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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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2. Entzündliche Vorgänge während der embryonalen Entwicklung, wobei wieder die Auswahl des Organes nicht ohne Determination ge-
schehen kann.

3. Störender Einfluß eines benachbarten Organes in der fötalen
Periode. Auch in diesem Falle muß ein dispositionelles Moment für das
nachteilige Zusammenwirken aufgesucht werden.

Wenn wir von dem nunmehr gewonnenen Standpunkt aus eine
einheitliche Perspektive zu der Minderwertigkeit von Organen gewinnen
wollen, so muß sich unsere Aufmerksamkeit dem embryonalen Bildungs-
material und seinen Schicksalen zuwenden. Die Minderwertigkeit, von
der hier abgehandelt wird, ist niemals Folge, sondern immer Vorbedin-
gung, recht eigentlich das, was man gewöhnlich unter den dunklen
Begriff der Disposition zu stellen versucht hat. Das Unfertige an dieser
Art von Organen, ihre oft nachweisbaren Entwicklungsstillstände, der
Mangel an Ausbildung in histologischer oder funktioneller Richtung,
das funktionelle Versagen in der postfötalen Zeit, andrerseits die Stei-
gerung ihrer Wachstumstendenz bei Kompensationszwang und Kom-
pensationsmöglichkeit, die häufige Erzielung funktioneller Mehrleistung
zwingen zur Annahme, daß allen minderwertigen Organen ein Stück
fötalen Charakters zukommt. Mit der Loslösung vom mütterlichen Or-
ganismus beginnt für diese Organe und Organsysteme der Kampf mit
der Außenwelt, der notwendigerweise entbrennen muß und mit größerer
Heftigkeit einsetzt als bei normal entwickeltem Apparat. Diesen Kampf
begleiten die höheren Krankheits- und Sterbeziffern. Doch verleiht der
fötale Charakter zugleich die erhöhte Möglichkeit der Kompensation und
Überkompensation, steigert die Anpassungsfähigkeit an gewöhnliche und
ungewöhnliche Widerstände und sichert die Bildung von neuen und
höheren Formen, von neuen und höheren Leistungen. Man gewinnt
unschwer den Eindruck, als habe der Organismus an der fötalen Entwicklung
gespart, an einer bestimmten Stelle der embryonalen Zeitigung abgebrochen,
um dem Organ eine Wegzehrung fürs Leben, erhöhte plastische Kraft
mitzugeben. Und man kann sich der Auffassung kaum entschlagen, daß
dieser neue Bildungsversuch an jenen Organen unternommen wird, an
denen eine Reihe der Vorfahren durch äußere Ursachen, durch geänderte
Lebensbedingungen im Leben Schaden gelitten haben. So stellen die
minderwertigen Organe das unerschöpfliche Versuchsmaterial dar, durch
dessen fortwährende Bearbeitung, Verwerfung, Verbesserung der Organismus
mit geänderten Lebensbedingungen in Einklang zu kommen sucht.

Der Kampf mit den feindlichen Einflüssen des Lebens droht den
Eignern minderwertiger Organe häufig mit Krankheit und Tod, sofern

2. Entzündliche Vorgänge während der embryonalen Entwicklung, wobei wieder die Auswahl des Organes nicht ohne Determination ge-
schehen kann.

3. Störender Einfluß eines benachbarten Organes in der fötalen
Periode. Auch in diesem Falle muß ein dispositionelles Moment für das
nachteilige Zusammenwirken aufgesucht werden.

