Der unvermittelte Uebergang von einer Bodengattung zur andern tritt nirgend so anschaulich zu Tage, als in der deutschen Tiefebene zwischen Elbe und Oder.
Vom Weizgrunde zum Unlande, auf dem die wilde Tabakspflanze in einzelnen Stengeln emporschießt, ist oft nur ein Schritt; die saftigste Wiese und Weide grenzt hart an die Sandscholle; der Berg fällt ganz steil zum Bruche und morastigen Fenne ab, und ein Weg von einer halben Stunde führt mehrmal durch Elslake, Buch- und Eichenkamp und verkrüppelte Kieferheide. Selbst die Grenzen sind zuweilen nicht nach festen Linien und Malen anzugeben, sondern wechseln nach der Möglichkeit, die Nutzung zu ziehen. Wie die Flüsse und Seen in Wasserjahren ihr Gebiet vergrößern und den Rohrrand — das Gelege — erweitern, so tritt das Recht des angrenzenden Wiesenbesitzers zurück, der nicht weiter gehen darf, als er mit der Sense zu reichen vermag, während das anschießende und sich verbreitende Rohr dem Besitzer des Geleges zuwächs't,
der in wasserarmen Jahren wieder sein Besitzthum zu Gunsten des Wiesenbesitzers schwinden sieht.
Man könnte ganze Strecken dieser Gegend noch unfertige nennen, insbesondere haben es zuweilen die Fenne und Brücher noch nicht zur Consistenz des Untergrundes gebracht. Sie sind mit einer grünen Oberfläche bedeckt, die aus einem durch die Wurzeln der Gräser und Sumpfpflanzen gebildeten verfilzten Netze besteht, das unter dem Tritte des Becassinen-Jägers, besonders im Frühjahr und Herbst, sich senkt und vor und hinter ihm Erhöhungen bildet, die wie grüne Wellen, seinen Bewegungen folgend, auf und ab schwanken.
Die Jäger sind fast die einzigen Leute, die sich solchen OerlichkeitenOertlichkeiten anzuvertrauen wagen. Ihre Passion für die Jagd, die hier besonders für Schnepfen sehr reichlich ausfällt, lockt sie auf diesen unsicheren Boden und läßt sie zuletzt doch so weit sich zurecht finden, daß sie die trügerischen Stellen erkennen und auch wohl Anderen einen Pfad bezeichnen können, auf dem, für Monate wenigstens, ein Richtweg eingeschlagen werden kann, oder auf dem sich zu einer Oase festeren Grundes, wo gutes Gras zu schneiden ist, gelangen läßt.
Der jüngere Jäger geht immer bei dem ältern in die Schule, und obwohl selten weniger als zwei zugleich hier Jagd machen, kommen doch Unglücksfälle vor.
In der grünen Decke, in dem Netze, das auf dem grundlosen Moder aufliegt, ist zuweilen hie und da eine Masche gerissen, nur ist ein solches einen halben
bis zwei Fuß im Durchmesser großes Loch gar nicht zu bemerken, weil das überhängende Gras und Schilf es bedecken. Geräth der Jäger hinein, so hält er schnell seine Flinte horizontal, so daß sie mit dem Kolben und dem äußersten Ende des Laufes auf den Rändern aufliegt, und hält sich, während er nach Hülfe ruft, daran fest. Sich selbst herauszuarbeiten, ist selten möglich, und solche Anstrengung beschleunigt nur die Katastrophe. Kommt diese Hülfe nicht bald, die sich nur vorsichtig, ungefähr wie bei Rettungen aus dem Eise, nähern darf, so versinkt der Unglückliche, und jede Spur von ihm verschwindet, da sich auch sein Leichnam nicht auffinden läßt, den die grüne Decke, unter die er sich schiebt, wie eine Eisrinde niederhält. Denn auch der flüssige Moder hat, obwohl kaum merklich, doch seine Bewegung, die nach dem allgemeinen Wasserstande vor- und rückwärts geht. Es liegt etwas Grausiges in solchem Verschwinden, etwas Entsetzliches in der Freundlichkeit der grünen Decke, die auch keinen Grabhügel, kein Kreuz duldet; denn schon nach wenigen Monaten wälzen sich die Wogen über das Fenn, und schon im nächsten Frühjahr weiß der Jäger nicht mehr genau anzugeben, wo das Loch, das in der Landessprache Piezloch heißt, sich befand, in welchem sein Freund versank. Von Zeit zu Zeit glaubt Einer oder der Andere unter der nachgebenden Decke den Kopf des Unglücklichen zu fühlen, den er sich aufrecht stehend im Moder denkt, bis die Erinnerung an den Vorfall schwächer wird und zuletzt sich ganz verliert.
Im Volke ist daher, wenn Jemand unter dem Verdachte, daß er erschlagen worden, verschwindet, gleich feststehend, daß der Mörder die Leiche in ein Piezloch gesteckt habe, und man ist daher sehr lässig in den Anstrengungen, eine Spur Verunglückter zu suchen.
Eine Dorf-Feldmark ist in diesen Gegenden in der Regel viel größer, als in den gesegneten Landstrichen, in denen sich eine gleichförmige Ackerkrume neben Wiesen mit festem Untergrunde ausbreitet, und ein einzelnes Gut hat oft Antheil an Acker, Weide, Rohrnutzung, Wiese, Elslake, Hochwald, Heide und Fischerei. Die Thätigkeit der Wirthe ist daher eine umfassendere, und das Volk ist dadurch rührig und anstellig nach allen Richtungen hin. Da Flüsse, Kanäle und Bäche das Land durchschneiden, oder Seen und Teiche mitten in Wald und Feld sich ausbreiten, so lernt der Knabe schon früh das Ruder führen und schwimmen, er watet ganze Tage an den Ufern entlang und sucht Krebse, er weiß mit allen Fischerzeugen, erlaubten wie unerlaubten, Bescheid. Von den gefährlichsten Brüchern und Fennen holt er die theuren Kiebitzeier und er leert die Nester der Krähen und Habichte, die in den höchsten Gipfeln der Kiefern horsten; er reitet die Pferde nach der Koppel, und wenn er sie holt und sie sich nicht fangen lassen wollen, so jagt er sie müde. Er nimmt frühzeitig an allen Arbeiten Theil, er handhabt die Axt in der Gemeinheide und fällt die Elsen in der Lake. Mit Ochsen und Pferden schleift er die Stämme
auf dem Glatteise; in Schnee und Gerüll, in Sand und Moder, auf steinigen wie auf grundlosen Wegen weiß er sich zu helfen; bei mäßiger Kost lernt er unermüdlich ausharren, er wird ausdauernd, um sich blickend, an nichts verzweifelnd. Sein leichtes sarmatisches Blut hat einen starken niedersächsischen Zuwachs, und er ist kühn, unternehmend und starrköpfig zugleich. Die drei ersten Hohenzollern, die in den Märkern einen Theil dieser Stämme überkamen, kehrten in ihre Erblande zurück, weil dies harte, unbezähmbare Volk sie ermüdet hatte, und es ist nicht Zufall, wenn von diesem Lande aus eine Großmacht sich ausbildete; denn nur ein so eigenthümlicher, kräftiger und vorzugsweise zum Soldaten befähigter Stamm konnte das leisten, was seine Fürsten ihm zumutheten. So leicht zu handhaben auch diese östlichen Niederländer scheinen, so gefährlich ist es doch, sie zu beleidigen. Sie vergessen dies sehr selten und vergeben eine Ungerechtigkeit nie. Der Einzelne wird, wenn ihm sein Recht versagt wird, wie einst Kohlhaas, leicht zum Verbrecher, das ganze Volk, in seinem Rechtsgefühl gekränkt, sammelt sich leicht zur Gewaltthat, und jeder Einzelne entwickelt dann mehr Verstellung und Verschlagenheit als irgend Einer anderen Stammes. Die Franzosen haben dies zu ihrem Schaden erfahren; sie haben beleidigt, und dies reichte hin, den Kampf gegen sie auf Leben und Tod zu führen, der nirgend so energisch aufgenommen wurde als in diesen Gegenden.
Bis zum Ablauf der ersten Jahrzehende dieses Jahrhunderts waren die Landleute größtentheils Hörige, und in Mecklenburg hat sich dieses in den verschiedensten rechtlichen Abstufungen erscheinende Verhältniß bis in die neueste Zeit erhalten. In Preußen sind die Frohnden und sogenannten herrschaftlichen Dienste im geordneten Verfahren zum großen Theil abgelöst oder in Geldrente verwandelt, die Jurisdiction ist auf den Staat übergegangen, aber die Polizei ist in Folge des neuesten Umschwunges der Dinge den Herrschaften, Aemtern und Stiftern verblieben. Die Schulzenämter besetzt die Herrschaft, wenn sie nicht erblich sind, jedes Gemeindeglied ist stimmberechtigt und Repräsentativ-Gemeindeverfassung unbekannt. Je nach der Größe des Besitzes werden die Wirthe benannt, und der Müller und Schmied, die einzigen sonst auf dem Lande berechtigten primitiven Gewerbe, steuern als Kossäthen oder Halbbauern.
Beide, Müller und Schmied, haben ab antiquo, wie sich die Diplomatie ausdrücken würde, einen wissenschaftlichen Ruf im Dorfe für sich. Der Bauer nennt sie kluge Kerle, der Gutsbesitzer und Stiftsverwalter Querulanten und Unruhemacher. Sie kommen öfter zur Stadt, treiben gewöhnlich Nebenhandel mit Vieh und Holz, sie bilden die Brücken zum Advocaten und machen dort die Sprecher, sie sind in gewissem Sinne eine geistige puissance. Die Gewerbefreiheit hat, wo sie eingeführt ist, Beiden geschadet, und der Müller
besonders ist ein natürlicher Rebell, da er noch seine Abgaben für die ausschließliche Berechtigung an den Gutsherrn fortzahlen muß, während neue Windmühlen rings um ihn entstehen und ihm die Nahrung nehmen. Eine der ersten Erscheinungen des Jahres 1848 war deßhalb auch der über das ganze Land sich erstreckende Müllerverband, der auf die Verbreitung der revolutionären Grundsätze und Schriften, ja selbst auf die Wahlen den entschiedensten Einfluß geübt hat.
Wir versetzen nun den Leser in ein bestimmtes Dorf, dessen Namen wir aus naheliegenden Gründen verschweigen, da der Inhalt unserer Erzählung Personen vorführt, die, soviel uns von dort her Nachrichten zugehen, noch leben. Das Dorf liegt auf einer sandigen Landzunge, die sich nach Norden hin in ein Bruch vorschiebt, das am Rande Wiesenterrain bildet, weiter hinein aber zu Fennen ausläuft, die von kleinen sumpfigen Wasserbecken durchbrochen werden. Hier und da in diesem Bruche schießen Elsensträucher hervor, die weiter nach Norden in eine förmliche Elslake zusammentreten. Das Dorf hat daher nur einen Ausgang nach Süden. Folgt man diesem Ausgange, so wendet sich links, also östlich, die Straße in die Kiefernheide, geradeaus jedoch nach Süden in die Felder und zur Stadt, während man rechts im Bogen um das Bruch herumgehend an die, eine kleine Viertelstunde abgelegene Schmiede kommt. Von dort tritt wieder eine neue schmale Landzuge, parallel mit der ersteren,
nördlich ins Bruch, auf deren äußerster, zum Berge sich erhebender Spitze die Dorf-Windmühle und das Müllerhaus stehen. Die westliche Seite dieser Landzunge wird von einem mit dichtem Schilf umgebenen See begrenzt, so daß also Dorf und Mühlengrundstück wie zwei Zungen in das Bruch hineinlaufen, von denen das Mühlengrundstück westlich Wasser hat. Der See verliert sich nach Norden hin in unbestimmten Grenzen ins Bruch, und sein Wasserstand hat auf dessen Trockenheit oder Feuchtigkeit Einfluß. Will der Müller zu Wagen zum Dorfe, so muß er in einer weiten Curve über die Schmiede dorthin fahren, während er zu Fuß von seiner Landzunge zum Dorfe über das Bruch gelangen kann, das aber gerade hier am unsichersten, fast seeartig unter der grünen Fläche liegt und zu manchen Zeiten gar nicht zu passiren ist. Da alle Dorfkinder gern zur Mühle gehen, so bringen die Mütter ihnen schon frühzeitig das Verbot bei, über das Bruch zu gehen; der Steig hat den Namen Teufelssteig, und die norddeutsche Phantasie hat dafür gesorgt, ihn mit so viel Elfen und Kobolden zu bevölkern, daß ein Kind sich gar nicht hineinwagt, und die Erwachsenen nur in sehr trockenen Jahren bei Tage sich des Richtweges bedienen.
