Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Adler, Emma: Die berühmten Frauen der französischen Revolution 1789–1795. Wien, 1906.

Bild:
<< vorherige Seite

und liess ihn unbehelligt durch. Mit der gleichen Frage verblüffte Latude noch weitere drei Wachen, die ihn alle unbehelligt durchliessen; als er die vierte passiert hatte, befand er sich ausserhalb der Gefängnismauern. Aber nicht lange, denn er wurde ausgeforscht und wieder eingebracht.

Die zweite Flucht gelang ihm, indem er aus seiner reichhaltigen Garderobe und seinem Wäschevorrat sechs Monate hindurch Strickleitern knüpfte, und dann durch den Schornstein seiner Zelle, über die Dächer und Türme der Bastille, mit tausend Lebensgefahren den Erdboden ausserhalb der Gefängnismauern erreichte! Aber wie immer nach allen Fluchtversuchen erwies er sich unvorsichtig und man fand ihn wieder.

Die Verfolger Latudes beschuldigten ihn eines gemeinen Diebstahls, sie taten es aber erst, als er nach einer missglückten Flucht wieder in Gewahrsam sass und keine Mittel hatte, sich zu verteidigen. Bei dieser neuen Niedertracht unterlag er unter der Schwere seiner Ketten. Er hatte alles ertragen, die Schrecken des Hungers, die Unbilden der Witterung in strengster Winterkälte, alle Entbehrungen mitsammen, aber die Gemeinheit, jene entsetzliche Tortur der unterdrückten Unschuld - nein, er konnte nicht stillschweigend ihr Opfer werden. Er wandte sich um Hilfe und Unterstützung an seine Eltern und Verwandten, damit sie ihm dazu verhelfen sollten, seine Unschuld zu erweisen, aber sie antworteten ihm, dass er durch seinen Betrug selbst alle Bande freventlich zerrissen hätte, die ihn bis dahin mit seiner Familie verknüpft hätten, dass sie ihn von nun an nicht mehr kennten. Er verfiel in völlige Verlassenheit, er verlor allen Mut, alle Hoffnung und für lange sogar die Empfindung seiner Existenz. Er nahm in den verschiedenen Gefängnissen erborgte Namen an, um den seinen nicht zu beflecken.

Der Präsident v. Gourgue visitierte von Zeit zu Zeit die Gefängnisse und kam auch in die Bastille, in die Zelle Latudes. Er liess sich alles genau erzählen, er sagte dann

und liess ihn unbehelligt durch. Mit der gleichen Frage verblüffte Latude noch weitere drei Wachen, die ihn alle unbehelligt durchliessen; als er die vierte passiert hatte, befand er sich ausserhalb der Gefängnismauern. Aber nicht lange, denn er wurde ausgeforscht und wieder eingebracht.

Die zweite Flucht gelang ihm, indem er aus seiner reichhaltigen Garderobe und seinem Wäschevorrat sechs Monate hindurch Strickleitern knüpfte, und dann durch den Schornstein seiner Zelle, über die Dächer und Türme der Bastille, mit tausend Lebensgefahren den Erdboden ausserhalb der Gefängnismauern erreichte! Aber wie immer nach allen Fluchtversuchen erwies er sich unvorsichtig und man fand ihn wieder.

Die Verfolger Latudes beschuldigten ihn eines gemeinen Diebstahls, sie taten es aber erst, als er nach einer missglückten Flucht wieder in Gewahrsam sass und keine Mittel hatte, sich zu verteidigen. Bei dieser neuen Niedertracht unterlag er unter der Schwere seiner Ketten. Er hatte alles ertragen, die Schrecken des Hungers, die Unbilden der Witterung in strengster Winterkälte, alle Entbehrungen mitsammen, aber die Gemeinheit, jene entsetzliche Tortur der unterdrückten Unschuld – nein, er konnte nicht stillschweigend ihr Opfer werden. Er wandte sich um Hilfe und Unterstützung an seine Eltern und Verwandten, damit sie ihm dazu verhelfen sollten, seine Unschuld zu erweisen, aber sie antworteten ihm, dass er durch seinen Betrug selbst alle Bande freventlich zerrissen hätte, die ihn bis dahin mit seiner Familie verknüpft hätten, dass sie ihn von nun an nicht mehr kennten. Er verfiel in völlige Verlassenheit, er verlor allen Mut, alle Hoffnung und für lange sogar die Empfindung seiner Existenz. Er nahm in den verschiedenen Gefängnissen erborgte Namen an, um den seinen nicht zu beflecken.

