͤr eben
ſo ſelten iſt, wie alle hohe Schoͤnheit und man
durch ſchlechte Gewohnheit dieſen goͤttlichen Sinn
ſehr verderben kann.
In der That, vor der Muſik muß jede Kunſt,
die am Sichtbaren haftet, an innerer Wirk¬
ſamkeit uͤbertroffen werden, wie der Koͤrper vom
Geiſte: denn ſie iſt Geiſt, verwandt mit der Na¬
tur der in uns waltenden Kraft, der Seele, der
Bewegung. Was anſchaulich dem Menſchen nicht
werden kann, wird ihm durch Muſik mittheilbar.
Voruͤbergehend iſt jeder Augenblick dieſer Kunſt,
denn eben das Kuͤrzer und Laͤnger, das Staͤrker und
Schwaͤcher, das Hoͤher und Tiefer iſt ihre Bedeu¬
tung, ihr Eindruck. Im Kommen und Fliehen,
im Werden und Geweſenſein liegt die Siegskraft
des Tons und der Empfindung. Dagegen jede
Kunſt des Anſchauens, die an beſchraͤnkten Ge¬
genſtaͤnden und Gebaͤuden, und nun gar an Lokal¬
farben haftet, dennoch nur langſam begriffen wird,
obwohl ſie Alles auf einmal zeigt.
Vergangenheit und Zukunft unſerer Empfin¬
dungen iſt das Eigenthuͤmlichſte der Muſik. Sie
ſoll die Natur nicht malen, nicht dichtend
darſtellen, wie Maler, Bildhauer und Dichter,
ſondern anregen, nichts als anregen. Daher
wirkt die Muſik nie beſtimmt, wie der Dichter,
ſondern unbeſtimmt; daher artet die Bemuͤhung,
einzelne Begebenheiten und Erſcheinungen der Na¬
tur in der Muſik nachzuahmen z. B. das Klap¬
pern der Muͤhlen, das Schnurren der Raͤder, das
Knirſchen der Zaͤhne u. ſ. w. in laͤcherliche und
unertraͤgliche Spielerei aus. Die Muſik darf nie
aus dem reinen Aether herabſinken und ihren Fuß
auf den glatten Boden der Wirklichkeit ſetzen.
Unſere Gefuͤhle begegnen ihr von ſelbſt, wir tau¬
chen uns in ihrem reinen, dunkelwogenden Strom,
wir trinken ihre Toͤne und ſtillen und reinigen uns
in ihren harmoniſchen Fluthen.
Man kann die Tonkunſt unter den Kuͤnſten
die freieſte nennen, weil ſie am Unmittelbarſten
ſich unſerer Seele, unſerer Einbildungskraft be¬
maͤchtigt und mit den muſikaliſchen Formen der
Schoͤnheit anfuͤllt, ohne durch das Verſtandesge¬
biet der Begriffe und noch weniger durch die Welt
der wirklichen Anſchauungen hindurchzugehen. In
ihr verbindet ſich am Leichteſten das Individuelle
mit dem Idealen, in ihr druͤckt ſich am Fuͤhlbar¬
ſten das Unendliche durch das Endliche aus.
Daß die Toͤne, ſagt Jean Paul, die in einem
dunkeln Mondlicht von Kraͤften ohne Koͤrper unſer
Herz umfließen, die unſere Seele ſo verdoppeln,
daß ſie ſich ſelber zuhoͤrt, und mit denen unſere
tiefheraufgewuͤhlten, unendlichen exaltirten Hoff¬
nungen und Erinnerungen gleichſam im Schlafe
reden, daß die Toͤne ihre Allmacht vom Sinne
des Grenzenloſen empfangen, dies brauche ich nicht
erſt zu ſagen. Die Harmonie fuͤllet uns zum
Theil durch ihre arithmetiſchen Verhaͤltniſſe; aber
die Melodie, der Lebensgeiſt der Muſik erklaͤrt ſich
aus nichts, als etwa aus der poetiſchen Nachah¬
mung der roheren Toͤne, welche unſere Schmer¬
zen und Freuden von ſich geben. Die aͤußere
Muſik erzeugt die innere und daher geben uns
alle Toͤne einen Reiz zum Singen.
Wir ſchließen mit dieſen Worten unſere Ge¬
danken uͤber den Kunſtkreis der Muſik. Nachdem
wir bisher die eigenthuͤmliche Bahn der ſaͤmmtlichen
Kuͤnſte beſchrieben, fluͤchtig durchlaufen ſind, wer¬
den wir in naͤchſter Vorleſung unmittelbar nach
unſerm Plane diejenige von den Kuͤnſten behan¬
deln, welche ſich der Worte als ihrer ſimboliſchen
Zeichen bedient, der Poeſie und Rhetorik.
Achtzehnte Vorleſung.
Nach der allgemeinen Charakteriſtik der Kuͤnſte,
welche in den Kreis der Aeſthetik gehoͤren, beſchraͤn¬
ken wir uns verabredetermaßen auf die Kunſt der
Rede, der poetiſchen wie der proſaiſchen. Dieſe
Kunſt bedient ſich der Sprache, als ihres Mate¬
rials, wie der Bildhauer des Marmors, der Mu¬
ſiker des Tons. Nicht alle Sprachen ſind gleich
geeignet fuͤr die kunſtreiche Bearbeitung, einige
ſind zu ſproͤde, andere zu weich, einige zu roh,
andere zu gebildet, einige zu arm, andere, man
moͤchte ſagen, zu reich, wie die deutſche, was
zwar ein ſchoͤner Fehler iſt, wenn uͤberall einer,
was aber doch dem Dichter oder Redner bei der
Wahl der Woͤrter und Ausdruͤcke nicht ſelten auch
die Qual verurſacht. Allein der wichtigſte Unter¬
ſchied, den dieſes Material, dieſer Gedankenmar¬
mor, die Sprache darbietet, iſt der, ob daſſelbe
unmittelbar und urſpruͤnglich aus dem Urfels der
Nationalitaͤt gebrochen und gewonnen wird, oder
ob es nur ein ausgebrochenes Stuͤck Sprache iſt,
das vom Urfelſen getrennt, nur bedeutungsloſe,
geſprungene und unterbrochene Adern aufweiſet;
ich meine, ob die Sprache eine Grundſprache oder
eine abgeleitete iſt. Keiner kann die Tiefe dieſes
Unterſchiedes begreifen, als der, deſſen Begriffe in
einer Grundſprache wurzeln, der ſelbſt das Gluͤck
genießt, einem Volke anzugehoͤren, deſſen Sprache
eine ewig fortrieſelnde Quelle iſt, deren Urſprung ſich
in die Felſen und Gebuͤſche der dunkelſten Vorzeit
verliert. Man diſputire nicht mit einem Franzo¬
ſen uͤber den Vorzug der beiderlei Sprachen, und
wenn der Franzoſe, was jetzt haͤufig von jungen
und geiſtreichen Pariſern zum Studium Goethe's,
Hoffmann's und anderer deutſchen Schriftſteller
geſchieht, wenn er auch das Deutſche mit einiger
Fertigkeit leſen und ſprechen gelernt hat und den
beſten Willen zeigt, ohne altfranzoͤſiſches Vorur¬
theil die Vergleichung beider Sprachen anzuſtellen,
ſo wird er doch nie den groͤßten Vorzug des
Deutſchen vor dem Franzoͤſiſchen, die Urſpruͤnglich¬
keit begreifen und mit auf die Wagſchale legen.
Niemand hat dieſen Punkt eindringlicher und tie¬
fer eroͤrtert, als Fichte in ſeinen unſterblichen Re¬
den an die deutſche Nation; ich verweiſe Sie auf
dieſe Stelle, wenn Sie Ihr Herz recht mit dem
ſtolzen Gefuͤhl durchdringen wollen, wie hoch un¬
ſere deutſche Mutterſprache uͤber den neuen euro¬
paͤiſchen ſteht. Freilich an aͤußerem Reiz iſt manche
ihr uͤberlegen, heitrer, anmuthiger, geſellſchaftlicher
iſt die franzoͤſiſche, grandioͤſer die ſpaniſche, ſang¬
reicher die italieniſche, allein ſeelenvoller und herz¬
inniger, geſtaltreicher und gedankendurchſichtiger,
als alle, iſt und bleibt die deutſche. Die franzoͤſiſche
und alle abgeleiteten Sprachen mehr und minder
ſind mehr rhetoriſcher, die deutſche und alle ur¬
ſpruͤnglichen Sprachen mehr poetiſcher Natur. In
jener hat ſich die Sprache abgeloͤſt vom ſprach¬
ſchaffenden, ſprachbildenden Genius, vom Herzen,
vom Bewußtſein der Nation, ſie iſt ein Aeußeres
und Fremdes geworden, und wer ſich ihrer be¬
dient, nimmt ſie nicht aus ſich, ſondern aus dem
Vorrath conventioneller Formeln und Redensarten,
die fuͤr alle Zeiten geſtempelt ſind. In dieſer, der
urſpruͤnglichen, iſt Sprache und Seele eins, wer
Deutſch ſpricht, ſpricht es aus ſeinem eignen In¬
nern heraus und bedient ſich der Sprache nicht
wie einer bloßen Convention, ſondern als eines
Naturprodukts, das in ſeinem eignen Lebensblute
Wurzel faßt und ſeinen Geiſt vielaſtig mit Bluͤ¬
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 15
then und Fruͤchten durchwaͤchſt. Goethe vergleicht
daher ſehr richtig die franzoͤſiſche Sprache mit
ausgepraͤgter Scheidemuͤnze, die Jeder in der
Taſche bei ſich traͤgt und der er ſich auf das
Schnellſte im Handel und Wandel bedienen kann,
die deutſche aber mit einer Goldbarre, die ſich ein
Jeder erſt muͤnzen und praͤgen muß; woher es
auch ein gewoͤhnlicher Fall, daß der gemeinſte
Franzoſe raſch und fließend ſpricht, da er ſeine
Woͤrter ungezaͤhlt nur ſo ausgibt, der Deutſche
aber, ſelbſt der gebildete, ſich nur ſelten ſo rund
und voll auszudruͤcken vermag, als er wohl wuͤnſcht.
Demſelben Umſtande hat die franzoͤſiſche Proſa
ihre Vollkommenheit zu verdanken und ſie, die
Proſa, iſt es vor allen Dingen, was den Ruhm
und auch den Werth der franzoͤſiſchen Literatur ge¬
gruͤndet hat, obwohl daruͤber noch Manche im
Unklaren ſind und die franzoͤſiſche Poeſie, die
Trauerſpiele eines Corneille, Racine, die gereimten
Luſtſpiele eines Moliere, die Henriade eines Vol¬
taire u. ſ. w. fuͤr die einflußreichſten und am mei¬
ſten klaſſiſchen Produkte der franzoͤſiſchen Literatur
erachten. Ich weiß nicht, ob die Franzoſen ein
rein poetiſches Produkt zu Stande gebracht haben,
ich wuͤßte keins, wo nicht der Redner den Poe¬
ten uͤberwoͤge, oder wenigſtens ihm den Rang ab¬
zulaufen verſuchte; ſelbſt in der neueſten roman¬
tiſchen Schule, an deren Spitze Viktor Hugo
ſteht, und die ohne Zweifel an poetiſchem Gehalt
die altfranzoͤſiſch klaſſiſche uͤberfluͤgelt, ſpielt die
Rhetorik, die Floskelei, die Tiradenſucht die Haupt¬
rolle. Was ſind die franzoͤſiſchen Poeten gegen
die franzoͤſiſchen Proſaiker, welche Sterne des
Parnaſſus kann man einem Buͤffon, Rouſſeau,
Diderot, Voltaire, Chateaubriand und Andern ent¬
gegenſtellen? Im Deutſchen moͤchte der Fall um¬
gekehrt ſein, den europaͤiſchen Ruhm unſerer Lite¬
ratur verdanken wir unſern Dichtern und ich
glaube mit Recht. Abſtrahiren wir von den tief¬
ſinnigen Gedanken, von den wiſſenſchaftlichen Sy¬
ſtemen, welche unſere Proſa ſeit 50 Jahren ent¬
wickelt hat — wir wollen uns dieſen Ruhm nicht
ſchmaͤlern, aber wir wollen nur bedenken, welch
ein geringer Theil der Nation von dieſem Tief¬
ſinn, dieſer Wiſſenſchaftlichkeit Frucht gezogen hat
— was bleibt uns nach; ſei es politiſch oder mo¬
raliſch oder ſonſt was in Proſa, was wir gegen
die Werke unſerer Poeſie, gegen nur einen einzi¬
gen Dichter, wie Goethe, ja gegen nur ein ein¬
ziges Gedicht, wie den Fauſt in die Schanze
ſchlagen moͤchten? Ich wuͤßte es nicht. Es kann
aber auch nicht anders ſein, als daß bisher die
deutſche Poeſie die Proſa hinter ſich ließ. Ich
glaube den Grund ſchon einmal angedeutet zu ha¬
15 *
ben und zwar bei der Gelegenheit, als ich meine
Freude uͤber das kraͤftigere Aufbluͤhen unſerer heu¬
tigen jugendlichen Proſaiker ausſprach. Die deut¬
ſche Proſa wird nie der franzoͤſiſchen gleichgeartet
werden, wer es von unſerer Seite auf Nachah¬
mung anlegte, wie es von Dieſem und Jenem
wirklich geſchieht, der ahnt den Genius nicht, den
er verhoͤhnt. Herz und immer wieder Herz muß
dringen und klingen aus deutſcher Rede, ob ſie
einfach-proſaiſch dahinfließt, oder rythmiſche Echos
hoͤren laͤßt; wir haben eine Naturſprache, die ſo¬
wohl an den Gedanken als an die Empfindung
ſich anſchmiegt, ohne der gallonirten Kleider zu
beduͤrfen: Natur, Wahrheit, Herzlichkeit, das ſind
die drei Farben, welche dem Deutſchen ſo wohl
ſtehen und die keine Kunſt der Rednerei, der
Witzelei, der Phantaſterei erſetzt. Allein, beden¬
ken wir die bisherigen Zuſtaͤnde der Deutſchen,
bedenken wir dieſe miſerabeln buͤrgerlichen und ge¬
ſellſchaftlichen Zuſtaͤnde der Deutſchen, ſo begreifen
wir leicht, warum die deutſche Proſa, der treue
Spiegel dieſer Zuſtaͤnde, jetzt im Allgemeinen eben
ſo miſerabel ausſehen mußte, als ſie wirklich that
und thut. Ja, nehmen wir nur die ausgezeich¬
netſten Proſaiker der neuern Zeit, die viel Muͤhe
und Fleiß auf die Ausbildung ihrer Sprache ver¬
wandt haben und denen es beſſer wie Tauſenden
gegluͤckt iſt, einen Fichte, Schleiermacher, Schiller,
Goethe, welchen, ſelbſt Goethe nicht ausgeſchloſ¬
ſen, moͤchte man der Jugend als reines Muſter
empfehlen. Fichte's Periodengeflechte ſind mehr
dornigt als blumigt, Schleiermacher ſpinnt faſt
unſichtbare Gewebe und in dem Werk, was man
fuͤr das Meiſterſtuͤck ſeines Sprachſkelets ausgibt,
in den Monologen, ſchreibt er Jamben, ſtatt
Proſa; Schiller uͤberbietet ſich in einer glaͤnzenden,
aber nur zu oft undeutſchen und hohlklingenden
Paradeſprache, und Goethe, der weit entfernt
von dieſem Fehler iſt, hat in ſeinen Proſaroma¬
nen eine ſolche Menge glatter, hoͤfiſcher Wendun¬
gen bei der Hand, daß man oft nicht weiß, wie
man mit ihm daran iſt. Der Stil iſt der Menſch
ſelber, ſagt Buͤffon; und Jean Paul: wie jedes
Volk ſich in ſeiner Sprache, ſo malt jeder Autor
ſich in ſeinem Stil. Kraͤftigen, reinen und ſchoͤ¬
nen Stil wird kein Schriftſteller in unkraͤftiger,
unreiner und unſchoͤner Zeit erwerben, fuͤge ich
hinzu, denn der Schriftſteller iſt im hoͤhern Grad
als ein Anderer, oder vielleicht nur ſichtbarer, ein
Kind ſeiner Zeit. —
Doch dieſes ſind Gedanken, die wir ſpaͤter
noch weiter auszufuͤhren haben; fuͤr jetzt und zu¬
naͤchſt ſoll es nicht die Proſa, ſondern die Poeſie
der neuen Zeit ſein, an welche wir unſere Aeſthe¬
tik zu knuͤpfen gedenken.
Es iſt ein alter Satz, daß die Poeſie aͤlter
iſt, als die Proſa. Bewieſe es nicht die Ge¬
ſchichte der Menſchheit, ſo bewieſe es die Bil¬
dungsgeſchichte eines jeden Kindes, dem wir die
Fibel mit gereimten Spruͤchen und Sprichwoͤrtern
fuͤllen. Mit Recht. Die Poeſie gehoͤrt den Kin¬
dern, und was in uns kindlich geblieben iſt, ge¬
hoͤrt der Poeſie. Gebt mir eine friſche Kinder¬
freude, eine Seligkeit um nichts, eine thaufriſche
Anſchauung, einen von jenen lebhaften Eindruͤcken,
die keine Zeit verwiſcht, und deren der Greis ſich
noch am Stabe erinnert, alles das gehoͤrt der
Poeſie an. Jede Empfindung gehoͤrt der Poeſie
an, wenn ſie aus ihrem ordinairen Zuſtande ent¬
ruͤckt, reiner, friſcher, tiefer wird, ohne zu wiſ¬
ſen wie, ſo auch jeder Gedanke, deſſen Mutter
nicht grade das Einmaleins oder die logiſche For¬
mel des Widerſpruchs und des exclusi tertii iſt,
jeder Gedanke kann einen poetiſchen Koͤrper an¬
nehmen und aus der abſtrakten Luft in den gruͤ¬
nen Garten der Poeſie herabgezogen werden. Un¬
ſere Dichter treiben dergleichen Geſchaͤft als Kunſt,
den uralten Dichtern und den Kindern und dem
Volke iſt es Natur, ſo zu denken und zu fuͤhlen.
