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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852.

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Morgen! nie mit einem so festen Tone gesprochen,
und doch war ihre Stimme etwas belegt. Sie hatte
ihn herzlich angesehen, und doch sogleich wieder die
Augen gesenkt.

"Wir haben viel nachzuholen, lieber van Asten,
hatte sie gesagt, darum müssen wir rasch anfangen."
Sie saß am Tisch, er ihr gegenüber. Es war ein
wunderschöner Morgen. Die Linden auf dem Hofe
spielten im Sonnenschein. Der Schatten der Blätter
spielte durch das geöffnete Fenster auf die Tischplatte.
Es funkelte auch golden auf den Blättern des Buches.
Daher mochte es kommen, daß er sich verlas; auch
sie las oft falsch. Und dazu zwitscherten die Sper¬
linge, gewohnt am Fenster die Krumen zu stehlen,
welche Adelheids Hand ihnen hinstreute, und eine
Wespe verirrte sich in die Stube und trieb Unfug,
bis man sie mit den Tüchern hinausgescheucht.

Es war viel Störung in der heutigen Lection.

Walter schlug vor, das Fenster zu schließen. Adel¬
heid fand die freie Luft so schön, ihr sei noch so be¬
klommen. Aber es würde schon vorübergehen --
"ich werde schon Muth bekommen," setzte sie leiser hinzu.

Sie hatten heute die Iphigenia beendet. Adel¬
heid hatte den letzten Akt gelesen.

"Sie müssen mir später ein Mal die ganze Iphi¬
genia hinter einander vorlesen, wenn Sie bei voller
Stimme sind, sagte Walter. Das Gedicht klingt und
dringt ganz anders ins Herz mit Ihrer schönen Stimme.
Das Parzenlied --"

Morgen! nie mit einem ſo feſten Tone geſprochen,
und doch war ihre Stimme etwas belegt. Sie hatte
ihn herzlich angeſehen, und doch ſogleich wieder die
Augen geſenkt.

„Wir haben viel nachzuholen, lieber van Aſten,
hatte ſie geſagt, darum müſſen wir raſch anfangen.“
Sie ſaß am Tiſch, er ihr gegenüber. Es war ein
wunderſchöner Morgen. Die Linden auf dem Hofe
ſpielten im Sonnenſchein. Der Schatten der Blätter
ſpielte durch das geöffnete Fenſter auf die Tiſchplatte.
Es funkelte auch golden auf den Blättern des Buches.
Daher mochte es kommen, daß er ſich verlas; auch
ſie las oft falſch. Und dazu zwitſcherten die Sper¬
linge, gewohnt am Fenſter die Krumen zu ſtehlen,
welche Adelheids Hand ihnen hinſtreute, und eine
Wespe verirrte ſich in die Stube und trieb Unfug,
bis man ſie mit den Tüchern hinausgeſcheucht.

Es war viel Störung in der heutigen Lection.

Walter ſchlug vor, das Fenſter zu ſchließen. Adel¬
heid fand die freie Luft ſo ſchön, ihr ſei noch ſo be¬
klommen. Aber es würde ſchon vorübergehen —
„ich werde ſchon Muth bekommen,“ ſetzte ſie leiſer hinzu.

Sie hatten heute die Iphigenia beendet. Adel¬
heid hatte den letzten Akt geleſen.

„Sie müſſen mir ſpäter ein Mal die ganze Iphi¬
genia hinter einander vorleſen, wenn Sie bei voller
Stimme ſind, ſagte Walter. Das Gedicht klingt und
dringt ganz anders ins Herz mit Ihrer ſchönen Stimme.
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[218/0228] Morgen! nie mit einem ſo feſten Tone geſprochen, und doch war ihre Stimme etwas belegt. Sie hatte ihn herzlich angeſehen, und doch ſogleich wieder die Augen geſenkt. „Wir haben viel nachzuholen, lieber van Aſten, hatte ſie geſagt, darum müſſen wir raſch anfangen.“ Sie ſaß am Tiſch, er ihr gegenüber. Es war ein wunderſchöner Morgen. Die Linden auf dem Hofe ſpielten im Sonnenſchein. Der Schatten der Blätter ſpielte durch das geöffnete Fenſter auf die Tiſchplatte. Es funkelte auch golden auf den Blättern des Buches. Daher mochte es kommen, daß er ſich verlas; auch ſie las oft falſch. Und dazu zwitſcherten die Sper¬ linge, gewohnt am Fenſter die Krumen zu ſtehlen, welche Adelheids Hand ihnen hinſtreute, und eine Wespe verirrte ſich in die Stube und trieb Unfug, bis man ſie mit den Tüchern hinausgeſcheucht. Es war viel Störung in der heutigen Lection. Walter ſchlug vor, das Fenſter zu ſchließen. Adel¬ heid fand die freie Luft ſo ſchön, ihr ſei noch ſo be¬ klommen. Aber es würde ſchon vorübergehen — „ich werde ſchon Muth bekommen,“ ſetzte ſie leiſer hinzu. Sie hatten heute die Iphigenia beendet. Adel¬ heid hatte den letzten Akt geleſen. „Sie müſſen mir ſpäter ein Mal die ganze Iphi¬ genia hinter einander vorleſen, wenn Sie bei voller Stimme ſind, ſagte Walter. Das Gedicht klingt und dringt ganz anders ins Herz mit Ihrer ſchönen Stimme. Das Parzenlied —“

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/228>, abgerufen am 28.03.2024.