Das Bruch ist reich an Schnepfen, und der See bietet die ergiebigste Entenjagd im ganzen Lande. Sie wird zwar vom Herrn Justitiar des Stiftes, dem das Dorf Unterthan ist, ausgeübt, jedoch mehr dem Namen
als der Sache nach. Denn der Herr Justizrath wohnt in der etwa zwei Meilen weit entfernten Stadt, und so wird die Jagd thatsächlich zumeist vom Schmied und Müller exercirt, die auch einen Kahn im Rohre da versteckt halten, wohin sie allein den Weg zu finden wissen. Daß Beide immer wilde Enten verzehren, versteht sich von selbst, ist im Dorfe bekannt und wird so wenig als widerrechtlich angesehen, wie das Schöpfen aus dem Brunnen und das Athemholen. Da der Justizrath immer nur von einer Seite ins Dorf und zum See gelangen kann, so treiben der Schmied und der Müller ihre Jagd um so mehr in Sicherheit, als der Müller von seiner Windmühle herab wie aus einem „Lug ins Land“ die ganze Gegend zu übersehen vermag.
In diesem, man kann sagen, althergebrachten Zustand der Dinge war von keiner Seite eine Störung eingetreten; denn der Justizrath war zu wohlhabend, hatte zu viele Jagden und war auf Wasserjagd, da er die Bequemlichkeit liebte, zu wenig passionirt, als daß er sich hätte veranlaßt finden können, mehr zu thun, als hin und wieder, gleichsam um die Verjährung zu unterbrechen, eine Drohung auszustoßen. Man wußte, daß dies eben nur eine Drohung war, und hütete sich wohl, den Herrn zu reizen, der, wie alle Gewalthaber, die in ihrer Hand intensiv sehr viel, der Räumlichkeit nach aber nur geringe Macht vereinigen, sehr reizbar war. Er hielt sich, wie er selbst sich äußerte, für seelensgut und übte den Despotismus, der in der
Vereinigung der richterlichen und Polizeigewalt, sowie in seinem Einflusse auf die Verwaltung und Rentkammer des Stiftes sich geltend machte, mit verhältnißmäßiger Milde. Nur an seine Eitelkeit anzustoßen, war gefährlich. Der kleine, dicke, behäbige Mann konnte dann, wie alle eitle Menschen, gefährlich werden, und ließ sich zu den äußersten Ungerechtigkeiten und Bedrückungen hinreißen, um seinem verletzten Ansehen, das leider durch keine besonderen geistigen Eigenschaften gehoben wurde, zu Hülfe zu kommen.
Vor wenig Jahren war sein Actuarius gestorben, und das Stift hatte einen Menschen ernannt, der alle Eigenschaften besaß, Leute wie den Justizrath für sich einzunehmen. Der junge Mann war aus dem Dessauischen, sollte dort als Jäger gedient, aber freiwillig diese Carrière verlassen haben, und hatte sich in das Vertrauen Derer geschwindelt, welche die Actuariusstelle zu besetzen hatten. Das nöthige Examen hatte er vor dem Justizrath selbst, der damit beauftragt war, bestanden, und er ging diesem nicht nur im Dienste, sondern auch auf der Jagd zur Hand. Er hatte von seinem Jägergewerbe etwas Bedientenhaftes beibehalten, eine Eigenschaft, die schwache Personen und besonders schwache Vorgesetzte leider mehr anzieht als abstößt.
Mit dem Müller unsers Dorfes hatte er Bekanntschaft gemacht, als er in den ersten Tagen seines Dienstes ihm ein Erkenntniß publicirte, wonach ihm ein sehr bedeutendes Bauerngut zugesprochen worden war. Er
besuchte ihn von Zeit zu Zeit, blieb selbst unter allerlei Vorwänden über Nacht bei ihm und gewann das Zutrauen des sonst mißtrauischen Mannes so weit, daß dieser ihm die Hand seiner Tochter Marie zusagte. Mit letzterer hatte es eine eigene Bewandtniß. Die bereits verstorbene Mutter derselben war eine Cousine des Müllers, und dieser hatte sie geheirathet, als sie eines Tages weinend aus dem Dienste des Justizraths zu ihm kam. Er ließ das wenige Monate nach der Trauung geborene Kind nicht nur auf seinen Namen taufen, sondern wußte auch glaublich zu machen, daß er seine Cousine früherhin vielfach heimlich besucht habe. Gewiß war, daß er von Niemandem für das Kind etwas forderte oder auch nur annahm. Nur der Schmied, der ihm näher wohnte und über sein Verbleiben genauere Kunde hatte, lächelte zuweilen bei dieser Geschichte, schwieg aber sonst über die Sache. Wenn aber auf den Müller die Rede kam und man seine Klugheit lobte, stimmte er nicht nur herzlich mit ein, sondern setzte auch hinzu, der Müller sei ein ganzer Kerl, der seine Familie liebe und auf Ehre halte.
Die junge Marie war ein sehr hübsches, blondes Mädchen geworden, die unter den Dorfkindern, mit denen sie selten zusammenkam, sich durch Schönheit und ein gewisses feineres Wesen auszeichnete. Man schrieb das auf die Stadterziehung; denn der Müller hatte, da die Dorfschule der Mühle zu fern lag, das Kind nach der Stadt zu einer Verwandten gebracht, die einen
Mehlhandel trieb, übrigens eine sehr brave und sittige Frau war, welche ängstlich dafür sorgte, daß das Kind in der sehr guten Mädchenschule des Orts ordentlich etwas lernte. Nach der Einsegnung war Marie ins Vaterhaus zurückgekehrt und führte die Wirthschaft an Stelle der inzwischen verstorbenen Mutter. Geschwister waren nicht vorhanden, und so brachte das Mädchen ihr Leben in der größten Einsamkeit hin und empfing sehr selten andern Besuch, als von den Kantortöchtern des Dörfchens. —
Der Actuar war ohne Mitbewerber aufgetreten. Eine kurze Zeit lang hatte sich der Hülfslehrer des schon alt gewordenen Kantors und Schullehrers um sie bemüht. Dieser junge Mann hatte die Universität besucht, war aber, da ihm seine einzige Stütze im ersten Studienjahre starb, gezwungen gewesen, dieselbe zu verlassen und sich als Elementarlehrer einzureihen. Er besaß ungewöhnliche Kenntnisse, und die Unzufriedenheit mit seinem widrigen Schicksale hatte sich auf sein Vaterland und die ganzen deutschen Zustände übertragen, die er so laut aussprach, daß der Justizrath und durch diesen der Schulinspector davon Kenntniß erhielt, und er gezwungen wurde, seine ärmliche Stellung und damit die Aussicht auf den Schuldienst aufzugeben. Marie hatte er in Geschichte und Geographie unterrichtet, sie aber merkwürdiger Weise von der Musik abgehalten, weil er behauptete, alle singenden Völker könnten nicht frei werden. Bei seinem Abgange hatte
er Marie und dem Vater ein in Glas und Rahmen gefaßtes Stammbuchblatt gebracht, es selbst aufgehängt und gebeten, sich dabei seiner zu erinnern. Es werde, hatte er hinzugefügt, einst eine Zeit kommen, in der sie die Worte, die er darauf geschrieben, verständen, vielleicht werde er dann wiederkommen aus der Fremde, in der er mehr Freiheit zu finden hoffe. Die Worte lauteten: Ein alter Weiser hat gesagt, die Gerechtigkeit sei ein Mittel der Tyrannis; ich aber sage: Die Ungerechtigkeit ist die Mutter der Freiheit.
Er war abgereis't, man wußte nicht wohin; der Müller und der Schmied hatten seiner am längsten gedacht, während die Bauern ihn als närrischen Menschen bald vergaßen. Marie hatte für ihn nie etwas Anderes gefühlt, als herzliches Zutrauen, und da der junge Mann sich ihr nie erklärt, so war die Stimmung für ihn rein und unverfälscht geblieben.
Oft hatten die Alten, wenn sie die Worte des Lehrers lasen, den Kopf geschüttelt, und sie sahen in ihnen bald nicht Mehr als die schöne Handschrift; den Sinn zu entziffern, hatten sie sich kaum die Mühe gegeben. —
Als der Prozeß wegen des Bauernguts in dritter Instanz für den Müller verloren ging, war der Actuar seltener gekommen und hatte endlich mit Hinweisung auf sein geringes Gehalt sogar abgeschrieben. Der Müller und sein Freund hatten dies fast natürlich gefunden; denn die harten Landleute dieser Gegend sind
nicht romantisch und finden nichts naturgemäßer, als daß die Ehe auf der soliden Grundlage des Auskommens erbaut werde. Marie jedoch hatte sich sichtlich verändert; sie war blasser geworden, man hatte sie zuweilen mit verweinten Augen betroffen; und wenn den Actuar Geschäfte in das Dorf oder gar in die Mühle riefen, so hatte sie ihn ängstlich vermieden. Daß er schlecht sein könne, war ihr nie in den Sinn gekommen; es war daher natürlich, daß sie ihn noch liebte und jedes neue Gerücht von einer anderweitigen Verlobung desselben mit Herzklopfen aufnahm. Seinen Charakter zu ergründen, war überhaupt schwer, zumal für ein liebendes Herz. Denn der junge Mann vermied überall ein scharfes persönliches Hervortreten, und wenn sich in den Stiftsdörfern die polizeilichen Quälereien und Untersuchungen mehrten, so war doch nie nachzuweisen, daß er dabei die Hand im Spiele habe, obwohl tiefer Blickende eine Veränderung an dem Justizrath bemerken wollten, seitdem gerade der Actuar bei ihm sei. Aufgefallen war besonders, daß, wenn Jemand einen Streit mit ihm gehabt, er nie unterlassen hatte, sich wieder zu versöhnen, daß aber nicht lange darauf der Gerichtsdiener, der Gensdarm oder sonst Jemand irgend etwas zur Sprache gebracht hatte, was den versöhnten Freund in Verlegenheit brachte. Geschenke aller Art nahm er gern, war gefällig, und man hielt zuletzt Geschenke für nothwendig, um diese Gefälligkeit und schnelle Abfertigung zu ermöglichen. So hatte sich zuletzt gegen
den freundlichen Mann eine Art Antipathie im Volke festgesetzt, die in dem Volkssprichworte: dem Allzufreundlichen solle man nicht trauen, mehr ihre Rechtfertigung zu finden schien, als in wirklich klar vorliegenden, gegen ihn sprechenden Thatsachen. Wenn Marie dergleichen Aeußerungen zu Ohren kamen, so unterließ sie nie, den Actuar zu vertheidigen. Denn es ist, allgemein genommen, unwahr, daß ein verlassenes Weib auf Rache sinne. Unschuldige, gutgeartete Mädchen vertiefen sich vielmehr in ihre Liebe, und sie wünschen dem Geliebten wohl Krankheit, Armuth und sonstiges Unglück, aber immer nur in der stillen Hoffnung, daß er dann an sie denken, sie zu Hülfe rufen werde, daß er erkennen solle, es gebe doch keine Bessere, Keine, die ihn so herzlich liebe.
Das arme Kind hatte daher durchaus nicht Wohlgefallen daran, wenn man den Mann herabsetzte, was ihre Freundinnen sich einbildeten. Sie hätte lieber gesehen, daß sie Gelegenheit gehabt hätte, ihm recht schlagend ihre Liebe zu beweisen, sich für ihn zu opfern, um nur gewiß zu sein, daß ihm die Trennung von ihr, deren Grund sie als wahr annahm, eben so wehe thue als ihr. Schmerz soll der Geliebte, der sich losgesagt hat, allerdings leiden, aber am liebsten den Schmerz der Liebe. Nur entartete, innerlich gefallene Weiber verfolgen und vernichten die ganze frühere Existenz des Geliebten, wenn sie können.
Daß übrigens der Actuar ihr und ihrem Vater
von Herzen zugethan sei, bewies er ja, nach ihrer Ansicht, täglich durch Freundlichkeit, und wie konnte es auch anders sein; sie hatte ihm ja nichts gethan, und der Vater eben so wenig; er mußte ja umgekehrt gut machen, was er durch unüberlegtes Werben angerichtet hatte.
Es ist aber eine alte Bemerkung, daß der Beleidiger Den mehr haßt, gegen den er sich ein wirkliches Unrecht zu Schulden kommen ließ, als er umgekehrt von diesem gehaßt wird. Wir haben uns daher vor Niemand so sehr in Acht zu nehmen als vor Dem, der sich schlecht gegen uns betrug; denn es ist das Wesen der Gemeinheit, nicht zur Scham und Reue zu gelangen, sondern außerhalb der eigenen Person Genüge und Buße zu suchen und so immer wieder auf den Gegenstand des Hasses, in dem ein wandelnder Vorwurf liegt, zurückzukommen. Darum haben alle Versöhnungen, wenn die Beleidigungen wirklich tiefgreifend waren, ihr Mißliches.