Ich will die Poeſie nicht definiren, es geht ihr
wie der Schoͤnheit und allem Beſten, was gott¬
lob den Definitionshaͤſchern zu hoch liegt, aber
wenn ich ſage: zieht von dieſem Menſchen, die¬
ſem Volke, dieſer Zeit das ab, was ihre Religion,
ihr Katechismus, ihr beſonderer geſchichtlicher Cha¬
rakter, ihr poſitiver Gehalt, ihre ſpezielle Weltan¬
ſchauung iſt, ſo bleibt jedem Menſchen, jedem Volk
eine Saite, die rein menſchlich oder rein goͤttlich
toͤnt, eine Saite, deren Klang und Ton alle
Menſchen verſtehen, und ſtaͤnden ſie auch Tau¬
ſende von Jahren auseinander, das iſt die Poeſie.
Grade dieſen Gedanken, dieſen Begriff der Poeſie
wuͤnſchte ich Ihnen recht lebhaft zur Aneignung
darzuſtellen. Die Poeſie iſt die Vermittlerin aller
Zeiten und Voͤlker, die Vermittlerin aller Men¬
ſchen, die Dolmetſcherin aller Gefuͤhle und Be¬
ſtrebungen, und ſie iſt es dadurch, daß ſie unmit¬
telbar aus dem Herzen dringt, aus jener uner¬
gruͤndlichen Tiefe, wo die Kraft neben der Leiden¬
ſchaft ſchlaͤft, aus jenem Kern des menſchlichen
Weſens, der, wenn er verwitterte, die ganze
Menſchheit in Staub zerfallen ließe. Nicht als
ob die Poeſie in ihrer Aeußerung bei dieſem, je¬
nem Volke, dieſem, jenem Menſchen keine perſoͤn¬
lichen, volksthuͤmlichen, charakteriſtiſchen Elemente
und Beiſaͤtze enthielte — es gibt eben ſo wenig
eine abſtrakte Poeſie, als uͤberhaupt etwas abſtrakt
Lebendiges — ſondern es hat die Poeſie vom Him¬
mel die Gabe empfangen, trotz ihrer beſchraͤnkt
geſchichtlichen Aeußerung, im Tiefſten das Rein¬
menſchliche, Allen Verſtaͤndliche, Allen bis zu
einem gewiſſen Grade Genießliche, fuͤr ewige Zeit
aufzubewahren; eine Gunſt, der ſich weder Philo¬
ſophie noch Religion zu ruͤhmen vermag. Wie
auch der Indier, der Chineſe denkt und handelt,
das mag uns ungereimt, unverſtaͤndlich vorkom¬
men, ſo daß wir uns eben ſo gut ein außer¬
menſchliches Weſen, einen Mondbuͤrger in ſeiner
Perſon imaginiren koͤnnen, aber er liebt, wie wir,
er haßt, wie wir, er hofft, er verzweifelt, er
jauchzt, er blutet, wie wir, und dieſe rein menſch¬
liche Empfindung macht ſich unwiderſtehlich Luft
aus der Maske ſeines geſchichtlichen Charakters
und erinnert uns an die Bande der Bruͤderſchaft,
die alle Menſchengeſchlechter mit einander verknuͤ¬
pfen. Leſen Sie das indiſche Gedicht Naal und
Damajanti — Vieles wird Ihnen fremdphanta¬
ſtiſch und Gewaͤchs der indiſchen Zone ſcheinen —
aber nicht die goͤttliche Liebe und Treue, welche
ſich darin verkoͤrpert. Leſen Sie den Tſchi-King,
das Liederbuch der Chineſen Dieſe Anfuͤhrung iſt aus Menzel's Literaturblatt.
, mit deſſen Ueber¬
ſetzung uns Ruͤckert ſein neueſtes Geſchenk ge¬
macht hat, und Sie werden hinter dieſer wunder¬
ſam geſchnoͤrkelten, ſteifen Schale des ſo ganz
eigenthuͤmlichen Volks den Kern des Reinmenſch¬
lichen bewahrt ſehen. In die Poeſie fluͤchtet ſich
das mißhandelte Herz, hier und hier allein war
es vom Prieſterzwange frei, der ſonſt das ganze
Leben und ſelbſt den Gedanken des Volkes be¬
herrſchte. Und darum hat der herrliche Ruͤckert
Recht, wenn er in der poetiſchen Einleitung
ſagt:
Ich fuͤhle, daß der Geiſt des Herrn,
Der redet in verſchiednen Zungen,
Hat Voͤlker, Zeiten nah und fern
Durchhaucht, durchleuchtet und durchſungen,
Ob etwas herber oder reifer,
Ob etwas reicher oder ſteifer —
Ihr ſeid Gewaͤchs aus einem Kern
Fuͤr meinen Liebeseifer.
Nicht iſt der Liebe Morgenroth
Von China's Mauer ausgeſchloſſen,
Auch dort liebt Liebe bis in Tod
Und treu bleibt Liebe, auch verſtoßen.
Und alle ſtarken Herzensbande
Um Kinder, Eltern und Verwandte
Und Vorfahr'n, aller Lebensnoth
Entruͤckt zum Goͤtterſtande.
Der Mutter, die uns Alle trug,
Der Erde pflegen ſie und warten,
Der Kaiſer ſelber lenkt den Pflug,
Und um ihn bluͤht des Reiches Garten.
Dann Landesnoth und Kriegesjammer,
Beweinte Braͤut' in oͤder Kammer,
Und Unmuth, der die Saiten ſchlug,
Heiligen Zorns Entflammer.
Und den letzten Vers ſchließt Ruͤckert mit den
tiefſinnigen Worten:
Daß ihr erkennt: Weltpoeſie
Allein iſt Weltverſoͤhnung.
Bleibe ich zum Schluß noch einige Augenblicke
bei dieſem neugewonnenen Liederſchatze ſtehen und
hebe eins derſelben heraus. Der bei weitem
groͤßte Theil derſelben enthaͤlt Reklamationen des
menſchlichen Gefuͤhls, Klagen und Proteſtationen,
gegenuͤber dem ſtrengen Geſetz oder der willkuͤhr¬
lichen Handhabung deſſelben. Nur der kleinſte
Theil derſelben iſt ſervil und weihraͤuchert dem
Kaiſer, der Regierung, den Sitten — im Ge¬
gentheil ſind manche ſogar gradezu revolutionair.
Es iſt der Schmerz und Ruf der Natur unter dem
Druck barbariſcher Geſetzkonſequenzen und als ſol¬
ches charakteriſirt ſich auch folgendes Lied eines
Eunuchen, der ſeinen Fluch ausſpricht uͤber den
Urheber ſeiner Schande, einen Verlaͤumder:
Der ſein Zungenſchwert gewetzet
Und zu Tod mich hat gehetzet,
Gebet ihn den ſcharfen Tatzen
Aller Leun und Tigerkatzen.
Wenn die Tiger und die Leuen
Sich ihn anzugreifen ſcheuen,
Bringet ihn hinauf nach Norden,
Gebt ihn den Barbarenhorden.
Wenn die nordiſchen Barbaren
Selber ihm das Leben ſparen,
Gebet ihn der Hoͤlle hin
Ihm zu thun nach meinem Sinn.
Ich Mong-Tſee, der dies Lied geſungen,
Bin ein Opfer von Verlaͤumdungen,
Im Pallaſt des Kaiſers ein Eunuch.
Die ihr hoͤret meinen Spruch,
Gebet ihm, dem es gelungen
Mich dazu zu machen, euren Fluch.
So weiß ſich ein chineſiſcher Eunuch in poe¬
tiſchem Zorn Luft zu ſchaffen, waͤhrend die gei¬
ſtigen Eunuchen unſerer ſchlaffen Zeit das Meſſer
kuͤſſen, das ſie geſchaͤndet hat.
Neunzehnte Vorleſung.
Vielerlei ſind der Sprachen, Zungen und Cha¬
raktere auf der Welt, die einander nicht verſtehen;
die Poeſie aber iſt die heilige Flammenzunge, die
aus Aller Herzen zu Aller Herzen ſpricht und je¬
den Menſchen mit ſuͤßem Verſtaͤndniß bewegt. Die
Poeſie iſt die Natur, die urſpruͤngliche Menſch¬
heit, die ſich mit jeder beſondern Erſcheinung der
Menſchheit auf dem Felde der Geſchichte gattet
und daher, ſo allgemein menſchlich ſie in ihrer
Quelle iſt, doch jedesmal einer beſondern Menſch¬
heit, einem gewiſſen Zeitalter eigenthuͤmlich an¬
gehoͤrt. Man kann daher mit Recht von einer
katholiſchen und griechiſchen Poeſie ſprechen,
von einer romantiſchen und klaſſiſchen, nur
wird man ſich huͤten, den Gegenſatz unmittelbar
in das Weſen der Poeſie ſelbſt zu ſetzen, die
Poeſie iſt nur die eine bei allen Voͤlkern, Zeiten
und Zuſtaͤnden, aber der Strahl dieſer einen
Sonne bricht ſich tauſendfach in der geiſtigen At¬
moſphaͤre und verurſacht dadurch ein buntes Far¬
benſpiel von Weltpoeſien, deren Verſtaͤndniß, nach
Ruͤckert's Ausdruck, allein zur Weltverſoͤhnung
fuͤhrt.
Die Geſchichte der Poeſie, dieſe Bluͤthe der
Geſchichte der Menſchheit, lehrt uns, daß jene
Gattung von Poeſie, welche man die epiſche
nennt, bei allen Voͤlkern die urſpruͤnglichſte und
aͤlteſte war. Fuͤr die griechiſche und indiſche Poe¬
ſie iſt dies außer allem Zweifel geſetzt; fuͤr die
roͤmiſche hat Niebuhr es wahrſcheinlich gemacht,
indem er die ganze ſogenannte aͤlteſte roͤmiſche
Geſchichte, wie ſie im Livius vorliegt, auf einen
dichteriſchen Sagenurſprung zuruͤckfuͤhrt und ſtellen¬
weiſe in den Buͤchern des Livius noch die alten
rythmiſchen Klaͤnge nachweiſt. Auch die deutſche
Poeſie verraͤth ihren epiſchen Urſprung, mag man
dieſen in die aͤlteſte Zeit des Auguſtus und der
Herrmannſchlachten oder in die ſpaͤtere der Voͤl¬
kerwanderung verſetzen. Von jener aͤlteſten iſt uns
allerdings kein einziges Denkmal uͤbrig geblieben,
allein die Nachrichten, die Tazitus in der Germa¬
nia uͤber die Poeſie der Deutſchen gibt und die
Erwaͤhnung altdeutſcher Heldenlieder, welche Karl
der Große zu ſammeln befahl, ſetzen es beinah
außer Zweifel, daß zur Zeit, als Virgil ſeine
kuͤnſtliche Aeneis ſchrieb, das geſchichtliche Lied von
den Thaten der Vorfahren, das Epos noch als
ein Naturgeſang in den Waͤldern Germaniens
wiederhallte. Noch zweifelloſer iſt die epiſche Na¬
tur der deutſchen Poeſie, die ſich aus der Voͤlker¬
wanderung entwickelt hat und worauf ſich unſere
heutige poetiſche Sprache, als auf ihre erſte er¬
ſichtliche Quelle zuruͤckfuͤhrt. Das Nibelungenlied
des 13. Jahrhunderts bildet die kuͤnſtleriſche Ver¬
einigung aller jener epiſchen Mythenſtrahlen, welche
ſeit dem 6. Jahrhundert einzeln den deutſchen
Himmel uͤberflogen, das Band der Rhapſodien,
welche bis dahin, gleich den homeriſchen, von
wandernden Saͤngern bei feſtlichen Gelegenheiten
einzeln vorgetragen wurden.
Fragen wir nach der Urſache, warum eben
die aͤlteſte Poeſie einen epiſchen Charakter trug,
warum ein Homer fruͤher kommen mußte, als ein
Sophokles? Ich denke, wir koͤnnen uns auf fol¬
gende Weiſe uͤber dieſe Erſcheinung verſtaͤndigen.
Je weiter man den erſten Anfaͤngen einer Volks¬
geſchichte nachgeht, deſto lebhafter wird man an¬
gereizt durch einen ſtehenden Charakterzug, der die
fruͤhere Menſchheit von der jetzigen unterſcheidet.
Man ſieht die Vorfahren und Stammvaͤter eines
jeden Volks weit mehr, als ihre Nachfolger und
Enkel, von einem gewiſſen einheitlichen Gefuͤhl
des Lebens durchdrungen, das ſich nicht allein auf
die Gegenwart erſtreckt, ſondern auf die Vergan¬
genheit zuruͤckwirkt und dieſe mit jener in unmit¬
telbare Verbindung ſetzt. Bei uns iſt es anders.
Wir reißen uns allerdings nicht vollkommen aus
der Verbindung mit der Vorzeit heraus, ſondern
unterhalten eine ſolche mittels der Geſchichte,
welche uns die fruͤhern Zuſtaͤnde pragmatiſch-kri¬
tiſch vor Augen fuͤhrt. Allein es verhaͤlt ſich das,
was wir Geſchichte nennen, zum Epos des Alter¬
thums wie ein friſch bluͤhender Baum zu einer
eingetrockneten Pflanze, die im Herbarium des
wiſſenſchaftlichen Naturforſchers liegt; oder, es ver¬
haͤlt ſich die Kunde, welche das Alterthum von
ſeiner Vergangenheit hatte, zu der Kunde, welche
die neue Zeit von fruͤheren Dingen nimmt, wie
die Praxis zur Theorie, wie die unmittelbare An¬
ſchauung zum lebloſen Bilde. Wir ſtudiren
die Geſchichte aus Buͤchern, der Eine weiß viel,
ein Anderer wenig oder nichts von dem, was vor
Zeiten in der Welt und im Vaterlande vorging,
wer aber ein Wiſſen davon hat, hat eben auch
nur ein ſolches Wiſſen, das ihm in ſeiner indiffe¬
renten Objectivitaͤt unendlich fern liegt vom wirk¬
lichen Leben, von ſeinen eignen Gefuͤhlen, Ueber¬
zeugungen und Anſchauungen. Der fruͤhere Menſch
aber identifizirt die Vorzeit mit der Vergangenheit,
er ſog die Vergangenheit ein mit der Mutter¬
milch, ſie war ihm ein integrirender Theil ſeines
Weſens und alle Erſcheinungen, Thaten, Gefuͤhle
derſelben blieben ihm ſo verſtaͤndlich, wie die Er¬
ſcheinungen, Thaten und Gefuͤhle der Gegenwart
ſelber. Was daher ein Dichter von der Gegen¬
wart ſang, das ſang er im gewiſſen Sinn auch
von der Vergangenheit, und umgekehrt, was er
der Vergangenheit Großes nachruͤhmte, davon
traf er die lebendigen Bilder in der Gegenwart.
Warum aber der Dichter am Liebſten die Thaten
der Vergangenheit darſtellte, mit denen dann die
Anſichten und Gefuͤhle der Gegenwart zuſammen¬
ſchmolzen, davon lag der Grund, wie es mir
ſcheint, in der volkseinheitlichen, unperſoͤnlichen
Richtung der Poeſie, welche den Dichter mit ſei¬
nen individuellen Anſichten von Zeitcharakteren und
Zeitereigniſſen ganz in den Hintergrund treten ließ
und ſtatt deſſen nur den vollen, ungetheilten Strom
der Volksſage in die Dichtung einleitete. Die
Poeſie verlangte eine gewiſſe Ferne, ein Laͤute¬
rungsfeuer der Zeit, um alle Privatvorurtheile
und Nichtigkeiten beſchraͤnkter Anſichten von ſich
abzuſcheiden, und nur die Stimme des Volkes,
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 16
Gottes Stimme walten zu laſſen. Der Dichter
ſang nicht ſich, ſondern dem Volk und den Vor¬
fahren zum Ruhm und daher ward auch weniger
der Dichter als das Gedicht unter dem Volk be¬
ruͤhmt, wie z. B. der Name des Dichters, dem
das Nibelungenlied ſeine jetzige Geſtalt verdankt,
gaͤnzlich unbekannt geblieben iſt, und wie ſelbſt
Homer allem Vermuthen nach, erſt in ſpaͤterer
Zeit ſeinen Ruf, ja ſeinen Namen erhalten hat.
Damit waͤre nun freilich das Vorwalten des
Epiſchen vor dem Lyriſchen hinlaͤnglich motivirt,
weniger aber das Zuruͤckſtehen und das ſpaͤtere
Hervortreten des Dramatiſchen. Warum iſt wie
das Lyriſche, ſo auch das Dramatiſche in aͤlteſter
Zeit nur ein Element des Epiſchen, ohne ſelbſt¬
ſtaͤndige Ausbildung, als Trauerſpiel oder Luſtſpiel?
