Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910.

Bild:
<< vorherige Seite

Derjenige Zusammenhang, worin das Erotische, zum mindesten im günstigen Fall, seine schlimmsten Unarten ablegt, ist in unserm geistigen Verhalten gegeben. Wo wir etwas in unsre Einsicht und Bewußtheit aufnehmen, anstatt nur in unser physisches oder seelisches Verlangen, da erleben wir es auch nicht bloß in der abnehmenden Reizstärke der Sättigung dieses Verlangens, sondern im steigenden Interesse des Verstehens, also in seiner Einzigkeit und menschlichen Unwiederholbarkeit. Daraus erst ergibt sich der volle Sinn dessen, was in der Liebe den Menschen zum Menschen drängt, als zum Zweiten, zum andern unwiederholbaren Ich, um in der Wechselwirkung mit ihm als Selbstzweck, nicht als Liebesmittel, sich erst zu erfüllen. Tritt erst damit die Liebe nun auch in ihre soziale Bedeutung ein, so ist doch klar, daß dies nicht für die Außenseite der Sache gilt: denn ihre Abfindung mit deren äußeren Konsequenzen, ihr unumgängliches Verknüpftsein mit dem Interessenkreis der Allgemeinheit, enthält ihre soziale Kehrseite auch schon auf ihren früheren Stufen. Hier aber liegt ihr innerster Lebenssinn frei: der geistige Grad von Lebendigkeit, dem gegenüber selbst der Trieb nach Wechsel noch als ein Mangel an innerer Beweglichkeit erscheint, da er solcher Anstöße von außen bedarf, um frisch ins Rollen zu kommen, während sie hier viel eher stören, ja aufhalten würden. Damit gewinnen Treue und Stetigkeit einen veränderten Hintergrund: in dieser Überlegenheit des Lebensvollsten, Lebenserschließendsten, liegen neue organisatorische Möglichkeiten nach außen vor, - eine Welt des Beharrendem wird wieder realisierbar, ein erneuter sichrerer Boden für alles Werden des Lebens, - analog unserer physischen Basis und dem, was unser Organismus als das leibhafte Liebesendziel aus sich herausstellt im Kinde.