Man konnte daher bemerken, daß der Actuar gegen Niemanden so freundlich war als gegen den Müller und seinen Freund den Schmied, die fast Eine Person bildeten, und als die Frühjahrsjagd herankam, bat er Beide inständig, ihn nicht zu verrathen, wenn er sie auffordere, vorsichtig zu sein, da der Justizrath gegen sie aufgebracht sei und nichts Gutes im Sinne habe.
Die paar Enten, sagte er, sind nicht der Rede
werth; aber der Justizrath ist ein Mann, der absolut das Recht aufrecht erhalten will.
Wenn er das will, hatte der Schmied geantwortet, so braucht er ja nur die Jagd zu verpachten; denn er hat so wenig Recht darauf als wir.
Ich denke, erwiderte der Actuar, er hat die Jagd in partem salarii.
Ach, salarii hin und her, lachte der Müller, wir wissen recht gut vom alten Actuar, daß sie im Etat immer vergessen wird, während das Stift, wenn auch nur einige Thaler, daraus einnehmen könnte.
Ah! verstehe, hatte der Actuar gelacht, verstehe, verstehe! —
Nun, meinte der Schmied, ich will damit nichts Unrechtes gesagt haben; es ist eine Kleinigkeit, aber darum sollte der Herr Justizrath auch leben und leben lassen, zumal bei der Entfernung von der Stadt die Sache für ihn nicht großen Werth haben kann.
Du hättest den Mund halten sollen, sagte der Müller, als der Actuar mit den freundlichsten Händedrücken abgereis't war. Ich weiß nicht, es kam mir in der Miene des Actuars etwas auffallend vor; er war sichtlich erfreut, als du herausplatztest, und er meint es entweder mit dem Justizrath oder mit uns böse.
An den Justizrath wagt er sich wohl nicht, meinte der Schmied; wir müssen auf unserer Hut sein, und wollen lieber die Jagd eine Weile lassen; es wird uns ohnehin schon sauer. Thue recht und scheue Niemand.
Wer kann etwas gegen uns, wenn wir uns still und friedlich halten? Wir haben, Gott sei Dank, eine väterliche Regierung, und wenn man auch viel zu bezahlen hat, ohne zu wissen wofür, so lebt doch Recht und Gerechtigkeit.
Mit aller Gerechtigkeit, erwiderte der Müller, ist es nichts, wenn sie vom guten Willen abhängt. So sagte oft der verrückte Lehrer. Wen ich nicht zwingen kann, gerecht zu sein, den will ich zum Richter. Der Fürst ist kein Vater, und soll es nicht sein. Das Gesetz soll mich schützen, die feste Ordnung, nicht der gute Wille des Einzelnen. So ungefähr meinte der Lehrer, und, lieber Nachbar, wenn ich den Kammerherrn da drüben auf Bukerode ansehe, der lauter Liebe und Güte, lauter Gerechtigkeit und Väterlichkeit ist und damit seine Bauern dahin bringt, daß sie ein Recht nach dem andern aufgeben und Alles vertrauensvoll ihm in die Hände legen, so kommt es mir oft vor, als habe der verrückte Lehrer doch Recht. Sie haben ihr Recht, soweit sie es verstehen, und verlieren jede Lust, selbst zu denken und zu handeln, aus Bequemlichkeit.
Was kümmert uns das? meinte der Schmied; wir kleinen Leute müssen es Andern überlassen, Alles zum Besten zu ordnen; wer nicht selbst essen kann, muß sich füttern lassen, und — Nachbar, wenn man dem Affen das Barbiermesser in die Hand giebt, schneidet er sich.
Beide Männer lachten, gingen ihren Geschäften
nach und dachten nach wenig Wochen nicht mehr an den Actuar und das Gespräch mit ihm.
Da schon oft der Schmied dem Müller und dieser umgekehrt jenem in seiner Hantierung hülfreich zur Hand gegangen war, so hatte Jeder etwas vom Handwerk des Andern gelernt. Es war daher nichts Seltenes, wenn an einer Stelle die Arbeit drängte, Beide vereint arbeiten zu sehen.
In dieser Zeit war der Schmied übermäßig beschäftigt; denn er hatte contractlich die Eisenarbeiten an verschiedenen landwirthschaftlichen Maschinen und Gerätschaften eines benachbarten Hofes übernommen. Er war dafür bekannt, etwas vom Mechaniker in sich aufgenommen zu haben; sein Geschäft stand in Blüte, und die Aussicht auf einen Erwerb war ihm den Sommer und Herbst hindurch gesichert. Es ging daher heiß in der Schmiede zu, der Müller half nach Kräften, und dem Schmied lief der helle Schweiß von der Stirne, als der Gerichtspolizeidiener, begleitet vom Gensdarmen, eintrat.
Die Männer boten freundlichen „Guten Morgen“ und wollten in ihrer Arbeit fortfahren, als der Gerichtsdiener folgendes Decret vorlas:
Es ist glaubhaft zur Anzeige gebracht, daß auf der Schmiede zu — die Kohlenkammer von dem Schmiederaum nicht vorschriftsmäßig getrennt ist. Der Gerichtsdiener X. hat sich in Begleitung des Gensdarmen an Ort und Stelle zu begeben, zu unter-
suchen, ob die Scheidung dem anliegenden Auszug aus dem Reglement von ꝛc. entspricht, wenn dies nicht der Fall ist, sofort die Schmiede zu schließen; falls sich aber Schmied widersetzen sollte, denselben zu arretiren und hierher ins Polizeigefängniß abzuführen.
Der Justizrath N.“
Die Schmiede war ein altes Gebäude, und die Scheidung der Kohlenkammer entsprach allerdings nicht mehr den neueren Gesetzesbestimmungen. Sie stand vom Dorfe, welches eng gebaut auf seiner Landspitze zusammengerückt war, so weit entfernt, daß, selbst wenn sie in Flammen aufgegangen wäre, ein Unglück nicht zu befürchten stand, und man hatte, da durch die entfernte Lage der Schmiede die Hauptsache, nämlich das Dorf, gesichert war, bis jetzt nie daran gedacht, diesen Zustand zu moniren.
Der Schmied konnte sich nicht denken, daß die Verfügung Ernst sein. Es ist wohl nicht so böse gemeint, sagte er ruhig. Der Herr Justizrath hätte mir doch wohl eine Frist angeben können, um die Sache zu ändern. Aber wenn die Schmiede geschlossen wird, kann ich ja nicht einmal zukommen. Ich bin in harter dringender Arbeit; macht nur dem Herrn Justizrath meine Empfehlung und sagt ihm, morgen früh mit dem Tage werde ich bei ihm sein und mit ihm über die Sache sprechen. Wenn ich heute diese Arbeit nicht abliefere, so bleibt auf Rodig die Häckselmaschine stehen, die Leute
kommen in die größte Verlegenheit mit dem Vieh, und ich habe davon großen Schaden.
Leset den Befehl selbst, sagte der Gerichtsdiener, ich muß die Schmiede schließen.
Herr Gensdarm, sagte der Müller, der Gerichtsdiener fürchtet sich wohl vor dem Justizrath; sprechen Sie doch ein Wort drein, Sie sehen ja, daß es hier keine Eile hat, und übernehmen Sie die Verantwortung bis morgen früh!
Der alte Soldat machte ein saures Gesicht, es war ihm anzusehen, daß er gern geholfen hätte, aber er strich sich den Bart, wandte sich ab und sagte: Geht nicht, ich kann nicht; ich habe hier nichts mitzureden.
Nun kein Geplapper mehr, rief der Gerichtsdiener, macht, daß Ihr aus der Schmiede kommt. Der Schmied hatte inzwischen ruhig fortgehämmert. Er arbeitete fast mechanisch, er hörte und sah nichts, er war ganz aufgegangen in dem Gedanken an die gestörte Arbeit, an den verlorenen Erwerb vielleicht des ganzen Sommers. Macht schnell hinaus Alle! rief der Gerichtsdiener noch einmal, riß den Jungen vom Blasebalg und schob ihn der Thüre zu. Der Schmied hatte gerade den Hammer niedergelegt und das Eisen mit der Zange gefaßt, als der Junge gegen ihn geworfen wurde, das Eisen zu Boden und ihm so auf den Fuß fiel, daß er laut aufschrie. Laßt zum Donnerwetter meinen Jungen hier, los die Hand! rief er und hatte den Gerichtsdiener bei der Gurgel.
Gensdarm, arretirt ihn! konnte dieser noch stöhnen, und der Gensdarm faßte den Schmied an der Schulter; aber im Nu hatte dieser Beide zur Thür hinausgeworfen.
Zum Schulzen! rief der Gerichtsdiener, zum Schulzen! Die Gemeinde muß aufgeboten werden!
Ist nicht nöthig, sagte der Müller, ich helfe Euch, und so faßte er den Schmied und sagte: Nachbar, Ihr seid Arrestant, thut mir den Gefallen und folgt! Der Schmied hatte Thränen der Wuth im Auge. Ich werde nach Haus und Hof sehen, soviel ich kann, folgt ruhig, es wird sich Alles aufklären.
Der Junge muß auch folgen, rief der Gerichtsdiener, er hat auch angegriffen, er muß bestraft werden!
Nehmt ihn mit, rief der Müller, und nun Adieu. Nachbar, den Abschied an Weib und Kind, die im Felde sind, werde ich bestellen, Adieu! Seid hübsch gelassen und verlaßt Euch nicht zu sehr auf das „Thue recht und scheue Niemand.“
Man hörte einige Zeit nichts vom Schmied. Nach etwa vierzehn Tagen wurde der Vormund des Jungen zur Stadt bestellt; er hatte dort gehört, daß dem Knaben die schwere Untersuchung geschenkt sein solle, daß er aber, da sich derselbe sehr schlecht betragen, auch sonst schon schlechte Streiche verübt habe, auf vormundschaftliche Züchtigung antragen solle. Der Vormund hatte diesen Wink befolgt, und der Knabe wurde von Vormundschafts wegen — denn der Justizrath war auch
Obervormund — mit zehn Hieben bestraft und damit unter gehöriger Verwarnung begnadigt. Endlich nach langer Haft, gegen den Winter, kam das Endurteil gegen den Schmied heraus; es lautete auf neun Monat Zuchthaus.
An demselben Tage, an dem die Nachricht ins Dorf kam, trafen auch der Gerichtsdiener und Gensdarm auf der Mühle ein und las Ersterer ein Decret vor folgenden Inhalts:
„Wie diesseits glaubhaft zur Anzeige gebracht worden, soll der Müller mit einer ungeaichten Metze, die noch dazu zu groß ist, messen und auf diese Weise die Mahlgäste betrügen. Der Gerichtsdiener hat sich in Begleitung des Gensdarmen an Ort und Stelle zu begeben, und wenn die Anzeige richtig befunden wird, den Müller zu arretiren und mit der Mahlmetze einzuliefern.“
Wo ist Eure Mahlmetze? Zeigt mir keine falsche! sagte der Gerichtsdiener; denn Flunkereien sind hier nicht angebracht! —
Gott bewahre! erwiderte der Müller, hier ist die Metze; sie ist von Kupfer, und mit ihr wird öffentlich und ohne daß sich ein Mahlgast beschwert, seitdem die Mühle steht, seit 1750 genutzt. Seht hier die Jahreszahl darin! Ich habe die Sache so vorgefunden, als ich die Mühle vom Vater ererbt habe, und ich bin mir keines Unrechts bewußt!
Der Gerichtsdiener hatte eine geaichte Metze zur
Hand. Beide Beamte maßen zu verschiedenen Malen und fanden, daß die kupferne Metze ungefähr ein Fünfzehntel statt ein Sechzehntel Scheffel war.
Es thut mir leid, Ihr seid Arrestant, sagte der Gerichtsdiener. —
Gut, ich folge, erwiderte der Müller, nahm Abschied von der Tochter und instruirte den Burschen.
Die Tochter warf sich ihm an die Brust und wollte ihm folgen und persönlich beim Justizrath und Actuar vorsprechen.
Höre! sagte ruhig der Müller. Du weißt, ich habe dir nie ein hartes Wort gesagt, aber wenn du dich unterstehst, einen Menschen meinetwillen zu bitten, so bist du von meinem Herzen verstoßen! Adieu! Führe dich gut auf, denn die Sache kann lange dauern!
