Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich kann mir es nicht versagen, einige bezügliche Stellen
meinem sehr verehrten Auditorium in's Gedächtniß zu rufen.
Für die Einsicht in die schlechthin absolute Nothwendigkeit und
Bedeutung des Essens sprechen zuerst die Verse:

"Wohl ist jeglicher Tod graunvoll den elenden Menschen,
Doch ist Hungers Sterben das jammervollste Verhängniß."

Ferner sagt der göttliche Dulder Odysseus:

"Aber laßt mich genießen des Mahles, wie sehr ich betrübt bin.
Nichts unbändiger doch, denn die Wuth des leidigen Magens,
Der an seinen Bedarf mit Gewalt jedweden erinnert,
Auch den Bekümmerten selbst, den Gram die Seele belastet.
So ist mir auch belastet mit Gram die Seele, doch immer
Speise verlangt er und Trank gebieterisch; und mir entrückt er
All mein Leid aus dem Sinn, bis seine Begier ich gesättigt."
-- -- --
Aber des Magens Wuth, des verderblichen, kann man unmöglich
Bändigen. u. s. w. --
Seinethalb gehen selbst schönrudrige Schiffe gerüstet
Durch das verödete Meer u. s. w.

Durchaus findet sich bei Homer kein gekochtes Fleisch,
sondern immer Braten. Die Worte:

"Schnitten behend in Stücken das Fleisch und steckten's an Spiese,
Brieten sodann vorsichtig und zogen es alles herunter"

sind in der Iliade und Odyssee gleich stereotyp, und wie-
derholen sich unzählige Male. Ein merkwürdiger Umstand!
Auch hier, wie so oft sonst, findet sich das Bessere, Zweckmäßi-
gere, Geschmackvollere vor dem Schlechteren, Verfehlten, Unge-
nießbaren, und bestätigt wieder jene schon angedeuteten rezidi-
ven Schwankungen in der Weltgeschichte. Nachdem die Ho-
merischen Menschen aus reinmenschlichem ästhetischen Sinn Ge-
bratenes dem Gesottenen vorzogen, steht in der späteren Zeit
ein Celsus auf, ein Auctor, welcher sich unter Anderm auch mit
Medizin befaßte, eigentlich aber als Hofmeister und Secretair
des Kaisers Tiberius funktionirte, und will irrthümlich das
Gegentheil.


Ich kann mir es nicht verſagen, einige bezuͤgliche Stellen
meinem ſehr verehrten Auditorium in’s Gedaͤchtniß zu rufen.
Fuͤr die Einſicht in die ſchlechthin abſolute Nothwendigkeit und
Bedeutung des Eſſens ſprechen zuerſt die Verſe:

„Wohl iſt jeglicher Tod graunvoll den elenden Menſchen,
Doch iſt Hungers Sterben das jammervollſte Verhaͤngniß.“

Ferner ſagt der goͤttliche Dulder Odyſſeus:

„Aber laßt mich genießen des Mahles, wie ſehr ich betruͤbt bin.
Nichts unbaͤndiger doch, denn die Wuth des leidigen Magens,
Der an ſeinen Bedarf mit Gewalt jedweden erinnert,
Auch den Bekuͤmmerten ſelbſt, den Gram die Seele belaſtet.
So iſt mir auch belaſtet mit Gram die Seele, doch immer
Speiſe verlangt er und Trank gebieteriſch; und mir entruͤckt er
All mein Leid aus dem Sinn, bis ſeine Begier ich geſaͤttigt.“
— — —
Aber des Magens Wuth, des verderblichen, kann man unmoͤglich
Baͤndigen. u. ſ. w. —
Seinethalb gehen ſelbſt ſchoͤnrudrige Schiffe geruͤſtet
Durch das veroͤdete Meer u. ſ. w.