Ich antworte, weil im Epos, wie uͤberhaupt in
der aͤlteſten Zeit die ganze ungetheilte Weltanſicht
vorherrſcht, weil ſich darin keine Kraft des Gei¬
ſtes iſolirt, ſondern Empfinden, Wiſſen, Handeln
harmoniſch zuſammenwirkt. In der Lyrik iſt die
Empfindung, im Drama die That, oder vielmehr
das Leiden der Perſoͤnlichkeit uͤberwiegend, im
Epos aber tritt Beides in die gehoͤrige Schranke
zuruͤck, in den Kreis, welcher der Erzaͤhlung gleich¬
ſam durch den Stab des Rhapſoden um die Dich¬
tung gezogen wird. Das Drama ſondert einen
Helden, eine Begebenheit aus dem Kreiſe der
Helden und Begebenheiten ab, und gibt dadurch
der einzelnen Darſtellung eine uͤberwiegende Wich¬
tigkeit; das Epos laͤßt den Helden, ſeine Leiden
und Thaten nur in einer ganzen Welt von Hel¬
den und Thaten zur Erſcheinung kommen. Das
Epos iſt ſeiner Natur nach unendlich, wie die
Geſchichte, das Drama hingegen begrenzt, wenn
auch nicht mit innerer Nothwendigkeit ſo enge,
daß eines Tages Sonne uͤber den Helden auf-
und untergehen muͤßte. Es kommt hinzu, daß
nach Goethe's Bemerkung das epiſche Gedicht
vorzuͤglich den außer ſich wirkenden Menſchen
darſtellt, Schlachten, Stuͤrme, Reiſen, jede Art
von Unternehmungen, die eine ſinnliche Breite er¬
fordern, das dramatiſche Gedicht aber mehr den
nach Innen gefuͤhrten Menſchen, daher
auch dieſes ſich in wenig Raum und Zeit zuſam¬
mendraͤngen laͤßt, ja wenn es echter Natur iſt
und ſtreng in ſeinem Charakter gehalten wird, nur
wenig Ortsveraͤnderungen und Zeitraͤume bedarf.
Auch dieſes lag gaͤnzlich in der Gemuͤthsart des
Alterthums, es mußte den aͤußeren Beſtand, das
Objekt der gemeinſamen Anſchauung, die That
als den Vereinigungspunkt aller Meinungen uͤber¬
wiegend darſtellen, und daher war eben jene alte
Poeſie, die epiſche, ein Gemeingut der ganzen
16 *
Nation, im hoͤhern Grade, als es je die lyriſche
und dramatiſche werden konnte. Waͤhrend naͤm¬
lich das Drama, die Ode auf einen einzigen Dra¬
men- und Odendichter als Verfaſſer zuruͤckweiſt,
hatte das Epos eine ganze Nation von Dichtern
aufzuweiſen, wo keiner der Vorſaͤnger ſo kuͤhn ſein
konnte, ſich allein mit dem Lorbeer zu ſchmuͤcken,
der Allen gebuͤhrte.
Indem ich auf dieſe Weiſe verſucht habe,
den Grund dafuͤr anzugeben, warum das Epos
die aͤlteſte Gattung der Poeſie ſei, habe ich zu¬
gleich den Grund mit beruͤhrt, warum die ſpaͤtere
Zeit nicht mehr im Stande ſei, ein echtes Epos
zu ſchaffen. Der Verſuche freilich ſind bis auf
die neueſte Zeit ſehr viele, noch vor einigen Jah¬
ren hat ein Landsmann von uns, der Buͤrgermei¬
ſter Lindenhan, ein großes, epiſches Gedicht unter
dem Namen Malta in die Welt geſchickt, wo
es aber nicht ſehr weit hingekommen zu ſein
ſcheint. Selbſt ein bedeutenderes, ja das bedeu¬
tendſte dichteriſche Talent muß nothwendig an der
Aufgabe ſcheitern, mit der Iliade oder den Nibe¬
lungen in die Schranken zu treten. Ich erwaͤhne
der Aeneide des Virgil nicht, denn ſie iſt eben nur
einer dieſer verfehlten Verſuche, durch willkuͤhrlichen
Entſchluß und mit perſoͤnlichem Talent die innere
organiſche Nothwendigkeit einer Volksdichtung nach¬
zuahmen. Ein Epos im modernen Sinn, konzi¬
pirt von dem und dem namhaften Verfaſſer, iſt
ſeinem Charakter nach das grade Widerſpiel vom
alten echten Epos, und die Strafe, ſich an die¬
ſem verſuͤndigt zu haben, folgt den Verfaſſern ge¬
woͤhnlich auf dem Fuße nach, indem ihr will¬
kuͤhrliches Machwerk keine Seele erwaͤrmt und be¬
geiſtert, ſondern herzliche Langeweile erregt, wenn
auch ganze Zeiten und gewiſſe Menſchen bemuͤht
ſind, ſich, zu Ehren der epiſchen, vaterlaͤndiſchen
Muſe, daruͤber in Selbſttaͤuſchung zu erhalten.
Noch vor einigen und dreißig Jahren mußte jeder
patriotiſche Deutſche den Namen des Klopſtockiſchen
Meſſias ſchimpfshalber mit einiger Entzuͤckung aus¬
ſprechen, mochte er den Meſſias geleſen haben oder
nicht; gegenwaͤrtig, wo vielleicht kein Menſch in
Deutſchland lebt, der ſich der vollſtaͤndigen Durch¬
leſung der Meſſiade beruͤhmen kann, iſt es er¬
laubt, bei aller Achtung fuͤr die rieſenhafte Arbeit
eines abſtrakten Dichtergenius, ſich deſſen nicht zu
ſchaͤmen und jeder Anmuthung der Art durch ſchla¬
gende Gruͤnde zu begegnen. Es iſt ausgemacht,
daß jedes epiſche Gedicht neuerer Zeit, je laͤnger
es gerieth, deſto langweiliger gerathen iſt, und daß
nur die beſondere romantiſch-katholiſche Natur der
Comoedia divina des Arioſt's und des befreiten
Jeruſalems von Taſſo, dieſen epiſchen Gedichten
einen Kreis gebildeter Leſer erhalten hat und er¬
halten wird. Das Epos aber kann die Laͤnge und
Ausfuͤhrlichkeit gar nicht vermeiden, denn ſie ſind
ihm, wie ſchon bemerkt, weſentlich charakteriſtiſch,
mag der Dichter ſich nun durch zwoͤlf, oder gar
durch vierundzwanzig Geſaͤnge hindurchſchlagen.
Dieſe Erbſuͤnde des modernen Epos: Langweilig¬
keit, entſprungen aus noͤthiger Laͤnge, hat Jean
Paul ſehr humoriſtiſch dargeſtellt im folgenden
Abſchnitt, der der Mittheilung bei dieſer Gelegen¬
heit vorzuͤglich werth iſt.
Zwanzigſte Vorleſung.
Die Zeiten des Epos ſind voruͤber, an die Stelle
des Epikers iſt der Romandichter getreten, der mit
Entaͤußerung der epiſchen Maſchinerie und des
Rythmus ſich im allerfreieſten Element bewegt
und den in moderne Proſa, moderne Geſinnung
uͤberpflanzten Epiker darſtellt. Wir laſſen aber die
Charakteriſtik des Romans nicht unmittelbar auf
das Epos folgen, ſondern behalten uns dieſelbe
fuͤr die Darſtellung der Proſa vor.
Das Drama, deſſen wir ſchon im Gegenſatz
des Epos erwaͤhnt haben, ging einſt unmittelbar,
wie alle echte Poeſie, aus dem Schooß des Volks,
des nationellen Geiſtes, der nationellen Sitte her¬
vor. Wie in Griechenland, ſo im Mittelalter ent¬
ſprangen die erſten dramatiſchen Vorſtellungen aus
religioͤſen Faſchings und gaben daher hier wie dort
religioͤs-mythologiſche Handlungen zum Beſten,
anfangs rein mimiſch, monologiſch, in der Folge
dialogiſch, bis ſich auch ihr Gegenſtand und In¬
halt veraͤnderte und an die Stelle der Goͤtter oder
Heiligen, Koͤnige und Helden traten. Dies iſt
die allgemeine aͤußere Geſchichte des Drama; allein
jede Nation hat ihre eigene. Das griechiſche be¬
wahrte viel von ſeinem mythologiſchen Charakter
und ließ Goͤtter und Goͤttinnen noch in ſpaͤteſter
Zeit perſoͤnlich auf der Buͤhne erſcheinen; das
ſpaniſche entwickelte ſich durchaus religioͤs und ka¬
tholiſch-phantaſtiſch; das engliſche ſchwang ſich zu¬
erſt zu reinmenſchlicher, politiſcher Hoͤhe hinauf,
waͤhrend das franzoͤſiſche ein à la français zuge¬
ſchnittenes griechiſches blieb und die deutſche nach¬
ahmend mit dem engliſchen und griechiſchen wett¬
eiferte. Mit Nachahmung engliſcher Stuͤcke machte
man unter uns den Anfang, Gryphius und an¬
dere Dichter des 17. Jahrhunderts haben Vieles
nur ſo vor der Hand uͤberſetzt, man ſtoͤßt in ihren
Stuͤcken ſehr oft auf guten engliſchen Humor, der
den Deutſchen in damaliger Zeit ganz ausgegan¬
gen zu ſein ſchien. Das erſte Drama von Be¬
deutung, das ein Jahrhundert ſpaͤter aus dem
Studium der engliſchen Buͤhne, zumal aber aus
der Bewunderung des Shakſpeare entſprang, war
Goethe's Goͤtz von Berlichingen, nach welchem
einzigen Schauſpiel die ungeheure Fluth der Rit¬
terromane ſich erhob, wie nach Schiller's erſtem
Produkt, den Raͤubern, die eben ſo ſtarke Litera¬
tur der Raͤuberromane Deutſchland uͤberſchwemmte.
Goethe's, des Dramendichters Wuͤrdigung, Goe¬
the's Bedeutung fuͤr ſeine Zeit iſt es nun beſon¬
ders, was ich mir in dieſem Abſchnitt zur Aufgabe
ſetze, der vom deutſchen Drama handelt: nicht
vom Drama uͤberhaupt, noch von Voͤlkerdramen
im Allgemeinen, noch einmal vom deutſchen
Drama, als von einem Stuͤck und Fachwerk der
ſchoͤnen deutſchen Literatur, ſondern vom deutſchen
Drama, das nicht mehr iſt, das mit Schiller und
Goethe zu den Schatten hinabgeſtiegen iſt, das
mit Schiller, vornaͤmlich aber mit Goethe einer
Zeit angehoͤrt, der wir nicht mehr angehoͤren koͤn¬
nen, noch wollen. Wer klagt nicht uͤber den
Tod des Schoͤnen auf der Erde, uͤber den Hin¬
gang vorleuchtender großer Koͤpfe, uͤber die Sel¬
tenheit, daß ſolche Verluſte bald durch aͤquivalente
Anlagen erſetzt werden, wer klagt nicht daruͤber,
daß Deutſchland keinen Schiller mehr hat, oder
daß Goethe nicht ewige Jugend zu Theil wurde?
Wie willig ſtimme ich dieſer Trauer bei, die ich
nur zu gerecht finde, da unſere dramatiſche Buͤhne
heutiges Tags veroͤdet iſt und ein Raupach, ein
Immermann ſtatt Schiller's und Goethe's auf
dem deutſchen Kothurn einherſtolziren. Allein man
wuͤrde dieſen Verluſt nicht gehoͤrig wuͤrdigen, wenn
man glaubte, es ſei wuͤnſchenswerth oder uͤber¬
haupt nur moͤglich, daß die kreiſende Zeit uns
einen andern Schiller und Goethe gebaͤre. Und
hatten wir auch Dichter, ſo groß wie dieſe, wir
hatten damit noch keine Schiller'ſche und Goethe¬
ſche Dramen. Zu jeder angebornen Kraft, die
ſich naturgemaͤß aͤußern ſoll, gehoͤrt zweierlei, ein
Raum, worauf ſie wirkt, eine Feder, die ſie ſprin¬
gen laͤßt. Beides fehlt in Deutſchland dem Dra¬
mendichter. Jener rein poetiſche Schwung, der
die Koͤpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff
und ſie erſt bei der Befreiung Deutſchlands und
dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der
Geſchichte der Poeſie einzig in ſeiner Art, durch¬
aus ohne Beiſpiel, wenn man nicht ungehoͤriger
Weiſe das Auguſteiſche Zeitalter damit vergleichen
wollte, das allerdings eine pilzartig ſchnell auf¬
wachſende Literatur aufzuweiſen hat, die auf frem¬
dem griechiſchen Boden entſproſſen, mit keinem
Lebensgeflecht des alten Roms zuſammenhing, die
aber ſich doch eines nationalen Sonnenſcheins er¬
freute, indem Rom, obgleich beherrſcht, Herrſche¬
rin des Erdbodens war. Deutſchland hingegen
fand ſich in Goethe's Jugend und Mannsalter in
dem aufgeloͤſteſtem Zuſtande, es war in ſeinem
politiſchen Vermoͤgen nach innen und außen para¬
lyſirt, ohne Anregung durch Siege oder Niederla¬
gen, die den Blick poetiſch zu erweitern im
Stande geweſen, in welche Kategorie gewiß der
ſiebenjaͤhrige Krieg nicht gehoͤrt, wie man an
Gleim, Ramler, Kleiſt, den Dichtern deſſelben,
zur Genuͤge erſieht. Es war jene Zeit fuͤr Deutſch¬
land, in der man durchaus nichts that, nichts
thun wollte, in der die Toͤchter der That, oder der
Begeiſtrung fuͤr die That, die Dramen geboren
wurden. Zu andern Zeiten und bei andern Na¬
tionen fachte der dramatiſche Dichter das Feuer
ſeines Genies an durch den friſchen begeiſternden
Athem, der durch die Gegenwart ging, das Volk
ſpielte ſein Drama erſt ſelber auf dem Markt, ehe
der Dichter es auf die Breter brachte; der Schwung
der Geſinnung, die Groͤße der Ideen und Schick¬
ſale lag in der Zeit, nicht nur im Hirn und Bu¬
ſen des Dichters. Allein gegen das Ende des 18.
Jahrhunderts ſchien es in Deutſchland, als ob die
Poeſie ſich abgeloͤſt haͤtte von ihrem Stamm, als
ob ſie ein ideelles Leben fuͤr ſich beginnen wolle,
ohne Gemeinſchaft mit dem wirklichen. Ein Jahr¬
hundert, das von Rechtswegen aller Poeſie und
aller Poeten baar und ledig haͤtte ſein ſollen, war
poeſie- und poetenreich, Dichter ſchoſſen an Dich¬
tern empor und uͤberragend bluͤhten zwei maͤchtige
Haͤupter mit den glaͤnzendſten Lorbeeren. Der
Eine von ihnen, Schiller, hat ſich ſein ganzes
Leben hindurch in dieſer ideellen Richtung be¬
hauptet. Geht man die ſchimmernde Reihe ſeiner
Trauerſpiele durch, ſo findet man, die allererſten
vielleicht ausgenommen, darin keine Spur, zu
welcher Zeit dieſelben entſtanden, oder vor wel¬
chem Publicum dieſelben aufgefuͤhrt, es ſind Kunſt¬
dramen oder vielmehr es ſind keine Dramen, ſon¬
dern die Dramatik ſelbſt, von bald abſtrakten, bald
hiſtoriſchen Perſonen aufgefuͤhrt. Kann man nun
wirklich behaupten, daß der Charakter der ganzen
Zeit dieſelbe ideelle Richtung theilte, ſich in Ab¬
ſtraktion und Hiſtorie vertiefte und die verfluͤchtigte
Gegenwart und das leere fade Leben nicht daruͤber
anſchlug, ſo mag wohl Schiller eher, denn Goe¬
the, als dramatiſcher Repraͤſentant ſeiner Zeit auf¬
geſtellt werden. Allein beobachten wir einen Umſtand,
eine Verſchiedenheit in beiden Produktionen mit gehoͤ¬
riger Schaͤrfe, ſo ſind wir, wie es ſcheint, nicht auf¬
gelegt, dieſe Meinung zu beſtaͤtigen. Es gibt keine
Succeſſion in Schiller's Werken, keine andere,
als die immer durchdachter und ſelbſtbewußter wer¬
dende Kunſt. Seine Dramen zeigen auf der einen
Seite keinen innern Zuſammenhang, keine orga¬
niſche Einheit, keine durchlebte Geſchichte von An¬
ſichten und Gemuͤthsſtimmungen, auf der andern
Seite nach außen hin keinen Zuſammenhang mit
den Gemuͤthsſtimmungen und Anſichten ſeiner Zeit¬
genoſſen. Dies iſt der Fall bei Goethe und dieſe
Wahrnehmung berechtigt uns, eher Goethe denn
Schiller als Repraͤſentanten ſeiner Zeit zu betrach¬
ten. Ziehen wir zuerſt das beruͤhrte aͤußere Ver¬
haͤltniß in Erwaͤgung, ſo finden wir, daß Goe¬
the's dramatiſche Meiſterwerke, eben ſo wie deſ¬
ſen Romane und Gedichte, mit der Zeit im in¬
nigſten Zuſammenhang ſtanden, in ſo fern ſie
eine Idee, eine Stimmung der Zeit (die ſich frei¬
lich zuletzt immer ins Abſtrakte oder Philiſterhafte,
oder Laͤcherliche verlor), poetiſch, kraͤftig ausſpra¬
chen und fuͤr einen gewiſſen Zeitraum im Publi¬
kum allgemein machten. Goethe's Berlichingen,
Egmont, Fauſt, Meiſter und andere Dramen und
Romane verrathen die Zeit ihrer Entſtehung, und
ihre Schoͤpfung diente Goethe meiſtens als dich¬
teriſches Beduͤrfniß, ſein Gemuͤth von einſeitig
heftigen Inklinationen zu befreien und ihm die
verlorne poetiſche Freiheit wiederzugeben. Denſel¬
ben geſchichtlichen Charakter findet man darum
auch in perſoͤnlicher Beziehung darin. Goethe's
Werke und Dramen waren er ſelbſt zu irgend einer
Zeit ſeines Lebens, als Juͤngling, Mann, Greis,
als Ritter, Weltmann, Verliebter u. ſ. w. Je¬
der Deutſche, darf ich ferner behaupten, konnte
ſich fuͤr ſeine einzelne Perſon in dieſen Werken
ſpiegeln, ſeine Bildung ging denſelben Gang, wie
die Goetheſche. Noch vor zehn, zwanzig Jahren,
vielleicht noch gegenwaͤrtig in der uͤberwiegenden
Mehrheit, konnte man den Gang der Goetheſchen
Werke, in dem etwas ſeit der Zeit, daß ſie ge¬
ſchrieben, beſchleunigten und zuſammengedraͤngten
Leben und Bildungslauf eines Deutſchen ſtudiren.