Es schien, als wenn dem Müller schwerer beizukommen sei, als dem Schmied; denn das halbe Dorf mußte ins Gericht, bis ein dickes Actenstück zusammengeschrieben war. Das Ende der Procedur war, daß der Müller als Betrüger bestraft und auf sechs Monate ins Zuchthaus geschickt wurde.
Gegen den Herbst des künftigen Jahres kamen ziemlich gleichzeitig beide Männer zurück. Ihre Wirthschaften waren heruntergekommen, und nur ihren vereinten Bestrebungen und durch gegenseitige Bürgschaft war es möglich, die nöthigen Capitalien für die Kosten der Untersuchung zu beschaffen. Uebrigens sprachen sie kein Wort über letztere und ihre Haft; sie gingen
nie in den Krug, aber auch nicht zur Kirche, die sie sonst regelmäßig besucht hatten. Der Pfarrer, als er dem Müller begegnete, erkundigte sich bei ihm nach dieser Versäumung des Gotteshauses und machte ihm Vorhaltungen. Der Mann antwortete nicht; es waren von ihm nur die Worte herauszubringen: es muß erst besser werden in der Welt! Beide Männer hielten jetzt jeder eine Zeitung, die sie einander austauschten und an Winter-Abenden meist durch Marie sich vorlesen ließen. Wenn sie dann von den Bedrückungen in fremden Ländern hörten, von der Ungerechtigkeit, mit der hie und da die Unterthanen behandelt wurden, heiterte sich das Gesicht des Müllers sichtlich auf. Schleswig-Holstein hatte sich damals schon für seine Rechte erhoben, und die Männer in andern Ländern traten zusammen.
Welchen Gewinn siehst du dabei, fragte der Schmied, wenn es armen Leuten schlecht geht?
Ich freue mich, weil ich nun den Lehrer verstehe: die Ungerechtigkeit ist die Mutter der Freiheit!
Wem eine tiefere Bildung gegeben ist, der soll sich nicht dem Pessimismus hingeben; aber er wird mit keiner Ueberredung aus den Massen die Hoffnung auf das Besserwerden durch das Schlechterwerden herausbringen. Denn der Ungebildete hat einen zu engen Kreis der Thätigkeit, als daß er das Wahre und Edle könnte fördern helfen. Sein einfacher Glaube an Gottes Gerechtigkeit läßt ihn auch nicht dazu kommen, die Noth-
wendigkeit des Bösen zu erkennen; er hat keine Vorstellung davon, daß die Menschheit das, was er gut und christlich nennt, im Schweiße des Angesichts erringen muß, um sich desselben als feststehenden Guts zu erfreuen. Er sieht, wenn die widerstreitenden Kräfte gegen einander lebendig sind, kein Mittel, das Böse, wie er es nennt, zu bezwingen, als durch die Gewalt, und gerade dieser Zug ist der tiefere Grund, weßhalb die Masse regierungsbedürftig ist. Was Diejenigen, denen alle Revolution ein Abscheu ist, verdammen, ist sonach gerade die Eigenschaft der Massen, auf der ihre eigene Herrschaft beruht, und sie werden, da sie den Pessimismus nur als Ausgeburt des Einzelnen nehmen, zu leicht verführt, das für Geduld des Volkes zu halten, was nur ein Sammeln im Maße ist, auf daß es voll werde.
Eigenthümlich war daher auch die Entwicklung der drei Personen nach ihrer Bildung und Anlage. Der Schmied, der zwar verheirathet war, aber über die Schmiede nicht verfügen konnte, da er sie an die ältesten Stiefkinder gegen Altentheil abgeben mußte, hatte, da ihm und seinen Nachkommen ursprünglich eigentlich Nichts gehörte, wenig Interesse für Land und Leute. Unter Freiheit verstand er daher wenig Mehr als das Glück, nicht Gensdarmen und Gerichtsdiener zu sehen. Daß er ins Zuchthaus hätte kommen können, war ihm von Kindesbeinen an ganz unmöglich vorgekommen, und er war nunmehr in völlige Confusion mit sich und selbst
mit Gott gekommen, der bei einem rechtlichen Menschen so etwas zulassen könne. Um so concreter concentrirte sich daher sein Haß auf den Actuarius und auf den Justizrath, wobei er denn überhaupt auf Alles, was Beamter war, seinen Antheil von Haß mit abgab. Der Fürst konnte, nach seiner Anschauung, nicht anders als gut sein, und seine ganzen politischen Wünsche beschränkten sich daher auf rechtschaffene Beamte, von denen hie und da der Fürst einzelne, damit sie rechtschaffen blieben, ernstlich abstrafen sollte. In Folge seiner geringeren innern Bildung hatte ihn das Zuchthaus roher gemacht, und er, der früher ein guter, einfacher Mensch gewesen war, hatte sich in einen rachsüchtigen, ja man kann sagen, schlechten Menschen verkehrt, der Jedermann mit Mißtrauen, seinen Beleidiger aber mit vernichtendem Hasse ansah. Er betrachtete die politischen Begebenheiten daher eigentlich nur mit dem Interesse, daß sie ihm Gelegenheit gewähren würden, sicher vor der Strafe seine Rache zu sättigen.
Der Müller dagegen hatte mehr das Allgemeine im Auge. Vielleicht, weil er mit dem Lehrer viel umgegangen war und von Hause aus mehr gelesen hatte, traten in ihm die Personen zurück und die Institutionen in den Vordergrund. Er wußte sich über Preßfreiheit, Trennung der Justiz von der Administration, Versammlungs- und Vereinsrecht, Selbständigkeit der Communen und der größern Verwaltungskreise in Besetzung ihrer Beamtenstellen, über Geschworenengerichte, Freiheit
der Person und des Eigenthums Rechenschaft zu geben und schrieb besonders schlagende Sätze aus den Zeitungen und den ihm zugänglichen Büchern in ein Heft ab, das er beinahe auswendig wußte, und dessen Inhalt ihm eine Art geläufiger Redekunst gewährte.
Marie dagegen neigte für die bestehende Ordnung der Dinge, sah das Uebel nur als etwas Einzelnes an, dessen Abhülfe Gott, der Alles zum Besten kehre, schon herbeiführen werde.
Es ist ja nicht nöthig, Vetter, so nannte sie den Schmied, daß alle die armen Leute von Amt und Brod gejagt werden; wenn sie Uebles thun, so geschieht es gewiß aus Unverstand, und wenn sie böse sind, so kann man sie ja bessern. —
Marie! erwiderte dieser, du magst ein ganz kluges Mädchen sein, aber das verstehst du nicht. Es ist kein Mensch zu bessern. Jungen, die in der Schule nicht bloß leichtsinnig, sondern wirklich böse sind, welche die ganze Schuljugend fürchtet, weil sie nichts taugen, bleiben schlechte Menschen, und wenn alle Lehrer und Prediger der Welt daran bessern. Wer einmal ein wirklich schlechter Kerl war, kann sich nicht bessern, weil er sich nicht besser machen kann. Mir vermag kein Mensch meine neun Monate Zuchthaus vom Halse zu nehmen, und wer mich dazu gebracht, kann sich nicht bessern, weil seine Sünde nicht auszuwischen ist. Selbst wenn ein solcher Missethäter ebenfalls neun Monate sitzen müßte, ist damit nichts gewonnen; denn ich werde dadurch
nicht neun Monate jünger, die ich aus dem Leben verloren habe. Nur der Tod des Einen oder des Andern quittirt die Rechnung. —
Vetter! Ihr werdet gottlos, — sagte das Mädchen; die Schrift sagt, die Rache ist Gottes! —
Ja, das ist sie, erwiderte der Schmied, sie ist Gottes, aber durch die Menschen. Roggen und Waizen sind auch Gottes Gaben, aber durch die Menschen, die pflügen, säen und ernten. Gott verlangt, daß wir ihm beistehen, als seine Werkzeuge. —
Aber doch nicht im Bösen! rief Marie; die Rache ist ja etwas Böses. —
So? entgegnete der Schmied, dann wäre sie auch nicht Gottes. —
Der Müller ging ab und zu und mischte sich nicht ein. Als er den Schmied am Ende begleitete, bot dieser gute Nacht und sagte: Nachbar! das Mädchen bleibt immer ein Mädchen; Weiber haben lange Röcke und kurze Sinne, ich möchte um alle Welt nicht, daß sie plauderte. Recht habe ich doch, kein Mensch bessert sich, es steckt Alles im Blut, und, Nachbar, ein Kuckucksei in einem fremden Neste bringt einen Kuckuck. Art läßt nicht von Art. Gute Nacht! —
Der Müller antwortete nichts, er war aber zur Mühle gegangen, ohne Marie anders gute Nacht zu bieten als durchs Fenster. Geh zu Bette, rief er, ich komme spät herunter und muß früh auf.
Von der Zeit ab vermieden die Männer etwas
mehr alle Streitigkeiten über Welthändel in Mariens Gegenwart; auch ging der Müller öfter mit den Zeitungen zum Schmied, obgleich sonst ziemlich regelmäßig des Müllers Wohnung das Lesezimmer gewesen war. Dagegen kam mehr Besuch als sonst aus dem Dorfe und aus andern Gegenden, der aber fast stets zur Schmiede oder auf die Mühle geführt wurde.
Des Schmieds Lehrbursche, derselbe, der von Vormundschaftswegen gezüchtigt war, war oft die letzten Tage der Woche auf Reisen, und Marie bemerkte, daß er sogar Abends über das Bruch nach Norden ging; denn der Knabe kannte die Oertlichkeit, als der gewandteste Sucher von Kiebitzeiern, so genau wie sein Herr, und war, seit dieser sich von der Jagd zurückzog, statt seiner auf dem See und in den Fennen mit der Flinte zu treffen. Die Strafe, die er empfangen, schien nicht gut auf ihn gewirkt zu haben; denn er war seitdem mehr vagabondirend geworden; sein Herr sah ihm mehr durch die Finger und behalf sich anderweit, wenn der Knabe fehlte. Er ging sehr häufig zur Stadt, und wenn er von dort zurückkam, gingen ihm der Müller und der Schmied entgegen, als könnten sie die Zeitungsblätter und Schriften nicht erwarten, welche der Knabe von dort zurückbrachte. Marie, die stets freundlich gegen ihn gewesen, wie dies gegen Jedermann ihre Art war, fand ihn jetzt weniger plauderhaft als sonst und konnte nichts darüber herausbringen, was ihn so geschäftig in die Gegend treibe. Eines Abends aber,
als der Knabe zur Mühle ging, wo eben der Müller arbeitete, sagte er ihr im Vorbeigehen:
Seid um zehn Uhr hinter dem Stall, ich habe Euch etwas zu sagen.
Der Knabe fand sich pünktlich ein und eröffnete dem Mädchen, daß es in der Welt bald bunt kommen werde, und er habe etwas munkeln hören, daß der Justizrath und Actuar in Gefahr seien; die Stiftsbauern würden zur Stadt ziehen, und dann thue es nicht gut. Ihm sei gesagt, daß der Actuar, als er damals wegen des Gerichtsdieners und Gensdarmen Strafe bekommen sollen, für ihn vorgebeten habe, und nun könne er es nicht über das Herz bringen, er wolle ihm gern helfen, er wisse aber nicht, wie er es anfangen solle. Der Zug gehe von Glowitz aus, und so bliebe dem Justizrath und Actuar, die vor dem Heuthor wohnten, nur ein Ausweg, und zwar nach dieser Seite her. Da aber den Bauern, die etwa hier zurückblieben, eben so wenig zu trauen sei, als denen, die sich den Glowitzern anschlössen, so sei die einzige Rettung noch hierher zur Mühle; denn der Vater so wenig wie der Schmied würden zu Hause sein. Man könne von der Mühle Alles übersehen, und wenn ihre Spur ermittelt würde, so wisse er auch noch Rath.
Was meint Ihr dazu, Jungfer Marie, thue ich wohl recht, und werdet Ihr mich nicht verrathen? —
Dein Plan, Jörge, gefällt mir nicht; denn hierher laufen ja die Leute geradezu in den Sack, und wenn
auch der Vater und vielleicht sogar dein Herr ihnen kein Leid zufügen, so können sie doch von hier aus nicht das Weite suchen, wenn es arg kommt. —
Das habe ich auch gedacht, aber ich habe auch gehört, daß die Bauern meinten, es müsse in den ersten drei Tagen aufgeräumt werden; was da nicht geschehe, sei verspätet. Denn dann sei der erste Sturm verraucht, und Jeder wenigstens seines Lebens sicher. Drei Tage können wir sie schon verbergen, und ich möchte Euch auch noch etwas sagen, aber Ihr dürft es auch später nicht dem Vater und Herrn verrathen, Ihr müßt mir die Hand darauf geben.