Durchaus findet ſich bei Homer kein gekochtes Fleiſch,
ſondern immer Braten. Die Worte:

„Schnitten behend in Stuͤcken das Fleiſch und ſteckten’s an Spieſe,
Brieten ſodann vorſichtig und zogen es alles herunter“

ſind in der Iliade und Odyſſee gleich ſtereotyp, und wie-
derholen ſich unzaͤhlige Male. Ein merkwuͤrdiger Umſtand!
Auch hier, wie ſo oft ſonſt, findet ſich das Beſſere, Zweckmaͤßi-
gere, Geſchmackvollere vor dem Schlechteren, Verfehlten, Unge-
nießbaren, und beſtaͤtigt wieder jene ſchon angedeuteten rezidi-
ven Schwankungen in der Weltgeſchichte. Nachdem die Ho-
meriſchen Menſchen aus reinmenſchlichem aͤſthetiſchen Sinn Ge-
bratenes dem Geſottenen vorzogen, ſteht in der ſpaͤteren Zeit
ein Celſus auf, ein Auctor, welcher ſich unter Anderm auch mit
Medizin befaßte, eigentlich aber als Hofmeiſter und Secretair
des Kaiſers Tiberius funktionirte, und will irrthuͤmlich das
Gegentheil.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0039" n="25"/>
        <p>Ich kann mir es nicht ver&#x017F;agen, einige bezu&#x0364;gliche Stellen<lb/>
meinem &#x017F;ehr verehrten Auditorium in&#x2019;s Geda&#x0364;chtniß zu rufen.<lb/>
Fu&#x0364;r die Ein&#x017F;icht in die &#x017F;chlechthin ab&#x017F;olute Nothwendigkeit und<lb/>
Bedeutung des E&#x017F;&#x017F;ens &#x017F;prechen zuer&#x017F;t die Ver&#x017F;e:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Wohl i&#x017F;t jeglicher Tod graunvoll den elenden Men&#x017F;chen,</l><lb/>
          <l>Doch i&#x017F;t Hungers Sterben das jammervoll&#x017F;te Verha&#x0364;ngniß.&#x201C;</l>
        </lg><lb/>
        <p>Ferner &#x017F;agt der go&#x0364;ttliche Dulder <hi rendition="#g">Ody&#x017F;&#x017F;eus</hi>:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Aber laßt mich genießen des Mahles, wie &#x017F;ehr ich betru&#x0364;bt bin.</l><lb/>
          <l>Nichts unba&#x0364;ndiger doch, denn die Wuth des leidigen Magens,</l><lb/>
          <l>Der an &#x017F;einen Bedarf mit Gewalt jedweden erinnert,</l><lb/>
          <l>Auch den Beku&#x0364;mmerten &#x017F;elb&#x017F;t, den Gram die Seele bela&#x017F;tet.</l><lb/>
          <l>So i&#x017F;t mir auch bela&#x017F;tet mit Gram die Seele, doch immer</l><lb/>
          <l>Spei&#x017F;e verlangt er und Trank gebieteri&#x017F;ch; und mir entru&#x0364;ckt er</l><lb/>
          <l>All mein Leid aus dem Sinn, bis &#x017F;eine Begier ich ge&#x017F;a&#x0364;ttigt.&#x201C;</l><lb/>
          <l>&#x2014; &#x2014; &#x2014;</l><lb/>
          <l>Aber des Magens Wuth, des verderblichen, kann man unmo&#x0364;glich</l><lb/>
          <l>Ba&#x0364;ndigen. u. &#x017F;. w. &#x2014;</l><lb/>
          <l>Seinethalb gehen &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;cho&#x0364;nrudrige Schiffe geru&#x0364;&#x017F;tet</l><lb/>
          <l>Durch das vero&#x0364;dete Meer u. &#x017F;. w.</l>
        </lg><lb/>
        <p>Durchaus findet &#x017F;ich bei <hi rendition="#g">Homer</hi> kein gekochtes Flei&#x017F;ch,<lb/>
&#x017F;ondern immer Braten. Die Worte:<lb/><lg type="poem"><l>&#x201E;Schnitten behend in Stu&#x0364;cken das Flei&#x017F;ch und &#x017F;teckten&#x2019;s an Spie&#x017F;e,</l><lb/><l>Brieten &#x017F;odann vor&#x017F;ichtig und zogen es alles herunter&#x201C;</l></lg><lb/>
