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Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910.

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Abgrenzungen für sie von Zeit zu Zeit auch wieder zusammengeschoben und auf den Kopf gestellt zu sehn, das ursprüngliche Durcheinander hergestellt, worin sie noch nicht schön klar und übersichtlich war, aber dafür wirklichkeitsbunter. Insbesondre erscheint es notwendig, sich zu erinnern, wie sehr es sich speziell bei dem vorliegenden Thema um eine unlösbare Gesamtheit von Phänomenen handelt, von denen jeder einzelne Zug auf alle übrigen mitbezogen ist, und auch die obersten Resultate immer wieder an das unterste anknüpfen müssen.

So darf man auch nicht vor dem Letzten, Höchsten stehn, was sich daran schildern läßt, ohne ihm ein sehr heiliges Recht zuzugestehn: sich niederzuneigen bis immer wieder zum Anfänglichsten noch zurück, - und um so tiefer nur, je höher es selber stieg. Als gliche es dem indischen Feigenbaum darin, der Erde Wunderbaum, dessen Astwerk seine hängenden Zweige zu Luftwurzeln umbildet, damit er, stets von neuem in ihnen den Boden berührend, lebende Tempel auf Tempel aufeinanderzugliedern vermag, an denen jede einzelne Abzweigung wieder das nächsthöhere Astwerk säulenartig stützen muß, während über allem die Krone des Mutterstammes, des Stammes aus Einer Wurzel, im Sonnenlicht rauscht.

Schon in der Tierwelt durchschauen wir fast nichts an den Erscheinungen, die sich uns auch in ihren seelischen Äußerungen nur so physisch darbieten, und doch waltet im tiefen, kaum belichteten Dunkel dieser für uns untersten Naturtempel ein Leben, dem unsern vergleichbar. Nicht zufällig stoßen wir ja dort schon auf Entzückungen der Geschlechtsliebe bis zu den zartesten ästhetischen Äußerungen neben den brutalsten, nicht zufällig auf die opfermutigste

Abgrenzungen für sie von Zeit zu Zeit auch wieder zusammengeschoben und auf den Kopf gestellt zu sehn, das ursprüngliche Durcheinander hergestellt, worin sie noch nicht schön klar und übersichtlich war, aber dafür wirklichkeitsbunter. Insbesondre erscheint es notwendig, sich zu erinnern, wie sehr es sich speziell bei dem vorliegenden Thema um eine unlösbare Gesamtheit von Phänomenen handelt, von denen jeder einzelne Zug auf alle übrigen mitbezogen ist, und auch die obersten Resultate immer wieder an das unterste anknüpfen müssen.

So darf man auch nicht vor dem Letzten, Höchsten stehn, was sich daran schildern läßt, ohne ihm ein sehr heiliges Recht zuzugestehn: sich niederzuneigen bis immer wieder zum Anfänglichsten noch zurück, – und um so tiefer nur, je höher es selber stieg. Als gliche es dem indischen Feigenbaum darin, der Erde Wunderbaum, dessen Astwerk seine hängenden Zweige zu Luftwurzeln umbildet, damit er, stets von neuem in ihnen den Boden berührend, lebende Tempel auf Tempel aufeinanderzugliedern vermag, an denen jede einzelne Abzweigung wieder das nächsthöhere Astwerk säulenartig stützen muß, während über allem die Krone des Mutterstammes, des Stammes aus Einer Wurzel, im Sonnenlicht rauscht.

Schon in der Tierwelt durchschauen wir fast nichts an den Erscheinungen, die sich uns auch in ihren seelischen Äußerungen nur so physisch darbieten, und doch waltet im tiefen, kaum belichteten Dunkel dieser für uns untersten Naturtempel ein Leben, dem unsern vergleichbar. Nicht zufällig stoßen wir ja dort schon auf Entzückungen der Geschlechtsliebe bis zu den zartesten ästhetischen Äußerungen neben den brutalsten, nicht zufällig auf die opfermutigste

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Abgrenzungen für sie von Zeit zu Zeit auch wieder zusammengeschoben und auf den Kopf gestellt zu sehn, das ursprüngliche Durcheinander hergestellt, worin sie noch nicht schön klar und übersichtlich war, aber dafür wirklichkeitsbunter. Insbesondre erscheint es notwendig, sich zu erinnern, wie sehr es sich speziell bei dem vorliegenden Thema um eine unlösbare Gesamtheit von Phänomenen handelt, von denen jeder einzelne Zug auf alle übrigen mitbezogen ist, und auch die obersten Resultate immer wieder an das unterste anknüpfen müssen.</p>
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[56/0056] Abgrenzungen für sie von Zeit zu Zeit auch wieder zusammengeschoben und auf den Kopf gestellt zu sehn, das ursprüngliche Durcheinander hergestellt, worin sie noch nicht schön klar und übersichtlich war, aber dafür wirklichkeitsbunter. Insbesondre erscheint es notwendig, sich zu erinnern, wie sehr es sich speziell bei dem vorliegenden Thema um eine unlösbare Gesamtheit von Phänomenen handelt, von denen jeder einzelne Zug auf alle übrigen mitbezogen ist, und auch die obersten Resultate immer wieder an das unterste anknüpfen müssen. So darf man auch nicht vor dem Letzten, Höchsten stehn, was sich daran schildern läßt, ohne ihm ein sehr heiliges Recht zuzugestehn: sich niederzuneigen bis immer wieder zum Anfänglichsten noch zurück, – und um so tiefer nur, je höher es selber stieg. Als gliche es dem indischen Feigenbaum darin, der Erde Wunderbaum, dessen Astwerk seine hängenden Zweige zu Luftwurzeln umbildet, damit er, stets von neuem in ihnen den Boden berührend, lebende Tempel auf Tempel aufeinanderzugliedern vermag, an denen jede einzelne Abzweigung wieder das nächsthöhere Astwerk säulenartig stützen muß, während über allem die Krone des Mutterstammes, des Stammes aus Einer Wurzel, im Sonnenlicht rauscht. Schon in der Tierwelt durchschauen wir fast nichts an den Erscheinungen, die sich uns auch in ihren seelischen Äußerungen nur so physisch darbieten, und doch waltet im tiefen, kaum belichteten Dunkel dieser für uns untersten Naturtempel ein Leben, dem unsern vergleichbar. Nicht zufällig stoßen wir ja dort schon auf Entzückungen der Geschlechtsliebe bis zu den zartesten ästhetischen Äußerungen neben den brutalsten, nicht zufällig auf die opfermutigste

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Zitationshilfe: Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_erotik_1910/56>, abgerufen am 20.04.2024.