Das Mädchen gab ihm die Hand, und nun eröffnete er ihr ganz heimlich, daß er durch das Bruch einen Weg nach der Elslake im Norden wisse. Dort schon sei der Grund sicher und trenne nur noch eine Heide die Lake von der nächsten Landes-Grenze. Er selbst habe schon den Weg gemacht und in der Grenzstadt Eier und Schnepfen verkauft, wovon der Meister nichts wisse.
Dann in Gottes Namen, und Gott mag da helfen, sagte Marie.
Ja, erwiderte der Knabe, das Alles wäre recht gut, aber der Actuar und Justizrath kennen mich nicht genug, um mir zu folgen. Ihr kennt ja wohl den Actuar, sagte er, und ein leises Lächeln flog über seine Lippen.
Ja, ich kenne ihn, aber was kann ich thun? Ich
kann ihn nicht sprechen, und wenn ich dem Vater davon sage, weiß es auch der Schmied, und du bist verrathen. —
Wie ist denn das zu machen? überlegte der Knabe, und rieb sich die Stirn, als dächte er nach. Euch traute der Actuar gewiß, und dann wäre er und der Justizrath gerettet. Könnt Ihr ihm denn nicht irgend ein Zeichen geben, daß ich von Euch komme?
Das Mädchen machte eine schnelle Bewegung. Sei vor Tag um fünf Uhr wieder hier, sagte sie, ich werde dir ein Schreiben mitgeben.
Der Knabe war pünktlich an Ort und Stelle. Vor Mittag, sagte er, kann ich nicht fort, aber am Abend bringe ich Bescheid. Er versteckte den Brief in seinem Stiefel und verschwand.
Habe ich nicht Recht gehabt? sagte der Schmied, als er nach dem Frühstück zur Mühle kam, Art läßt nicht von Art. Es ist ein Glück, daß das Mädchen uns nicht in die Karte gesehen. Weiber sind Weiber, sie verrathen Vater und Mutter an den ersten Besten, den sie lieben, und wenn er auch Vater und Mutter gemißhandelt, selbst ins Zuchthaus gebracht hat. —
Schweig! rief der Müller. Er hielt den Brief zögernd in der Hand, dann verschloß er ihn wieder und sagte: Wenn es sich um den Actuar allein handelte, müßte ich andere Wege einschlagen. Aber so, wie die Sache steht, darf ich nicht dazwischen treten. Hättest du mich vorher gefragt, als du das Mädchen auf diese
Weise prüfen wolltest, würde ich es dir verboten haben; nun es geschehen, erkenne ich darin eine höhere Hand. Darum laß den Brief abgehen; ich werde sorgen, daß das Mädchen in ihrem Mitleid nicht zu weit geht und uns in Verlegenheit bringt. —
Mitleid! sagte der Schmied. Schönes Mitleid, das das Zuchthaus des Vaters vergessen kann! —
Reize mich nicht noch mehr! Wenn sie kommen, werde ich die Leute in ihrer Schwäche sehen und erkennen, ob an ihnen Besserung möglich ist. —
Also in ihrer Schwäche willst du sie sehen? Nachbar! Nachbar! hüte dich vor der Schlange, der du nicht den Kopf zertratest, als du es konntest. Hast du ihnen geholfen, dann sei sicher, daß sie dich erst recht verfolgen. —
Das kann sein, sagte der Müller, aber ich kann nicht anders; ich kann selbst meinen Feind nicht ausliefern, wenn er unter mein Dach flüchtet. —
Auch wenn er hofft, dich nicht unter deinem Dach zu finden? —
Auch dann nicht! ich sehe immer mehr, daß der Lehrer, den wir für verrückt hielten, ein Weiser war; er hat mir erzählt, daß selbst bei Wilden das Dach den Feind schütze.
Dach hin, Dach her! rief der Schmied, ich will dir nicht entgegen sein; aber ich werde dich in nichts unterstützen. —
Das verlange ich auch nicht, sagte der Müller,
obwohl du die Sache angefangen hast. Wäre es nicht geschehen, so unterbliebe es vielleicht besser; aber da es geschehen, sehe ich darin, wie gesagt, einen Finger Gottes, der unsere Feinde in unsern Schutz treibt.
Wenn aus jener Zeit jeder Einzelne seine Erlebnisse verzeichnete, gut oder schlecht, so würde dies für den spätern Geschichtsschreiber ein unschätzbares Material abgeben. Nie und nimmer hat die Weltgeschichte ein Beispiel davon geboten, wie auf dem ganzen Continent Europa's ein mit ungeheuren Kosten ein Menschenalter hindurch aufgebautes und dem Anschein nach festes Material zusammenbrach. Es war, als wenn alle Gewalt an Einem Tage wie durch einen elektrischen Schlag gelähmt an den Boden geworfen wäre, und die Welt sah erstaunt, daß sie ohne Regierung war. Die Feigheit der Beamten überstieg alles Maß. Polizeidirigenten liefen in die Wälder, Bürgermeister bekamen Fußtritte; bis zu den höchsten Beamten hinauf flüchteten Einige in die ländliche Einsamkeit, Andere verkleidet, den rothen Regenschirm und Nachtsack unter dem Arm, suchten bei entlegenen Landwirthen ein gastliches Dach. Gutsbesitzer, die auf ein halbes Dutzend Erntewagen ihre fahrende Habe geworfen, suchten Schutz in der Stadt, und aus der Stadt liefen Andere hinaus, um auf dem Lande versteckt zu bleiben.
Jeden Abend die Nachricht von einer neuen Revolution in dieser oder jener Residenz, und jedesmal ein Laufen und Gebahren, als wenn das Volk morden
und brennen wolle. Das Volk aber wollte aufbauen, nicht zerstören, und nur den Beamten zeigen, daß es von heute ab Rechenschaft fordere, durch seine Organe. Es begnügte sich zu schrecken, und dies gelang ihm mehr als nöthig war. Wenige ließen sich nicht schrecken, traten dem Volke dreist entgegen, handhabten die Ordnung nach wie vor, und das Volk, das den Muth liebt, brachte ihnen Vivats. Sie gerade wurden von der übrigen Beamtenwelt gehaßt; denn die Niedrigkeit leidet neben sich nicht das Bessere, ja ihnen wurde bei den Wahlen entgegengewirkt, weil sie die Zeit nicht verständen. Denn man warf sich weg selbst bis zur äußerlichen Unscheinbarkeit, man erblickte in solchem Gebahren eine Artigkeit gegen das Volk, und diese Artigkeit ging zuweilen bis zur Kriecherei. Ja, einige Beamte spielten die Freiheitshelden, wie sie alle Heldenrollen durchspielten, zu denen sich im Laufe der Zeit und nach dem Umschwunge der Dinge Gelegenheit bot. Die Vereine und Versammlungen schossen wie Pilze aus der Erde, die Redner waren in Fülle vorhanden, und jeder Mann mit Lungen hielt sich reif zum Vertreter des Volkes. Im Ganzen lag eine gewisse Unschuld, die etwas Rührendes hatte, in der Sache, ungefähr wie man den Studenten darauf mitleidig ansieht, daß er aus aller Lust heraus nach wenig Jahren doch ins Examen, in die Dressur und ins Joch muß. Von oben herab verstand man die Bewegung nicht, ungefähr ebenso, wie uns der junge Mensch mit seinen Paradoxen fast
schwindlig macht, während wenig Jahre hinreichen, diese Paradoxen abzuklären, ihnen Gestalt, Form und Inhalt zu geben und sie als Wahrheiten der Neuzeit unter allgemeiner Anerkennung in die Welt zu führen.
Auf dem Lande, mit seinen althergebrachten, starren Verhältnissen und seiner aristokratischen Sonderung der Dorfbewohner nach dem Grundbesitze, war der Umschwung der Dinge in unserm sonst so kalten Norden besonders auffallend. Der Schulze taugte schon eo ipso nichts; er war ja so lange Schulze gewesen, und die Regierung war mit ihm und mit seines Gleichen dort gestürzt. Ebenso wie das Evangelium sich aus den Fischern und Knechten seine Apostel holte, so nahm sich die neue Lehre ihre Jünger und Verfechter aus den kleinen Leuten.
Der Stellmacher, der Müller, der Schmied, der Schuster und vor allem der sonst so tief gestellte Schulmeister, das waren die Wahlmänner. Der Schulmeister eignete sich natürlich zum Wahlmann für Frankfurt, das man von vornherein als einen Katheder für den Gelehrten ansah. Jeder, der eine Brille aufhatte und sonst wohlmeinend war, wurde für Frankfurt reif gehalten; für die heimischen Landtage aber bedurfte man Männer von Gesinnung, von unverdorbenem Sinne, was mit Wissen und Können, wie man glaubte, nicht zu vereinigen war. Unter diesen Umständen wirkten die ersten Tage einer solchen Zeit auf den Beamten, der von seinem grünen Tisch aus mit der ihm durch
die alte Schule eingelebten Unfehlbarkeit die Welt zu regieren glaubte, wie ein Erdbeben. Er hielt den Tag des Gerichts für gekommen; es braus'te wie ein dies irae, dies illa durch die Luft, es erschienen die Tage, die man, wie die Geschichte eine journée des dupes hat, als die Tage des bösen Gewissens bezeichnen könnte.
Mit dem Gewissen sah es beim Justizrath mißlich, beim Actuarius sehr schlecht aus. Leute dieses Schlages haben kein Gewissen im gewöhnlichen Sinne; denn sie haben ja bei allen ihren Unthaten einen Paragraphen für sich gehabt, den sie auch dem lieben Gott entgegensetzen. Es ist ein Irrthum, wenn man glaubt, Diesen oder Jenen quäle das Gewissen, während seine Indisposition nichts als Unverdaulichkeit oder ein Diätfehler ist. Desto empfindlicher sind Leute dieses Schlages für das objective Gewissen, das in sichtbarer Gestalt daherbraus't und ihren Paragraphen für nicht Mehr ansieht, als er ist, für die Maske, hinter der die Leidenschaft und Bosheit ausgeübt wurde.
Es war daher natürlich, daß der Justizrath und sein Actuar auf Mariens Brief eingingen. Dem Erstern schien es ganz unnatürlich, daß das Mädchen nicht sein Vertrauen verdienen sollte, und der Letztere war mit Leib und Seele bei dem Plane, da er für seine Unwiderstehlichkeit ein glänzendes Zeugnis gab. Der Knabe wurde reichlich beschenkt, nachdem alle möglichen Proben und ein förmliches Verhör seine Treue unzweifelhaft gemacht hatten.
Sie rücken wahrscheinlich schon heute Nacht an, sagte der Knabe; denn bei uns, als gestern die Nachrichten aus der Residenz ankamen, war Alles der Meinung, man müsse schnell aufräumen.
Werden dein Herr und der Müller unter den Aufrührern sein? fragte der Justizrath.
Ich glaube es wohl, meinte der Knabe, deßhalb, und weil sie jedenfalls, wie ich bestimmt weiß, heute Abend verreisen werden, hält Sie Jungfer Marie für gut aufgehoben bei uns, wohin sonst Niemand kommt. — Aber, wenn sie nun nicht verreisen, wer steht uns dafür, daß sie uns nicht ausliefern?
Dafür lassen Sie nur Jungfer Marie sorgen; was sie will, thut ihr Vater, und dem folgt wieder der Schmied. Im schlimmsten Fall können wir immer noch flüchten; denn die Alten haben seit langer Zeit das Bruch nicht besucht und sollen lange suchen, ehe sie meine Wege finden.
Es wurde ausgemacht, daß der Justizrath und der Actuar noch vor Abend die Stadt verlassen und sich östlich wenden, dort in der Heide an einer bestimmten Stelle die späte Nacht bis zur Ankunft des Knaben abwarten sollten, der sie dann durch die Felder zur Müllerwohnung bringen solle. Diesen letzten Theil des Weges sollten sie zu Fuß machen, damit selbst der heimkehrende Fuhrmann ihre Spur nicht verrathen könne.
Es war Ende März, als man beim Eintritt des
Abends von den Stiftsdörfern einzelne Gruppen in Glowitz sich zusammenfinden sah. Man las dort eine Schrift vor, in welcher Befreiung der Müller von ihren Mühlen-Abgaben, Erlaß der baaren Gefälle, Bewilligung von Raff- und Leseholz aus der Stiftsforst und außerdem in sehr unklarer Weise Schutz gegen Arrestationen, Nichteinmischung in die Dorfpolizei und dergleichen gefordert wurde. Der Justizrath sollte dies unterzeichnen; und dann werden wir noch ein Wort zu sprechen haben, riefen unter beifälligem Gelächter der Menge einige Stimmen. Ein ehemaliger Feldwebel war Anführer, er theilte die Gruppen so, daß man von allen Seiten zugleich an die vor dem Thore der Stadt belegene Wohnung der Stiftsbeamten kommen mußte, die überhaupt, da nach der Südseite hin der Ausweg schon verlaufen war, schon für gefangen galten; denn nach der Nordseite zu lag nur unser Dorf und einige kleinere Etablissements am Rande des meilenlang sich hinziehenden Bruches, das keinen Durchgang zuließ.