&#x017F;ind in der Iliade und Ody&#x017F;&#x017F;ee gleich &#x017F;tereotyp, und wie-<lb/>
derholen &#x017F;ich unza&#x0364;hlige Male. Ein merkwu&#x0364;rdiger Um&#x017F;tand!<lb/>
Auch hier, wie &#x017F;o oft &#x017F;on&#x017F;t, findet &#x017F;ich das Be&#x017F;&#x017F;ere, Zweckma&#x0364;ßi-<lb/>
gere, Ge&#x017F;chmackvollere vor dem Schlechteren, Verfehlten, Unge-<lb/>
nießbaren, und be&#x017F;ta&#x0364;tigt wieder jene &#x017F;chon angedeuteten rezidi-<lb/>
ven Schwankungen in der Weltge&#x017F;chichte. Nachdem die Ho-<lb/>
meri&#x017F;chen Men&#x017F;chen aus reinmen&#x017F;chlichem a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Sinn Ge-<lb/>
bratenes dem Ge&#x017F;ottenen vorzogen, &#x017F;teht in der &#x017F;pa&#x0364;teren Zeit<lb/>
ein <hi rendition="#g">Cel&#x017F;us</hi> auf, ein Auctor, welcher &#x017F;ich unter Anderm auch mit<lb/>
Medizin befaßte, eigentlich aber als Hofmei&#x017F;ter und Secretair<lb/>
des Kai&#x017F;ers <hi rendition="#g">Tiberius</hi> funktionirte, und will irrthu&#x0364;mlich das<lb/>
Gegentheil.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[25/0039] Ich kann mir es nicht verſagen, einige bezuͤgliche Stellen meinem ſehr verehrten Auditorium in’s Gedaͤchtniß zu rufen. Fuͤr die Einſicht in die ſchlechthin abſolute Nothwendigkeit und Bedeutung des Eſſens ſprechen zuerſt die Verſe: „Wohl iſt jeglicher Tod graunvoll den elenden Menſchen, Doch iſt Hungers Sterben das jammervollſte Verhaͤngniß.“ Ferner ſagt der goͤttliche Dulder Odyſſeus: „Aber laßt mich genießen des Mahles, wie ſehr ich betruͤbt bin. Nichts unbaͤndiger doch, denn die Wuth des leidigen Magens, Der an ſeinen Bedarf mit Gewalt jedweden erinnert, Auch den Bekuͤmmerten ſelbſt, den Gram die Seele belaſtet. So iſt mir auch belaſtet mit Gram die Seele, doch immer Speiſe verlangt er und Trank gebieteriſch; und mir entruͤckt er All mein Leid aus dem Sinn, bis ſeine Begier ich geſaͤttigt.“ — — — Aber des Magens Wuth, des verderblichen, kann man unmoͤglich Baͤndigen. u. ſ. w. — Seinethalb gehen ſelbſt ſchoͤnrudrige Schiffe geruͤſtet Durch das veroͤdete Meer u. ſ. w. Durchaus findet ſich bei Homer kein gekochtes Fleiſch, ſondern immer Braten. Die Worte: „Schnitten behend in Stuͤcken das Fleiſch und ſteckten’s an Spieſe, Brieten ſodann vorſichtig und zogen es alles herunter“ ſind in der Iliade und Odyſſee gleich ſtereotyp, und wie- derholen ſich unzaͤhlige Male. Ein merkwuͤrdiger Umſtand! Auch hier, wie ſo oft ſonſt, findet ſich das Beſſere, Zweckmaͤßi- gere, Geſchmackvollere vor dem Schlechteren, Verfehlten, Unge- nießbaren, und beſtaͤtigt wieder jene ſchon angedeuteten rezidi- ven Schwankungen in der Weltgeſchichte. Nachdem die Ho- meriſchen Menſchen aus reinmenſchlichem aͤſthetiſchen Sinn Ge- bratenes dem Geſottenen vorzogen, ſteht in der ſpaͤteren Zeit ein Celſus auf, ein Auctor, welcher ſich unter Anderm auch mit Medizin befaßte, eigentlich aber als Hofmeiſter und Secretair des Kaiſers Tiberius funktionirte, und will irrthuͤmlich das Gegentheil.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/39
Zitationshilfe: Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/39>, abgerufen am 29.03.2024.