Was am Ende des vorigen Jahrhunderts ſich ſuc¬
ceſſiver in Perioden von laͤngerer Dauer auf ein¬
ander folgte, das ging nun eben ſo ſucceſſive in
Perioden von kuͤrzerer Dauer vor ſich. Jener
Zeit in Deutſchland, als der Werther gedichtet
wurde, als naͤmlich eine unbeſtimmte, ſchmach¬
tende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte
Sehnſucht ſich der jugendlichen Gemuͤther bemaͤch¬
tigt hatte, entſprach und entſpricht der Zuſtand
eines Schuͤlers, Primaners, der voll Sehnſucht
und voll Hoffnungen ſteckt, ohne ſo recht eigent¬
lich das Objekt dieſer Sehnſucht zu kennen, und
ohne zu wiſſen, was er wuͤnſcht. Jener andern
Zeit, als der Goͤtz von Berlichingen die uͤbermuͤ¬
thige, ritterliche Kraftperiode der deutſchen Litera¬
tur ausdruͤckte und repraͤſentirte, entſprach wieder
jenes Stadium im Leben eines jungen Deutſchen,
wo er auf Univerſitaͤten ſich erſt zurechtfand, die
Sporen klingen ließ, den Flammberg ſchwang,
etwas alterthuͤmlich und ritterlich renommirte, und
wenn es ihm wohl ward, das ſchoͤnſte Gefuͤhl in
ſich, die angeborne Sehnſucht auf etwas Beſtimm¬
tes, auf das kuͤnftige Vaterland zu fixiren kam.
Der Zeit hingegen, als Goethe jene groͤßere Zahl
von dramatiſchen und romantiſchen Gedichten ſchrieb,
wo die Liebe zu einem Maͤdchen die Hauptrolle
ſpielt, entſpricht dieſelbe Periode im Leben eines
Deutſchen, die auf die ritterliche folgt, wo der
eiſerne Goͤtz in Splittern zerſpringt und ſtatt deſ¬
ſen ein ſchmachtender, ſanfter Liebhaber zum Vor¬
ſchein kommt, der uͤber ſein Maͤdchen Welt und
Vaterland vergißt. Was aber die groͤßte und
letzte Reihe der Produkte Goethe's betrifft, dieſe
Romane und Dramen, welche das Philiſterthum,
das vornehme, wie das gemeinbuͤrgerliche nicht
allein ertraͤglich und behaglich, ſondern auch poe¬
tiſch finden, ſo entſprechen ſie dem Deutſchen, der
Ehemann geworden, ein Amt, Ehre und Titel
bekommen hat und der mit einer gewiſſen vorneh¬
men Ironie auf die Schwaͤrmereien ſeiner Ju¬
gend, auf Sehnſucht, Ritterthum, Vaterland,
Jugendleben zuruͤckblickt, des Tags bei den Akten
ſchwitzt, des Abends eine Partie L'hombre ſpielt
und beim zu Bette gehen den Tag im Kalender
durchſtreicht, den er als ehrlicher Gatte und Staats¬
buͤrger durchlebt hat. So gleichen die Goetheſchen
Schriften, beſonders ſeine Dramen, ihm ſelbſt
und ſeiner Zeit; ſo wuͤrden ſie jeder Zeit geglichen
haben, in welche Goethe hineingeboren waͤre;
ſelbſt der groͤßten, von welcher nur die Geſchichte
meldet. Das aber iſt das Kennzeichen des echten
Dramatikers, wie jedes großen Dichters, daß er
der Zeit ein Spiegel iſt, worin ſie ſich ſelbſt er¬
kennen mag. Wie und warum dieſes nicht vom
Fauſt gelten koͤnne, verdient eine beſondere Be¬
trachtung, welche ich der naͤchſten Vorleſung auf¬
ſpare.
Einundzwanzigſte Vorleſung.
Wir haben in der vorigen Stunde die mancher¬
lei Phaſen des Goetheſchen Geiſtes durchlaufen, die
Erſcheinung des Fauſts aber als eine zu ſingulaire
bezeichnet, um nicht aus der Reihe der uͤbrigen her¬
vorzuragen. Doch, ſo mannigfach und vielſeitig
auch das Goetheſche Leben und die ſeinem Leben
entſprechenden Dramen und Gedichte ſind, ſo laſ¬
ſen ſich doch zwei große Partien und Abſchnitte
deſſelben unterſcheiden, die den Hauptcharakter der
zu ihnen gehoͤrigen dichteriſchen Produkte unver¬
kennlich an ſich tragen, Goethe's Jugend und
Goethe's Alter, die Jugend und das Alter ſeiner
Zeitgenoſſen, ſeiner Zeit. In ſeiner Jugend dich¬
tete er jene unſterblichen Dramen, die wie ein
Feuerguß aus ſeinem Genie, aus ſeinem Herzen
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 17
ſtroͤmten und die Nation mit der ganzen Friſche
der Genialitaͤt, mit dem Zauber der Sympathie
ergriffen und in Begeiſtrung ſetzten, den lyriſchen
Werther, den ritterlichen Goͤtz, den Egmont, den
Fauſt. Denken Sie ſich einen Augenblick lebhaft
in jene Zeit zuruͤck, als Goethe's Name ſich zu¬
erſt dem Klopſtock'ſchen anreihte, als Goethe an¬
fing, der Liebling der Deutſchen zu werden und
Niemand noch die Bahn berechnen konnte, welche
ſein Geiſt in der Literatur beſchreiben wuͤrde.
Der große Fritz hatte ein kriegeriſches Feuer in
der Jugend angefacht, und waͤhrend er, nach Be¬
endigung des ſiebenjaͤhrigen Krieges, wieder ruhig
ſeine preußiſchen Wachtparaden in Potsdam hielt,
eroͤffnete Klopſtock die Buͤhne des deutſchen Ruhms
in den Weſergebirgen, und fuͤhrte den Deutſchen
eine Zeit ins Gedaͤchtniß zuruͤck, wo die furcht¬
barſte Macht der Erde an der Kraft und dem
Freiheitsgefuͤhl ihrer Vorfahren zerbrochen und ge¬
ſcheitert war. Klopſtock beſang den Untergang des
Varus und ſeiner Legionen, den Triumph der
Germanen, den blut- und ſtaubbedeckten Herrmann
mit der Affektation des Enthuſiasmus eines alten
heidniſchen Barden, der eben ſein Schwert vom
Blute der Schlacht gereinigt hat und nun in die
Harfe greift, um zugleich ein Saͤnger und ein
Held den Ruhm ſeiner Nation zu verkuͤnden.
Daß kein Deutſcher mehr von der Varusſchlacht
wußte, daß alle jene gefeierten Namen, Herr¬
mann, Thusnelda kein lebendiges Erbgut der Na¬
tion waren, ſondern aus lateiniſchen Buͤchern zur
Kunde der Gelehrten gelangten, das that dem neuen
Barden keinen Eintrag, Herrmann war nun ein¬
mal ſein Held, der Held ſeines Patriotismus,
waͤhrend Chriſtus, als der Held ſeiner Religioſitaͤt,
ihm friedlich und weltverſoͤhnend aus dem Schooße
der Gottheit hervortrat, und der blos menſchlichen
Kraft, dem heidniſchen Heldenthum, dem Blut¬
vergießen, Freiheitsdrange, der Vaterlandsliebe,
die nicht das himmliſche Vaterland vor Augen
hat, den Stab brach. Wie aber die Namen eines
Herrmann und Chriſtus dem Dichter Klopſtock
mit gleicher Begeiſterung von den Lippen toͤnen
konnten, begreift Niemand, der nicht die ganz
beſondere Art der Begeiſterung erwaͤgt, welche
Klopſtock's und ſeiner Zeit Muſe war. Unſtreitig
hatte ſie viel Gemachtes und Pedantiſches, aber
ſelbſt der gemachten Begeiſterung liegt ein Beduͤrf¬
niß des Herzens zu Grunde, das nur nicht, aus
eigner oder fremder Schuld, auf naturgemaͤßem
Wege befriedigt wird. Billigerweiſe zwar haͤtte
jene Zeit keine Spur von Begeiſterung verrathen
duͤrfen, denn der ſiebenjaͤhrige Krieg war ein
Schandfleck fuͤr die Deutſchen und je mehr ſich
17 *
ein Name, der des großen Friedrichs, durch Tha¬
ten und Siege unter den Deutſchen erhoben
hatte, deſto tiefer druͤckte das Gewicht dieſes Na¬
mens das deutſche Reich, das ganze alte Deutſch¬
land in den Staub der Veraͤchtlichkeit nieder. —
Preußen, jenes ſlaviſche Preußen, jene unbedeu¬
tende, fuͤr ſo und ſo viel Silberlinge gekaufte
Mark des deutſchen Reiches hatte ſich ſiegreich er¬
hoben uͤber den Kern des alten Deutſchlands, das
Haus Brandenburg ſtellte ſich in politiſcher Be¬
deutſamkeit dem Hauſe Habsburg, das eben ſo
weit außer dem Herzen Deutſchlands lag und dem
es ſchon vor Alters gegluͤckt war, die Kraft des
Reiches aus ſeinem Zentrum, Franken, Schwa¬
ben, Sachſen, herauszudraͤngen und den Heerd unſe¬
rer Freiheit Slavenhaͤnden anzuvertrauen, entgegen.
Durch das Uebergewicht Preußens war Deutſch¬
land ganz verloren, denn dieſe zerſtuͤckten Laͤnd¬
chen, die von der Donau bis zur Eider im Kern
von Deutſchland ſich hinziehen, waren ſchlecht ge¬
eignet, jenen konzentrirten Maͤchten auf der Flanke,
auf dem Fluͤgel, der nach den Waͤldern und Step¬
pen der Barbaren hinzieht, das gehoͤrige Gleich¬
gewicht zu halten. Und das Alles hatten die
Deutſchen ſelbſt verſchuldet, zu dieſem Allen hat¬
ten ſie freiwillig ihre Arme, ihre Waffen, ihre
Talente, ja ihre Begeiſterung hergegeben, und nur
durch ihre eigene Mitwirkung hatte das ſlaviſche
Element das freie deutſche allmaͤhlig in Feſſeln
gelegt, was ſonſt, nach der Natur beider Voͤlker¬
ſchaften, ein Ding der Unmoͤglichkeit war. Jener
Rudolph von Habsburg, jener Burggraf von Nuͤrn¬
berg, jener Friedrich der Große waren vom deut¬
ſchen Blut, alle Siege und Vortheile, die ſie
uͤber Deutſchland gewannen, wurden errungen und
behauptet durch deutſche Maͤnner, die ſich ihrem
Dienſt widmeten und denen gewiß nicht die ganze
Gefahr vor Augen ſchwebte, die ihr Vaterland
bedrohte. Dieſelbe Blindheit zeigte die ganze Na¬
tion zur Zeit des ſiebenjaͤhrigen Krieges, ſie be¬
wunderte Friedrichs Genie und in der Bewunde¬
rung ſeiner Perſon, ſeines Gluͤcks, dachte ſie nicht
daran, daß ſie ſelbſt eine große moraliſche Perſon
ausmache, gegen welche die Perſoͤnlichkeit eines
Fuͤrſten, eines einzelnen Mannes verbleichen und
verſchwinden muͤſſe, ſie trug in ihrem Eifer ihm
die Truͤmmer des kaiſerlichen Zepters und des
Reichsapfels entgegen, ſie ließ ſich ſchlagen, ver¬
ſpotten und jubelte uͤber die Schlacht von Ro߬
bach, wo der groͤßte Theil des Heeres nicht aus
Franzoſen, ſondern aus deutſchen Reichstruppen
beſtand. Sancta simplicitas und doch — ich be¬
greife dieſe Deutſche und will nicht verſchwoͤren,
daß Jeder von uns zu der Zeit ein Preußen¬
gaͤnger, ein Enthuſiaſt fuͤr Friedrichs Siege und
Eroberungen geweſen, ſo gut, wie Vater Gleim
und der Fruͤhlingsſaͤnger Kleiſt. Ich weiß nicht,
wer es geſagt hat, aber es iſt wahr, es liegt eine
Ader in der menſchlichen Natur, die muß bewun¬
dern und anbeten. Ich glaube, der Deutſche hat
am meiſten von dieſer Art, es iſt ihm von jeher
ein Beduͤrfniß des Herzens geweſen, große, ent¬
ſchiedene, machtvolle, Reſignation, Unterwuͤrfig¬
keit gebietende Perſoͤnlichkeiten lebhaft zu verehren,
kindlich-fromm unter die Heiligen ſeines Gemuͤths
aufzunehmen. Wer wollte dieſen Zug verdammen,
gehoͤrt er doch mit zu den ſchoͤnen, leider nur zu
ſehr geſchwaͤchten und entſtellten Zuͤgen unſeres
Nationalcharakters, wie die Geſchichte uns denſel¬
ben vor Augen fuͤhrt. Das Thier bewundert den
Menſchen nicht, aber der Menſch den Engel, den
Gott. In der Bewunderung eines uͤber uns er¬
habenen Weſens liegt etwas vom Stoff jener Er¬
habenheit, die wir bewundern, etwas Heroiſches,
was der Knechtsſinn nicht ahnt, der nur mit huͤn¬
diſcher Natur die Macht anwedelt, deren Ueberle¬
genheit ihm Pruͤgel und Eſſen verſchafft. Wir
entaͤußern uns, nicht aus Furcht oder Intereſſe,
ſondern freiwillig unſeres kleinen Ichs, um be¬
ſcheidentlich ein groͤßeres Ich in uns walten zu
laſſen, wir fuͤhlen die Naͤhe eines goͤttlichen Daͤ¬
mons, und eben darum, weil wir im Stande
ſind, ſie zu fuͤhlen, entſagen wir dem nichtigen
Kampf der Eitelkeit und verſchreiben und ergeben
uns ihm, um unſere Bruſt mit einem Gefuͤhl
anzuſchwellen, das uns gluͤcklicher, gewiſſer und
ſtaͤrker macht, als das Gefuͤhl unſerer eignen Exi¬
ſtenz, entbloͤßt und nackt von jener Magie des
fremden Willens. Dies iſt wahr und gereicht uns
zur Ehre, allein wir muͤſſen eingeſtehen, daß die
Rezeptivitaͤt fuͤr die Groͤße einer Perſoͤnlichkeit in
uns ſich theils nicht immer nach der geiſtigen
Groͤße der Perſon, ſondern oft nur nach ihrer
aͤußern, angebornen richte, theils und uͤberhaupt
abhaͤngig ſei von dem mehr oder minder ent¬
ſchiedenen und thaͤtigen Zuſtand unſerer
Seele, ſo daß wir, wenn wir ſelbſt am Entſchloſ¬
ſenſten und Thaͤtigſten ſind, uns in dem Maaß
am Wenigſten aufgelegt fuͤhlen, in einem blos
paſſiven und bewundernden Zuſtand uͤberzugehen.
Dieſer Zuſtand der Entſchloſſenheit und Thaͤtigkeit
der Kraft des Selbſtbewußtſeins mangelte aber
durchaus dem Deutſchland, das Klopſtock's Alter
und Goethe's Jugend ſah. Deutſchland war ſo
lange veroͤdet geweſen an Helden und Dichtern,
da erſchien Friedrich und Klopſtock und die Deut¬
ſchen gaben ſich unbedingt dem Zuge ihres Her¬
zens hin, fuͤllten ihre Phantaſie mit den Bildern
der Groͤße, des Krieges, mit dem Heros des Ta¬
ges und der Vorzeit, mit Friedrich und Herrmann
und mitten im Kriegsgetuͤmmel, im wirklichen oder
nachhallenden Donner der preußiſchen Kanonen,
und dem nur eingebildeten Schwirren der Cherus¬
ker-Lanzen und dem Gebraus der Bardenlieder
horchte eine ausgewaͤhltere, ſtillere Schaar auf die
Toͤne der Zionsharfe, welche „der ſuͤndigen
Menſchen Erloͤſung“ ſang. Dies war die Zeit,
in welcher Goethe auftrat, die Zeit, in welche die
erſte Klaſſe ſeiner Produkte fiel, die durch einen
charakteriſtiſchen Grundzug von der zweiten Haͤlfte
abgeſondert iſt.
Goethe beſang weder den ſiebenjaͤhrigen Krieg
noch ſtimmte er in die Barditen Klopſtock's ein.