Der Justizrath und der Actuar waren aber, als die Aufrührer einrückten, schon im Walde, wo der Knabe, der inzwischen Marie Bescheid gebracht hatte, nach zwölf Uhr eintraf.
Der Müller und der Schmied sind nicht anwesend, theilte er mit, sie sind wahrscheinlich auch zur Stadt; indessen müssen wir in einem Umweg um die Schmiede gehen, da es besser ist, schlimmsten Falls dem Müller als dem Schmied zu begegnen.
Man machte sich auf. Der Knabe und der Actuar trugen die Mäntel und die nöthigsten Sachen. Kaum war die kleine Truppe tausend Schritt durch den Wald gegangen, als sie das Lied hörten: „Ein freies Leben führen wir ꝛc.“ Man verkroch sich in eine Kiefernschonung und vernahm deutlich, was die Vorübergehenden sprachen:
Der Verräther schläft nicht, sagte Einer, nur aufgepaßt! wir werden den Schuft schon herausbekommen, der den Blutpressern unsere Ankunft verrathen hat! — Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, der dicke Justizrath muß baumeln, und der Actuar neben ihm! Wie sich die Leute in der Stadt freuten und vors Thor kamen, um uns zu sehen! fiel ein Anderer ein.
Ja, der lange Conducteur konnte schmählich reden. So kann's kein Pastor. Mitbürger! Brüder! Das Morgenroth der Freiheit glänzt am Himmel des deutschen Vaterlandes, — so fing er an, und dann ging's fort, wie Wasser durch die Schleuse. —
Auch der Müller vom Bruche, äußerte ein Dritter, ist ein ganzer Kerl. Als sie dem Heideläufer zu Leibe wollten, weil dieser der Verräther sein müsse, und ihn schon ans Strick nahmen, fuhr er dazwischen, daß es eine Freude war. Was sagte er doch? Die Freiheit frißt ihre eigenen Kinder oder so etwas, — und sein Nachbar, der Schmied, warf die Angreifer rechts und links und schrie: ich habe unschuldig gesessen, ich weiß, was unschuldig leiden heißt, ich bürge für den Heide-
läufer! — Das war hübsch von ihm; denn er kann doch sonst den Kerl nicht leiden.
Ja, rief ein Anderer, der Schmied ist ein kluger Mann; er ist gewiß dem Verräther auf der Spur, und dann mag ich mit dem die Suppe nicht theilen. —
Die Männer gingen vorüber. Der Knabe zitterte.
Du bist ein braver Junge, sagte der Justizrath und drückte ihm Geld in die Tasche. Ich habe es immer gut mit dir gemeint, und du vergiltst es. Habe nur Muth! —
Hast du die Kerle nicht gekannt? fragte der Actuarius; es könnte doch gut sein, sie sich zu merken. —
Der Knabe verneinte dies und ging vorsichtig horchend voran.
Um etwa zwei Uhr trafen die Drei bei der Mühle ein. Sie hatten sich am Schilfrand des Sees gehalten und so die Schmiede umgangen. Auf ein leises Klopfen öffnete Marie und führte die Männer in ein reinliches Hinterstübchen, wo frische Betten aufgeschlagen und Kaffee und Butterbrod bereit waren.
Der Justizrath sah das Mädchen zärtlich an: Gottes Wege sind wunderbar, sagte er, wie hätte ich denken können, gerade bei dir Zuflucht suchen zu müssen!
Der Aktuar war zum ersten Male etwas verlegen. Wo ist denn der Vater? fragte er. —
Er ist schon Nachmittag fortgegangen und noch nicht daheim, wenn er nicht ungesehen zur Mühle gegangen ist. Wenn Sie ruhig zu Bette gehen, bemerkt
er Sie heut gar nicht, und morgen will ich ihn schon vorbereiten.
Der Actuar drückte ihr die Hand, und das Mädchen erröthete freudig erregt. Es ist eine unzerstörbare Liebe im weiblichen Gemüth zu Allem, was darin wahrhafte Neigung erregt, und es ist im Ganzen nichts unwahrer als der Vorwurf der Veränderlichkeit, den man den Frauen macht. Dabei überwiegt so sehr die höchste Bestimmung des Weibes als Mutter in ihrer Beziehung zum hülfsbedürftigen Kinde, daß ihre Liebe zu den Männern fast in demselben Maße wächset, als sie ihres Schutzes, ihrer Pflege in Noth und Krankheit nöthig haben. Der Actuar war in Gefahr, dies hatte das Mädchen fast erfreut; denn sie konnte ihm ja nun Liebes thun. Sie hatte das für ihn bestimmte Bett mit besonderer Sorgfalt gelegt und gestrichen, und ihre Liebe zu ihm war ihr selbst nun erst recht klar geworden, ja die Hoffnung auf eine Zukunft mochte, ihr selbst unbewußt, durchschimmern; denn er stand ihr ja nun näher, sie war ja schon halb wie sein Weib für ihn besorgt und thätig. Das Mädchen war daher trotz der Noth muthig, weil sie glücklich war, und hauchte diesen Muth in die Herzen der niedergeschlagen angekommenen Männer.
Dem Schmied war indessen nichts entgangen. Als er die Flüchtlinge am Schilfrande hinschleichen sah, rieb er sich die Hände. Prächtiger Junge, murmelte er, Gott segne die Hiebe, die du bekommen! — Ein jun-
ger Mensch war bei ihm, dem er leise einige Worte sagte, und der dann mit der größten Eile davonlief. Das wird eine Hetze geben, sagte er. Die armen Leute haben so oft in Schnee und Eis die Schonungen zu Hofe abtreiben müssen; jetzt kommen einmal die Jäger dran. Und du, alter Schlaukopf da oben auf deinem Mühlenbock mit deinem „Schutz unter deinem Dach“, warte nur noch ein Paar Stunden, und ich will dir die Tollheit austreiben, die du von dem Lehrer gelernt, und von der Gastlichkeit der Wilden. Leid's soll dir nicht geschehen, aber du sollst deine Noth haben. Der Schmied ist nicht so dumm, wie er aussieht! —
Er schlich ums Müllerhaus herum. Die Hunde kannten ihn wie seine eigenen, und er konnte sich dicht an die Mauer legen. Der Müller war schon von der Mühle herab, wo der Bursche schaffte, und er hörte bald lebhaftes Gespräch.
Ich danke Ihnen, Herr Justizrath, sagte der Müller, für Ihr Zutrauen in meinen Edelmuth, wie Sie sagen; aber ich wollte, Sie hätten dies Zutrauen nicht gehabt, Sie sagen mir, daß Marie Sie veranlaßt habe, bei mir sich zu verbergen, und gerade weil diese es gethan, setzte er etwas leiser hinzu, will ich nicht dazwischen treten. Der Mensch denkt und Gott lenkt, vielleicht haben Sie über Gottes Wege jetzt allerhand Gedanken, die zum Guten führen können. Auch dem Kleinsten soll man nicht Unrecht thun, und der Schwächste kann uns Gutes erweisen. Des Menschen Sünde kann
der Haken sein, an dem Gott ein Herz fängt, und der verstoßene Sohn des Hauses ist schon dessen Stütze geworden. —
Wir haben Sie nie verstoßen, lieber Meister, sagte der Actuar, wir haben Ihnen nie absichtlich Böses gethan. Schlechte Menschen, wenn sie Dinge zu den Acten bringen, die wir nicht übergehen können, sind diejenigen, welche die Bolzen schmieden, die wir abschießen müssen. —
Ich rede nicht mit Ihnen, erwiderte der Müller ganz kurz. Begeben Sie sich zur Ruhe, wandte er sich zum Justizrath, morgen früh wollen wir das Weitere überlegen. Ich werde gleich früh zum Schmied gehen und hören, wie die Sachen stehen, und ob nicht in der Stadt Militär oder sonst eine Hülfe angekommen ist, welche Scenen, wie die von diesem Abend, verhindert, oder ob es nothwendig ist, Sie über die Grenze zu bringen. Lange hält die Sache nicht an, das habe ich in der Stadt gesehen; denn das Volk weiß nicht, was es will, und weiß vor allen Dingen nicht, was es soll. —
Bleiben Sie noch etwas bei uns, rief der Justizrath, der still in sich versunken war und zuweilen eine Thräne trocknete, während er am Ofen sich erwärmte und am Kaffee erquickte, bleiben Sie doch noch etwas bei uns. Man muß sich doch auf alle Fälle verabreden. Denn die Dinge kommen oft ganz unerwartet und anders, als man denkt.
Ja wohl, sie sollen anders kommen, als du und der Müller denkst! murmelte draußen der Schmied und ging der Schmiede zu.
Er war nicht lange fort, als er wieder zum Müller umkehrte. Der alte Schlaukopf darf auch nicht entfernt glauben, daß ich die Hunde auf die Fährte gebracht, drum muß ich ihn warnen, murmelte er vor sich hin. Weg kann er doch nicht mit den Blutsaugern; denn in jeden Versteck kann ich ihm die Koppel nachschicken. Leise klopfte er an die Fensterlade des Müllers. Alle horchten auf. Wer ist da? rief der Müller und öffnete das Fenster der dunklen Vorderstube.
Nachbar! rief der Schmied ängstlich. Mein Junge kommt eben gelaufen und sagt, ein paar hundert Mann wären im Anzuge. Sie wollten Euch hängen, die Mühle anzünden, keinen Stein auf dem andern lassen, sie wüßten um den Verräther, der den Justizrath und den Actuar verbärge. Um Gottes Willen! erwiderte der Müller, haltet sie nur einige Augenblicke bei der Mühle auf; ich komme gleich selbst dort hinunter und spreche zu den Leuten. Sind sie erst hier und in Wuth, so ist Unglück zu befürchten. —
Von Herzen gern, Nachbar! rief der Schmied und lief eilig seiner Behausung zu.
Hier ist kein Augenblick zu verlieren. Folgen Sie mir, Herr Justizrath, aber schnell! Geben Sie Ihren Mantel her, es wird kalt gegen den Morgen. Schnell
zog er seinen Schafpelz über, nahm den Justizrath an der Hand und ging zur Hausthür mit ihm hinaus um den Mühlenberg herum dem See zu.
Du hast Niemanden gesehen, Marie, rief er noch im Abgehen, und sagst, du habest mich seit Mittag nicht gesprochen. Gieb Acht, daß kein Stückchen liegen bleibt, was uns verrathen kann. —
Wo um Gottes Willen bleibe ich denn? rief der Actuar im dunklen Hausflur, während draußen schon der Tag graute. —
Versteht sich, daß Sie folgen, hörte er noch, als ihn leise eine Hand faßte und ihm der Schmiedjunge zuflüsterte: Trauen Sie ihm nicht, Sie sehen ja, wie er Sie behandelt und sich um Sie kümmert. So schlüpfte er mit ihm zum Hinterthor hinaus dem Bruche zu, das zwischen Mühle und Dorf ins Land trat. Dort hinter dem Dorf weg weiß ich einen Weg, der uns sicher über die Grenze führt; schnell, schnell! mahnte der Knabe.
Marie! rief es von der Mühle her. Sie lief hinaus. Wo ist der Actuar? drohte ihr der Vater entgegen.
Des Schmieds Junge ist mit ihm davon. —
Nun, hol' ihn der Teufel, mir ist leichter, daß ich ihn nicht bei mir habe. Schnell, Herr Justizrath, es ist ein gutes Zeichen, daß der Böse von Ihnen weicht in der Stunde der Prüfung. — Beide Männer traten ins Schilf und in einen kleinen Kahn, mit dem der
Müller eine gute Strecke, immer verdeckt vom Schilf hinfuhr. Es war die höchste Zeit gewesen; denn schon brausten von der Mühle her die wüsten Stimmen der Verfolger. Aengstlich sah der Müller oft zur Mühle auf; denn er fürchtete die rothe Flamme aufgehn zu sehen.
Nach einer Viertelstunde wurde es ruhiger. Die Marie ist doch ein prächtiges Mädchen! äußerte er. Ja, die Weiber, wenn es aufs Verstellen und Leugnen ankommt, haben zehnfach mehr Muth als die Männer. Und der Schmied muß sich gut nehmen; denn sie scheinen von der Fährte zu lassen. — Der Kahn glitt ganz leise über die Wellen, — da war es beiden Männern als wenn sie von der andern Seite des Bruchs vom Dorfe her Hülferuf hörten.