Derjenige Zusammenhang, worin das Erotische, zum mindesten im günstigen Fall, seine schlimmsten Unarten ablegt, ist in unserm geistigen Verhalten gegeben. Wo wir etwas in unsre Einsicht und Bewußtheit aufnehmen, anstatt nur in unser physisches oder seelisches Verlangen, da erleben wir es auch nicht bloß in der abnehmenden Reizstärke der Sättigung dieses Verlangens, sondern im steigenden Interesse des Verstehens, also in seiner Einzigkeit und menschlichen Unwiederholbarkeit. Daraus erst ergibt sich der volle Sinn dessen, was in der Liebe den Menschen zum Menschen drängt, als zum Zweiten, zum andern unwiederholbaren Ich, um in der Wechselwirkung mit ihm als Selbstzweck, nicht als Liebesmittel, sich erst zu erfüllen. Tritt erst damit die Liebe nun auch in ihre soziale Bedeutung ein, so ist doch klar, daß dies nicht für die Außenseite der Sache gilt: denn ihre Abfindung mit deren äußeren Konsequenzen, ihr unumgängliches Verknüpftsein mit dem Interessenkreis der Allgemeinheit, enthält ihre soziale Kehrseite auch schon auf ihren früheren Stufen. Hier aber liegt ihr innerster Lebenssinn frei: der geistige Grad von Lebendigkeit, dem gegenüber selbst der Trieb nach Wechsel noch als ein Mangel an innerer Beweglichkeit erscheint, da er solcher Anstöße von außen bedarf, um frisch ins Rollen zu kommen, während sie hier viel eher stören, ja aufhalten würden. Damit gewinnen Treue und Stetigkeit einen veränderten Hintergrund: in dieser Überlegenheit des Lebensvollsten, Lebenserschließendsten, liegen neue organisatorische Möglichkeiten nach außen vor, – eine Welt des Beharrendem wird wieder realisierbar, ein erneuter sichrerer Boden für alles Werden des Lebens, – analog unserer physischen Basis und dem, was unser Organismus als das leibhafte Liebesendziel aus sich herausstellt im Kinde.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0015" n="15"/>
        <p>Derjenige Zusammenhang, worin das Erotische, zum mindesten im günstigen Fall, seine schlimmsten Unarten ablegt, ist in unserm geistigen Verhalten gegeben. Wo wir etwas in unsre Einsicht und Bewußtheit aufnehmen, anstatt nur in unser physisches oder seelisches Verlangen, da erleben wir es auch nicht bloß in der abnehmenden Reizstärke der Sättigung dieses Verlangens, sondern im steigenden Interesse des Verstehens, also in seiner Einzigkeit und menschlichen Unwiederholbarkeit. Daraus erst ergibt sich der volle Sinn dessen, was in der Liebe den Menschen zum Menschen drängt, als zum Zweiten, zum andern unwiederholbaren Ich, um in der Wechselwirkung mit ihm als Selbstzweck, nicht als Liebesmittel, sich erst zu erfüllen. Tritt erst damit die Liebe nun auch in ihre soziale Bedeutung ein, so ist doch klar, daß dies nicht für die Außenseite der Sache gilt: denn ihre Abfindung mit deren äußeren Konsequenzen, ihr unumgängliches Verknüpftsein mit dem Interessenkreis der Allgemeinheit, enthält ihre soziale Kehrseite auch schon auf ihren früheren Stufen. Hier aber liegt ihr innerster Lebenssinn frei: der geistige Grad von Lebendigkeit, dem gegenüber selbst der Trieb nach Wechsel noch als ein Mangel an innerer Beweglichkeit erscheint, da er solcher Anstöße von außen bedarf, um frisch ins Rollen zu kommen, während sie hier viel eher stören, ja aufhalten würden. Damit gewinnen Treue und Stetigkeit einen veränderten Hintergrund: in dieser Überlegenheit des Lebensvollsten, Lebenserschließendsten, liegen neue organisatorische Möglichkeiten nach außen vor, &#x2013; eine Welt des Beharrendem wird wieder realisierbar, ein erneuter sichrerer Boden für alles Werden des Lebens, &#x2013; analog unserer physischen Basis und dem, was unser Organismus als das leibhafte Liebesendziel aus sich herausstellt im Kinde.</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0015] Derjenige Zusammenhang, worin das Erotische, zum mindesten im günstigen Fall, seine schlimmsten Unarten ablegt, ist in unserm geistigen Verhalten gegeben. Wo wir etwas in unsre Einsicht und Bewußtheit aufnehmen, anstatt nur in unser physisches oder seelisches Verlangen, da erleben wir es auch nicht bloß in der abnehmenden Reizstärke der Sättigung dieses Verlangens, sondern im steigenden Interesse des Verstehens, also in seiner Einzigkeit und menschlichen Unwiederholbarkeit. Daraus erst ergibt sich der volle Sinn dessen, was in der Liebe den Menschen zum Menschen drängt, als zum Zweiten, zum andern unwiederholbaren Ich, um in der Wechselwirkung mit ihm als Selbstzweck, nicht als Liebesmittel, sich erst zu erfüllen. Tritt erst damit die Liebe nun auch in ihre soziale Bedeutung ein, so ist doch klar, daß dies nicht für die Außenseite der Sache gilt: denn ihre Abfindung mit deren äußeren Konsequenzen, ihr unumgängliches Verknüpftsein mit dem Interessenkreis der Allgemeinheit, enthält ihre soziale Kehrseite auch schon auf ihren früheren Stufen. Hier aber liegt ihr innerster Lebenssinn frei: der geistige Grad von Lebendigkeit, dem gegenüber selbst der Trieb nach Wechsel noch als ein Mangel an innerer Beweglichkeit erscheint, da er solcher Anstöße von außen bedarf, um frisch ins Rollen zu kommen, während sie hier viel eher stören, ja aufhalten würden. Damit gewinnen Treue und Stetigkeit einen veränderten Hintergrund: in dieser Überlegenheit des Lebensvollsten, Lebenserschließendsten, liegen neue organisatorische Möglichkeiten nach außen vor, – eine Welt des Beharrendem wird wieder realisierbar, ein erneuter sichrerer Boden für alles Werden des Lebens, – analog unserer physischen Basis und dem, was unser Organismus als das leibhafte Liebesendziel aus sich herausstellt im Kinde.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-08-21T15:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-08-21T15:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_erotik_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_erotik_1910/15
Zitationshilfe: Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_erotik_1910/15>, abgerufen am 19.04.2024.