Er war zu poetiſch geſtimmt, um beiderlei Suͤjets
fuͤr poetiſch zu halten; aber auch noch zu voll
und jugendlich ſtuͤrmiſch, um ſich, wie in ſpaͤte¬
rer Zeit, jedes Suͤjet fuͤr die Ausuͤbung der
Dichtkunſt gefallen zu laſſen und die Poeſie nur
als die Kunſt, etwas Beliebigem eine poetiſche
Form zu geben, in Betrachtung zu ziehen. An¬
geregt durch die Groͤße des Mittelalters, ſeine
Thaten und Bauwerke, dramatiſirte er die Ge¬
ſchichte eines deutſchen Helden, deſſen Lebensge¬
ſchichte in den voͤlligen Abſchluß des Mittelalters
faͤllt, und der gleichſam zu noch guter Letzt alles
Rohe und Ehrliche der deutſchen Ritterlichkeit in
ſeiner Perſon vereinigte. Dieſen und ſein Zeit¬
alter ſtellte er den Deutſchen zur Bewunderung
auf und man weiß, wie ſehr es ihm gelungen iſt,
die deutſche Jugend in die kurze Phantaſie zu
verſetzen, als truͤge ſie noch, wie damals, eiſerne
Beinſchienen und fuͤhlte ſich, wie Goͤtz, berufen,
die Welt aus geſchloſſenem Viſir zu betrachten.
Goethe ließ die Phantaſie der Deutſchen nicht
raſten, er wußte ihnen beſtaͤndig neuen Stoff aus
dem Reich ſeiner Ideen und Gefuͤhle darzubieten.
Alles dies war revolutionairer Natur, ſtellte ſich
in Kontraſt mit der politiſchen und moraliſchen
Ordnung, wenn auch unabſichtlich. Eigentlich
kann man daſſelbe behaupten von Friedrichs Ruhm
und Klopſtock's Bardenliedern, ſie konnten nur
durch Nichtachtung und Ueberdruß des damaligen
Deutſchlands entſtehen und bluͤhen, Friedrich und
Klopſtock konnten Deutſchland nie entzuͤcken, haͤtte
es nicht thatenloſe Langeweile gefuͤhlt. Goethe
trug die unzufriedene Begeiſterung in alle Gebiete
des Geiſtigen und Sittlichen uͤber. Fauſt iſt ihr
Kulminationspunkt und als ſolchen muß man ihn
auffaſſen, wenn man die Entſtehung dieſes Ge¬
dichts zu jener Zeit begreifen will, das, wie es
herauskam, ſo wenig von der tiefen und ewigen
Bedeutung deſſelben ahnen ließ und erſt nach und
17 * *
nach jenen europaͤiſchen Ruf erlangt hat, in wel¬
chem es gegenwaͤrtig ſteht. Dieſer Fauſt iſt der
Wendepunkt des Goetheſchen Genies‚ von dieſer
hoͤchſten Spitze der Begeiſterung und Herzensfuͤlle
ſtieg es ploͤtzlich wieder herunter‚ und begann die
zweite Epoche ſeines Ruhms, die der ruhigen
Plaſtik‚ der beſchraͤnkten, gegen Stoff gleichguͤltig
ſich verhaltenden Kunſtdarſtellung‚ welche das
Tiefſte, Aufregendſte‚ Leidenſchaftlichſte ſorgfaͤltig
vermeidet, ſich mit der Gegenwart verſoͤhnt und
auf deren Niveau die Geſtalten der Poeſie auf¬
traͤgt. Doch bezeichnen und verfolgen wir dieſe
Richtung nicht weiter, denn wir haben noch Ge¬
legenheit‚ auf ſie zuruͤckzukommen. Zunaͤchſt iſt
es uns um die geſchichtliche Stelle‚ welche dem
Fauſt zukommt‚ zu thun geweſen und da wir dieſe
ermittelt haben, ſo fragt es ſich‚ nach jener uͤber¬
geſchichtlichen Bedeutung‚ die Jedermann gewohnt
iſt‚ darin zu ſuchen. Ich habe bereits erklaͤrt‚
daß ſich dieſe nicht im Zuſammenhang des Goe¬
theſchen Lebens und aus der Zeit entwickeln laͤßt;
Fauſt iſt ein Werk‚ das weit uͤber ſeiner Zeit‚
ja ſelbſt uͤber dem ſteht‚ deſſen Feder wir es ver¬
danken. Fauſt war einmal ein Moment im Goe¬
theſchen Geiſte‚ Goethe war einmal Fauſt‚ naͤm¬
lich in den großen heiligen Jugendſtunden‚ als der
Geiſt dieſer Dichtung uͤber ihn kam. Aber Goe¬
the's Geiſt verkoͤrperte ſich auch in einen Wilhelm
Meiſter, in einen Schenken Hafis und Gott weiß
in welcherlei bunte Geſtalten, die mit Fauſt's
Tiefe nichts zu ſchaffen haben. Als Goethe den
Fauſt empfunden und geſchrieben hatte, ſchien es,
als wuͤßte er nichts mehr von ihm, als kenne er
ihn nicht mehr, als ſuche er ihn zu verlaͤugnen
und Alles auf jugendliche Ueberſpannung zu ſchie¬
ben. Goethe's Fortſetzung des Fauſt paßt auf
ſeinen fruͤhern Fauſt, wie die Fauſt auf's Auge,
und muß Einen, wenn man dieſen zweiten Theil
durchblaͤttert, jene unendliche Wehmuth ergreifen,
die das ganz veraͤnderte und entſtellte Bild einer
Geliebten erregt, wenn man ſie nach jahrelangem
Zwiſchenraum wieder ſieht. Fauſt iſt der Hiob
und das hohe Lied der Deutſchen, er iſt, wie ich
dieſe Worte Heine's ſchon einmal angefuͤhrt, das
deutſche Volk ſelbſt, das geplagt und durchgemar¬
tert vom Wiſſen, Glauben und Entſagung an die
Rechte des Fleiſches appellirt, aus einem Schatten
der Geſchichte ein lebendiges Weſen, aus einem
Traͤumer ein wachender, genießender Menſch wer¬
den will. Fauſt, der ſeine Studirſtube und ſeine
Studien hiſtoriſcher Pergamente verlaͤßt, um ſich
der Welt zu naͤhern und der Welt Luſt und
Schmerzen in ſeiner Bruſt zu haͤufen, er iſt der
Deutſche, der den Staub des Mittelalters von
ſeinen Fuͤßen ſchuͤttelt, um ſich im Thau der neuen
Zeit zu baden. Fauſt iſt das nach Befreiung rin¬
gende Deutſchland, ja, das befreite, das ſich des
Siegs ſeiner Freiheit im Voraus bewußte Deutſch¬
land, Fauſt iſt der erſte Verkuͤnder dieſes Siegs
und zugleich die Buͤrgſchaft dafuͤr.
Zweiundzwanzigſte Vorleſung.
Goethe iſt der erſte Dramatiker der neuern Zeit,
Byron der erſte Lyriker. Die Erſcheinungen die¬
ſer beiden Dichter, zu verſchiedenen Zeiten, in
verſchiedenen Laͤndern ſind die bedeutſamſten, welche
es fuͤr die aͤſthetiſche Anſchauungsweiſe des neuen
Europa gibt. So himmelweit entfernt der auf¬
gehende Stern Byron's vom untergehenden Goe¬
the's am Horizonte ſchimmert, ſo nah lag einſt
die Region ihres beiderſeitigen Aufgangs. Auch
Goethe erhob ſich bei ſeinem erſten jugendlichen
Aufbrauſen zum Streit gegen die beſtehende buͤr¬
gerliche Geſellſchaft, in lyriſcher Wuth ſchuͤttelte
er die Ketten der Konvenienz von ſich ab und
warf ſich in die Arme der Natur und der Frei¬
heit. Seine erſten Dramen haben einen durch¬
aus lyriſchen Charakter, wie ſeine ſpaͤtern den epi¬
ſchen. Wie es nun der Lyrik eigenthuͤmlich, daß
ſie des Dichters innerſtes Weſen herauskehrt, und
die ewigen Laute der Natur vernehmen laͤßt, die
ſich in ihrer Unterdruͤckung durch Geſang und
Toͤne Luft verſchafft, ſo zuͤckt auch durch Goethe's
jugendliche Dramen und Romane der lyriſch revo¬
lutionaire Schrei der Natur hindurch und bildet
die ſchrillendſten Mißlaute mit den Satzungen einer
abgelebten Geſchichte, mit der Schwaͤche und Un¬
natur ſeines Zeitalters. Von Pietaͤt keine Spur,
unbarmherzig und ſchonungslos laͤßt er ſeinem
Spott den Zuͤgel ſchießen, keck und ritterlich ge¬
ſinnt ſtellt er in Goͤtz eine derbe Perſoͤnlichkeit
dem aufgeloͤſten charakterloſen Weſen ſeiner Zeit
gegenuͤber, in Fauſt einen genialen Denker, dem
Nachbetertroß der Wagner und aller der tauſend
und aber tauſend Gewohnheitsmenſchen, die vor
einem ſelbſtſtaͤndigen Gedanken, vor einer friſchen
und freien That erſchrecken und ſich lieber fuͤr
ihr ganzes Leben, wie Ungeziefer auf dem Kada¬
ver der Vergangenheit ernaͤhren, als den Muth
faſſen, die Geburtswehen einer neuen Zeit aus¬
zuhalten und dieſe mit ihrem Mark und Blut
groß zu ſaͤugen. Goethe's Spott traf nicht allein
die Satzungen der Moral, Theologie, Metaphyſik,
der aͤußern Konvenienz, ſondern auch die Satzun¬
gen der Politik, des todten Mechanismus des
Staats, den Unſinn der Geſetze, wie denn jene
Worte ſich wie Brandmarken an den bei aller
Fuͤlle von Geſetzen geſetzloſen Zuſtand Deutſchlands
anheften, die Mephiſtopheles im Fauſt zum Schuͤ¬
ler ſpricht:
Es erben ſich Geſetz und Rechte
Wie eine arge Krankheit fort;
Sie ſchleppen von Geſchlecht ſich zum Geſchlechte
Und ruͤcken ſacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unſinn, Wohlthat Plage;
Weh Dir, daß Du ein Enkel biſt!
Vom Rechte, das mit uns geboren iſt,
Von dem iſt leider nie die Frage.
Allein, wie Sie wiſſen, war es Goethe nicht vor¬
behalten, in der Politik dieſen lyriſch-ſcharfen
Charakter durchzufuͤhren. Es lag vielleicht in ſei¬
ner Natur, die mehr zum Ariſtokratiſchen und
Vornehmen, als zum Demokratiſchen ſich hin¬
neigte, vielleicht in dem aͤußern Lauf ſeines Le¬
bens, in der guͤnſtigen Aufnahme, die er am Hofe
zu Weimar fand, in der Freundſchaft, die er mit
dem Herzog und der herzoglichen Familie pflegte,
in einem geheimen zarten Liebesverhaͤltniß, worin
er zu einer Prinzeſſin ſtand, in ſeiner ſpaͤtern
Stellung als Miniſter, vielleicht in allem dieſem
motivirt und zum Ueberfluß in dem politiſchen
Zuſtand Deutſchlands, in der Unempfaͤnglichkeit
der damaligen Deutſchen fuͤr Politik, ihrer ewigen
unfruchtbaren Liſtenmacherei, ihrem thatloſen Ge¬
ſchwaͤtz und Geſchreibe, ihrer politiſchen Kanne¬
gießerei, daß Goethe ſich mit dem politiſchen und
geſellſchaftlichen Zuſtande, wie er nun einmal ſeit
Alters in Deutſchland beſtand, redlich verſoͤhnte,
und ſich bis auf ſeinen Tod aller Revolutionsge¬
danken, aller Beſſerung des Staats, deren Im¬
puls von unten aufkam, entſchieden abgeneigt er¬
klaͤrte. Er verlangte, ſeltſam genug, von der Ju¬
gend, von der neuen Generation, welche den Un¬
tergang der aͤlteſten europaͤiſchen Monarchie und
die Siege der franzoͤſiſchen Republik als ein wirk¬
lich Erlebtes ſchon hinter ſich ſah, Pietaͤt gegen
Geſetz, Staat und Fuͤrſten, er, der in ſeiner Ju¬
gend die Zeiten des Fauſtrechts gluͤcklich geprieſen
hatte gegen die Zeit des geſetzlich wuchernden
Unrechts, in der er geboren und erzogen ward.
In ſeiner letzten Zeit ſchrieb er ein Journal:
Kunſt und Alterthum betitelt — „ob er wirklich
glaubte,“ fragt Heine, „daß Kunſt und Alterthum
im Stande waren, Natur und Jugend zuruͤckzu¬
draͤngen?“
Allein, meine Herren, welches auch der Grund
war, warum Goethe ſich von den aͤußern Bewe¬
gungen der Zeit zuruͤckzog und das Verdammungs¬
urtheil uͤber ſie ausſprach, es waͤre eine wahre
und begruͤndete Impietaͤt, ſeiner Aſche das Ver¬
dienſt zu entziehen, die ſterblichen Atome des groͤ߬
ten Deutſchen, des geiſtigen Befreiers der
Deutſchen zu befaſſen. Es iſt wahr, Goethe war
ein Ariſtokrat in der Politik, ein Verehrer des
Hof- und Fuͤrſtenweſens, ein Panegyriſt der an¬
geſtammten Macht, ein Protektor der leidlichen
Mißbraͤuche, bei denen es ſich immer noch ziem¬
lich behaglich leben laͤßt, ein Freund des Manier¬
lichen und aͤußerlich Diſtinguirten, ein ſtrenger
Vertheidiger des aͤußern Unterſchiedes der Staͤnde,
des Herkoͤmmlichen, Anſtandsvollen; aber in die¬
ſer Charakteriſtik Goethe's liegt ſo wenig Charak¬
teriſtiſches fuͤr ſein Genie, daß es auf jeden Kam¬
merherrn und Hofmarſchall im deutſchen Reiche
paßt. Derſelbe politiſche Ariſtokrat, dieſer Mann,
der das große geſchichtliche Element der Voͤlker
von einem ſo kleinen hoͤfiſchen Standpunkte be¬
trachtete, uͤberſah das religioͤſe, ſittliche und wiſ¬
ſenſchaftliche Leben mit den Blicken eines Adlers,
und vom Standpunkte einer Zeit, den Gott weiß,
welche Generation unſerer Urenkel erſt muͤhſam
erklettern wird. Goethe war der Luther ſeines
Jahrhunderts, deſſen Bibel die Natur und deſſen
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 18
Schuͤler und Anhaͤnger die Jahrhunderte ſelbſt
ſind, die nach ihm kommen.
Spreche ich alſo das letzte Wort uͤber ihn
aus, indem ich mir ſeinen doppelten Charakter, als
Servilen und Liberalen, als Großen und als Klei¬
nen, als Genie und als Weltmann, durch eine
Grundrichtung ſeines Geiſtes in letzter Inſtanz
zu erklaͤren ſuche. Goethe trug als Juͤngling die
ganze neue Zeit, die kommende Weltanſchauung
in ſeiner Bruſt und was ihn damals im tiefſten
Grund bewegte und womit er die Welt und ſeine
Zeitgenoſſen uͤberraſchte, das wird fruͤher oder ſpaͤ¬
ter die Welt bewegen und Deutſchland politiſch
und moraliſch umſchaffen. Allein Goethe gehoͤrt
zu denjenigen Charakteren, welchen nicht die un¬
mittelbare Geſtaltung der Außenwelt, ſondern
zunaͤchſt die Bildung ihrer eigenen Per¬
ſoͤnlichkeit von der Natur zum Grundgeſetz ge¬
macht zu ſein ſcheint; daher er ſich auch bald aus
der Gewitterregion, welche aus dem Innerſten und
Tiefſten der Leidenſchaft Blitze in die Welt ſchleu¬
dert und deren Staͤrke einzig und allein den Lu¬
ther, den Demagogen macht, zuruͤckzog in die
klarere Region eines mehr ruhigen, um die Welt
ſcheinbar unbekuͤmmerten Selbſtbewußtſeins, das,
nach Außen durch eine freie und wuͤrdige Stellung
befriedigt, nach Innen im ſteten Bildungsprozeß
zu immer groͤßerer Kraft und Klarheit beſchaͤftigt
wurde. Eine ſolche Perſoͤnlichkeit iſt ganz durch¬
aus auf ſich baſirt; daß Andere es eben ſo ma¬
chen, ſich eben ſo unabhaͤngig in der Welt hin¬
ſtellen, mag und kann ihr nur recht ſein, aber ſie
ſtreckt die Hand nicht aus zu dieſem Zweck, ſie
ſucht nicht durch Umwaͤlzungen die ſittlichen und
politiſchen Fundamente fremder Perſoͤnlichkeiten zu
baſiren, ſie ſchließt ſich egoiſtiſch in ihrem Kreiſe
ab und begruͤßt Jeden, der dieſen durchbrechen
will, unwillig mit elektriſchen Schlaͤgen. So
denke und erklaͤre ich mir den ganzen Goethe und
es ſagt mir ein Etwas, daß ich dieſes hohe Ziel
nicht zu weit verfehlt habe.