Der Müller hielt an, auch der Justizrath wurde aufmerksam. Beiden stockte der Athem. Der Hülferuf wiederholte sich ein paarmal. Gott sei Dank! es ist keine weibliche Stimme, stöhnte der Justizrath. Nein, sagte der Müller, nachdem er fein gelauscht, das nicht; es kam mir nur vor, als kennte ich die Stimme. — Er trieb den Kahn in einen vom See etwas ins Bruch tretenden Graben, bis an dessen Spitze, stieg aus und ging im Kreise um den Kahn herum. Es geht, rief er dem Justizrath zu, steigen Sie aus! Der Müller nahm ihn an der Hand; da hörten beide Männer noch ein Schreien und wüstes Lachen. Gott sei Dank, sie lachen, sagte der Justizrath, es ist kein Unglück passirt. —
Es kommt darauf an, was man Unglück nennen will, erwiderte der Müller und ging schweigend seines Weges. Indessen war der Schmiedejunge dem Actuar wie ein Wiesel vorgelaufen. An der Seite des Bruchs, nach dem Dorfe zu, standen einige Elssträucher, bis zu denen Marie mitging. Dort wandte sich der Actuar noch einmal um, und, ob wirklich ergriffen vom Moment oder aus Verstellung, das lassen wir unentschieden, fiel er dem Mädchen um den Hals. Marie, Marie, rief er, leb wohl! Das Mädchen konnte bloß weinen, mehr vor Freude als Wehmuth; denn der Tumult in der Welt reichte nicht bis in ihr Herz, wo heute gerade der Friede und das Glück eingekehrt waren. — Als der Knabe und sein Schützling hinter den Elsen verschwanden, kehrte sie so muthig ins Haus zurück, daß keine Marter, keine Mißhandlung ihr etwas abgetrotzt hätte.
Bald langten die Männer an, und so mächtig wirkt auch auf sonst rohe Naturen Jugend und Schönheit, daß selbst die Vordersten und Lautesten vor ihrem bestimmten und man könnte sagen, vornehmen Wesen Respect hatten und sich an eine Durchsuchung des Hauses, der Mühle und Ställe begaben, ohne das einsam im Hause zurückgebliebene Mädchen zu belästigen. Bald war auch der Schmied in ihrer Nähe und, obwohl er jeden Anschein vermied, zu ihrem Schutze bereit. In dem Tumulte war das Mädchen, damit man das Vieh nicht unnütz aus den Ställen lasse, auf den Hof geeilt.
Plötzlich an der Scheune blieb sie stehen, horchte und flog davon, ohne ein Wort zu sagen, dem Bruche in der Richtung zu, die der Actuar und Knabe eingeschlagen hatten. Der Schmied machte den Männern Vorwürfe, daß sie das arme Mädchen so erschreckt, daß sie ins nasse Bruch laufe. Wir sind ja Christen, rief er, nicht Heiden und Türken! Andere stimmten ihm bei, und nun ging es an ein neues Hin- und Herreden, so daß der Schmied sich unbemerkt entfernen konnte, wobei er aus der nunmehr erwachten Stimmung vernahm, daß keine Gefahr mehr für Hof und Haus war. Er lief ins Bruch, wo er bald die Gestalt Mariens entdeckte. Das Mädchen arbeitete sich durch das welke Gras und Gestrüppe, immer auf die Gegend zu, wo der Hülferuf kam. Bald sah er den Knaben auf einem verwitterten Elsenstamm sitzen, vor dem diesseits, dicht über der Erde, sich ein noch unerkennbarer Körper bewegte. Marie stürzte gerade auf letzteren zu, sie war kaum zwanzig Schritte entfernt, fiel nieder, richtete sich auf und obwohl die dürre Grasdecke unter ihren Füßen wogte, verlor sie den Muth nicht und wollte sich eben zu einer letzten Anstrengung sammeln, als sie sich mit fester Hand am Arm ergriffen fühlte und zurückgezogen wurde.
Willst du in den offenbaren Tod rennen, Marie? sagte der Schmied und hielt sie fest.
Wie ist denn der Actuarius in das schlimmste Loch des Bruchs gerathen, rief er zum Knaben hinüber.
Er ist hineingefallen, wie Ihr seht.
Um Gottes Willen helft mir rasch, rief der Actuar, der Moder steigt mir schon an den Hals!
Aber Junge, wie kannst du denn so dumm sein, hier den Führer spielen zu wollen und dann noch zu glauben, daß erwachsene Menschen gehen können, wo du Flederwisch hinüber kannst.
Er hat sich umgesehen, antwortete der Knabe, und da wird er nicht bemerkt haben, daß ich im Bogen auf den Stamm losging. Nun ist er geradeaus hineingetappt. Warum sah er sich denn immer um, als ob der Böse hinter ihm wäre? Ich weiß nicht, wonach er zu sehen hatte. Meine Schuld ist es nicht. —
Der Schmied machte einen Versuch, an den Actuar zu kommen, aber er kehrte bald um.
Es geht nicht, sagte er, es geht nicht ohne Leitern und Bretter; wir müssen zurück zur Mühle und Hülfe holen. — Marie wollte nicht von der Stelle. Laßt mich, laßt mich um Gottes Willen! Sie eilte auf den Unglücklichen zu, der Schmied hielt sie, der Actuar reckte ihr die Arme entgegen, aber es war eine kurze Anstrengung, und er sank zurück, tiefer in den Schlamm.
Noch sah bloß der Kopf heraus, der Hut lag eine gute Strecke beiseits. In dem Augenblick kamen noch Landleute, die dem Schmied nachgeeilt waren.
Marie stürzte ihnen entgegen. Holt Leitern, Bretter, um Gottes Willen, rettet den Unglücklichen! rief sie. —
Wer ist es denn? —
Es ist der Actuar. —
Ach so, Jungfer, so kommt's heraus. —
Hülfe, Hülfe! rief der Versunkene, Menschen, um Gottes Willen, rasch! —
Das kann nichts nützen, sagten die Bauern, ehe wir mit Leitern und Brettern zurückkommen, ist Der schon Klafter tief begraben. —
Begraben! schrie der Unglückliche. Der Moder wollte ihm in den Mund steigen, krampfhaft warf er den Kopf hintenüber, und die Morgensonne schien über eine entsetzlich verzerrte Maske.
Böse Menschen werden im Todeskampfe recht häßlich; es ist, als wenn die Hölle sie schon etwas vor dem völligen Abscheiden in die heißen Arme nähme. Wuth, Verzweiflung, daß hier keine List mehr anschlagen wolle, das Gefühl der Nichtigkeit bei aller Klugheit gegenüber dem Ewigen, reißen in das Gesicht solcher straflos durchs Leben gegangenen Verbrecher die scharfen Marken der bösen Geister, die noch beim Scheiden dem Cadaver die Spuren und das Wahrzeichen aufdrücken, daß sie in ihm heimisch waren. —
Marie! schrie er noch einmal; sie hörte es noch, zuckte noch einmal auf, als wolle sie heraus aus dem Männerkreise; aber als sie die Maske sah, fiel sie mit einem durch die Lüfte schrillenden Schrei ohnmächtig zusammen.
Der Knabe verzehrte indessen ruhig jenseits sein
Frühstück, das er nach der Ankunft seines Herrn aus der Tasche gelangt hatte.
Meister, rief er, hat denn nicht Einer einen Strick oder eine Pflugleine, die man ihm um den Hals schlingen und womit man ihn dann herausziehen könnte?
Die Bauern schlugen ein lautes Gelächter auf. Der Junge ist richtig; erst ersoffen und dann gehängt! Der Bruchschlamm hält fest wie Leim, und eher würde der Kopf abreißen. —
Da plötzlich kam der Actuarius noch einmal mit einer gewaltigen Anstrengung bis an die Schulter heraus, er befreite gleichzeitig den rechten Arm und griff ein Stück Rasen. Ein Zug der hämischen Freude lief über sein Gesicht, dann verzerrte es sich wieder in gräßlichen Zügen, und als die letzte Faser riß, schrie er laut auf „Teufel!“ und sank unter. Der Arm ragte noch heraus, er sank tiefer, die Hand schnappte noch einigemale in die leere Luft, dann zuckte es im Schlamm, als rüttele es den Körper, der dann mit einer raschen Bewegung in die Tiefe sank, so daß der Moder in Kreisen über ihn zusammenschlug.
Helft mir das Mädchen tragen, sagte der Schmied, und du, rief er dem Knaben zu, komm hier herum, lauf in die Schmiede und hole meine Frau, sonst haben wir zwei Leichen. —
Einige Landleute gingen ihm zu Hülfe, andere waren schon vorausgelaufen, und es dauerte nicht lange, als vom Hause her Gelächter und sogar ein Hurrah
erschallte. Indessen zogen Alle ab, so daß der Schmied mit Marie allein war, die er dann den Frauen überließ. Bald erhob sich ein feiner, kalter Sprühregen und kleidete die Gegend in ein undurchsichtiges Grau.
Der Schmied ging wieder ruhig an seine Geschäfte, nachdem er dem Schulzen durch Ortsbewohner hatte melden lassen, daß der Actuar im Bruche verunglückt sei.
Der Schulze schrieb dies ruhig zur Stadt, ganz im gewöhnlichen Geschäftsgang, obwohl der Justizrath wie er wußte, nicht zu Hause war.
In der Nacht spähte der Schmied von der Mühle nach dem Müller aus.
Sollte er wirklich bis zur Landesgrenze gegangen sein? dachte er. Darüber muß ich doch Nachricht haben. Nur über die Lake und Heide und den Heidekrug kann er dorthin gelangen. Er muß noch im Bruche stecken, oder der alte Schlaukopf weiß noch andere Wege als ich. —
Gegen Morgen des andern Tages sprach er mit dem Jungen, der sich dann auf den Weg machte. Vom Müller und Justizrath war immer noch nichts zu sehen, und in der Nacht kam der Knabe, der im weiten Umweg das Bruch umgehen mußte, mit der Nachricht zurück, daß man auf dem Heidekrug vom Müller nichts wisse, auch in der Stadt hatte er nachgefragt und nichts erfragen können.
Dann ist ein Unglück passirt, rief der Schmied, und nun war er ganz Leben und Thätigkeit. Er schaffte
Leitern, Stricke, Schlitten und Bretter herbei und brachte eine Mannschaft zusammen, die Mittag mit ihm auf Entdeckung ausging.
Wir verließen den Müller, als er vor zwei Tagen mit dem Justizrath floh. Der Weg war beschwerlich da der Justizrath stark und ziemlich unbehülflich war. Sehr erhitzt erreichten sie endlich nach mehreren Stunden eine ganz kleine Oase, die sich unmerklich über die Fläche erhob, aber festeren Grund hatte und mit einigen wenigen niedrigen Büschen bewachsen war.
Hier können wir die Sache abwarten, sagte der Müller, und vielleicht schon am Abend zurückkehren oder sehen, wie wir über die Grenze kommen. Lassen Sie uns ein wenig ruhen, Sie sind sehr erschöpft, und wir haben Beide bei so vielen Anstrengungen nicht geschlafen. Die Natur forderte ihr Recht. Die Männer wickelten sich ein, der Müller machte es seinen Schützling so bequem als möglich, und Beide schliefen ein.
Der Justizrath erwachte zuerst. Es war Nachmittag geworden, der Sprühregen war durch den Mantel gekommen, während der Pelz des Müllers länger Stand hielt, auch dieser Wetter und Wind gewohnte Mensch öfter im Freien zu schlafen gewohnt war.
Gott im Himmel, sagte der Justizrath, was soll das werden? Mir ist die ganze Seite gelähmt, ich kann nicht Arm, nicht Bein rühren. Ich bin zu erhitzt gewesen, und ich fürchte mein Podagra. —
Alle Leiden werden bald ein Ende nehmen, erwiderte der Müller. —
Wie denn, wo denn, bester Freund? —
Ohne ein Wort zu sagen, ging der Müller ins Bruch vor, während der Justizrath ihm ängstlich nachsah.
Mit trauriger Miene kehrte Ersterer zurück. Es ist richtig, der Regen hat das Seinige gethan; aber der allein kann's nicht thun, die Rabenhorster müssen die Schleusen gezogen haben, an eine Rückkehr ist ohne eine Hülfe von außen sobald nicht zu denken, wir müssen uns also —
Allmächtiger Gott! dann müßten wir ja Hungers sterben! Laßt uns rufen!
Rufen? Niemand kann uns hören; denn wir sind über eine Meile entfernt von jedem Ort, wo Menschen sein können.