Wenn wir von dem nunmehr gewonnenen Standpunkt aus eine
einheitliche Perspektive zu der Minderwertigkeit von Organen gewinnen
wollen, so muß sich unsere Aufmerksamkeit dem embryonalen Bildungs-
material und seinen Schicksalen zuwenden. Die Minderwertigkeit, von
der hier abgehandelt wird, ist niemals Folge, sondern immer Vorbedin-
gung, recht eigentlich das, was man gewöhnlich unter den dunklen
Begriff der Disposition zu stellen versucht hat. Das Unfertige an dieser
Art von Organen, ihre oft nachweisbaren Entwicklungsstillstände, der
Mangel an Ausbildung in histologischer oder funktioneller Richtung,
das funktionelle Versagen in der postfötalen Zeit, andrerseits die Stei-
gerung ihrer Wachstumstendenz bei Kompensationszwang und Kom-
pensationsmöglichkeit, die häufige Erzielung funktioneller Mehrleistung
zwingen zur Annahme, daß allen minderwertigen Organen ein Stück
fötalen Charakters zukommt. Mit der Loslösung vom mütterlichen Or-
ganismus beginnt für diese Organe und Organsysteme der Kampf mit
der Außenwelt, der notwendigerweise entbrennen muß und mit größerer
Heftigkeit einsetzt als bei normal entwickeltem Apparat. Diesen Kampf
begleiten die höheren Krankheits- und Sterbeziffern. Doch verleiht der
fötale Charakter zugleich die erhöhte Möglichkeit der Kompensation und
Überkompensation, steigert die Anpassungsfähigkeit an gewöhnliche und
ungewöhnliche Widerstände und sichert die Bildung von neuen und
höheren Formen, von neuen und höheren Leistungen. Man gewinnt
unschwer den Eindruck, als habe der Organismus an der fötalen Entwicklung
gespart, an einer bestimmten Stelle der embryonalen Zeitigung abgebrochen,
um dem Organ eine Wegzehrung fürs Leben, erhöhte plastische Kraft
mitzugeben. Und man kann sich der Auffassung kaum entschlagen, daß
dieser neue Bildungsversuch an jenen Organen unternommen wird, an
denen eine Reihe der Vorfahren durch äußere Ursachen, durch geänderte
Lebensbedingungen im Leben Schaden gelitten haben. So stellen die
minderwertigen Organe das unerschöpfliche Versuchsmaterial dar, durch
dessen fortwährende Bearbeitung, Verwerfung, Verbesserung der Organismus
mit geänderten Lebensbedingungen in Einklang zu kommen sucht.

Der Kampf mit den feindlichen Einflüssen des Lebens droht den
Eignern minderwertiger Organe häufig mit Krankheit und Tod, sofern

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[73/0085] 2. Entzündliche Vorgänge während der embryonalen Entwicklung, wobei wieder die Auswahl des Organes nicht ohne Determination ge- schehen kann. 3. Störender Einfluß eines benachbarten Organes in der fötalen Periode. Auch in diesem Falle muß ein dispositionelles Moment für das nachteilige Zusammenwirken aufgesucht werden. Wenn wir von dem nunmehr gewonnenen Standpunkt aus eine einheitliche Perspektive zu der Minderwertigkeit von Organen gewinnen wollen, so muß sich unsere Aufmerksamkeit dem embryonalen Bildungs- material und seinen Schicksalen zuwenden. Die Minderwertigkeit, von der hier abgehandelt wird, ist niemals Folge, sondern immer Vorbedin- gung, recht eigentlich das, was man gewöhnlich unter den dunklen Begriff der Disposition zu stellen versucht hat. Das Unfertige an dieser Art von Organen, ihre oft nachweisbaren Entwicklungsstillstände, der Mangel an Ausbildung in histologischer oder funktioneller Richtung, das funktionelle Versagen in der postfötalen Zeit, andrerseits die Stei- gerung ihrer Wachstumstendenz bei Kompensationszwang und Kom- pensationsmöglichkeit, die häufige Erzielung funktioneller Mehrleistung zwingen zur Annahme, daß allen minderwertigen Organen ein Stück fötalen Charakters zukommt. Mit der Loslösung vom mütterlichen Or- ganismus beginnt für diese Organe und Organsysteme der Kampf mit der Außenwelt, der notwendigerweise entbrennen muß und mit größerer Heftigkeit einsetzt als bei normal entwickeltem Apparat. Diesen Kampf begleiten die höheren Krankheits- und Sterbeziffern. Doch verleiht der fötale Charakter zugleich die erhöhte Möglichkeit der Kompensation und Überkompensation, steigert die Anpassungsfähigkeit an gewöhnliche und ungewöhnliche Widerstände und sichert die Bildung von neuen und höheren Formen, von neuen und höheren Leistungen. Man gewinnt unschwer den Eindruck, als habe der Organismus an der fötalen Entwicklung gespart, an einer bestimmten Stelle der embryonalen Zeitigung abgebrochen, um dem Organ eine Wegzehrung fürs Leben, erhöhte plastische Kraft mitzugeben. Und man kann sich der Auffassung kaum entschlagen, daß dieser neue Bildungsversuch an jenen Organen unternommen wird, an denen eine Reihe der Vorfahren durch äußere Ursachen, durch geänderte Lebensbedingungen im Leben Schaden gelitten haben. So stellen die minderwertigen Organe das unerschöpfliche Versuchsmaterial dar, durch dessen fortwährende Bearbeitung, Verwerfung, Verbesserung der Organismus mit geänderten Lebensbedingungen in Einklang zu kommen sucht. Der Kampf mit den feindlichen Einflüssen des Lebens droht den Eignern minderwertiger Organe häufig mit Krankheit und Tod, sofern

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/85>, abgerufen am 18.04.2024.