Die Lyrik der neuen Zeit iſt das poetiſche
Ausſtroͤmen des Revolutionairen; revolutionair war
die Lyrik Goethe's, als er jung und feurig war,
revolutionair war die Lyrik des großen Britten,
der in Goethe's, des Juͤnglings, Fußſtapfen trat
und jene Leier mit neuen Saiten bezog, welche
Goethe bei Seite gelegt hatte. Byron ſtarb in
Griechenland und ſeine letzte Ode war der Frei¬
heit der Griechen gewidmet, zu deren Miterkaͤm¬
pfung er Jahre lang Geld, Talent, Ruhe, Ver¬
gnuͤgen freudig beigeſteuert hatte. Revolutionair
iſt die Lyrik der neuen Zeit, das behaupte ich,
aber ich bitte, mich nicht dahin mißzuverſtehen,
18 *
als ob ich jeder neuen und neueſten Lyrik, welche
dieſen Charakter nicht traͤgt, den Stab brechen
wollte; ich erkenne ſie nur nicht fuͤr voll an, ich
ſpreche ihr nur das Herz und den Geiſt der Zeit
ab, ohne dem Dichter Herz und Geiſt a priori
perſoͤnlich abzuſprechen. Viel Zutrauen habe
ich freilich nicht zu dem poetiſchen Verdienſt eines
neuen Gedichts, oder einer neuen Gedichtſamm¬
lung, von der man mir im Voraus ſagt, es ſeien
nichts als poetiſche Buͤſche, Felſen, Seufzer, Rit¬
ter, Tournire, Feſtgeſaͤnge, Reiſen, Spatziergaͤnge
und dergleichen zenſurfreie und unſchuldige Saͤchel¬
chen darin, die ganz und gar keinen Bezug auf
die Stimmung der Zeit haͤtten — Gott ſei es
geklagt, jede Leipziger Meſſe bringt uns einige
Scheffel von dieſem Klingklang- und Singſang¬
ſachen deutſcher Muſenjuͤnglinge, die es nicht ver¬
antworten zu koͤnnen glauben, ihren Namen der
Nachwelt vorzuenthalten. Dagegen kenne ich auch
liebliche Gedichte der ſuͤddeutſchen Saͤngerſchule,
die Uhland als ihr Haupt anerkennt, die, ſo zeit¬
los und einfach ſie auch ſind, mich in Momenten
eben ſo ſehr erfreuen, als z. B. auch die liebens¬
wuͤrdige Perſoͤnlichkeit eines Suͤddeutſchen, der
unter Bergen und Reben, in der Naͤhe von alten
Kloſter- und Burgruinen aufgewachſen, mir hei¬
ter und unbefangen ſeine gluͤckliche Beſchraͤnktheit
entgegentraͤgt. So kann ich auch im Gegentheil
Gedichte, die mit rein politiſcher Tendenz geſchrie¬
ben ſind, Zeitereigniſſe im Prisma der Poeſie be¬
trachten und es darauf anlegen, durch die Dar¬
ſtellung derſelben auf den politiſchen Sinn der Le¬
ſer zu wirken, welche mir dennoch unter dem Ge¬
ſichtspunkt der Poeſie und der Lyrik, durchaus nicht
wahr und bedeutend ſcheinen.
Ich verſtehe unter dem Ausdruck: die moderne
Lyrik iſt revolutionair das: jeder große Dichter,
der in unſerer Zeit auftritt, wird und muß den
Kampf und die Zerruͤttung ausſprechen, worin die
Zeit, worin ſeine eigene Bruſt ſich findet. Der
Dichter muͤßte blind ſein, oder kalt, oder gefuͤhl¬
los, oder heuchleriſch, oder kein großer Dichter,
der mit ſeiner Leier uͤber den ungeheueren Riß
hinweghuͤpft, welcher die Gegenwart von der Ver¬
gangenheit trennt, er muͤßte nicht der Dolmetſcher
der Natur und Menſchheit ſein, wenn er nicht
das Ringen und den Schmerz dieſer Menſchheit
verſtaͤnde, fuͤhlte und in den Wogen der Poeſie
dahin brauſen ließe. Byron war ein gro¬
ßer Dichter und daher war ſeine Lyrik, die
er nur leicht in ein epiſches Kleid einhuͤllte,
durch und durch revolutionair, was um ſo gro߬
artiger und erſchuͤtternder bei ihm hervortritt,
als er im Schooß des Gluͤcks geboren, Lord
und kuͤnftiger Pair des Reichs, fruͤh bewundert
und beneidet war. Ich will kurz ſein mit ſeiner
Geſchichte, um Goethe, der den Gang ſeines Le¬
bens und Charakters geſchildert hat, fuͤr mich re¬
den zu laſſen. Es iſt wunderbar, wie daſſelbe
Land, Griechenland, des alten Meiſters Leiden¬
ſchaft beſchwichtigte und ihn zu Kunſt und Alter¬
thum fuͤhrte, was den Juͤnger erſt in dieſe Leiden¬
ſchaft hineinriß, oder vielmehr die Leidenſchaft, die
in ihm ſchlummerte, ihn bewußt werden ließ.
Erſt als Byron kaum in den Zwanzigern die
Kreidekuͤſte Englands verlaſſen und in den griechi¬
ſchen Buchten und Inſeln ſich umhertrieb, kam jener
Geiſt der Poeſie uͤber ihn und ließ ihn in einer
Zunge reden, die er fruͤher, unter den Lords und
Damen der engliſchen Geſellſchaft kaum verſtan¬
den hatte. Haß gegen Ariſtokratie, Tyrannei, Ka¬
ſtengeiſt, Unnatur der Sitte, Pfaffenthum, dage¬
gen Liebe zur Freiheit, ungebundenes Streben,
griechiſch-heitre Anſicht des Lebens und der Liebe,
verbunden mit den Gefuͤhlen der Ehre und Sitt¬
lichkeit, ſelbſt mit dem Bewußtſein alten Adels
und vormaligen feudalen Geſchlechtsglanzes bilde¬
ten die Grundelemente ſeiner Poeſie, worin Goe¬
the mit tiefem Blick ein Kind des Griechenthums
und des Mittelalters geſehen hat. Byron war
der einzige revolutionaire Dichter, den Goethe an¬
erkannte, ja er liebte ihn und trug eine gewiſſe
vaͤterliche Beſorgniß um ihn, die Byron von der
Zeit an mit kindlicher Ehrfurcht erwiderte; wie
dies intereſſante Verhaͤltniß aus Thom. Moore's
Leben Byron's zu erſehen iſt. Im zweiten Theil
des Fauſt hat Goethe Byron ein Denkmal ge¬
ſetzt, mir wenigſtens unterliegt es keinem Zweifel,
daß Byron und nur Byron jenes unruhige, wag¬
halſige, himmelſtuͤrmende Kind der Liebe iſt, wel¬
ches die ſchoͤnſte Epiſode in dieſem zweiten Theile
herbeiruft; wie ich mich denn nicht enthalten kann,
Ihnen Folgendes daraus mitzutheilen, was dazu
dient, ſowohl Goethe, als Byron zu charakteriſiren.
Dreiundzwanzigſte Vorleſung.
Wie wir als allgemeines Geſetz aufgeſtellt haben,
daß die jedesmalige Literatur einer Zeitperiode den
jedesmaligen geſellſchaftlichen Zuſtand derſelben aus¬
druͤcke und abpraͤge, ſo ſahen wir dies bisher im
Felde der Dramatik und Lyrik, an Goethe und
Byron in ſo fern beſtaͤtigt, als wir Beide zu
den glaͤnzenden Herolden ihrer Zeit rechnen mu߬
ten, unbeſchadet ihres individuellen Charakters, der
ſie von der großen Menge ihrer Zeitgenoſſen un¬
terſchied. Und auf dieſe Weiſe haben wir uns
uͤberall die Repraͤſentation einer Zeit durch Dich¬
ter und Schriftſteller vorzuſtellen, auf die Weiſe
naͤmlich, daß ſie Zeichnung und Faͤrbung von ih¬
rer Zeit entlehnen, dennoch aber in Gemaͤlden
ſelbſtſtaͤndig und ſchoͤpferiſch zu Werke gehen und
einen ihnen eigenthuͤmlichen Stil an den Tag legen.
So haben wir von Byron erwaͤhnt, daß ſeine
Leier von den Schwingen der neuen Zeit angeregt
geweſen, mehr wie die eines andern neuen Dich¬
ters; haben aber zugleich bemerkt, daß er in ſei¬
nen Gedichten den Lord nicht vergeſſen und bei
allem Feuer fuͤr die Rechte der Menſchheit und
der unterdruͤckten Voͤlker, bei allem Enthuſiasmus
fuͤr die Freiheit und reine Humanitaͤt des griechi¬
ſchen Alterthums ſich mit Stolz als den Enkel
eines altengliſchen, feudalen Geſchlechts betrachtete
und kund gab. In dieſer Verſchmelzung des Grie¬
chiſchen und Mittelaltrigen ſah Goethe mit Recht
den Grundton ſeiner Poeſie, wie ſie auch jenen
beſondern, ja tiefen, charakteriſtiſchen Reiz der
Byronſchen Gedichte bildet, der auf des Dichters
Perſoͤnlichkeit ruͤckwirkend einen ſo intereſſanten
Schimmer wirft. Allein ſo wenig ſich in rein
poetiſcher Beziehung Gedicht und Dichter trennen
laſſen, ſo erlaubt iſt es, in allgemeiner aͤſthetiſcher
den Grundton der Byronſchen Gedichte in einer
hoͤhern Weltbedeutung wiederzufinden und dieſe
Miſchung des Antiken und Feudalen als eine
Miſchung und Vereinigung des griechiſchen und
germaniſchen Geiſtes zu betrachten, welche tropfen¬
weiſe in die Adern des europaͤiſchen Staatskoͤrpers
eindringen und ſeine Muskeln mit friſchem Blut
aufſchwellen wird. Griechiſche Luft ſoll und wird
die truͤben Duͤnſte, die grauſigen Geſpenſter des
Feudalismus verwehen, aber unverweht laſſen jene
herrlichen Bluͤthen germaniſcher Tapferkeit und Tu¬
gend, welche unſere Nation in der Heimath, wie
in den durch ihr Schwert eroberten Laͤndern, in
Frankreich, Spanien, England, vor allen Natio¬
nen des Erdbodens auszeichnet. Kein Geſchlechts¬
adel, keine Adelskaſte mit angebornen und forter¬
benden Unrechten ſoll forthin den freien Boden
und die Freiheit aller Maͤnner beſchimpfen, aber
dieſe, das ganze Volk ſoll wahrhaft und ritterlich
in die Schranke treten, und jeder Einzelne, wel¬
chem Stande er auch angehoͤre, ſoll ſeine Perſon
mit der Wuͤrde ſchmuͤcken und umgeben, welche
in fruͤherer Zeit nur das Erbtheil des Bevorrech¬
tigten war. Man wird nicht, wie die Griechen,
den Handwerker zum Sklavenſtande, nicht wie
das Mittelalter, ihn zur dunkeln Folie des Ritters
verdammen — es wird eine Zeit kommen, ſagt
Goethe, wo Jedermann genoͤthigt und verpflichtet
ſein wird, eine Kunſt, ein Gewerbe zu lernen und
auszuuͤben und wo es alſo Niemand zur buͤrger¬
lichen Zuruͤckſtellung und geiſtigen Benachtheiligung
gereicht, irgend ein Werk der Haͤnde zu verſte¬
hen und ſeinem Nachbarn zum Beiſpiel einen
Tiſch zu drechſeln, von dem er ſelbſt die metalle¬
nen Verzierungen gegoſſen oder den Ueberzug ge¬
wirkt erhaͤlt. Es wird eine Zeit kommen, wo
man des faulen, geiſtigen Luxus, des ewigen Wie¬
derkaͤuens ſchimmeligter theologiſcher und philoſo¬
phiſcher Streitpunkte ſatt und uͤberdruͤſſig ſein
wird, wo ein Jeder, reich oder arm, groß oder
klein ſich freuen und Gluͤck wuͤnſchen wird, durch
kunſtreich geuͤbte Hand Unterhaltung in ein Leben
zu wirken, das durch geiſtige Ueberladung vergan¬
gener Jahrtauſende erſchoͤpft und aufgerieben wor¬
den iſt. Dieſe Ausſichten, die jetzt beinahe nur
als Traͤume eines Traums erſcheinen, werden ſich
verwirklichen durch jenen allmaͤhligen, ſtill fortwir¬
kenden Akt der Weltgeſchichte, welcher die Ueber¬
treibungen, Einſeitigkeiten, Vorurtheile fruͤherer
Jahrhunderte pulveriſirt und aus der Aſche eine
neue Blume entſtehen laͤßt, welche die Farbe der
Geſundheit und Jugend traͤgt.
Byron, ſo groß er unter den Dichtern der
neuern Zeit daſteht, war nur der Vorlaͤufer eines
Genius, der ungetruͤbt durch Vorurtheile der Ge¬
burt und Erziehung, die heranbrechende Meſſiade
der Menſchheit beſingen wird.
Ob in Verſen, oder in Proſa — das iſt
gleichguͤltig. Poeſie iſt Alles, was aus der inner¬
ſten Natur der Menſchheit dringt und es ſcheint
faſt, als ob Deutſchland namentlich ſeine groͤßeren
Dichter gegenwaͤrtig unter den Proſaiſten zaͤhlt.
Wenigſtens wuͤrde der Schluß vom poetiſchen Ge¬
halt unſerer dramatiſchen Dichter, unſerer lyriſchen
und epiſchen Dichter auf den poetiſchen Gehalt
unſerer ganzen Literatur ſehr klaͤglich ausfallen;
Platen, Immermann, Raupach u. ſ. w. als Re¬
praͤſentanten deutſcher Poeſie, von dieſer keinen
großen Begriff zu erregen im Stande ſein. Viel
eher moͤchten wir Heinrich Heine als ſolchen be¬
gruͤßen, und auch nicht ſeiner Verſe, verfehlten
Dramen und liederlichen Lieder wegen, als um
die Proſa, die er in den Reiſebildern zu Tage
gelegt hat.
Was dieſen Dichter-Proſaiſten betrifft, ſo
habe ich ſchon meine Abſicht erklaͤrt, ihn als ein
Charakterbild der neuen Proſa in aͤſthetiſcher Ruͤck¬
ſicht eben ſo aufzufaſſen und darzuſtellen, wie
Goethe und Byron als Charakterbilder der neueren
Poeſie. Man muß Heine in dieſer Geſellſchaft,
der Zeit, wie der Anſicht nach, als den entſchie¬
denſten Charakterſchriftſteller betrachten, indem er
ſich, noch ſtaͤrker und ruͤckſichtsloſer als Byron,
der gewoͤhnlichen Denk- und Empfindungsmaſſe
der fruͤheren Schriftſtellerwelt entgegengeſetzt hat.
In offener Fehde mit allen Anſichten der Zeit,
die ſich ihm als verjaͤhrte und abgeſtandene dar¬
ſtellen, hat er alle dieſe Anſichten, und die Traͤ¬
ger derſelben, ein ungeheurer Haufe, wider ſich
und dagegen nur eine Waffe, den Witz, waͤhrend
Byron außer ſeinem Talent auch Reichthum und
Adel bei ſeinen Anfeindungen ins Feld ſtellen
konnte. Dennoch weiß er ſich mit dieſer einen
Waffe hinlaͤngliches Anſehen zu verſchaffen und
wenn man es auch ſelten wagt, oder wuͤrdigt, ihn
oͤffentlich hoch anzuſchlagen, ſo laͤßt man ihm
doch, ſelbſt feindlich geſinnt, im Stillen die Ge¬
rechtigkeit widerfahren, daß ſein Kopf in der deut¬
ſchen Literatur uͤber den Koͤpfen ſeiner Nebenbuh¬
ler hervorrage.
Schoͤpfen wir, wie wir es bei Goethe und
Byron gethan, aus der Geſchichte ſeines Lebens
diejenigen Andeutungen, welche uns die beſondere
Art und Richtung ſeines Talents erklaͤren helfen.
Er ward in Duͤſſeldorf geboren als Jude, aber
von einer chriſtlichen Mutter, war zum Handel
beſtimmt und handelte wirklich eine Zeitlang, ſtu¬
dirte dann in Goͤttingen, ſchrieb ſeine Reiſebilder,
fuͤhrte ein fluͤchtiges Reiſeleben, war in England,
Italien und ſeit der franzoͤſiſchen Juli-Revolution
in Paris, wo er ſich an die franzoͤſiſchen Revolu¬
tionaire, beſonders unter den Schriftſtellern, an¬
ſchloß und ſeine franzoͤſiſchen Zuſtaͤnde, wie zuletzt
die ſkizzenhafte Ueberſicht uͤber die deutſche Litera¬
tur herausgab.
Stellen Sie ſich nun ein poetiſches Genie
vor, das dem Byronſchen aͤhnlich, ja demſelben
an Penetration des Verſtandes uͤberlegen, verkoͤr¬
pert wird nicht im Palaſte eines Pairs von Eng¬
land, ſondern im beſcheidenen Wohnhauſe eines
rheiniſchen Juden, ein Genie, das nicht in die
Schule von Eaton, ſondern in die Synagoge von
Duͤſſeldorf wandert, das zum Handelsmann erzo¬
gen wird und durch Zufall oder innern Drang
eine deutſche Univerſitaͤt, die Univerſitaͤt Goͤttin¬
gen beſucht und dort, umgeben von Pedanterie
und Rohheit, von ſteifem Zeremoniel der Pro¬
feſſorengeſellſchaften und der Sittenloſigkeit des
Studentenlebens, ſich ſeines Genies inne wird —
da haben Sie den Schluͤſſel zum erſten Band der
Reiſebilder, den er noch als Student in Goͤttin¬
gen niedergeſchrieben hat. Zu keiner Zeit iſt ein
dichteriſches Werk erſchienen, das mehr die friſchen
Spuren ſeiner Konzeption verrathen haͤtte, als
dieſes. Goͤttingen und der Harz ſind einander ge¬
genuͤbergeſtellt als Proſa und Poeſie, allen Aerger
und Witz der Jugend ſchuͤttelt er auch uͤber ein
ſolches Gefaͤngniß des Geiſtes, eine ſolche ver¬
ſchrobene, beſtaubte Gelehrtenrepublik mit allem
ihren Unſinn, allen ihren Abgeſchmacktheiten und
Rohheiten, allen Hofraͤthen, Pedellen, Kommer¬
zen, Kollegien, Grafenbaͤnken, Duellen und Pro¬
motionen durcheinander, kurz auf dieſes traurige
Bild einer nur zu traurigen norddeutſchen Univer¬
ſitaͤtsſtadt, welche wieder ein Bild des noch trau¬
rigern literariſch-geſellſchaftlichen und politiſchen
Zuſtandes von Deutſchland abgibt, dagegen wirft
er alle Liebe und Poeſie ſeines Herzens auf die
Thaͤler, Berge und Fluͤſſe des Harzes, die er mit
unnachahmlicher Hand perſonifizirt und dem Leſer
als fluͤchtig verkoͤrperte Geiſter der ewigen Natur
vor Augen fuͤhrt. Allein dies Herz war nie, oder
war nicht mehr rein und unſchuldig, war nie,
oder war nicht mehr naiv und unbewußt begei¬
ſtert, und daher, ſo phantaſiereich die Naturſchil¬
derungen ſind, ſtehen ſie doch hinter den Sitten¬
ſchilderungen des Goͤttinger Lebens zuruͤck. Zur
ſchaͤrfſten, ſchonungsloſeſten Satyre, die mit jedem
Wort den rechten faulen Fleck zu treffen weiß,
war Heine vom Schickſal gewiſſermaßen deſtinirt,
das ihn vom Handelsjuden zum Goͤttinger Stu¬
denten und zum deutſchen Schriftſteller beſtimmt
hatte. Kein Franzoſe und uͤberhaupt kein Aus¬
laͤnder kann die Narrheiten, Schwaͤchen, den Ah¬
nenſtolz, die Pedanterie der Deutſchen nackter
in aller ihrer Bloͤße wahrnehmen und beſpoͤtteln,
als ein in Deutſchland geborner Jude, der dem
Herzen und der Geſchichte des Vaterlandes eben ſo
fremd, noch einen Stachel zur Satyre mitnimmt,
der dem Auslaͤnder fehlt, ich meine den Stachel
der Verachtung, worin ſeine Glaubensgenoſſen in
Deutſchland bisher ſtanden, das verwundete Ge¬
fuͤhl des durch Jahrhunderte gemißhandelten Vol¬
kes, das bis auf die neueſte Zeit zum Schweigen
verurtheilt war, indem es zu feige und zu ſchwach,
ſich fruͤher zu aͤußern, ehe der Witz in Europa
ſich vor Scheiterhaufen und Armenſuͤnderhemden
ſicher wußte.