Ha! das habt Ihr gewußt, schrie der Justizrath dem Müller zu; Ihr wollt mich ermorden! —
Der Müller sah ihn halb mitleidig, halb verächtlich an.
Wer sein eigenes Leben nicht achtet, ist Herr des Lebens von Jedermann auf der Welt, erwiderte er ruhig. Ich muß mit Ihnen verhungern, ich hätte es also kürzer haben, Sie auf den Kopf schlagen und dann bequemer sterben können. —
Ein einziges Stück Brod theilte er mit dem Verzweifelnden, und den Durst löschten sie mit dem faulen Bruchwasser.
Warum aber habt Ihr denn nicht Lebensmittel mitgenommen? —
Ich könnte Sie dasselbe fragen; denn Sie wissen ja, wir wurden überrascht. Uebrigens hieße das nur unsere Qual verlängern. Es ist gut, daß ich nicht mehr habe.
Es folgte eine traurige Nacht. Der Justizrath wurde vom Fieberfrost geschüttelt; oft hörte ihn der Müller beten. Gegen Morgen war er ganz milde und zum Sterben bereit, wenn es nur rasch ginge, wie er meinte.
Ja, Hunger ist eine entsetzliche Sache, sprach der Müller. Sie hungern erst vier und zwanzig Stunden und überlegen, was Sie thun würden, die Qual zu lindern? Manchmal sollte man doch mit dem Dieb Mitleid haben. — Und der Frost? Wie oft schneidet man den armen Leuten, die das bischen Reisig Meilen weit mit ihren von Hunger entmarkten Knochen auf dem Rücken getragen, die Stricke durch. Nun ja! Ordnung muß sein, aber ich muß wohl zu dumm sein, ich kann über manche Dinge nicht klug werden. —
Der Justizrath schwieg. Er selbst hatte oft Bettler, arme Leute, die einige Kartoffeln nachgesucht, sehr hart behandelt, er hatte sich herbeigelassen, Holzsucher selbst in den Stiftsforst zu verfolgen.
Habt Mitleid mit mir, sagte er zum Müller, und geht mit mir nicht ins Gericht. Ich habe von Jugend an keine Noth gekannt, und mit einer guten Mahlzeit und gutem Wein im Leibe läßt sich dem Gefühl des
Armen nicht nachdenken, noch weniger läßt sich die Noth nachfühlen. Dort am Ausgang des Sees habe ich einmal einen armen Menschen, der Kibitzeier gesucht, nachdem er athemlos von meinen Leuten gejagt war, die Eier im Tuch zerdrückt, über die Thränen des Unglücklichen nicht nur gelacht, sondern ihn auch ins Gericht schleppen lassen. Dies ist meine schlechteste Handlung, aber seitdem ich selbst in diesem Bruche mich abgequält, seitdem ich darin gehungert —
Nun, wenn Sie nichts Böseres begangen, wird Gott, vor dem wir bald stehen werden, gnädig sein, unterbrach ihn der Müller. Wir sündigen in jeder Stunde, und da ich so schweren Tod sterben muß, werd ich es auch wohl verdient haben, obwohl ich selbst nichts weiß, und auch die Welt nie etwas an mir gefunden, als das Unglück mit der Mahlmetze. —
Der Justizrath bedeckte sich die Augen und weinte innig. Endlich wandte er sich zum Müller.
Hört mich an! Ich muß Eure Vergebung haben, ich kann nicht anders sterben, schon brennen mir die Eingeweide, und es könnte bald zu spät sein. Ihr wißt vielleicht selbst nicht, wie schwer ich gegen Euch gesündigt, und es ist Gottes Fügung, daß Ihr mich leiden und sterben seht. Ihr müßt gerettet werden, und sollten Euch Engel von hinnen tragen; denn Ihr habt viel gelitten, viel durch mich, und Ihr könnt, Ihr dürft nicht untergehen um meinetwillen, oder es ist kein Gott. —
Schweigt, sagte der Müller ernst, und lästert nicht.
Was Ihr mir in Einer Sache unrecht gethan, dürfen wir nicht berühren. Wie ich gehandelt, habe ich freiwillig gehandelt, und wenn ein Herz gebrochen ist vor Scham und Gram, so wißt Ihr, welches. Ich bin verheirathet gewesen, aber mit meiner leiblichen Mutter könnte ich nicht keuscher leben. Das wenigstens sollt Ihr wissen, Herr Justizrath, Ihr sollt wissen, daß geringe Leute auch Ehre haben. —
O Gott! stammelte der Justizrath, warum habe ich in den Tag hineingelebt, welche Quelle von Segen war mir aufgeschlossen in meinem Amte, welche Schätze in den Herzen der Unterthanen und Armen, die ich nicht zu heben verstand. Ich glaubte mich vornehm und war gemein, ich hielt mich für gebildet und war roh. —
Ja, das ist es, unterbrach ihn der Müller, und das werden alle Diejenigen zu spät erkennen, die in Eurer Lage sind. Es kann der Welt gehen, wie uns Beiden, daß der Arme mit dem Reichen untergeht, der Gedrückte mit seinem Verfolger. —
Es ist wahr, ich habe Euch verfolgt; ich weiß selbst kaum, weßhalb, ich glaube, weil ich mich vor Euch schämte; denn es war mir immer, als läse ich in Eurer Miene: die Leute bücken sich vor ihm wüßten sie nur, welch ein Schurke er ist. —
So arg habe ich nie gedacht, sagte der Müller, aber ich habe Eure Schwäche verachtet; denn ich weiß, daß der Actuarius es war, der Euch bewog, mich ins Zuchthaus zu bringen.
Warum, Gott im Himmel, mußtest du mir diesen Menschen aufbürden; es wäre vielleicht Alles anders! —
Schämt Euch, unterbrach ihn der Müller, daß Ihr auf Gott wälzen wollt, was Euer Vergehen ist. Ich weiß wohl, daß hohe Herren nur zu geneigt sind, sich mit ihren schlechten Räthen, ihrer verführerischen Umgebung zu entschuldigen. Und mancher Schwache im Volke ist geneigt, diese Ausflucht für baare Münze zu nehmen. Wenn die Fürsten die Menschen strafen und mit Recht strafen lassen für Verbrechen, weil sie Verstand und freien Willen haben, dann müssen sie auch selbst sich für Alles verantwortlich machen, was sie wußten und mit Verstand und freiem Willen prüfen konnten. Mit wem du umgehst, wessen Rathschlägen du folgst, dessen Freund und Mitschuldiger bist du. Ihr habt einen Menschen um sein Recht gekränkt. Das Recht ist heilig, wie Gott; denn es stammt von Gott, Ihr seid also schuldig gegen Gott und Menschen. Erkennt Ihr das? —
Der Justizrath blickte bittend zu ihm auf und rang die Hände.
Ich verzeihe Euch, fuhr der Müller fort, — er nahm feierlich die Mütze ab — und bitte Gott von Herzen, daß er Euch vergebe um seines Sohnes unschuldigen Leidens und Sterbens willen. —
Es war spät Nachmittag geworden, als der Müller in weiter Entfernung etwas zu bemerken glaubte, das sich bewegte. Ein ganz kleiner Punkt kreisete immer
um die Oase. So schwach die Männer waren, bemühten sie sich zu rufen, aber sie überzeugten sich, daß ihre Stimme nicht hinüberdringen könne, denn der Wind stand ihnen entgegen. Endlich entwickelte sich noch ein anderer Punkt und schien dem kleinen zu folgen, und endlich kam er so nahe, daß der Müller schnell Feuer anmachte und, da das Gestrüpp nicht Feuer fangen wollte, an Kleidungsstücken verbrannte, was sie entbehren konnten. Es kam zwar nur zu spärlicher Flamme, aber es erhob sich doch eine Rauchsäule. Sobald sie emporwirbelte, erschallte von drüben ein Jauchzen, das bis zu den Vereinsamten herüberdrang.
Wir sind gerettet! sagte der Müller; denn hier konnte mich nur der Schmied suchen, und der wird's wohl machen, und sollte er alle Latten und Bretter des Dorfs ausräumen oder die Planken von der Mühle reißen. —
Es ist zu spät, sagte leise der Justizrath, es ist zu spät; ich fühle schon, wie ich absterbe und der Tod ans Herz tritt. —
Der Müller, so schwach er war, zog den Pelz aus und deckte ihn über den Kranken.
Bis in die Nacht hinein dauerte es, ehe der Schmiedsjunge zuerst, dann der Schmied zu ihnen drang. Der Justizrath wurde auf einem Schlitten geschleift, der Müller, nachdem er einige Nahrung genommen, fand seinen Weg über Planken und Unterlagen.
Gegen Morgen waren Beide in des Müllers Wohnung geborgen und vorsichtig gespeis't; denn der Dorf-
chirurg war gekommen. Als nach einigen Stunden der Justizrath in seinem Bette erwachte, stand eine weiße Gestalt vor ihm. In seiner Schwäche glaubte er noch zu träumen, aber die Gestalt näherte sich ihm, er erkannte sie, es war Marie, die ihn anlächelte und dann laut aufschrie und kreischte. Hülfe! rief sie, und dann reckte sie die Arme in die Luft und griff krampfhaft in den leeren Raum, wie ein Ertrinkender. Kommt! sagte sie, helft ihn suchen, kommt; pfui die Menschen, er ist ja noch nicht begraben. Ja, ein Grab soll er haben, nicht so groß, so weit, hu! so weit, sondern so klein, so klein! und nun schloß sie die Arme, als wolle sie das Grab umspannen und an das Herz drücken. Hülfe! schrie sie wieder; da stürzte der Chirurg herein.
Um Gottes Willen! wer hat denn das Mädchen herein gelassen? Sie ist von Sinnen, Herr Justizrath. —
Verlaßt uns Alle! rief der hinzukommende Müller.
Dem Justizrath waren die Augen aus dem Kopfe getreten, es schüttelte ihn. Fieberhaft. Er faltete die Hände und betete leise: Herr, du gehst mit mir ins Gericht! —
Beruhigt Euch, sagte der Müller, beruhigt Euch.
Versprecht mir Eins noch, rief der Justizrath. Wenn ich wieder gesund bin, überlaßt mir das Mädchen, ich will sie pflegen, ich will für sie sorgen, ich will —
Es sei, erwiderte der Müller, und nun beruhigt Euch.
Der Justizrath genas langsam. Ehe er die Mühle verließ, schrieb er viel und sandte Briefe ab.
Es ist aus mit mir, sagte er zum Müller, ich habe meinen Abschied genommen. Hier kann ich nicht mehr wirken, ich bin an Leib und Seele gebrochen. Meine Strafe ist nicht zu Ende, sie geht erst an in einer bittern Reue über ein verfehltes Leben, das ich bewußtlos verpraßte, wie es so Viele verpraßt haben, ohne zu erkennen, ja ohne nur zu ahnen, was am Horizonte aufgeht. Ich will fortziehen, weit, weit, damit ich die Gelegenheit nicht sehe, wo ich hätte wirken können und sollen. Ich bin nichts mehr, nichts, wie so Viele, die nur durch ihr Unrecht wirken, als der Dünger für die neue Saat. Laßt mich nun ziehen, Marie werde ich nachholen! —
Der Müller empfing einen Brief. Er ist vom Lehrer, sagte er, Ihr kennt ihn ja; der Brief ist aus dem Auslande. —
Noch Jemand, der mich anzuklagen kommt? rief der Justizrath.
Nein, sagte der Müller, er kommt nicht; Gott, wenn er wieder Recht hätte!
Was schreibt er? —
„Ich komme noch nicht; denn es ist noch nicht Zeit. —
„ „Die Gerechtigkeit ist ein Mittel der Tyrannis, aber die Ungerechtigkeit ist die Mutter der Freiheit.“ “ „Euch aber war nicht Unrecht groß genug geschehen, es „muß noch anders kommen. Nehmt Euch in Acht; „denn es wird noch hart hergehen, und die über die „Ruthen schreien, werden über die Scorpionen jammern.
„Wenn es Zeit ist, und Alles wird zu seiner Zeit gezeitigt, dann hofft Euch zu sehen
Euer getreuer S.“ Er hat Recht, sagte der Justizrath. Nehmt Euch in Acht, sag' auch ich, indem ich von Euch jetzt scheide; es muß und wird noch viel geschehen, bis die Tochter geboren wird und die Mutter in den Kindesnöthen stirbt, um für immer zu Grabe getragen zu werden.
Ich verstehe nicht Eure hohen Reden, versetzte der Müller, aber das weiß ich: was mir mein Gesangbuch sagt, ist wahr und nicht zerreißend, sondern tröstend:
Denn was Er thut und läßt geschehn, Das nimmt ein gutes End'! Darauf will ich leben und sterben. Amen