Der Präsident v. Gourgue visitierte von Zeit zu Zeit die Gefängnisse und kam auch in die Bastille, in die Zelle Latudes. Er liess sich alles genau erzählen, er sagte dann

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0020" n="4"/>
und liess ihn unbehelligt durch. Mit der gleichen Frage verblüffte Latude noch weitere drei Wachen, die ihn alle unbehelligt durchliessen; als er die vierte passiert hatte, befand er sich ausserhalb der Gefängnismauern. Aber nicht lange, denn er wurde ausgeforscht und wieder eingebracht.</p>
        <p>Die zweite Flucht gelang ihm, indem er aus seiner reichhaltigen Garderobe und seinem Wäschevorrat sechs Monate hindurch Strickleitern knüpfte, und dann durch den Schornstein seiner Zelle, über die Dächer und Türme der Bastille, mit tausend Lebensgefahren den Erdboden ausserhalb der Gefängnismauern erreichte! Aber wie immer nach allen Fluchtversuchen erwies er sich unvorsichtig und man fand ihn wieder.</p>
        <p>Die Verfolger Latudes beschuldigten ihn eines gemeinen Diebstahls, sie taten es aber erst, als er nach einer missglückten Flucht wieder in Gewahrsam sass und keine Mittel hatte, sich zu verteidigen. Bei dieser neuen Niedertracht unterlag er unter der Schwere seiner Ketten. Er hatte alles ertragen, die Schrecken des Hungers, die Unbilden der Witterung in strengster Winterkälte, alle Entbehrungen mitsammen, aber die Gemeinheit, jene entsetzliche Tortur der unterdrückten Unschuld &#x2013; nein, er konnte nicht stillschweigend ihr Opfer werden. Er wandte sich um Hilfe und Unterstützung an seine Eltern und Verwandten, damit sie ihm dazu verhelfen sollten, seine Unschuld zu erweisen, aber sie antworteten ihm, dass er durch seinen Betrug selbst alle Bande freventlich zerrissen hätte, die ihn bis dahin mit seiner Familie verknüpft hätten, dass sie ihn von nun an nicht mehr kennten. Er verfiel in völlige Verlassenheit, er verlor allen Mut, alle Hoffnung und für lange sogar die Empfindung seiner Existenz. Er nahm in den verschiedenen Gefängnissen erborgte Namen an, um den seinen nicht zu beflecken.</p>
        <p>Der Präsident v. Gourgue visitierte von Zeit zu Zeit die Gefängnisse und kam auch in die Bastille, in die Zelle Latudes. Er liess sich alles genau erzählen, er sagte dann
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0020] und liess ihn unbehelligt durch. Mit der gleichen Frage verblüffte Latude noch weitere drei Wachen, die ihn alle unbehelligt durchliessen; als er die vierte passiert hatte, befand er sich ausserhalb der Gefängnismauern. Aber nicht lange, denn er wurde ausgeforscht und wieder eingebracht. Die zweite Flucht gelang ihm, indem er aus seiner reichhaltigen Garderobe und seinem Wäschevorrat sechs Monate hindurch Strickleitern knüpfte, und dann durch den Schornstein seiner Zelle, über die Dächer und Türme der Bastille, mit tausend Lebensgefahren den Erdboden ausserhalb der Gefängnismauern erreichte! Aber wie immer nach allen Fluchtversuchen erwies er sich unvorsichtig und man fand ihn wieder. Die Verfolger Latudes beschuldigten ihn eines gemeinen Diebstahls, sie taten es aber erst, als er nach einer missglückten Flucht wieder in Gewahrsam sass und keine Mittel hatte, sich zu verteidigen. Bei dieser neuen Niedertracht unterlag er unter der Schwere seiner Ketten. Er hatte alles ertragen, die Schrecken des Hungers, die Unbilden der Witterung in strengster Winterkälte, alle Entbehrungen mitsammen, aber die Gemeinheit, jene entsetzliche Tortur der unterdrückten Unschuld – nein, er konnte nicht stillschweigend ihr Opfer werden. Er wandte sich um Hilfe und Unterstützung an seine Eltern und Verwandten, damit sie ihm dazu verhelfen sollten, seine Unschuld zu erweisen, aber sie antworteten ihm, dass er durch seinen Betrug selbst alle Bande freventlich zerrissen hätte, die ihn bis dahin mit seiner Familie verknüpft hätten, dass sie ihn von nun an nicht mehr kennten. Er verfiel in völlige Verlassenheit, er verlor allen Mut, alle Hoffnung und für lange sogar die Empfindung seiner Existenz. Er nahm in den verschiedenen Gefängnissen erborgte Namen an, um den seinen nicht zu beflecken. Der Präsident v. Gourgue visitierte von Zeit zu Zeit die Gefängnisse und kam auch in die Bastille, in die Zelle Latudes. Er liess sich alles genau erzählen, er sagte dann

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-02-11T11:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-02-11T11:54:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-02-11T11:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien
  • Wird ein Wort durch einen Seitenumbruch getrennt, so wird es vollständig auf der vorhergehenden Seite übernommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_frauen_1906
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/adler_frauen_1906/20
Zitationshilfe: Adler, Emma: Die berühmten Frauen der französischen Revolution 1789–1795. Wien, 1906, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_frauen_1906/20>, abgerufen am 19.04.2024.