Aber Heine beſaß nicht allein dieſen Vortheil
des Witzes, daß er als geborner Jude, gleichſam
als Auslaͤnder und Feind auftrat und zugleich die
deutſchen Narrheiten von Jugend auf an der
Quelle ſtudiren konnte, er hatte auch von ſeiner
deutſchen Mutter diejenigen Eigenſchaften geerbt,
welche den Witz erſt glaͤnzend machen, indem ſie
ihm zur Folie dienen, naͤmlich die Gabe der
Phantaſie, einen dunkeln Anflug von Gemuͤth,
die Ahnung oder das Verſtehen des poetiſch Wirk¬
ſamen, die Behandlung des Geheimnißvollen, was
im poetiſchen Grunde unſerer Nation ruht und
leider nur zu ſehr mit Alltaͤglichem und Gemeinem
uͤberſchuͤttet iſt. Daher zeigte ſich Heine ſchon in
ſeinem erſten Werk nicht blos als witzigen Kopf,
als Voltaire, Swift, ſondern als Humoriſten, als
einen Byron-Voltaire, der, wie er ſich ſelbſt aus¬
druͤckt, ſein Schlachtopfer erſt mit Blumen kraͤnzt,
ehe er ihm den letzten toͤdtlichen Streich verſetzt.
Nachdem er ſich an Goͤttingen die Sporen ver¬
dient hatte, eroͤffnete er ſeiner poetiſchen Satyre im
zweiten und dritten Theil der Reiſebilder ein wei¬
teres Feld; die neueſte Geſchichte, Napoleon,
Frankreich und die Revolution, Deutſchland, Ita¬
lien lieferten ihm Stoff zu einem poetiſchen Hu¬
mor, der, mit gutem Bewußtſein, ſeine eigene
Perſon in die Mitte der Darſtellung zu bringen
wußte, ohne ſich eben dabei den tugendhafteſten
Anſtrich zu geben. Endlich ſcheint er fuͤr ſein Le¬
ben das rechte Zentrum gefunden zu haben, denn
die Hauptſtadt von Frankreich, wo er ſich jetzt
aufhaͤlt, entſpricht mit ihren Bewegungen, Um¬
trieben, glaͤnzenden Geſellſchaften ganz dem Cha¬
rakters eines Schriftſtellers, der dem witzigſten
Franzoſen leicht die Spitze bietet, und außerdem
alles das vor ihm voraus hat, was ich vorher
unſerer Nation vindizirt habe. Von den Franzo¬
ſen bewundert, hat er in ſeiner letzten Schrift
dieſe uͤber neue deutſche Literatur belehren wollen,
was er, wenn auch einſeitig und zum Nachtheil
Deutſchlands, durch die kuͤhnſten und geiſtreichſten
Zuͤge unſerer deutſchen Koryphaͤen ausgefuͤhrt hat.
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 19
Heine's Einfluß auf die deutſche Jugend iſt
unberechenbar, und dennoch wuͤrde er noch groͤßer
ſein, wenn Heine von Grund aus Deutſch und
vom ganzen Herzen, wie Jean Paul, ein Dich¬
ter und Humoriſt waͤre. Allein ſo wie er iſt,
muͤßte er vielleicht ſein, um Aufſehen zu erregen
und Wirkung zu thun. Inwiefern ſein Talent
die Aufmerkſamkeit der deutſchen Proſaiſten ver¬
dient, werde ich in der naͤchſten Vorleſung be¬
ruͤhren.
Vierundzwanzigſte Vorleſung.
Heinrich Heine verdient in doppelter Hinſicht die
Aufmerkſamkeit der deutſchen Proſaiſten, ſowohl
wegen der Tugenden, als der Fehler ſeines Stils,
die eben ſo viel Lichter und Schatten ſeines Ge¬
nius ſind. Im Allgemeinen verdient er aber
durchaus die Auszeichnung, die wir ihm vor an¬
dern großen Proſaiſten zu Theil werden laſſen,
als Charakterbild der neuen Proſa zu gelten; we¬
der Goethe, noch Jean Paul, noch irgend ein
anderer von den ausgezeichneten Geiſtern der juͤngſt
vergangenen aͤſthetiſchen Epoche iſt geeignet, den
Geiſt der Zeit und der neueſten Bewegungen aus
der Abſpiegelung ihrer Proſawerke erkennen zu laſ¬
ſen. Es liegt eine Kluft zwiſchen uns und jenen
Werken, die dem gewoͤhnlichen Auge unſichtbar
19 *
ſein mag, die aber dem ſchaͤrferen und geuͤbteren
Blick in ihrer ganzen Breite und Tiefe nicht ent¬
geht. Dies auszufuͤhren wird meine heutige Auf¬
gabe ſein.
Es iſt ſchwer, mit einigen Worten dieſen
Unterſchied anzugeben; derſelbe liegt nicht allein
in der Natur der ausgeſprochenen Anſichten, na¬
mentlich in der groͤßeren Freiheit der politiſchen,
ſondern im verborgenen Raͤderwerk des Geiſtes,
im Schwung, in der Konzentration der Gedanken
nach einer gewiſſen Richtung, in der Wahl des
Ausdrucks, im Bau der Periode, ſelbſt in ſchein¬
baren Kleinigkeiten, wie Abſaͤtze, Punkte und
Kommata ſind. Dennoch bringt es unſere Auf¬
gabe mit ſich, wenigſtens den Verſuch zu machen,
uns uͤber das Charakteriſtiſche des Sonſt und
Jetzt in der Proſa ſo gut, als es geſchehen kann,
aufs Reine zu bringen.
Gewiß, meine Herren, Sie werden ſich kei¬
nen groͤßeren Unterſchied in der Schreibart denken
koͤnnen, als zwiſchen der Goethiſchen und der
von Jean Paul, obgleich man doch Beide als
Zeitgenoſſen zu betrachten hat; eben ſo auffallend
wird Ihnen die Heineſche Schreibart von der des
edeln Boͤrne abzuſtechen ſcheinen. Dennoch wird
ein der Geſchichte kundiger, geiſtreicher Mann,
der nach hundert Jahren die fruͤhere und jetzige
deutſche Literatur ſeiner Aufmerkſamkeit wuͤrdig
haͤlt, ohne Weiteres Goethe mit Jean Paul,
Heine mit Boͤrne verbinden und jedem Paar ſeine
eigenthuͤmliche Periode anweiſen; ſo ſtark und
durchſichtig ſind die Kennzeichen, die jedes Zeit¬
alter ſeinen bedeutenden Organen und Schriftſtel¬
lern anhaͤngt. Charakteriſiren wir vorlaͤufig die
vier genannten Schriftſteller und ihre Schreibart
durch einige der hervorſtechendſten Zuͤge, welche
Jedermann bei ihrer Leſung in die Augen ſprin¬
gen. Goethe ſchreibt in ſeinen beſten Werken, wie
ein Kuͤnſtler des Alterthums meißelt, jeder Mei¬
ßelſchlag von den tauſenden, die leicht und zierlich
vor unſern Augen angebracht werden, bringt eine
neue Schoͤnheit ans Licht, zeigt uns eine neue
Ader, Muskel des Apoll, der Venus, des Herku¬
les, bis die ganze kunſtreich verkoͤrperte Idee Fleiſch
und Blut zu gewinnen ſcheint und mit der zarte¬
ſten Haut umgeben vor uns ſteht. Waͤhrend nun
Goethe bei allen ſeinen Produktionen die Idee
der Kunſt vor Augen ſchwebte und er kein Wort,
keinen Gedanken niederſchrieb, um außer der Reihe
der uͤbrigen damit zu glaͤnzen, ſondern jeden Aus¬
druck dem hoͤhern Ganzen unterordnete, hatte
Jean Paul, ſein Zeitgenoſſe, gar keine Ahnung
von Kunſt und kuͤnſtleriſcher Darſtellung, das Herz
voll unausſprechlicher tiefer Gefuͤhle, den Kopf
ſchwanger von Witz und Phantaſie, goß er eine
Fluth von Gedanken und Gefuͤhlen aufs Papier
hin, ſo wie er jedesmal im Moment angeregt und
aufgelegt war, ohne ſich eben, zum Behuf einer
konzipirten Kunſtidee, viel um die Stelle zu be¬
kuͤmmern, wo er ſein Genie leuchten ließ. Mei¬
ſtens gibt er zu viel und erdruͤckt, im Laufe eines
Satzes faͤllt ihm Hunderterlei ein, was als Pa¬
rentheſe oder zwiſchen Kommaten eingeſchloſſen
wird und ſo gleichen ſeine Perioden dem Zickzack
der Blitze und ſind nicht ſelten, wie dieſe, taube
Schlaͤge, die wohl erſchuͤttern, aber nur momen¬
tan und keine Nachwirkung zuruͤcklaſſen. Boͤrne,
an Gemuͤth ihm aͤhnlich, iſt ihm hierin ganz ent¬
gegengeſetzt, jeder Satz ein abgeſchloſſener Ge¬
danke, Schlag um Schlag eine neue Behauptung,
Schritt vor Schritt ein Stuͤck Weges zuruͤckge¬
legt, Stoß um Stoß irgend eine traͤge Maſſe
von Vorurtheilen und Dummheiten verdraͤngt.
Abſicht und Kunſt, wie bei Goethe, ſind ſelten
an ſeiner Darſtellung zu merken, er draͤngt und
faͤhrt nur ſo darein und kuͤmmert ſich nicht um
das, was die Leute dazu ſagen. Man ſollte mei¬
nen, daß Heine dies auch nur ſo thut, allein
man wuͤrde ſich irren. Vergleichen Sie den Hei¬
neſchen Stil mit dem Boͤrneſchen, ſo werden Sie
die Abſichtlichkeit der Heineſchen Darſtellung als
etwas ihr Eigenthuͤmliches nicht verkennen. Heine
bedenkt ſich, wo Boͤrne unbedenklich hinſchreibt
und wo Jean Paul zwei Gedanken fuͤr einen in
einander miſcht. Nicht, daß er um das, was er
ſagen will, verlegen waͤre, nicht, daß ihm irgend
eine Anſpielung, eine Vergleichung, eine geiſtreiche
Wendung nicht zu Gebot ſtaͤnde, er bedenkt ſich,
um den Ausdruck zu treffen, der das, was er ſa¬
gen will, unvergeßlich macht, das Wort zu fin¬
den, das ſeinen Gedanken auf das Eigen¬
thuͤmlichſte und Schlagendſte wiedergibt.
Haͤlt man nun dieſe Zuͤge der bewaͤhrteſten
Schriftſteller mit einander zuſammen, ſo moͤchte
man eher Boͤrne mit Jean Paul, Heine mit Goe¬
the in Vergleichung ſetzen, wenn man bei Beur¬
theilung eines Stiliſtikers von der Idee der
Kunſt als tertium comparationis ausgeht. Heine
und Goethe, Boͤrne und Jean Paul ſind ſich in
der That auch in Anlagen und geiſtigem Vermoͤ¬
gen verwandt, was auch von ihnen ſelbſt, ich
meine von den Juͤngeren, Heine und Boͤrne, rich¬
tig gefuͤhlt und ausgeſprochen iſt; von Letzterem
in der herrlichen Rede auf Jean Pauls Tod, das
ſchoͤnſte Denkmal, das den Manen des großen
Dichters errichtet worden und das zugleich, ſo¬
wohl durch die Begeiſterung der Sprache, als
durch dieſe ſelbſt dem Redner einige unverwelkliche
Blaͤtter aus Jean Pauls eigenem Ehrenkranz zu¬
ſichert. Von Erſterem hier und da in ſeinen
Schriften und namentlich an zwei Stellen, den¬
ſelben, die ich ihrer naiven Offenheit und Wahr¬
heit wegen anzufuͤhren mich veranlaßt fuͤhle.
In einer Kritik des beruͤhmten Menzel¬
ſchen Werkes uͤber die neuere deutſche Literatur,
befindlich in den Cottaiſchen Annalen, deren Her¬
ausgeber Heine eine Zeitlang war, wirft er Men¬
zel die unanſtaͤndige Geringſchaͤtzung vor, mit wel¬
cher dieſer uͤber den Koͤnig der Schriftſteller, Goe¬
the, aburtheilt und ihm nur, ſtatt des Genies,
laͤcherlicherweiſe ein Talent zur Schriftſtellerei ein¬
raͤumt, bei welcher Gelegenheit Heine ſo witzig
als beilaͤufig ausruft: Menzel muß wenigſtens ein¬
geſtehen, daß Goethe mitunter das Talent hat,
ein Genie zu ſein. Allein bei der Rechtfertigung
Goethe's unterlaͤßt er ſelbſt nicht, dieſem einen
Vorwurf daruͤber zu machen, daß er in ſeinen
alten Tagen ganz und gar die Titanenflegeljahre
ſeiner Jugend, den rauhen Goͤtz, den ſchwuͤlen
Werther, die ſtachlichten Xenien vergeſſe, die jun¬
gen Schriftſteller von Talent nicht anerkennen
wolle, und dagegen die liebe geiſtige Mittelmaͤßig¬
keit ſeiner Nachbeter und Schuͤler mit vornehmer
Protektion beehre. Der Goethe kaͤme ihm vor,
wie ein Raͤuberhauptmann, der ſich vom Hand¬
werk zuruͤckgezogen und den Abend ſeines Lebens
in einem kleinen Landſtaͤdtchen unter Philiſtern zu¬
bringe und vor dem zufaͤlligen Anblick eines alten
kalabreſiſchen Waldgefaͤhrten unangenehm zuruͤck¬
ſchaudre — man ſieht, daß Heine ſich dieſe Rolle
zutheilt. Der andern Stelle begegnet man in
dem neueſten Heineſchen Werk, Geſchichte der
deutſchen Literatur, wo er eine unbegrenzte Ehr¬
furcht vor Goethe's Genie ausſpricht und das et¬
was arrogante Eingeſtaͤndniß macht, nun, da
Goethe todt ſei, duͤrfe er wohl bekennen, daß
Alles, was er fruͤher gegen ihn hatte und aͤußerte,
nur Folge ſeiner Eiferſucht geweſen.
Welches Merkmal iſt es alſo, das die Aeſthe¬
tik der neueſten Literatur, die Proſa eines Heine,
Boͤrne, Menzel, Laube von fruͤherer Proſa unter¬
ſcheidet? Ich moͤchte ein Wort dafuͤr geben und
ſagen, dies Merkmal iſt die Behaglichkeit, die
ſichtbar aus der Goetheſchen und Jean Paulſchen
Proſa ſpricht uudund die der neueſten fehlt. Jene
fruͤheren Großen unſerer Literatur lebten in einer
von der Welt abgeſchiedenen Sphaͤre, weich und
warm gebettet in einer verzauberten idealen Welt,
und ſterblichen Goͤttern aͤhnlich auf die Leiden
und Freuden der wirklichen Welt hinabſchauend
und ſich vom Opferduft der Gefuͤhle und Wuͤnſche
des Publikums ernaͤhrend. Die neuern Schrift¬
Wienbarg, aͤſthet. Feldz. 20
ſteller ſind von dieſer ſichern Hoͤhe herabgeſtiegen,
ſie machen einen Theil des Publikums aus, ſie
ſtoßen ſich mit der Menge herum, ſie ereifern
ſich, freuen ſich, lieben und zuͤrnen, wie jeder
Andere, ſie ſchwimmen mitten im Strom der
Welt und wenn ſie ſich durch etwas von den Ue¬
brigen unterſcheiden, ſo iſt es, daß ſie die Vor¬
ſchwimmer ſind, und ſei es nur trocken und ele¬
gant auf dem Ruͤcken eines Delphins, wie Heine,
oder naß und beſpritzt, wie Boͤrne, den Ge¬
ſtaden der Zukunft entgegeneilen, welche die Zeit
fuͤr „ihre hesperiſchen Gaͤrten gluͤcklicher Inſeln“
anſieht.
Behaglichkeit iſt in ſolcher Lage und bei ſol¬
chem Streben nicht wohl denkbar, die Schriftſtel¬
lerei iſt kein Spiel ſchoͤner Geiſter, kein unſchul¬
diges Ergoͤtzen, keine leichte Beſchaͤftigung der
Phantaſie mehr, ſondern der Geiſt der Zeit, der
unſichtbar uͤber allen Koͤpfen waltet, ergreift des
Schriftſtellers Hand und ſchreibt im Buch des
Lebens mit dem ehernen Griffel der Geſchichte,
die Dichter und aͤſthetiſchen Proſaiſten ſtehen nicht
mehr, wie vormals, allein im Dienſt der Muſen,
ſondern auch im Dienſt des Vaterlandes und allen
maͤchtigen Zeitbeſtrebungen ſind ſie Verbuͤndete.
Ja, ſie finden ſich nicht ſelten im Streit mit
jenem ſchoͤnen Dienſt, dem ihre Vorgaͤnger hul¬
digten, ſie koͤnnen die Natur nicht uͤber die Kunſt
vergeſſen machen, ſie koͤnnen nicht immer ſo zart
und aͤtheriſch dahinſchweben, die Wahrheit und
Wirklichkeit hat ſich ihnen zu gewaltig aufgedrun¬
gen, und mit dieſer, das iſt ihre Schickſalsauf¬
gabe, mit dieſer muß ihre Kraft ſo lange ringen,
bis das Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das
dem Ideellen feindlich Entgegengeſetzte iſt. Daher
begreifen ſie auch, woher dieſe Quelle der Behag¬
lichkeit, welche uͤber Goethe's Kunſtproſa, uͤber
Jean Pauls Humor ſo ruhig und lieblich hin¬
fließt, und der ſelbſt dieſem, ſo unkuͤnſtleriſch er
auch zu Werke geht, weit mehr die Empfindung
der Ruhe und Befriedigung mittheilt, welche mit
dem Anſchauen klaſſiſcher Werke verknuͤpft iſt, als
den Heineſchen Kunſtprodukten.
Ich wuͤrde in Verlegenheit gerathen, ſollte
ich im einzelſten Einzelnen an einem Satz, einer
Periode das Geſagte nachweiſen, nichtsdeſtoweni¬
ger iſt eben dieſer verſchiedene Charakter im Gan¬
zen, Großen, allen proſaiſchen Werken dieſer und
jener Zeit aufgedruͤckt. Die neue Proſa iſt von
der einen Seite vulgairer geworden, ſie verraͤth
ihren Urſprung aus, ihre Gemeinſchaft mit dem
Leben, von der andern Seite aber kuͤhner, ſchaͤr¬
fer, neuer an Wendungen, ſie verraͤth ihren krie¬
geriſchen Charakter, ihren Kampf mit der Wirk¬
lichkeit, beſonders auch ihren Umgang mit der
franzoͤſiſchen Schweſter, welcher ſie außerordentlich
viel zu verdanken hat. Der deutſche Proſaiſt iſt
ſeit der franzoͤſiſchen Revolution und eben durch
franzoͤſiſche Schriften, Herr und Meiſter geworden
uͤber das ungeheure Material der Sprache, das
den fruͤhern Schriftſtellern in ellenlangen Perioden
nachſchleppte, von Goethe aber freilich ſchon zu
Kunſtarbeiten gluͤcklich verzimmert worden war.
Die groͤßte Meiſterſchaft hat ſich Heine darin er¬
worben, der den fluͤchtigen Ruhm, Liederdichter zu
ſein, ſehr bald mit dem groͤßeren vertauſcht hat,
auf dem koloſſalen, alle Toͤne der Welt umfaſſen¬
den Inſtrument zu ſpielen, das unſere deutſche
Proſa darbietet.
Die Witzader iſt bekanntlich die Hauptader
der Heineſchen Proſa, ja der ganzen Heineſchen
Perſon, der immer etwas auf den Lippen ſchwebt,
was einem Witz aͤhnlich ſieht. Der Witz iſt das,
was Heine's Schriften ſo verbreitet und wirkſam
macht, was aber auch zugleich die ſteifen Herren,
die ariſtokratiſchen Herren, die pfaͤffiſchen Herren
wider ſie aufbringt. Es iſt uͤberhaupt in Deutſch¬
land noch nicht lange her, daß es den Schrift¬
ſtellern ungeſtraft hinging, witzig zu ſein; die
meiſten Schriftſteller gehoͤrten zur Klaſſe der Ge¬
lehrten und unter dieſer ſaftloſen und hochmuͤthigen
Klaſſe hatte ſich eine ſolche Verachtung der ur¬
ſpruͤnglichen und angebornen geiſtigen Gaben und
namentlich des Witzes eingeniſtet, daß es um den
Ruf eines jungen Mannes unwiderbringlich geſche¬
hen war, wenn ihm das Malheur paſſirte, in
ſeinen Schriften und Vortraͤgen eine geiſtreiche,
bluͤhende und witzige Sprache zu fuͤhren. Die
deutſchen Gelehrten mieden die witzigen Leute, als
waͤren ſie Ausſaͤtzige, und wirklich nannte der
Schweizer Bodmer den Witz eine Kraͤtze des
Geiſtes, die nicht eher Ruhe laͤßt, als bis ſie ſich
durchjuckt. Allmaͤhlig aber ſind den Deutſchen die
Augen, wie uͤber viele Dinge, ſo auch uͤber den
Witz aufgegangen. Die Nothwendigkeit deutſcher
witziger Kultur vertheidigt Jean Paul mit folgen¬
den Worten: es gibt nicht blos Entſchuldigungen
der Kultur des Witzes, ſondern ſogar Aufforde¬
rungen dazu, welche ſich auf die deutſche Natur
gruͤnden. Alle Nationen bemerken an der deut¬
ſchen, daß unſere Ideen wand-, band-, niet- und
nagelfeſt ſind und daß mehr der deutſche Kopf
und die deutſchen Laͤnder zum Mobiliarvermoͤgen
gehoͤren, als der Inhalt von beiden (naͤmlich die
Gedanken und die Menſchen). Wie Wedekind
den Waſſerſcheuen beide Aermel aneinander naͤht
und beide Struͤmpfe, um ihnen das Bewegen
einigermaßen unmoͤglich zu machen, ſo werden von
Jugend auf unſern innern Menſchen alle Glieder
zuſammengenaͤht, damit ruhiger Nexus vorliege
und der Mann ſich mehr im Ganzen bewege.
Aber Himmel, welche Spiele koͤnnten wir gewin¬
nen, wenn wir mit unſeren einſamen Ideen ro¬
chiren koͤnnten.
Zu neuen Zeiten gehoͤren durchaus freie;
zu dieſen wieder gleiche; und nur der Witz
gibt uns Freiheit, indem er Gleichgewicht vorher¬
gibt. Er iſt fuͤr den Geiſt, was fuͤr die Scheide¬
kunſt Feuer und Waſſer iſt. Chemica non agunt
nisi soluta, das iſt, nur die Fluͤſſigkeit gibt die
Freiheit zu neuer Geſtaltung, oder, nur entbun¬
dene Koͤrper ſchaffen neue. Beſinnt ſich ein Au¬
tor zum Beiſpiel bei Sommerflecken des Geſichts
auf Herbſt-‚ Lenz-, Winterflecken deſſelben, ſo
offenbart er dadurch wenigſtens ein freies Be¬
ſchauen, welches ſich nicht in den Gegenſtand ein¬
gekerkert verliert und vertieft.
Uns fehlt zwar Geſchmack fuͤr den Witz, aber
gar nicht die Anlage zu ihm. Wir haben Phan¬
taſie; und die Phantaſie kann ſich leicht zum Witz
einbuͤcken, wie ein Rieſe zum Zwerg, aber nicht
dieſer ſich zu jenem aufrichten. In Frankreich iſt
die Nation witzig, bei uns die Elite.
Da dem Deutſchen, faͤhrt Jean Paul ſaty¬
riſch-witzig fort, folglich zum Witz nichts fehlt,
als Freiheit, ſo geb' er ſich doch dieſe. Etwas
glaubte er freilich fuͤr dieſe zu thun, daß er neue¬
rer Zeit ein und das andere rheiniſche Laͤnderſtuͤck
in Freiheit ſetzte, naͤmlich in franzoͤſiſche und wie
ſonſt den Adel, ſo jetzt (dieſer Aufſatz iſt unter Napo¬
leons Herrſchaft geſchrieben) die beſten Laͤnder, zur
Bildung ſo zu ſagen auf Reiſen ſchickte zu einem
Volk, das gewiß noch mehr frei iſt, als groß.
Hier iſt nur ein alter, aber unſchuldiger
Weltzirkel, der uͤberall wieder vorkommt. Die
Menſchheit kann nie zur Freiheit gelangen ohne
geiſtige hohe Ausbildung: Freiheit gibt Witz und
Witz gibt Freiheit. Die Schuljugend uͤbe man
im Witz; das ſpaͤtere Alter laſſe ſich zu dem Witz
freilaſſen.
So weit Jean Paul. Er ſelbſt hat zur gei¬
ſtigen Emanzipation der Deutſchen durch Humor
und Witz, mehr als irgend ein anderer Schrift¬
ſteller ſeiner Zeit, beigetragen. Ihm ſtand mehr
Witz zu Gebot, als allen deutſchen Schriftſtellern
zuſammengenommen, eine einzige Seite ſeiner
Schriften wird ſelbſt durch den witzigſten Franzo¬
ſen und Englaͤnder kaum durch vier andere Sei¬
ten aufgewogen. Dennoch mangelte ſeinem Witz
der Charakter der Einheit, welchen die Kunſt und
eine beſtimmte Gemuͤths- und Lebensrichtung den
Strahlen des Witzes verleiht. Der Witz an ſich
iſt ein geiſtiges Queckſilber, das in tauſend Kuͤgel¬
chen uͤber die Papierflaͤche rollt, ein ſcherzender
Schmetterling, der von Blume zu Blume fliegt,
ein ungewiſſer Strahl, der ſich in Luft und Waſ¬
ſer bricht und das reinſte Kryſtall, wie die truͤbſte
Glasſcheibe durchflittert und vergoldet. Der Witz
an ſich iſt der Diener aller Herren, der Dummen
ausgenommen, aber nicht der Schlechten, nicht
der Servilen; denn er kehrt ſich nicht an Herz
und Geſinnung, ſondern nur an den Verſtand
und ein elender Saphir, ein Menſch, den man
durch Furcht dahin bringen kann, die Peitſche zu
kuͤſſen, die ihn gezuͤchtigt hat, kann einen Waſhing¬
ton, einen Lafayette an Witz beſiegen und uͤber¬
fluͤgeln.
Nur wenn der Witz ſich mit edlerem Ver¬
moͤgen paart, wenn er phantaſiereichen und ge¬
muͤthvollen Menſchen zu Gebot ſteht, wenn er ei¬
nem Jean Paul dient, Himmel und Erde, Ver¬
gangenheit und Zukunft mit einander zu verknuͤpfen,
kann er dem ernſteren Deutſchen gefallen: um uns
am Witze nicht zu aͤrgern, muß uns der Charak¬
ter des Witzigen nicht aͤrgerlich ſein, um uns am
Spiel des Witzes zu ergoͤtzen, muͤſſen wir ihn
uͤber der Tiefe des Ernſtes ſchweben ſehen. Das
iſt auch die Natur des deutſchen Witzes, der an
Zweideutigkeiten und Wortſpielen wenig Geſchmack
findet; und daß ſeine Natur ſo iſt, verdankt er
eben ſeiner Verbindung mit der Phantaſie, welche
ihn auf ihre Schwingen nimmt und ihn vor der
Gefahr ſchuͤtzt, ins Kleinliche oder Gemeine aus¬
zuarten. Allein auf der andern Seite hat dieſe
Verbindung des Witzes mit der Phantaſie auch ihre
Nachtheile; wie aus dem Beiſpiel Jean Pauls
erhellt; deſſen Witz, bei einem geringeren Grad
von Phantaſie, ſchlagender geweſen waͤre, als bei
dieſer Ueberfuͤlle. Das iſt der Abweg des deut¬
ſchen Witzes, er wird zu phantaſtiſch, er entfernt
ſich zu weit von der naͤchſten graden Gedankenli¬
nie und verliert uͤber dem Haſchen das endliche
Ziel aus den Augen. Sie ſehen wohl, wo die
Quelle dieſer wildgewordenen Witze, dieſer ins
Blaue ſtreifenden Phantaſie zu ſuchen iſt. Den¬
ken Sie an Jean Paul. War eine Lebenseinheit
in ſeinem Charakter, ſchwebte ihm ein beſtimmtes
Ziel vor Augen? Nein. Er ſtrebte allem Hoͤch¬
ſten nach, aber nach Art der damaligen Poeten,
mehr im Traum, als im Wachen, er war ein
edler, freier Mann, er kannte die Gebrechen der
Zeit, er fuͤhlte die Schmach des Vaterlandes, er
zuͤrnte uͤber Ariſtokratismus und Moͤncherei, allein
ſein Ringen nach einer beſſern Zeit zerfloß immer
Wienbarg, aͤſthet. Feldz 21
in Sentimentalitaͤt, und wenn er einmal eine ſtarke
Lanze einlegte und gegen einen beſtimmten Feind
zu Felde zog, ſo war ihm dieſer eher das Nach¬
druckergeſindel, und ſonſtige deutſche Schofel und
Schofeleien, als die großen Landesfeinde und Lan¬
desuͤbel, die der Patriot aufs Korn nehmen ſoll.
Das lag in ſeiner Zeit; in der unſrigen hat ſich
der Witz einen Kampfplatz aufgeſucht, wo er mit
der Freiheit vereint gegen verroſtete Helme und
Kaputzen zu Felde zieht und gottlob, es liegen
ſchon Splitter und Stuͤcke genug auf dem Boden,
welche ſeine Schaͤrfe und Kraft beurkunden.
Man laͤßt den Witz nicht mehr auf ſeine
eigne Hand und nach den Grillen der Phantaſie
hinlaufen, er iſt nicht mehr ein ungeſatteltes fluͤch¬
tiges Pferd, das ohne Bahn und Steg rechts
und links ausſchlaͤgt und blos mit Luſt und Be¬
wunderung uͤber ſeine Kuͤhnheit erfuͤllt, es ſitzt ihm
ein Reiter auf dem Nacken, auf deſſen Wink
und Fuͤhrung es die verhaßten Barrieren uͤberſpringt
und niederreitet, welche die Dummheit und die Un¬
verſchaͤmtheit vor dem Genuß der Welt aufgeſchla¬
gen hat. Der Witz unſerer neuen Proſa iſt nicht
mehr ein reiner Phantaſiewitz, ſondern Charakter¬
witz, er iſt unſerer heutigen Proſa, ich meine,
unſerm heutigen Buͤrgerſtande, unſere buͤrgerliche
Freiheit. Der Adel hat ſich oft mit der Poeſie
des Lebens verglichen, mag er ſie repraͤſentiren auf
die unſchaͤdliche Weiſe, wie es die Goldenſchnitts¬
taſchenbuchspoeten in Deutſchland thun, er iſt ihr
ein unentbehrliches Werkzeug, um den vernichten¬
den Krieg zu fuͤhren, deſſen Ende ſich wohl bis
zu kuͤnftigen Geſchlechtern hinziehen wird, um das
Saͤuberungsgeſchaͤft im Augiasſtall von Europa
durchzuſetzen, um reine Bahn zu machen fuͤr andre
Fuͤße, als die mit Ketten und Vorurtheilen bela¬
ſteten. Dieſe Bedeutung des Witzes fuͤr unſere
Zeit ſpricht Heine, deſſen Witz eben hierin vor¬
leuchtet, mit folgenden Worten aus:
Es gibt trockne Leute in der Welt, die den
Witz gern proſkribiren moͤchten und man kann
taͤglich hoͤren, wie Pantalon ſich gegen dieſe nie¬
drigſte Seelenkraft, den Witz, zu ereifern weiß
und als guter Staatsbuͤrger und Hausvater die
Polizei auffordert, ihn zu verbieten. Mag immer¬
hin der Witz zu den niedrigſten Seelenkraͤften ge¬
hoͤren, ſo glauben wir doch, das er ſein Gutes
hat. Wir wenigſtens moͤchten ihn nicht entbeh¬
ren. Seitdem es nicht mehr Sitte iſt, einen De¬
gen an der Seite zu tragen, iſt es durchaus noͤ¬
thig, daß man Witz im Kopfe habe. Und ſollte
man auch ſo uͤbellaunig ſein, den Witz nicht blos
als nothwendige Wehr, ſondern ſogar als Angriffs¬
waffe zu gebrauchen, ſo werdet daruͤber nicht all¬
zuſehr aufgebracht, ihr edeln Pantalone des deut¬
ſchen Vaterlands. Jener Angriffswitz, den ihr
Satyre nennt, hat ſeinen guten Nutzen in dieſer
ſchlechten, nichtsnutzigen Zeit. Keine Religion iſt
mehr im Stande, die Luͤſte der Erdenherrſcher zu
zuͤgeln, ſie verhoͤhnen euch ungeſtraft und ihre
Roſſe zertreten eure Saaten; eure Toͤchter hungern
und verkaufen ihre Bluͤthen dem ſchmutzigen Par¬
venuͤ, alle Roſen dieſer Welt werden die Beute
eines windigen Geſchlechts von Stockjobbern und
bevorrechteten Lakaien und vor dem Uebermuth des
Reichthums und der Gewalt ſchuͤtzt euch nichts,
als der Tod und die Satyre.